Ta­riq Ra­ma­dan: Mu­ham­mad

Tariq Ramadan: Muhammad

Ta­riq Ra­ma­dan: Mu­ham­mad

‘O ihr, die den Glau­ben ab­lehnt, [de­ren Her­zen ver­schlei­ert sind!] Ich ver­eh­re nicht, was ihr ver­ehrt, noch ver­ehrt ihr, was ich ver­eh­re! Ich bin kein Ver­eh­rer des­sen was ihr ver­ehrt, noch seid ihr Ver­eh­rer des­sen, was ich ver­eh­re. Euch eu­re Re­li­gi­on, und mir mei­ne Re­li­gi­on.’

Als ich das er­ste Mal da­von hör­te, dass Pier Pao­lo Pa­so­li­ni ei­nen Film über das Mat­thä­us­evan­ge­li­um ge­macht hat­te, dach­te ich, dass die­ser Film wohl ein Rie­sen­skan­dal ge­we­sen sein muss. Schließ­lich war Pa­so­li­ni Kom­mu­nist, Non­kon­for­mist und vor al­lem: Athe­ist. Von sei­ner Ho­mo­se­xua­li­tät, die in vie­len eu­ro­päi­schen Län­dern da­mals noch ganz of­fi­zi­ell als Ver­bre­chen galt und noch heu­te von der ka­tho­li­schen Kir­che ver­teu­felt wird, ganz zu schwei­gen. Aber als ich dann zum er­sten Mal den Film sah, war ich über­rascht. Und ver­zau­bert.

Der Film ist von 1964. Ge­dreht mit Lai­en­schau­spie­lern und in schwarz-weiß. Nichts wur­de hier hin­zu­ge­fügt; es ging tat­säch­lich um »Werk­treue«. Sug­ge­sti­ve Bild­spra­che und Mu­sik er­zeug­ten ei­ne Stim­mung, die ei­nem plötz­lich die Chan­ce bot, all dies für wahr zu hal­ten. So auch das na­tur­ge­mäß schwer zu glau­ben­de En­de. Der in­tel­lek­tu­ell-kor­rek­te Aus­weg ei­ner nur me­ta­pho­risch zu ver­ste­hen­den Auf­er­ste­hung war plötz­lich ei­ne all­zu ba­na­le Aus­re­de, der den Zau­ber die­ses Films, die­ser Si­tua­ti­on, die­ser Kon­stel­la­ti­on mut­wil­lig zer­stört hät­te. Und so re­du­zier­te Pa­so­li­ni Je­sus von Na­za­reth nicht auf die Rol­le ei­nes So­zi­al­re­vo­lu­tio­närs (die­se Sicht gab es frei­lich auch), son­dern zeig­te des­sen Spi­ri­tua­li­tät als Ge­wiss­heit. Das brach­te ihm ei­ni­ges Un­ver­ständ­nis ein, weil sich vie­le von Pa­so­li­ni ei­ne »ra­di­ka­le­re« Sicht­wei­se wünsch­ten. Aber ra­di­ka­ler konn­te es gar nicht sein, es war nur nicht die »er­war­te­te« Ra­di­ka­li­tät (sprich: Geg­ner­schaft). Die Gret­chen­fra­ge lau­te­te: War Pa­so­li­ni wirk­lich ein Athe­ist? Die äs­the­ti­sche Ant­wort wä­re: Was spielt das für ei­ne Rol­le?


Ta­riq Ra­ma­dans Buch über den Pro­phe­ten und Ge­sand­ten Mu­ham­mad (Pro­phe­ten tra­gen ei­ne Bot­schaft oder Leh­re, aber es ist ih­nen nicht auf­ge­tra­gen, sie der Mensch­heit zu übermitteln…Gesandte emp­fan­gen, le­ben und ver­mit­teln die gött­li­che Botschaft…Ein Ge­sand­ter ist al­so im­mer ein Pro­phet, aber nicht al­le Pro­phe­ten sind Ge­sand­te) lässt zu kei­ner Se­kun­de ei­nen Zwei­fel an der spi­ri­tu­el­len Durch­drin­gung des Au­tors auf­kom­men. Ra­ma­dan ist ein Gläu­bi­ger. Er braucht dies nicht ex­pli­zit zu er­klä­ren. Aber ist das Buch des­we­gen schon »un­mo­dern«? Ist »Ob­jek­ti­vi­tät« im­mer ge­bun­den an Neu­tra­li­tät? Oder gar ei­ner Geg­ner­schaft? Und was kann Ra­ma­dan rund 1400 Jah­re spä­ter den be­stehen­den hi­sto­ri­schen Über­lie­fe­run­gen und In­ter­pre­ta­tio­nen noch hin­zu­fü­gen?

»Aus Sicht der heu­ti­gen Zeit« – zu­rück zu den Wur­zeln

Ver­sucht wird nichts Ge­rin­ge­res als ein Brücken­schlag von all die­sen Über­lie­fe­run­gen hin zu ei­ner Ein­bin­dung bzw. sanf­ten, re­spekt­vol­len Über­tra­gung die­ser in die heu­ti­ge Zeit – oh­ne sich ei­nem mo­di­schen Zeit­geist hin­ge­ben zu wol­len. Un­se­re Auf­merk­sam­keit rich­tet sich…- im Rah­men ei­nes Le­bens­be­rich­tes – auf Si­tua­tio­nen, Hal­tun­gen und Wor­te, die ge­eig­net sind, Mu­ham­mads Per­sön­lich­keit im Lich­te des­sen dar­zu­stel­len, was sie uns heu­te leh­ren und mit­tei­len kön­nen. Das Le­ben Mu­ham­mads wird streng chro­no­lo­gisch er­zählt, wo­bei es in ein­zel­nen Ka­pi­teln Ex­kur­se über den Is­lam gibt. Wir woll­ten uns, so Ra­ma­dan pro­gram­ma­tisch in der Ein­lei­tung, dem Le­ben Mu­ham­mads aus Sicht der heu­ti­gen Zeit nä­hern und er­kun­den, was es uns heu­te zu sa­gen hat und wor­in sei­ne Leh­ren be­stehen.

Es soll tat­säch­lich ei­ne Art ge­nui­ner, bes­ser: ge­rei­nig­ter (im Sin­ne von jeg­li­cher Ex­ege­ser­he­to­rik be­frei­ter) Be­sin­nung statt­fin­den, der die Per­son Mu­ham­mads, des­sen Le­ben und Bot­schaft wie­der ins Zen­trum rücken und sich so (ein biss­chen na­iv viel­leicht) den »un­heil­vol­len« In­ter­pre­ta­tio­nen und In­ter­pre­ten ent­zie­hen soll. Wä­re der Be­griff nicht der­art ne­ga­tiv kon­no­tiert, könn­te man von ei­nem »Fun­da­men­ta­lis­mus« spre­chen – frei­lich nicht im Sin­ne ei­nes dog­ma­ti­schen so­ge­nann­ten Is­la­mis­mus oder Wah­ha­bis­mus, son­dern ei­ner Art »back-to-the-roots«-Bewegung, aus der her­aus ei­ne mo­der­ne In­ter­pre­ta­ti­on des Is­lam ent­wickelt wer­den soll. Ge­nau hier liegt die Ge­mein­sam­keit zum Pa­so­li­ni-Film, der eben­falls die rei­ne, un­ver­fälsch­te Bot­schaft wie­der in den Fo­kus rücken woll­te.

Nä­he zur Na­tur und der Schutz des Schwa­chen

Im Buch wird am Bei­spiel des Stel­len­wer­tes der Na­tur im Is­lam die­se Vor­ge­hens­wei­se deut­lich. Ra­ma­dan schreibt: Der Na­tur na­he sein, sie als das zu re­spek­tie­ren, was sie ist, sie zu be­ob­ach­ten und dar­über nach­zu­den­ken, was sie uns zeigt, ist Grund­vor­aus­set­zung für ei­nen Glau­ben, der im­mer be­strebt ist, sich selbst zu näh­ren, zu ver­tie­fen, zu er­neu­ern. Die Na­tur ist zu­gleich Füh­re­rin und eng­ste Ge­fähr­tin des Glau­bens. Hier­mit ist al­ler­dings we­der ei­ne Idyl­li­sie­rung noch die na­tur­wis­sen­schaft­li­che Er­for­schung von Na­tur und Na­tur­zu­sam­men­hän­gen ge­meint (letz­te­res wächst sich im Lau­fe der Jahr­hun­der­te zu ei­nem Pro­blem des Is­lam aus, wor­über der Au­tor je­doch schweigt). Ra­ma­dan setzt Na­tur hier als Mit­tel zur Kon­tem­pla­ti­on und Tie­fe, die es in ei­ner zwei­ten Pha­se spi­ri­tu­el­ler Er­zie­hung mög­lich ma­chen wird, die Be­deu­tun­gen, For­men und Zie­le der re­li­giö­sen Ri­tua­le erst wirk­lich zu be­grei­fen. Star­ke Kri­tik übt der Au­tor an der »rou­ti­nier­ten« Ver­rich­tung eben die­ser re­li­giö­sen Ri­tua­le, was eben auch durch die Ent­frem­dung des Men­schen von der Na­tur be­för­dert wür­de: Wir schei­nen zu glau­ben, dass es aus­reicht, die Tech­ni­ken der Aus­übung von Re­li­gi­on (Ge­be­te, Pil­ger­rei­sen) zu er­ler­nen, um ih­re Be­deu­tung und ih­ren Zweck zu be­grei­fen und zu ver­ste­hen. Die­ser Irr­glau­be hat schwer­wie­gen­de Kon­se­quen­zen, denn er führt da­zu, dass die re­li­giö­se Leh­re ih­re spi­ri­tu­el­le Sub­stanz ver­liert, wel­che doch das Al­ler­wich­tig­ste an ihr ist.

Ra­ma­dans Haupt­quel­le über Le­ben und Werk des Pro­phe­ten ist das mehr­bän­di­ge Werk von Ibn Hischam, der um 830 ver­starb und sei­ner­seits ein In­ter­pret der Bio­gra­fie von Ibn Is­haq war (geb. um 704). Nur ganz sel­ten wer­den dif­fe­rie­ren­de Chro­no­lo­gien (und Sicht­wei­sen) aus­ge­führt und ne­ben­ein­an­der ge­stellt; Ra­ma­dan will kei­ne phi­lo­lo­gi­sche Ar­beit vor­le­gen, son­dern es geht ihm um die wesentliche[n] In­hal­te der Bot­schaft i[m] Gan­zen.

Aus Ra­ma­dans Gläu­big­keit her­aus ist es na­tür­lich, dass es häu­fig ei­nen sehr de­vo­ten, ver­eh­ren­den Ton, in dem Mu­ham­mad tie­fe Spiritualität…strenge Ra­tio­na­li­tät, au­ßer­ge­wöhn­li­che Intelligenz…strategische Ge­nia­li­tät oder auch Gottvertrauen…strikte in­tel­lek­tu­el­le Ko­hä­renz und au­ßer­ge­wöhn­lich scharfe[r] Ver­stand at­te­stiert wird. Aber er wird auch als fehl­ba­rer Mensch mit sei­nen An­ma­ßun­gen und Feh­lern ge­zeigt. In­ter­es­sant am Ran­de die Be­mer­kung, dass Mu­ham­mad jähr­lich die of­fen­bar­ten Ver­se vor dem Erz­engel Ga­bri­el, der zu ihm sprach, wie­der­ge­ben muss­te, um ei­ne au­then­ti­sche Wie­der­ga­be si­cher zu stel­len (das Jahr, in­dem die­se Auf­for­de­rung zwei Mal er­ging, war sein To­des­jahr). Und ihm wer­den We­sens­zü­ge zu­ge­schrie­ben, die ihn als »of­fe­ne«, vor­bild­haf­te Füh­rungs­per­sön­lich­keit dar­stellt – mit fast mo­der­nen Ei­gen­schaf­ten. So wird be­tont, dass der Pro­phet ein­deu­tig die Gül­tig­keit von Prin­zi­pi­en der Ge­rech­tig­keit und des Schut­zes der Schwa­chen an­er­kennt, gleich­gül­tig, ob sie is­la­misch sind oder nicht. Dies zeig­te sich bei­spiels­wei­se dar­in, dass es durch­aus eng­ste Ver­trau­te und Ge­fähr­ten gab, die den­noch nie oder erst kurz vor ih­rem Tod das Glau­bens­be­kennt­nis ab­ga­ben. Trotz Po­ly­ga­mie wird der Re­spekt Mu­ham­mads vor sei­nen Frau­en her­aus­ge­stellt (trotz Kon­ku­bi­ne); sie wur­den für Rat­schlä­ge kon­sul­tiert, durf­ten ih­rem Mann wi­der­spre­chen (tat­säch­lich in den pa­tri­ar­cha­li­schen Struk­tu­ren der da­ma­li­gen Zeit un­ge­wöhn­lich; üb­ri­gens nicht nur für Be­woh­ner der ara­bi­schen Halb­in­sel) und konn­ten sich un­ter be­stimm­ten Um­stän­den so­gar schei­den las­sen. Und auch der Re­spekt vor der Frei­heit des ein­zel­nen zieht sich durch das ge­sam­te Le­ben des Pro­phe­ten und in den maß­geb­li­chen [sic!] Be­rich­ten über sein Le­ben fin­det sich kein Hin­weis auf ei­ne an­de­re Ein­stel­lung, wie an ei­ner Epi­so­de ei­nes Kon­ver­ti­ten zum Chri­sten­tum er­läu­tert wird.

Ra­ma­dan macht sich den ver­brief­ten Re­spekt des Pro­phe­ten und so­mit des Is­lam vor den so­ge­nann­ten Schrift­re­li­gio­nen zu ei­gen und zi­tiert ei­ne Su­re: Er ist es, der dir schritt­wei­se das Buch in Wahr­heit her­ab­ge­sandt hat, be­stä­ti­gend, was ihm vor­aus­ging; und Er sand­te her­ab die Tho­ra und das Evan­ge­li­um zu­vor als ei­ne Recht­lei­tung für die Men­schen. Die Be­deu­tung von Je­sus (üb­ri­gens auch von sei­ner Mut­ter Ma­ria) ist sehr hoch: Er ist Got­tes Die­ner, sein Ge­sand­ter, Sein Geist, Sein Wort aber es gibt kei­ne Re­fe­renz auf ei­nen Sta­tus als »Sohn Got­tes«. Und wei­ter wird her­aus­ge­stellt, dass der Is­lam die Fort­füh­rung der Bot­schaft des Pro­phe­ten Je­sus ist, aber das Dog­ma der Drei­fal­tig­keit strikt ab[lehnt].

Un­ter­schei­dun­gen und Ra­di­ka­li­sie­rung

Um 610 be­gin­nen die Of­fen­ba­run­gen Mu­ham­mads (er ist zu die­sem Zeit­punkt 40 Jah­re alt). Die Um­stän­de wer­den ge­nau und sehr il­lu­stra­tiv ge­schil­dert. Mu­ham­mad ver­steht sich als der letz­te Pro­phet und Ge­sand­te in der Kon­ti­nui­tät von Abra­ham, Mo­ses und Je­sus. Zu­nächst schei­nen die Par­al­le­len ins­be­son­de­re zum Chri­sten­tum sehr prä­gnant, aber im Lau­fe der Zeit zei­gen sich im­mer mehr die spi­ri­tu­el­len Un­ter­schie­de. An­schau­lich stellt Ra­ma­dan dies in ei­nem klei­nen Ex­kurs über das Op­fer Abra­hams in Bi­bel und Ko­ran die­se Dif­fe­renz her­aus.

In der christ­li­chen Bot­schaft er­lebt Abra­ham die Auf­ga­be, sei­nen Sohn zu op­fern auf sich al­lein ge­stellt, wäh­rend sich in der is­la­mi­schen Über­lie­fe­rung Abra­ham sei­nem Sohn Is­ma­el, den er op­fern soll, an­ver­traut (in der christ­li­chen Über­lie­fe­rung soll Abra­ham sei­nen zweit­ge­bo­re­nen Sohn Isaak op­fern, im Is­lam soll­te es Is­ma­el sein). Die­ser be­stärkt ihn, Gott zu fol­gen, ob­wohl er doch das Op­fer sein soll. Das sieht Abra­ham als Zei­chen der Be­stä­ti­gung. Für Ra­ma­dan zeigt sich hier ex­em­pla­risch ein Un­ter­schied zwi­schen bei­den Re­li­gio­nen. Wäh­rend in der west­li­chen Theo­lo­gie und Phi­lo­so­phie die tra­gi­schen Ele­men­te der ein­sa­men Glau­bens­prü­fung her­vor­ge­ho­ben und mit Fra­gen des Zwei­fels, der Re­bel­li­on, der Schuld und Ver­ge­bung re­flek­tiert wer­den, fin­det im Is­lam ei­ne be­stän­di­ge Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen dem Gläu­bi­gen und Gott statt – durch Zei­chen, In­spi­ra­tio­nen und der in­ni­gen Ge­gen­wart des Ei­nen. Ra­ma­dan bi­lan­ziert als ei­ne Es­senz des Is­lam: Al­le Ge­sand­ten er­leb­ten wie Abra­ham und Mu­ham­mad die Prü­fung ih­res Glau­bens und wur­den al­le­samt auf die­sel­be Art durch Gott, Sei­ne Zei­chen und Sein Wort vor sich selbst und ih­ren Zwei­feln be­schützt. We­der lei­den sie, weil sie Feh­ler be­gan­gen ha­ben, noch zeigt die­ses Lei­den ei­ne fun­da­men­tal tra­gi­sche Di­men­si­on un­se­rer Exi­stenz auf. Es ist, ein­fach aus­ge­drückt, ei­ne Übung in De­mut, die als not­wen­di­ger Ab­schnitt in der Glau­bens­er­fah­rung ver­stan­den wird.

Tat­säch­lich ist die­ser Un­ter­schied mehr als nur ei­ne Klei­nig­keit. Ra­ma­dan stellt zu Recht fest, dass sich die tra­gi­sche Ein­sam­keit, in der mensch­li­che We­sen dem Gött­li­chen gegenüberstehen,…durch die ge­sam­te west­li­che Gei­stes­ge­schich­te von den grie­chi­schen Tra­gö­di­en […] bis hin zu exi­sten­zia­li­sti­schen und mo­der­nen christ­li­chen In­ter­pre­ta­tio­nen zieht. Dies führt zu Fra­gen des Zwei­fels, der Re­bel­li­on, der Schuld und Ver­ge­bung. Aber in­dem die Mög­lich­keit des Tra­gi­schen im mus­li­mi­schen Den­ken nicht vor­kommt und durch ein fort­wäh­ren­des »Gott­ver­trau­en« sub­sti­tu­iert wird (wer­den muss), ist die in­no­va­ti­ve Tech­nik der Re­fle­xi­on bzw. Selbst­re­fle­xi­on über das ei­ge­ne Han­deln (bei­spiels­wei­se des­sen mo­ra­li­sche und sitt­li­che Ver­ant­wor­tung) un­nö­tig. Der Got­tes-De­mü­ti­ge kennt dem­nach we­der Zwei­fel noch die Mög­lich­keit des Schei­terns, da ja al­les von Gott ein­ge­rich­tet ist. So schreibt Ra­ma­dan dann auch fol­ge­rich­tig in Be­zug auf Mu­ham­mad: Von sei­ner Ge­burt bis hin zu sei­nem Tod ver­bin­det die Er­fah­rung des Ge­sand­ten – oh­ne jeg­li­che mensch­lich tra­gi­sche Di­men­sio­nen – den Ruf des Glau­bens, die Prü­fun­gen un­ter den Men­schen, die De­mut und das Stre­ben nach Frie­den mit dem Ei­nen [Gott]. Da­mit nimmt Ra­ma­dan dem Pro­phe­ten das, was er an an­de­rer Stel­le im­mer wie­der be­tont: die Mensch­lich­keit, vor al­lem aber: Re­fle­xi­on, Ein­sicht, Zwei­fel. Wird an­fangs durch­aus die Dif­fe­renz Mensch vs. Ge­sand­ter noch her­aus­ge­stellt, so ver­schmel­zen ir­gend­wann bei­de – wie üb­ri­gens bio­gra­fisch durch­aus nach­zu­schla­gen ist.

Die neue Re­li­gi­on ge­winnt im­mer mehr An­hän­ger und be­ginnt sich spä­te­stens von der »hid­schra«, dem Exil (Aus­wan­de­rung? Flucht?) in Me­di­na an (al­so 622, dem Be­ginn der is­la­mi­schen Zeit­rech­nung) von die­sen schon (halb­wegs) »eta­blier­ten An­ge­bo­ten« im­mer mehr zu se­pa­rie­ren. Ne­ben der Ein­füh­rung des Ge­bets­ru­fes und ei­ner Än­de­rung der Ge­bets­rich­tung (letz­te­res in­fol­ge ei­ner Of­fen­ba­rung; an­fangs wur­de Rich­tung Je­ru­sa­lem ge­be­tet), wur­de Mu­ham­mad die Er­laub­nis zum Ver­tei­di­gungs­kampf of­fen­bart. Soll­te man sich zu­nächst nur dem Wort weh­ren (So ge­hor­che nicht den Un­gläu­bi­gen, son­dern set­ze dich ge­gen sie ein [dschi­had­hum] mit dem Ko­ran und mit dem größ­ten Wi­der­stand [dschiha­dan ka­bi­ra]) so war es nun op­por­tun Je­nen, die un­ge­rech­ter­wei­se aus ih­ren Woh­nun­gen ver­trie­ben wur­den, nur weil sie sag­ten: ‘Un­ser Herr ist Gott’ bei­zu­ste­hen, was krie­ge­ri­sche Re­ak­tio­nen bis hin zu prä­emp­ti­ven Feld­zü­gen be­inhal­te­te und Ge­le­gen­heit bot, die Viel­göt­te­rei­en zu be­kämp­fen.

Aus­las­sun­gen und Weich­zeich­ne­r­ei­en

Und ob­wohl wah­re Hym­nen über Mu­ham­mads Ver­hand­lungs­ge­schick und Klug­heit aus­ge­spro­chen (ein­mal be­gann er ei­nen Feld­zug im Fa­sten­mo­nat!) und die Vor­zü­ge ei­nes kom­pli­ziert aus­ge­han­del­ten Frie­dens­ver­tra­ges aus­ge­brei­tet wer­den – ei­ne Mi­schung zwi­schen Angst vor Über­fäl­len durch feind­lich ge­son­ne­ne Stäm­me und dem durch­aus mis­sio­na­ri­schen Drang, die neue Leh­re zu ver­brei­ten führ­te spe­zi­ell ab un­ge­fähr 626 zu zahl­rei­chen mi­li­tä­ri­schen Feld­zü­gen. Hier er­staunt Ra­ma­dans Ton schon sehr, bei­spiels­wei­se wenn es um die »Schutz­steu­er« geht, die Stäm­men ih­re heid­ni­sche Re­li­gi­ons­aus­übung nur bei Be­zah­lung ei­nes be­stimm­ten Be­tra­ges be­lie­ßen; an­dern­falls droh­te ei­ne krie­ge­ri­sche Er­obe­rung und Un­ter­wer­fung. Mit der Lo­gik ei­nes Ma­fia­pa­ten wird kon­sta­tiert: Der Pro­phet über­ließ den Klans und ih­ren Ober­häup­tern die freie Ent­schei­dung zwi­schen die­sen bei­den Al­ter­na­ti­ven…

Ei­ner­seits wer­den Feld­zü­ge und die Pla­nun­gen da­zu sehr ge­nau ge­schil­dert, an­de­rer­seits je­doch über die Bru­ta­li­tät und Rück­sichts­lo­sig­keit der mus­li­mi­schen Trup­pen kein Wort ver­lo­ren (auch dies al­ler­dings kein Grund, in wohl­fei­le Em­pö­rung zu ver­fal­len). Die po­li­ti­schen Im­pli­ka­tio­nen und In­ter­es­sen des Han­delns von Mu­ham­mad wer­den über­ra­schen­der- und be­dau­er­li­cher­wei­se voll­kom­men igno­riert. Da­für gibt es in­ter­es­san­te Ein­blicke in die Kriegs­füh­rung da­ma­li­ger Zei­ten und man ist über die ziem­lich ge­rin­ge Zahl der Kämp­fer über­rascht (man­che Feld­zü­ge be­gan­nen mit we­ni­ger als 100 Mann). Das Ver­hält­nis war fast im­mer 3:1 (oder schlech­ter) ge­gen die Mus­li­me, die bis auf ein­mal den­noch im­mer sieg­reich wa­ren. Kurz vor dem Tod konn­te der Pro­phet auf ei­ne er­folg­rei­che Ver­brei­tung des Is­lam blicken; es gab Ex­pan­sio­nen, die weit über die ara­bi­sche Halb­in­sel hin­aus­reich­ten. Fast be­we­gend wird Mu­ham­mads so­ge­nann­te Ab­schieds­pre­digt auf dem Berg der Barm­her­zig­keit 632 vor ge­schätz­ten 144.000 Pil­gern ge­schil­dert (die As­so­zia­ti­on zum Bild der Berg­pre­digt von Je­sus drängt sich da auf).

Den­noch for­mu­liert Ra­ma­dan ein biss­chen kryp­tisch: Der Weg der Er­zie­hung von Herz und Be­wusst­sein der Mus­li­me von Mek­ka und Me­di­na war noch lang. Wo lie­gen denn die Zie­le für die­se ima­gi­nier­te Er­zie­hung von Herz und Be­wusst­sein? Und – in ei­ner Schrift­re­li­gi­on kei­ne ganz un­be­rech­tig­te Fra­ge: Wo steht dies ge­schrie­ben?

In­ter­pre­ta­tio­nen

Wir er­fah­ren: Der Ko­ran ist das gött­li­che Wort, das als sol­ches der Mensch­heit – in rei­ner und deut­li­cher ara­bi­scher Spra­che – ent­hüllt wur­de, und gleich­zei­tig Er­in­ne­rung, Licht und Wun­der. Aber der Au­tor gibt sich kei­ner­lei Il­lu­sio­nen über die Dop­pel­deu­tig­kei­ten, die aus den teil­wei­se ora­kel­haf­ten Of­fen­ba­run­gen re­sul­tie­ren kön­nen, hin. Auch das wird de­mon­striert (aus viel­leicht na­he­lie­gen­den Grün­den an­hand ei­nes »welt­li­chen«, bio­gra­fi­schen Bei­spiels). Nach ei­ner sieg­rei­chen Schlacht ord­ne­te der Pro­phet ei­ne er­neu­te Mo­bi­li­sie­rung an und be­fahl: »Laßt nie­man­den das zwei­te Nachmittagsgebet…verrichten, bis ihr nicht das Ter­ri­to­ri­um der Quray­za er­reicht habt.« […] In ei­ner Grup­pe kam es zum Streit. Es war Zeit für das Nach­mit­tags­ge­bet, und ei­ni­ge Män­ner, die Mu­ham­mads Ge­bot wört­lich nah­men, ver­tra­ten die Über­zeu­gung, dass sie auf dem Weg nicht be­ten durf­ten, son­dern erst, wenn sie die Ba­nu Quray­za er­reich­ten. Die an­de­ren er­wi­der­ten, dass der Pro­phet ei­gent­lich ge­meint ha­be, sie soll­ten sich be­ei­len, aber das Nach­mit­tags­ge­bet na­tür­lich zum kor­rek­ten Zeit­punkt ver­rich­ten. Ei­ni­ge Män­ner be­te­ten al­so nicht und hiel­ten sich an die wört­li­che Be­deu­tung der Wor­te des Pro­phe­ten. Die an­de­ren be­te­ten, und be­zo­gen sich da­mit auf den Geist der Emp­feh­lung. Wie war es aber ge­meint? Spä­ter frag­ten Sie den Pro­phe­ten, wel­che In­ter­pre­ta­ti­on rich­tig ge­we­sen sei, und er ak­zep­tier­te bei­de. Ra­ma­dan nimmt die­se schein­bar un­be­deu­ten­de Sze­ne ex­em­pla­risch: Die­se Ein­stel­lung soll­te gro­ße Kon­se­quen­zen für die mus­li­mi­sche Ge­mein­schaft ha­ben, denn nach dem Tod des Pro­phe­ten ent­wickel­ten sich zwei re­li­giö­se Schu­len. Viel­leicht geht man zu weit, hier­aus den Wunsch nach ei­ner ul­ti­ma­ti­ven is­la­mi­schen In­stanz her­aus­zu­le­sen.

Ein Schwach­punkt ist, dass es im Buch kei­ner­lei Hin­wei­se auf die Über­set­zung, bes­ser: Deu­tung der Zi­ta­te, der Su­ren gibt. We­der Au­tor noch Über­set­zer ma­chen hier­zu An­ga­ben. So kon­zen­triert sich Ra­ma­dan ne­ben der aus­führ­li­chen (ge­le­gent­lich lang­at­mi­gen) bio­gra­fi­schen Er­zäh­lung des Le­bens Mu­ham­mad auf ei­ne kur­so­ri­sche Über­mitt­lung der Bot­schaft des Ko­ran in sei­nem Sinn – wohl­wis­send hier be­reits wie­der den Keim für (neue) Zwi­stig­kei­ten ge­legt zu ha­ben.

Am En­de wird so­gar ei­ne Tuch­füh­lung zur Mo­der­ne kon­stru­iert. So hät­te die tie­fe Spi­ri­tua­li­tät den Pro­phe­ten aus dem Ge­fäng­nis des Selbst be­freit. Und »vom klei­nen dschi­had [An­stren­gung, Wi­der­stand, Rin­gen um Re­for­men] sei­en er und die Ge­fähr­ten »zum gro­ßen dschi­had zu­rück­ge­kehrt«, die­sem »Rin­gen mit dem Selbst [dem Ego]«. Das Ge­bet sei ei­ne Zeit des Abstand[s] von der Welt und den Il­lu­sio­nen. All dies klingt ein biss­chen auf­ge­setzt.

Die Wi­der­sprü­che, die sich wäh­rend der Lek­tü­re er­ge­ben, ver­mag Ra­ma­dan nicht zu zer­stö­ren. Ei­ner­seits sieht wird ei­ne Art pro­zes­sua­le, per­ma­nen­te Er­neue­rung des Is­lam (wi­der die dog­ma­ti­schen Aus­le­ger) pro­pa­giert, wäh­rend an­de­rer­seits die es­sen­ti­el­len Dog­men bei­be­hal­ten bzw. teil­wei­se sel­ber neu in­ter­pre­tiert wer­den. Die An­nä­he­rung des Is­lam an die west­li­che Mo­der­ne (Ra­ma­dan gilt als ein Ver­tre­ter des so­ge­nann­ten »Eu­ro-Is­lam«) un­ter gleich­zei­ti­ger Bei­be­hal­tung der Leh­re Mu­ham­mads wird nicht aus­rei­chend ent­wickelt. Das wä­re zwar bei ei­ner rei­nen Bio­gra­fie nicht un­be­dingt not­wen­dig, wird je­doch in dem Mo­ment ver­misst, wenn es the­ma­ti­siert wird.

In ei­nem wun­der­ba­ren Es­say über das Mat­thä­us-Evan­ge­li­um schrieb der ame­ri­ka­ni­sche Schrift­stel­ler John Up­dike: »Wir, die wir uns Chri­sten nen­nen, schauen…d u r c h die Evangelien…wie durch Milch­glas hin­durch zum strah­len­den Licht.« Viel­leicht ist es wirk­lich ein Feh­ler, im­mer nur a u f die Schrif­ten zu schau­en. Viel­leicht soll­te man viel mehr durch-schau­en. Up­dikes Es­say und Pa­so­li­nis Film zei­gen die­se Strahl­kraft, die aus den al­ten Über­lie­fe­run­gen noch heu­te durch­schei­nen kann. Bei Ta­riq Ra­ma­dan wird viel­leicht Neu­gier ge­weckt; nicht mehr.


Die kur­siv ge­setz­ten Pas­sa­gen sind Zi­ta­te aus dem be­spro­che­nen Buch. Zi­tier­te Su­ren sind in blau her­vor­ge­ho­ben; die Wie­der­ga­be er­folgt eben­falls ge­mäss Ra­ma­dans Buch.


Hier gibt es ei­ne Le­se­pro­be. Und hier ei­ne kri­ti­sche Be­spre­chung des Bu­ches. An­son­sten ist es durch­aus über­ra­schend, dass bei der Be­deu­tung des Au­tors und des The­mas die­ses Buch nicht aus­führ­li­cher be­spro­chen wur­de.