Ra­pha­e­la Edel­bau­er: Die In­kom­men­sur­a­blen

Raphaela Edelbauer: Die Inkommensurablen
Ra­pha­e­la Edel­bau­er:
Die In­kom­men­sur­a­blen

Der 17jährige Pfer­de­knecht Hans Ranft­ler trifft am 30. Ju­li 1914 aus Ti­rol in Wien ein. Er will He­le­ne Che­resch (*1877), Psy­cho­ana­ly­ti­ke­rin mit »Fach­ge­biet Mas­sen­hy­ste­rien«, mit ei­ner Merk­wür­dig­keit kon­fron­tie­ren und kon­sul­tie­ren: An­de­re Men­schen (auch sol­che, die er nicht kennt), spre­chen zu­wei­len aus, was er, Hans, kurz zu­vor ge­dacht hat­te. Da­hin­ter steckt wohl die Idee von Ge­dan­ken­über­tra­gung. Zu­vor muss er sich je­doch durch die Men­schen­mas­sen am Bahn­hof durch­schla­gen. Da­bei wird er so­fort an­ge­spro­chen, ob er sich nicht frei­wil­lig mel­den möch­te und so ge­nau ver­steht Hans das nicht.

Auf der Stie­ge vor Che­reschs Pra­xis war­tend trifft er Kla­ra Ne­mec, ei­ne Stu­den­tin der Ma­the­ma­tik, die mor­gen ihr Ri­go­ro­sum über in­kom­men­sura­ble Zah­len ab­zu­lie­fern hat. Sie ist, wie sich spä­ter her­aus­stellt, die Lieb­ha­be­rin von He­le­ne Che­resch und so et­was wie ei­ne Mu­se für das, was sie Traum­clu­ster nen­nen. Zehn­tau­send Men­schen sol­len den glei­chen Traum ha­ben, von ei­nem my­ste­riö­sen Wei­ler, ei­ner Art Pa­ra­dies mit dem hei­li­gen Gral, ei­nem omi­nö­sen Lu­ster in ei­ner prunk­vol­len Vil­la; Che­resch un­ter­sucht und ana­ly­siert die Traum­be­rich­te. Hans er­fährt dies durch Adam Graf Je­sen­ky, ei­nem »Asphalt­jüng­ling« und, vor al­lem, Of­fi­ziers­sohn, der be­reits mor­gen im noch nicht ganz er­klär­ten Krieg ge­gen Ser­bi­en und Russ­land ein­zie­hen soll. Er ist ein Freund von Kla­ra und in psy­cho­ana­ly­ti­scher Be­hand­lung. Als Hans schließ­lich bei der Ana­ly­ti­ke­rin vor­spricht, ist sie in­ter­es­siert an sei­nem Fall und ter­mi­niert ihn für den näch­sten Tag, 16 Uhr, zur Sit­zung. Und so neh­men Kla­ra und Adam Hans im Schlepp­tau.

Das ist das Set­ting für Ra­pha­e­la Edel­bau­ers Die In­kom­men­sur­a­blen. Die drei er­le­ben in den näch­sten knapp 24 Stun­den ei­ne Stadt, ein Land, ja: die Welt in Auf­ruhr. Es ist der »letz­te Abend der Mensch­heit«. Zu­wei­len färbt das Pa­thos der sich über­schla­gen­den Ex­tra­blät­ter auf die all­wis­sen­de Er­zäh­le­rin ab. Hans sam­melt die­se Au­gen­blicke, ist nach­ein­an­der Gast bei ei­ner Schön­berg-Pro­be von Adams Mu­sik­ensem­ble (die in ei­ner wü­sten Schlä­ge­rei ob der Sinn­haf­tig­keit sol­cher Pro­ben en­det) und wird an­schlie­ßend zum Abend­essen in Adams El­tern­haus ein­ge­la­den. Dort dis­pu­tiert er mit Ho­no­ra­tio­ren, die an­geb­lich den Kai­ser be­ra­ten, so hef­tig, dass er nicht zum Es­sen kommt. Um ei­nem grö­ße­ren Streit aus dem Weg zu ge­hen, flie­hen die drei in ein eher her­un­ter­ge­kom­me­nes, bor­dell­ähn­li­ches Lo­kal, in dem Kla­ra und ih­re Freun­din be­stens be­kannt sind. Hier spielt die neue Mu­sik, der »Swing« – den es da­mals al­ler­dings noch nicht gab; spä­ter kor­ri­giert (sich) Adam und nennt es »Rag­time«. Die Gä­ste le­ben dort voll­kom­men frei, le­gen sich zum Bei­spiel ein­fach schla­fen, trin­ken oder su­chen Sex. Der ist Amü­se­ment; ei­ne Wa­re (wenn­gleich im­mer die Sy­phi­lis zu dro­hen scheint, die man an­schei­nend am Ge­sicht er­ken­nen kann).

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Mar­ga­ret MacMil­lan: Krieg

Margaret MacMillan: Krieg
Mar­ga­ret MacMil­lan: Krieg

Krieg hat in der Zunft der zeit­ge­nös­si­schen Ge­schichts­schrei­ber, um es sa­lopp aus­zu­drücken, kei­ne gu­te Pres­se. Auch die ka­na­di­sche Hi­sto­ri­ke­rin Mar­ga­ret MacMil­lan ist kei­ne Bel­li­zi­stin, aber sie möch­te mit ih­rem Buch »Krieg« (Über­set­zung von Klaus-Die­ter Schmidt) die­ses Phä­no­men sach­lich er­klä­ren und er­läu­tern »wie Kon­flik­te die Mensch­heit präg­ten«. Krieg sei, so MacMil­lan im Vor­wort, »kei­ne Ver­ir­rung […], die man am be­sten so schnell wie mög­lich ver­gisst. Auch ist er nicht ein­fach die Ab­we­sen­heit von Frie­den, dem ver­meint­li­chen Nor­mal­zu­stand. Wenn wir nicht be­grei­fen, wie tief Krieg und Ge­sell­schaft in­ein­an­der ver­wo­ben sind – so sehr, dass man nicht sa­gen kann, wer von bei­den do­mi­niert oder ur­säch­lich ist –, über­se­hen wir ei­ne wich­ti­ge Di­men­si­on der Mensch­heits­ge­schich­te.« Ihr Ziel ist es, die »or­ga­ni­sier­te Ge­walt« als Be­stand­teil der Ge­schich­te an­zu­er­ken­nen, oh­ne so­fort in mo­ra­li­sche Ka­te­go­rien zu ver­fal­len. Gleich­zei­tig möch­te sie die For­schung über den Krieg nicht mehr nur den Mi­li­tär­hi­sto­ri­kern über­las­sen, die »vor sich hin­for­schen, ih­re un­ap­pe­tit­li­chen Fun­de zu­ta­ge för­dern und ih­re we­nig er­bau­li­chen Ge­schich­ten ver­fer­ti­gen, oh­ne je­man­den zu stö­ren.«

Der Grat scheint schmal, den MacMil­lan (Jahr­gang 1943) be­tritt. Zu Be­ginn wirft sie die Fra­ge auf, was aus Eu­ro­pa ge­wor­den wä­re, wenn bei­spiels­wei­se »die mus­li­mi­schen Füh­rer den gan­zen Kon­ti­nent er­obert hät­ten, was ih­nen mehr­mals bei­na­he ge­lun­gen wä­re« oder wenn Hit­ler den Krieg ge­won­nen hät­te. Die­se kon­tra­fak­ti­schen Über­le­gun­gen sol­len nicht als Recht­fer­ti­gung für Krie­ge per se die­nen, aber wohl auf­zei­gen, wie krie­ge­ri­sche Hand­lun­gen die ak­tu­el­le Ge­gen­wart auch noch nach Jahr­hun­der­ten prä­gen. So sind die »star­ken Na­tio­nal­staa­ten von heu­te mit ih­ren Zen­tral­re­gie­run­gen und gut or­ga­ni­sier­ten Bü­ro­kra­tien […] das Pro­dukt von Jahr­hun­der­ten des Krie­ges.« Zum ei­nen sind im 19. Jahr­hun­dert Na­tio­nal­staa­ten als Fol­ge von Krie­gen ent­stan­den und hat­ten dann – zum an­de­ren – bis­wei­len durch­aus frie­dens­stif­ten­de Wir­kun­gen.

»Der Krieg«, so MacMil­lan, »ist ver­mut­lich die am be­sten or­ga­ni­sier­te al­ler mensch­li­chen Ak­ti­vi­tä­ten, und er hat sei­ner­seits die Or­ga­ni­sa­ti­on der Ge­sell­schaft vor­an­ge­trie­ben.« Ei­ni­ge Bei­spie­le, die man zu­nächst nicht mi­li­tä­risch deu­ten wür­de wie das Ket­ten­hemd oder den Steig­bü­gel bringt sie an. Die Ent­wick­lung von Waf­fen hat­te im­mer auch Aus­wir­kun­gen auf die Zi­vil­ge­sell­schaft. Der Na­tio­na­lis­mus schließ­lich lie­fer­te, so MacMil­lan, »die Mo­ti­va­ti­on und die in­du­stri­el­le Re­vo­lu­ti­on die Mit­tel« für Krie­ge.

In neun Ka­pi­teln un­ter­sucht MacMil­lan Fa­cet­ten des Krie­ges und de­ren Aus­wir­kun­gen. Ei­nen gro­ßen Teil der Quel­len für ih­re Be­ob­ach­tun­gen und Hy­po­the­sen bil­den fik­tio­na­le Tex­te, wie je­ne von Ho­mer, Thuky­di­des, Ver­gil, Ho­raz, Sal­lust, Wil­liam Shake­speare, Fre­de­ric Man­ning, Erich-Ma­ria Re­mar­que oder Ernst Jün­ger. Tho­mas Hob­bes und Jean Jac­ques Rous­se­au kom­men mit ih­ren un­ter­schied­li­chen Ge­sell­schafts­mo­del­len zu Wort. Sun­zi (oder auch Sun Tsu), Ma­chia­vel­li und Clau­se­witz wer­den als Mi­li­tär­stra­te­gen her­an­ge­zo­gen. Es fin­den sich Zi­ta­te aus den Ta­ge­bü­chern von Sa­mu­el Pe­pys und Mar­ta Hil­lers. Ge­gen­wär­ti­ge Kron­zeu­gen für ih­re The­sen sind vor al­lem Swet­la­na Al­e­xi­je­witsch und Ste­ven Pin­ker.

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Wie dann doch al­les schief­ge­gan­gen ist: Chri­sto­pher Clarks Schlaf­wand­ler

Christopher Clark: The Sleepwalkers
Chri­sto­pher Clark:
The Sleep­wal­kers
Der Er­folg von Clarks »Schlaf­wand­lern« (Spie­gel-Top10; Nr. 1‑Bestseller auf Ama­zon) in Deutsch­land ist auch ein Tri­umph des Mar­ke­tings und der stra­te­gi­schen Pro­dukt­pla­nung. Ge­nau zum rich­ti­gen Zeit­punkt, am An­fang des gro­ßen Ge­denk­ma­ra­thons zum WWI, wird das Buch mit um­fang­rei­chen Wer­be- und PR-Ma­te­ria­li­en in den über­re­gio­na­len Feuil­le­tons plat­ziert, die ge­schickt die Neu­ro­sen rechts-bür­ger­li­cher deut­scher Pu­bli­zi­sten und des AfD-wäh­len­den Teils des Pu­bli­kums be­die­nen. Ein Ver­gleich der »Blurbs«, die das eng­li­sche Ori­gi­nal be­wer­ben, und der Sprech­bla­sen auf der deut­schen Über­set­zung ist hier sehr in­struk­tiv. (Mein Text be­zieht sich auf die eng­li­sche Ta­schen­aus­ga­be Chri­sto­pher Clark, The Sleep­wal­kers. How Eu­ro­pe Went to War in 1914, Lon­don: Pen­gu­in Books, 2013) Gleich vor­weg: Clark schreibt kei­ne Apo­lo­gie des Kai­ser­rei­ches.

Tat­säch­lich las­sen sich die gut 560 Sei­ten rei­ner Text (oh­ne Fuß­no­ten) her­vor­ra­gend le­sen. Ana­ly­ti­sche Pas­sa­gen, zum Bei­spiel zur kom­ple­xen und kom­pli­zier­ten Struk­tur der po­li­ti­schen Ent­schei­dungs­pro­zes­se in den be­tei­lig­ten Staa­ten und de­ren Be­deu­tung für die tat­säch­li­chen Hand­lun­gen und de­ren Ab­läu­fe, sind ge­schickt in die er­zäh­le­ri­schen Pas­sa­gen in­te­griert. Dass Clark wirk­lich gut er­zäh­len kann, ist ein gro­ßes Plus des Bu­ches: Ent­scheidende Epi­so­den auf dem Weg in den Krieg wer­den sehr pla­stisch, die Haupt­akteure wer­den in klei­nen Vi­gnet­ten vor­ge­stellt. So ist man qua­si live da­bei, als ser­bi­sche Put­schi­sten Kö­nig Alex­an­dar und Kö­ni­gin Dra­ga ab­schlach­ten und dann ei­ni­ge der Kö­nigs­mör­der Jah­re spä­ter die Sa­ra­je­vo-At­ten­tä­ter re­kru­tie­ren oder beim Be­such des fran­zö­si­schen Staats­prä­si­den­ten Poin­ca­ré in Ruß­land wäh­rend der Hoch­zeit der Ju­li-Kri­se 1914, in­klu­si­ve des Ner­ven­zu­sam­men­bruchs des fran­zö­si­schen Re­gie­rungs­chefs Vi­via­ni.

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Der Gro­sse Krieg

Er­spart prak­tisch al­les an­de­re zum 1.Weltkrieg: Her­fried Mün­k­ler http://t.co/B9PomlFXLI

— frank­schirr­ma­cher (@fr_schirrmacher) 28. Ja­nu­ar 2014

»Er­spart prak­tisch al­les an­de­re zum 1.Weltkrieg: Her­fried Mün­k­ler« twit­ter­te Frank Schirr­ma­cher am 28. Ja­nu­ar 2014 und ver­link­te auf ein In­ter­view mit dem Au­tor in der FAZ. Ich kann das nicht be­ur­tei­len. Ne­ben ei­ni­gen ober­fläch­li­chen, zu­wei­len effekt­hascherischen Ge­denk­sen­dun­gen in Ra­dio und Fern­se­hen ha­be ich ne­ben Her­fried Mün­k­lers Buch »Der Gro­sse Krieg – Die Welt 1914–1918« nur noch Ernst Pi­pers »Nacht über Eu­ro­pa« ge­le­sen.

Die Bü­cher sind kaum mit­ein­an­der ver­gleich­bar. Mün­k­ler lie­fert ei­ne Ge­samt­über­sicht des Krie­ges auf rund 780 Sei­ten mit 70 Sei­ten klein­ge­druck­ter An­mer­kun­gen. Die Biblio­graphie am En­de des Bu­ches – sat­te 40, eben­falls klein­ge­druck­te Sei­ten mit über 800 Li­te­ra­tur­ver­wei­sen – bie­tet für na­he­zu je­des The­ma zum Er­sten Welt­krieg – und sei es noch so spe­zi­ell – Ver­tie­fungs­mög­lich­kei­ten. Pi­per bie­tet mit Pro­log und Ex­kur­sen 15 Auf­sät­ze auf 485 Sei­ten mit mehr als 50 Sei­ten An­mer­kungs­teil. Da­bei stellt er ein­zel­ne Aspek­te des Krie­ges in den Vor­der­grund wie die Kriegs­lust der In­tel­lek­tu­el­len, die Rol­le der Schweiz und das Wü­ten der Deut­schen in Bel­gi­en. De­tail­lier­te mi­li­tä­ri­sche und geo­stra­te­gi­sche Er­läu­te­run­gen feh­len da­ge­gen.

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