Stö­rung der Ge­müt­lich­keit

Über Mal­te Her­wigs »Die Flak­hel­fer« Seit vie­len Jah­ren treibt Mal­te Her­wig ein The­ma um: Die Ver­strickun­gen der so­ge­nann­ten Flak­hel­­fer-Ge­­ne­ra­ti­on in das NS-Re­­gime. Ob im »Spie­gel«, dem »Zeit-Ma­­ga­­zin«, im »stern« oder in »Deutsch­land­ra­dio Kul­tur« – im­mer wie­der über­rasch­te Her­wig mit Fun­den aus Ar­chi­ven, die das schein­bar Un­denk­ba­re doch be­le­gen: Et­li­che der­jenigen, die man (voll­kom­men zu Recht) ...

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In­ge­borg Bach­mann: Kriegs­ta­ge­buch

Her­aus­ge­ge­ben und mit ei­nem Nach­wort von Hans Höl­ler

Ingeborg Bachmann: Kriegstagebuch
In­ge­borg Bach­mann: Kriegs­ta­ge­buch
In­ge­borg Bach­mann hat­te mit Schreib­ma­schi­ne auf »sechs eng­zei­lig be­schrie­be­nen DIN-A-4-Blätter[n]« ih­re Er­leb­nis­se von März bis Ju­ni 1945 auf­ge­schrie­ben, wo­bei al­ler­dings der er­ste Ein­trag aus dem Sep­tem­ber 1944 stam­men könn­te, als In­ge­borg Bach­mann in die »Leh­rer­bil­dungs­an­stalt« ein­trat und in den letz­ten Mo­na­ten des Krie­ges Hilfs-Leh­re­rin wur­de. Ver­mut­lich schrieb sie die­se Sei­ten aus ih­rem (nicht er­hal­te­nen) Ta­ge­buch ab. Sie wer­den nun mit dem leicht rei­ße­ri­schen Ti­tel »Kriegs­ta­ge­buch« »erst­mals« (Klap­pen­text) ver­öf­fent­licht. Es be­ginnt im Buch auf Sei­te 9 und en­det auf Sei­te 24. Ab Sei­te 16 ist der Krieg zu En­de; man er­fährt von der bri­ti­schen Be­sat­zung und de­ren Ad­mi­ni­stra­ti­on, von Ver­hö­ren, Bach­manns eher apa­thi­schen El­tern und dem eu­pho­ri­schen Ge­fühl für den Frie­den, wel­che die fast Neu­zehn­jäh­ri­ge emp­fand – ganz im Ge­gen­satz zu den mei­sten an­de­ren Er­wach­se­nen im Ort, de­ren Welt zu­sam­men­brach.

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Bar­ba­ra Hoff­mei­ster: S. Fi­scher, der Ver­le­ger

Barbara Hoffmeister: S. Fischer - Der Verleger
Bar­ba­ra Hoff­mei­ster: S. Fi­scher – Der Ver­le­ger
In den 70er Jah­ren gab es im deut­schen Fern­se­hen ei­ne Sen­dung mit dem Ti­tel »Das ist ihr Le­ben«. Pro­mi­nen­te wur­de un­ter ei­nem Vor­wand in ein Stu­dio ge­lockt. Dort war­te­te ein auf­ge­kratz­ter Mo­de­ra­tor mit ei­nem Mäpp­chen auf sie, ging die ein­zel­nen Sta­tio­nen des Le­bens die­ses Pro­mi­nen­ten durch, lud ehe­ma­li­ge Freun­de und so­ge­nann­te Weg­ge­fähr­ten des Ga­stes ein (ty­pi­sche Kör­per­be­we­gung: die Um­ar­mung des seit Jah­ren nicht mehr Ge­se­he­nen) und frisch­te die Kar­rie­re­hö­he­punk­te auf (sel­te­ner die Rück­schlä­ge). Das hat­te ir­gend­wie den Charme von Klas­sen­tref­fen, Stamm­tisch und vor­weg­ge­nom­me­ner Grab­pre­digt. Un­ver­ges­sen die Per­si­fla­ge von Lo­ri­ot auf die­se Sen­dung, in der der Mo­de­ra­tor dem fik­ti­ven Schau­spie­ler »Ted Brown« man­gels Ver­füg­bar­keit kei­nen Schul­ka­me­ra­den aus der ei­ge­nen Klas­se prä­sen­tie­ren konn­te, son­dern nur je­man­den, der zur glei­chen Zeit in ei­ner an­de­ren Stadt zur Schu­le ging. »Er ist Ih­nen al­so völ­lig un­be­kannt« – und trotz­dem heu­te im Stu­dio. »Kön­nen wir jetzt ge­hen« fragt dann ir­gend­wann Ted Brown, als die Re­kon­struk­tio­nen im­mer ab­stru­ser wur­den.

Ein biss­chen er­in­nert Bar­ba­ra Hoff­mei­sters Buch »S. Fi­scher, der Ver­le­ger« an die­se Si­tua­ti­on. Da wer­den Zi­ta­te von Im­re Kér­tesz und Sieg­fried Un­seld in ei­ne Le­bens­ge­schich­te des aus­ge­hen­den 19. Jahr­hun­derts ein­ge­streut und man fragt sich wo­zu. Zwar ver­mei­det Hoff­mei­ster die Gat­tungs­be­zeich­nung »Bio­gra­fie« und ver­wen­det statt­des­sen den Be­griff der »Le­bens­be­schrei­bung«, aber so ganz ver­mag sie den bio­gra­fi­schen An­spruch nicht auf­zu­ge­ben. Die di­rek­te Quel­len­la­ge scheint al­ler­dings min­de­stens zu be­stimm­ten Le­bens­pha­sen Fi­schers eher dürf­tig. Hin­zu kommt ei­ne ver­tief­te Ver­schwie­gen­heit Fi­schers. Er hat­te we­der Ta­ge­buch ge­schrie­ben, noch äu­ßer­te er sich re­gel­mä­ßig in der Öf­fent­lich­keit. Da­her übt sich die Au­torin in Spe­ku­la­tio­nen, die sie je­doch im­mer­hin als sol­che kenn­zeich­net. Den­noch be­frem­den ir­gend­wann die zahl­los er­schei­nen­den Kon­junk­ti­ve. Na­tür­lich könn­te sich Fi­scher auf der Welt­aus­stel­lung am Stand der »Fir­ma S. Reich & Co.« be­fun­den ha­ben. Oder wo­mög­lich un­ter den Schau­lu­sti­gen ir­gend­ei­ner Ver­an­stal­tung ge­we­sen sein. Wahr­schein­lich war Fi­scher am 29. Ju­li 1890 bei der Grün­dungs­ver­samm­lung der »Frei­en Büh­ne« da­bei und wenn ja, so weiß Hoff­mei­ster zu­ver­läs­sig, dürf­te ihm die Mas­sen­ver­an­stal­tung nicht be­hagt ha­ben. Aber was wür­de dies be­deu­ten? Und war­um ver­stei­fen sich die­se Ver­mu­tun­gen ab und an fast zu Un­ter­stel­lun­gen?

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Ta­riq Ra­ma­dan: Mu­ham­mad

Tariq Ramadan: Muhammad
Ta­riq Ra­ma­dan: Mu­ham­mad

‘O ihr, die den Glau­ben ab­lehnt, [de­ren Her­zen ver­schlei­ert sind!] Ich ver­eh­re nicht, was ihr ver­ehrt, noch ver­ehrt ihr, was ich ver­eh­re! Ich bin kein Ver­eh­rer des­sen was ihr ver­ehrt, noch seid ihr Ver­eh­rer des­sen, was ich ver­eh­re. Euch eu­re Re­li­gi­on, und mir mei­ne Re­li­gi­on.’

Als ich das er­ste Mal da­von hör­te, dass Pier Pao­lo Pa­so­li­ni ei­nen Film über das Mat­thä­us­evan­ge­li­um ge­macht hat­te, dach­te ich, dass die­ser Film wohl ein Rie­sen­skan­dal ge­we­sen sein muss. Schließ­lich war Pa­so­li­ni Kom­mu­nist, Non­kon­for­mist und vor al­lem: Athe­ist. Von sei­ner Ho­mo­se­xua­li­tät, die in vie­len eu­ro­päi­schen Län­dern da­mals noch ganz of­fi­zi­ell als Ver­bre­chen galt und noch heu­te von der ka­tho­li­schen Kir­che ver­teu­felt wird, ganz zu schwei­gen. Aber als ich dann zum er­sten Mal den Film sah, war ich über­rascht. Und ver­zau­bert.

Der Film ist von 1964. Ge­dreht mit Lai­en­schau­spie­lern und in schwarz-weiß. Nichts wur­de hier hin­zu­ge­fügt; es ging tat­säch­lich um »Werk­treue«. Sug­ge­sti­ve Bild­spra­che und Mu­sik er­zeug­ten ei­ne Stim­mung, die ei­nem plötz­lich die Chan­ce bot, all dies für wahr zu hal­ten. So auch das na­tur­ge­mäß schwer zu glau­ben­de En­de. Der in­tel­lek­tu­ell-kor­rek­te Aus­weg ei­ner nur me­ta­pho­risch zu ver­ste­hen­den Auf­er­ste­hung war plötz­lich ei­ne all­zu ba­na­le Aus­re­de, der den Zau­ber die­ses Films, die­ser Si­tua­ti­on, die­ser Kon­stel­la­ti­on mut­wil­lig zer­stört hät­te. Und so re­du­zier­te Pa­so­li­ni Je­sus von Na­za­reth nicht auf die Rol­le ei­nes So­zi­al­re­vo­lu­tio­närs (die­se Sicht gab es frei­lich auch), son­dern zeig­te des­sen Spi­ri­tua­li­tät als Ge­wiss­heit. Das brach­te ihm ei­ni­ges Un­ver­ständ­nis ein, weil sich vie­le von Pa­so­li­ni ei­ne »ra­di­ka­le­re« Sicht­wei­se wünsch­ten. Aber ra­di­ka­ler konn­te es gar nicht sein, es war nur nicht die »er­war­te­te« Ra­di­ka­li­tät (sprich: Geg­ner­schaft). Die Gret­chen­fra­ge lau­te­te: War Pa­so­li­ni wirk­lich ein Athe­ist? Die äs­the­ti­sche Ant­wort wä­re: Was spielt das für ei­ne Rol­le?

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Av­ra­ham Burg: Hit­ler be­sie­gen

Ein Buch wie ei­ne Hil­fe­schrei. Hier schreibt ei­ner, der ge­trie­ben ist von ei­ner bes­se­ren Welt. Ge­trie­ben von dem Auf­spren­gen ei­nes Teu­fels­rei­ses mit den Mit­teln der Ein­sicht, des Ar­gu­ments – und der Em­pa­thie. Der Au­tor ist Av­ra­ham Burg, 1955 ge­bo­ren, ehe­ma­li­ger Of­fi­zier in ei­ner Fall­schirm­jä­ger­ein­heit, ehe­ma­li­ger Vor­sit­zen­der der »Je­wish Agen­cy« und ehe­ma­li­ger Knes­set-Spre­cher (ein viel­fach »Ehe­ma­li­ger« al­so). Burg ist Sohn ei­nes »Jeckes«, ei­nes Dresd­ner Uni­ver­si­täts­pro­fes­sors, der in Deutsch­land blieb so lan­ge es eben ging, für ei­ne Un­ter­or­ga­ni­sa­ti­on des Mos­sad in Pa­ris il­le­ga­le Ein­wan­de­rer her­aus­schmug­gel­te und da­für so­gar mit NS-Of­fi­zie­ren ver­han­del­te und spä­ter Mi­ni­ster in meh­re­ren is­rae­li­scher Re­gie­run­gen wur­de und ei­ner ara­bi­schen Jü­din, die als Kind nur mit Glück und Hil­fe (ih­res ara­bi­schen Ver­mie­ters) dem He­bron-Mas­sa­ker 1929 ent­kam. Die­ses Buch will er auch ver­stan­den wis­sen als Ge­spräch mit sei­nem (ver­stor­be­nen) Va­ter und als Dia­log­grund­la­ge für sei­ne Kin­der (uns es gibt be­rüh­ren­de Mo­men­te der An­nä­he­rung und der Be­wun­de­rung sei­nen El­tern ge­gen­über).

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Avraham Burg: Hitler besiegen
Av­ra­ham Burg: Hit­ler be­sie­gen
Von Jo­han­nes Rau stammt der Satz: »Ein Pa­tri­ot ist je­mand, der sein Va­ter­land liebt. Ein Na­tio­na­list ist je­mand, der die Va­ter­län­der der an­de­ren ver­ach­tet.« Ge­nau um die­se Dif­fe­renz geht es in dem Buch »Hit­ler be­sie­gen«: Burg ist ein Pa­tri­ot, der sich ge­gen das na­tio­na­li­stisch wer­den­de, sich iso­la­tio­ni­stisch ge­bär­den­de und da­bei mehr und mehr in Pa­ra­noia ver­fal­len­de Is­ra­el po­si­tio­niert und statt­des­sen sei­ne, die Wer­te sei­ner Fa­mi­lie, die Wer­te der Grün­der­vä­ter, die Wer­te ei­nes mo­der­nen, neu­en Ju­den­tums, set­zen möch­te.

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Da­lai La­ma (Ten­zin Gyat­so) / So­fia Stril-Re­ver: Mei­ne spi­ri­tu­el­le Au­to­bio­gra­phie

Dalai Lama: Meine spirituelle Biographie
Da­lai La­ma: Mei­ne spi­ri­tu­el­le Bio­gra­phie
Das freund­li­che Ge­sicht mit dem Lä­cheln, die et­was zu gro­ße Bril­le, das schein­bar im­mer­glei­che Mönchs­ge­wand. Ei­ne Mi­schung zwi­schen Kind­chen­sche­ma, wel­ches den Be­schüt­zer­geist mo­bi­li­siert und ei­ner uns in die­sem Aus­maß nicht mehr be­kann­ten Be­schei­den­heit, viel­leicht so­gar As­ke­se: Der Wie­der­erken­nungs­wert des Da­lai La­ma (Ten­zin Gyat­so) geht ein­her mit ei­nem er­staun­li­chen Zu­spruch, auch und ins­be­son­de­re in der west­li­chen Kul­tur. Es gibt Um­fra­gen, die ihm ei­ne hö­he­re Au­to­ri­tät zu­wei­sen als bei­spiels­wei­se dem Papst (von lo­ka­len Po­li­ti­kern oder In­tel­lek­tu­el­len erst gar nicht zu re­den). Und auch die hart­näckig­sten Zö­li­bats­kri­ti­ker spre­chen dem Da­lai La­ma nicht die Kom­pe­tenz ab, über Lie­be und Zu­nei­gung zu spre­chen, ob­wohl das Keusch­heits­ge­lüb­de es­sen­ti­ell für ei­nen Mönch ist, ge­hört es doch zu den vier grund­le­gen­den Ge­lüb­den – ne­ben dem Ver­bot zu tö­ten, zu ste­hen und zu lü­gen. So stellt er fest, dass die Be­frie­di­gung se­xu­el­ler Wün­sche nur vor­über­ge­hen­de Er­fül­lung brin­ge (was man für die Nah­rungs­auf­nah­me auch sa­gen könn­te) und plä­diert da­für die­ses Be­geh­ren ganz und gar als sol­ches wahr­zu­neh­men und es durch ei­nen Be­wusst­seins­pro­zess zu tran­szen­die­ren. Trot­zig und durch­aus hu­mor­voll zi­tiert er ei­nen in­di­schen Ge­lehr­ten mit den Wor­ten »Wenn es ei­nen juckt, dann kratzt man sich. Bes­ser, als sich zu krat­zen, ist aber, wenn es ei­nen gar nicht juckt.«

Es wä­re na­tür­lich ein Feh­ler, den Zu­spruch nur an Äu­ßer­lich­kei­ten fest­zu­ma­chen. So er­scheint die­ser Mann mit sei­ner na­tür­lich wir­ken­den Fröh­lich­keit und der im Kern (so schein­bar) ein­fa­chen Bot­schaft ge­paart mit ei­ner Nu­an­ce Exo­tis­mus, die ei­ne viel­leicht ernst­haf­te Be­schäf­ti­gung mit sei­nen The­sen wo­mög­lich eher be­hin­dert, wie ein fer­ner On­kel, dem man ab und zu ger­ne zu­hört und des­sen (me­dia­le) An­we­sen­heit ein woh­li­ges Ge­fühl des Ver­ständ­nis­ses er­zeugt. Zu­mal er sich auf die Er­stel­lung von Dia­gno­sen be­schränkt und kei­ne Im­pe­ra­ti­ve auf­stellt (was die Re­zep­ti­on ziem­lich be­quem macht).

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Mar­tin van Cre­veld: Ge­sich­ter des Krie­ges

Martin van Creveld: Gesichter des Krieges
Mar­tin van Cre­veld: Ge­sich­ter des Krie­ges

Die Fra­ge, die zur Zeit nicht nur Mi­li­tärs be­schäf­tigt, wird zum Kri­stal­li­sa­ti­ons­punkt im Buch des is­rae­li­schen Mi­li­tär­hi­sto­ri­kers Mar­tin van Cre­veld »Die Ge­sich­ter des Krie­ges«: Gibt es ei­nen Aus­weg, oder sind re­gu­lä­re, staat­li­che Ar­meen zu­künf­tig zur Ohn­macht ge­gen­über klei­nen, häu­fig schlecht or­ga­ni­sier­ten Grup­pen von Ter­ro­ri­sten ver­dammt? In Be­zug auf die der­zeit ein­zig ver­blie­be­ne Su­per­macht USA und de­ren ak­tu­el­ler Kriegs­füh­rung im Irak stellt sich die Fra­ge poin­tier­ter: Was, wenn nicht ein­mal ei­ne der­art hoch­ge­rü­ste­te Mi­li­tär­macht ge­gen Ter­ro­ri­sten und Gue­ril­las re­üs­sie­ren kann?

Will man die Ge­gen­wart ver­ste­hen, so stu­die­re man die Ver­gan­gen­heit sagt sich van Cre­veld und ana­ly­siert die Krie­ge des 20. Jahr­hun­derts und da­mit den »Wan­del be­waff­ne­ter Kon­flik­te von 1900 bis heu­te« (so der Un­ter­ti­tel). Das Un­ge­wohn­te da­bei ist, dass nicht nur, wie im Vor­wort er­läu­tert, die mi­li­tä­ri­schen Ope­ra­tio­nen selbst…der zen­tra­le Strang der Fra­ge­stel­lung blei­ben, son­dern (ins­be­son­de­re was die Be­hand­lung des Zwei­ten Welt­kriegs an­geht) die po­li­ti­schen und so­zia­len Im­pli­ka­tio­nen fast im­mer aus­ge­blen­det wer­den. Die­ses spe­zi­ell für den deut­schen Le­ser un­ge­wohn­te Ver­fah­ren wur­de wohl ei­ner­seits ge­wählt, weil an­son­sten der Rah­men der Un­ter­su­chung ge­sprengt wor­den wä­re, an­de­rer­seits setzt van Cre­veld schlicht­weg ein ge­wis­ses hi­sto­ri­sches Ba­sis­wis­sen vor­aus.

So wird der Le­ser zu­nächst in die Welt des be­gin­nen­den 20. Jahr­hun­derts mit sei­nen acht Groß­mäch­ten (in­klu­si­ve Ita­li­en), da­von fünf in Eu­ro­pa (wenn man Russ­land nicht hin­zu­rech­net; nur zwei Groß­mäch­te wa­ren au­ßer­halb des »al­ten« Kon­ti­nents: die USA und Ja­pan) ver­setzt. Da­bei wird deut­lich, dass der Ein­fluss der Po­li­tik auf das Mi­li­tär da­mals nur sehr ein­ge­schränkt war. Van Cre­veld spricht wohl oh­ne Über­trei­bung von Par­al­lel­wel­ten, die in der Pra­xis kaum Be­rüh­rungs­punk­te mit­ein­an­der hat­ten. Ober­kom­man­die­ren­de und Ge­ne­ral­stä­be wa­ren hin­sicht­lich ih­rer Ent­schei­dun­gen voll­kom­men aut­ark; die Mit­tel­ge­wäh­rung ge­schah oh­ne Auf­la­gen oder Kon­trol­le. Über die Aus­stat­tung ih­rer Ar­mee ent­schie­den sie weit­ge­hend al­lei­ne. Im Ver­lauf der Er­sten Welt­krie­ges (aber auch in den letz­ten Jah­ren Na­zi­deutsch­lands) soll­te sich die­se »Ar­beits­tei­lung« als schwer­wie­gen­der Feh­ler er­wei­sen, denn erst ein­mal »aus­ge­bro­chen« wa­ren die po­li­ti­schen Ak­teu­re na­he­zu voll­stän­dig an den Rand ge­drängt (was sich un­ter an­de­rem in Deutsch­land 1914 zeig­te; Wil­helm II. war da­nach so­wohl mi­li­tä­risch als auch po­li­tisch prak­tisch »macht­los«).

Van Cre­veld spricht das Wort der »Mi­li­tär­dik­ta­tur« nicht aus, es wird je­doch na­he­ge­legt min­de­stens was die Jah­re ab 1916 in ei­ni­gen kriegs­füh­ren­den Staa­ten an­geht. Hin­zu kam, dass die Ge­sell­schaf­ten durch­aus mi­li­ta­ri­siert wa­ren; die Ar­mee galt als »Schu­le der Na­ti­on«, Krieg als le­gi­ti­mes Mit­tel der in­ter­na­tio­na­len Po­li­tik. In der Be­völ­ke­rung wie un­ter In­tel­lek­tu­el­len gab es ei­ne ge­wis­se kind­li­che Fas­zi­na­ti­on dem be­waff­ne­ten Kampf ge­gen­über.

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Re­na­te Lüd­de / Rü­di­ger Din­ge­mann: 60 Jah­re Deutsch­land (»WELT«-Edition)

Lüdde / Dingemann: WELT-Edition Politik
Lüd­de / Din­ge­mann: WELT-Edi­ti­on Po­li­tik

60 Jah­re Deutsch­land in zehn Hoch­glanz-The­men­bän­den zu je ca. 90 Sei­ten: Po­li­tik, Wirt­schaft, Rei­se und Ver­kehr, Kunst und Li­te­ra­tur, Film und Fern­se­hen, Mu­sik, Mo­de und De­sign, Sport, Ge­sell­schaft, Ar­chi­tek­tur. Die Un­ter­tei­lung in den je­wei­li­gen Bän­den er­folgt chro­no­lo­gisch nach Jahr­zehn­ten: Nach ei­ner kur­so­ri­schen Ein­füh­rung in 60 Jah­re des je­wei­li­gen Su­jets gibt es ei­ne Dop­pel­sei­te mit ei­nem für das Jahr­zehnt ty­pi­schen Fo­to, dann vier Sei­ten Text (mit we­ni­gen Fo­to­gra­fien), da­von ei­ne Fak­si­mi­le-Sei­te ei­ner Aus­ga­be der »Welt« zu ei­nem wich­ti­gen Er­eig­nis. Da­nach gibt es zu wei­te­ren The­men­ge­bie­ten auf acht bis zehn Sei­ten Fo­to­gra­fien mit Er­läu­te­run­gen – viel Be­kann­tes aber auch manch­mal »Schnapp­schüs­se«, was man noch nicht kann­te. Auf die­se Wei­se kann man sich mit den Bän­den der »Welt-Edi­ti­on« für ei­ni­ge Ta­ge auf ei­ne Zeit­rei­se der deut­schen Ge­schich­te seit 1949 be­ge­ben.

Die Tex­te von Rü­di­ger Din­ge­mann und Re­na­te Lüd­de sind wohl­tu­end; es ist glück­li­cher­wei­se kei­ne Fei­er­tags- oder Ju­bel­pro­sa. Sie sind kon­zi­se aber nicht ober­fläch­lich, durch­aus poin­tiert und zei­gen Zu­sam­men­hän­ge auf. Es gibt kei­ne drö­ge Ver­mitt­lung le­xi­ka­li­schen Wis­sens; wer zum Bei­spiel die Er­geb­nis­se al­ler Bun­des­tags­wah­len, Ta­bel­len zu Po­li­ti­kern und ih­ren Äm­tern oder Werks­ver­zeich­nis­se be­rühm­ter Li­te­ra­ten sucht, wird hier nicht be­dient. Eben­so we­nig wird der Le­ser mit Ster­be­da­ten ver­meint­lich be­rühm­ter Per­sön­lich­kei­ten ge­lang­weilt; es wird im po­li­ti­schen Band nur ein Sarg ge­zeigt – der Sarg ei­nes Bun­des­wehr­sol­da­ten, der in Af­gha­ni­stan ums Le­ben ge­kom­men ist.

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