Wel­ten und Zei­ten XVI

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Ar­son von Lau­ra Freu­den­tha­ler, ei­ne Art Um­welt­sor­ge­pro­sa in Welt­un­ter­gangs­stim­mung. Da und dort, im­mer wie­der, bre­chen Brän­de aus. Wie in der Wirk­lich­keit in Ka­li­for­ni­en, zum Bei­spiel. Was brin­gen sol­che Wald­brän­de für die Li­te­ra­tur, oder um­ge­kehrt: Wie soll der Au­tor ih­rer hab­haft, ih­nen ge­recht wer­den, wenn er sie schon nicht lö­schen kann? Was ver­mag das al­te, kul­tu­rell ge­präg­te Na­tur­ge­fühl ge­gen­über den Feu­ern? Über al­len Wip­feln ist Ruh; über ka­li­for­ni­schen Wip­feln schla­gen die Flam­men zu­sam­men.

Freu­den­tha­ler pflegt un­ter an­de­rem, wie vie­le Au­toren heu­te, ei­nen Es­say­is­mus im Mu­sil­schen Sin­ne, man er­laubt sich gern Ab­schwei­fun­gen – De­fi­ni­ti­on von »Es­sai«: das schwei­fen­de Gen­re –, hier zum Bei­spiel nach Su­ma­tra, über die dor­ti­gen Wald­brän­de. Auch Tho­mas Mann hat das ge­tan, sei­ner­zeit, nur we­ni­ger auf­dring­lich als Mu­sil, nicht so theo­rie­la­stig, nicht zwang­haft-über­höht, son­dern in al­ler Ru­he von der gu­ten Schreib­stu­be aus, sie­he zum Bei­spiel die um­fas­sen­de Welt­erklä­rung, die er im Fe­lix Krull ei­nem ge­wis­sen Pro­fes­sor Kuckuck un­ter­schiebt: Dort geht es nicht bloß um ein paar Aspek­te, nicht nur um die Mög­lich­keit des Welt­un­ter­gangs bzw. des En­des der Erd­ge­schich­te, die­se ist dem Pro­fes­sor so­wie­so ge­wiß; nicht nur das ein­zel­ne Men­schen­le­ben oder die gan­ze Mensch­heit, son­dern der Pla­net Er­de ist wei­ter nichts als ei­ne un­er­heb­li­che Epi­so­de im All. Un­ser klei­he­i­ner Pla­net… Der be­rühm­te Pas­cal­sche Schau­der. Trotz­dem sind die vor­zeit­li­chen Farn­wäl­der, von de­nen letz­te Re­ste im Bo­ta­ni­schen Gar­ten von Lis­sa­bon zu be­sich­ti­gen sind, wis­sen­schaft­li­cher Stu­di­en und all­ge­mein­mensch­li­cher Wert­schät­zung wert. Die Fi­gu­ren und ih­re Be­zie­hun­gen zu­ein­an­der sind nur Hilfs­kon­struk­te, um in­ter­es­san­te Ge­dan­ken aus­zu­füh­ren.

Blei­ben wir bei der ge­gen­wär­ti­gen Ge­gen­warts­li­te­ra­tur. Ar­son nennt sich auch gar nicht »Ro­man«, nennt sich über­haupt nicht. Das Buch bie­tet ei­ne Ver­samm­lung von Epi­so­den, Stim­mungs­bil­dern, Frag­men­ten, die hin und wie­der Se­quen­zen bil­den, Sprach­per­len an Mo­tiv­schnü­ren – das Tho­mas Mann-Jahr wirft sei­ne Schat­ten vor­aus – wie Schlaf­lo­sig­keit oder die Wun­de an der Lip­pe, sie wer­den vor­sätz­lich nicht ver­knüpft, son­dern locker auf­ge­fä­delt, so daß kei­ne Strän­ge ent­ste­hen, kei­ne Ge­we­be, son­dern. Hand­lungs­mo­men­te. Auf­pop­pen. Da ist wie­der mal ei­ne Lip­pe auf­ge­platzt. Ein Wald­stück auf­ge­flackert. Edel­pop!

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Wel­ten und Zei­ten XV

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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So­wohl als Le­ser wie auch als Schrei­ber glau­be ich bei be­stimm­ten Tex­ten et­was wie Dring­lich­keit zu spü­ren. Selt­sa­mer­wei­se oft bei äl­te­ren Tex­ten, und beim Schrei­ben so­zu­sa­gen: im­mer sel­te­ner. In der ge­gen­wär­ti­gen Li­te­ra­tur fin­de ich sol­che Dring­lich­keit kaum. Auch und ge­ra­de dann, wenn sich Au­toren um mög­lichst ak­tu­el­le The­men be­mü­hen, ent­steht der Ein­druck von Dring­lich­keit nicht, statt des­sen ein an­de­rer, näm­lich daß sie ein selbst auf­er­leg­tes Pro­gramm er­fül­len, ei­ne Pflicht er­le­di­gen. Vie­le wol­len die Be­dro­hung der Um­welt in den Tex­ten »un­ter­brin­gen«. In den Er­zäh­lun­gen wird es im­mer hei­ßer, dort und da bre­chen Brän­de aus, aber die Sät­ze bren­nen nicht un­ter den Nä­geln.

War­um? Li­te­ra­tur – soll ich sa­gen: ech­te Li­te­ra­tur? – ist in­ak­tu­ell, manch­mal so­gar an­ti­ak­tu­ell. Je­ne Dring­lich­keit, die ich mei­ne, ist zum Bei­spiel bei An­nie Er­naux zu spü­ren, die sich, je­den­falls in ih­ren li­te­ra­ri­schen Tex­ten (was sie über Pa­lä­sti­na denkt, hat da­mit we­nig zu tun), nicht um ak­tu­el­le The­men küm­mert. Ernst­haf­tig­keit ist ein ver­wand­ter Be­griff, ei­ne ähn­li­che Hal­tung. Ernst­haft kann hei­ßen: durch den Schlei­er der Spra­che zur Wirk­lich­keit durch­drin­gen wol­len. Dring­lich­keit und Durch­drin­gen. Weil Spra­che, weil un­se­re Er­zäh­lun­gen, un­se­re My­then, die all­ge­mei­nen wie die pri­va­ten, das Ge­sche­he­ne eher ver­decken als ent­hül­len. Au­toren wie Er­naux geht es um das Ent­hül­len: die Spra­che so weit wie mög­lich zu­rück­schrau­ben, in­ter­pre­ta­ti­ons­los schrei­ben, was war. Wahr­schein­lich kann es da im­mer nur An­nä­he­rung zei­gen. Bei Er­naux be­steht das Er­zäh­len im Mit­schrei­ben die­ser An­nä­he­rung.

Ernst­haf­tig­keit ist aber nicht al­les, sie hat ei­nen eh­ren­wer­ten Op­po­nen­ten: die Ver­spielt­heit. »Ver­spielt­heit« klingt ab­wer­tend, ist aber nicht so ge­meint. Spie­le­ri­sche Er­zähl­li­te­ra­tur, und nicht nur sprach­spie­le­ri­sche, son­dern mit Er­zähl­ele­men­ten und Bil­dern spie­len­de, trägt ih­re rai­son d’être in sich, sie ist Selbst­zweck, man muß sie nicht recht­fer­ti­gen. Kunst ist ih­rer Ge­ne­se nach ei­ne Form des Spiels, oh­ne das mensch­li­che Ent­wick­lung nicht mög­lich ist. Wer Künst­ler wird oder bleibt, ist bloß mehr Kind ge­blie­ben als an­de­re Er­wach­se­ne. Die­ses spie­le­ri­sche Mo­ment ent­hal­ten auch zahl­lo­se ernst­haf­te Er­zäh­lun­gen, et­wa die von Pe­ter Ste­phan Jungk, wo­bei ich an den au­to­bio­gra­phisch-sur­rea­len Ro­man Die Rei­se über den Hud­son eben­so den­ke wie an das li­te­ra­risch-eth­no­gra­phi­sche Kunst­werk Markt­ge­flü­ster. In der öster­rei­chi­schen Li­te­ra­tur gibt es ei­ne be­son­ders stark aus­ge­präg­te Nei­gung zum spie­le­ri­schen und ver­spiel­ten Schrei­ben: Ne­stroy, Herz­ma­nov­sky-Or­lan­do, die Wie­ner Grup­pe, Ernst Jandl, Franz­obel, He­le­na Ad­ler – um hier nur an­zu­deu­ten, was und wen ich im Blick ha­be. Auch Frie­de­ri­ke May­röcker. Sur­rea­lis­mus bringt die Ord­nun­gen und Ebe­nen durch­ein­an­der und baut neue Ord­nun­gen auf, die wir nicht im­mer so­fort nach­voll­zie­hen kön­nen oder wol­len. Dann las­sen wir uns vom Cha­os strei­cheln. Das nen­ne ich »Spiel«. »Cha­os­mos«, der von De­leu­ze ge­präg­te, je­doch von Ja­mes Joy­ce ge­klau­te Be­griff ge­fällt mir im­mer noch, ob­wohl der Phi­lo­soph mitt­ler­wei­le recht in­ak­tu­ell ge­wor­den ist. Zeit, ihn wie­der zu le­sen. Cha­os­mos: die Welt im Zu­stand ih­rer Ent­ste­hung.

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Wel­ten und Zei­ten XIV

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Zwei Bü­cher über die Trau­er. Nicht ir­gend­ei­ne Trau­er, son­dern die Trau­er nach dem Tod ei­nes ge­lieb­ten Men­schen. Das ei­ne ist ein Ro­man, das an­de­re läßt sich gen­re­mä­ßig kaum zu­ord­nen, läuft aber chro­no­lo­gisch, da­bei mehr­schich­tig, wie ein Ta­ge­buch ab. Bei­de Bü­cher wur­den un­ge­fähr zur glei­chen Zeit ge­schrie­ben und ver­öf­fent­licht; der Ro­man stammt von Sa­bi­ne Gru­ber, das Trau­er­ta­ge­buch, fast ei­ne Art An­ti-Ro­man, von Ol­ga Mar­ty­n­o­va. Hier ein klei­ner Ent­wick­lungs­ro­man, der er­zählt, wie je­mand durch die Pha­sen der Trau­er geht und die Trau­er letzt­lich über­win­det. Dort die Ge­schich­te ei­ner Ver­wei­ge­rung, in­so­fern die Be­trof­fe­ne in ih­rer Trau­er als in ei­nem Zu­stand zwi­schen Tod und Le­ben ver­harrt und die­sen im Grun­de gar nicht ver­las­sen will.

Die bei­den Bü­cher sind al­so trotz des ge­mein­sa­men The­mas gar nicht ver­gleich­bar. Viel­leicht kann man so­wie­so kei­ne Bü­cher ver­glei­chen, aber ne­ben­ein­an­der­stel­len kann man sie wohl: mit­ein­an­der be­kannt­ma­chen. Nicht Er­kennt­nis, nicht Be­kennt­nis, son­dern Be­kannt­nis.

Ol­ga M. hat mich ein­mal nach dem shis­ho­setsu ge­fragt, ja­pa­nisch für »Ich-Ro­man»1. Ob ich so et­was schrei­ben wür­de? Ich ha­be im­mer noch kei­ne Lust, dar­auf zu ant­wor­ten, aber die Fra­ge geht mir nicht aus dem Kopf. Ich ver­su­che, mich schrei­bend von mei­nem Ich zu lö­sen, doch es ge­lingt nie­mals. Es kann nicht ge­lin­gen, das weiß ich, und ver­su­che es trotz­dem, im­mer wie­der: Si­sy­phus auf dem Pla­teau. An­ders ge­sagt: ein über sich selbst re­flek­tie­ren­der Si­sy­phus. Da ist kein Berg, kein im­mer schnel­ler wer­den­der Stein oder Schnee­ball, nur ei­ne end­lo­se Ebe­ne, wei­te­ster Ho­ri­zont, mit stram­men Grä­sern und Sin­nes­täu­schun­gen, aben­teu­er­lich wie die Pam­pa. Aben­teu­er der Phan­ta­sie, des Ritts über den Bo­den­see.

Ich woll­te nicht von mir er­zäh­len, we­nig­stens jetzt nicht. Sträu­ben wir uns ge­gen den Ich-Ro­man. Das Er­leb­te, das ei­nem na­he­geht, und tief­geht, kann man durch Fik­tio­na­li­sie­rung nur lä­cher­lich ma­chen, aber nicht ver­ste­hen, schon gar nicht über­win­den. Man muß ihm in die Au­gen se­hen, wie es ist. Des­halb hat der Ro­man aus­ge­dient, ein­schließ­lich der so­ge­nann­ten Au­to­fik­ti­on. Der Ro­man bleibt nicht auf der Hö­he der rea­len Er­fah­run­gen und Ge­füh­le, er kann die­se nur ab­schwä­chen, und wenn es um den Tod geht, wür­de ich so­gar das Wort wa­gen: ent­wei­hen.

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  1. Musterbeispiel ist für mich Eine persönliche Erfahrung von Kenzaburō Ōe, der in diesem Roman von den Tagen um die Geburt seines, wie sich herausstellt, schwer behinderten Sohnes erzählt. 

Wel­ten und Zei­ten XIII

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»Road mo­vie« ist ein ge­läu­fi­ger Be­griff der Ci­ne­phi­lie, je­der Ki­no­ge­her könn­te so­fort ein paar Bei­spie­le da­für auf­zäh­len. Aber »Rei­se­ro­man« sagt man ge­wöhn­lich nicht, ob­wohl es sehr vie­le Rei­se­ro­ma­ne gibt. Road no­vels. Vie­le Ro­man­hel­den be­we­gen sich gern, sind nicht seß­haft, ver­spü­ren Wan­der­lust wie wei­land Ei­chen­dorffs Tau­ge­nichts.

Schon die Wil­helm Mei­ster-Ro­ma­ne sind road no­vels; die Thea­ter­trup­pe, der sich Wil­helm an­schließt, ist ei­ne Wan­der­trup­pe. Rei­sen birgt Ge­fah­ren und die Chan­ce auf Aben­teu­er. Ge­hen wir noch wei­ter zu­rück: Don Qui­jo­te, der, wie oft ge­sagt wird, er­ste eu­ro­päi­sche Ro­man, ist ein Rei­se­ro­man, das Gen­re de­fi­niert sich zu­nächst als ei­nes der Be­weg­lich­keit, erst spä­ter, im 19. Jahr­hun­dert, meh­ren sich die häus­li­chen Ro­ma­ne, von wel­chen Bud­den­brooks ei­nen Kul­mi­na­ti­ons­punkt dar­stellt. Das Haus Bud­den­brook und sei­ne Re­prä­sen­tan­ten., die Er­ben von Ver­mö­gen und Ver­ant­wor­tung. Da­ge­gen sind Don Qui­jo­te und sei­ne Nach­fah­ren bis hin zu den Ro­man­ti­kern No­ma­den.

Ein Gut­teil der Ro­ma­ne Pe­ter Hand­kes sind Rei­se­ro­ma­ne. Der kur­ze Brief zum lan­gen Ab­schied so­wie­so, ein Ame­ri­ka­ro­man, wie Lang­sa­me Heim­kehr, wo der Weg in die um­ge­kehr­te Rich­tung führt. Spä­ter die Hei­mat Nie­mands­bucht, wo der Er­zäh­ler sie­ben Rei­se­be­rich­te von Freun­den emp­fängt: mul­ti­ple road no­vel. Aber auch spä­te Wer­ke wie Die Obst­die­bin.

Oder Ro­ber­to Bo­la­ños Wil­de De­tek­ti­ve, wo die me­xi­ka­ni­sche Rei­se im ame­ri­ka­ni­schen Stra­ßen­kreu­zer als Quest der jun­gen Dich­ter und Le­bens­künst­ler an­ge­legt ist.

(Ne­ben­bei be­merkt: Ad­ven­ture-Vi­deo­ga­mes fol­gen fast im­mer dem mit­tel­al­ter­li­chen Sche­ma der Quest. Er­zähl­tech­nisch al­so nichts Neu­es. Nur me­di­en­tech­nisch. Ei­ne Quest, was oder wen im­mer du auch suchst, macht je­de Ge­schich­te span­nend. Amen!)

Wie­der­lek­tü­ren ste­hen ei­nem al­ten Mann bes­ser an als Neulek­tü­ren. War­um? Weil vom Neu­en bei ihm nicht viel hän­gen bleibt; weil es ihn nicht tief be­rührt und je­den­falls sei­ne Per­sön­lich­keit nicht mehr prä­gen kann. Von neu­en Bü­chern, die ich jetzt le­se, mer­ke ich mir bei wei­tem nicht so viel wie von Bü­chern, die ich als 15‑, 20- oder 30jähriger las. Die jet­zi­gen Lek­tü­ren sen­ken sich nicht in die Tie­fe mei­nes We­sens. Klingt pa­the­tisch, ist aber ein­fach so. Der­zeit le­se ich Wil­helm Mei­sters Lehr­jah­re wie­der, und par­al­lel da­zu Tor­qua­to Tas­so (kein Ro­man, son­dern ein sehr klas­si­sches Dra­ma). Da den­ke ich ein ums an­de­re Mal: Aha, ge­nau, so ist er, die­ser Wil­helm, die­ser Tas­so! Ich ken­ne sie, mei­ne Pap­pen­hei­mer. Dann wie­der Er­in­ne­rungs­blit­ze: Ach, das hat­te ich ganz ver­ges­sen! Ich se­he man­che Fi­gu­ren, Si­tua­tio­nen, ge­dank­li­chen Im­pli­ka­tio­nen neu, auch das kommt vor. Ei­ni­ges hat­te ich viel­leicht vor vier­zig Jah­ren nicht be­grif­fen. Aber ins­ge­samt hat­te ich viel, viel mehr be­grif­fen, als ich jetzt bei ei­ner Erst­lek­tü­re be­grei­fe. Mein Ge­hirn ist nicht mehr das, was es war. In man­cher Hin­sicht ist es jetzt viel­leicht so­gar bes­ser: kon­nek­ti­ver, manch­mal auch schnel­ler, weil ge­schult. In an­de­rer Hin­sicht ist es schwä­cher, trä­ger: be­gei­ste­rungs­trä­ge.

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Wel­ten und Zei­ten XII

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Tschechows Ge­wehr. Wenn zu Be­ginn ei­ner Er­zäh­lung ein Ge­wehr an der Wand hängt, muß es ir­gend­wann los­ge­hen, sei es auch erst auf der letz­ten Sei­te. Die­ser Satz wird oft als Re­gel pro­pa­giert. Öko­no­mi­sches Er­zäh­len, jahr­zehn­te­lang das li­te­ra­tur­kri­ti­sche Ide­al und Heil­mit­tel des deut­schen Feuil­le­tons. Bloß nichts Über­flüs­si­ges in die Ge­schich­ten!

Was, wenn das Ge­wehr nicht los­geht? In ei­nem Film kann es mehr oder we­ni­ger zu­fäl­lig an der Wand hän­gen, ein ver­ges­se­nes Re­likt, ir­gend­wer hat es ir­gend­wann dort auf­ge­hängt. Doch der Schrift­stel­ler muß es wil­lent­lich und ei­gen­hän­dig be­schrei­ben oder we­nig­stens evo­zie­ren, al­so gleich­sam selbst auf­hän­gen, sonst ist es nicht da. Der Schrift­stel­ler wählt im­mer aus, selbst wenn er Rea­li­en in gro­ßer Fül­le liebt, die Fül­le der Nich­tig­kei­ten. Er ent­schei­det – si­cher oft un­be­wußt, aber in ei­nem fort –, was zur Exi­stenz kommt und was nicht. Das­sel­be gilt für Ma­ler, nicht aber für Pho­to­gra­phen. Gött­li­che Dich­ter!

2002 sag­te ein ame­ri­ka­ni­scher Film­kri­ti­ker im Ge­spräch mit Ha­yao Mya­za­ki, dem Zeich­ner und Re­gis­seur zahl­rei­cher Zei­chen­trick­fil­me, er lie­be die »gra­tui­tous mo­ti­on«, die un­mo­ti­vier­ten Be­we­gun­gen – schwer zu über­set­zen – in des­sen Fil­men. Grund- und zweck­lo­se klei­ne Sze­nen, oh­ne Be­grün­dung oder not­wen­di­ge Funk­ti­on im Er­zähl­ver­lauf. Din­ge, die sind, weil sie sind, und sich ein­fach nur ih­rer Exi­stenz er­freu­en (oder zu ihr ver­dammt sind). Und den Be­trach­ter er­freu­en (oder be­un­ru­hi­gen), weil sie exi­stie­ren. Hin und wie­der sitzt ei­ne Fi­gur bloß da oder seufzt oder schaut auf ei­nen da­hin­flie­ßen­den Fluß, oder tut zu­sätz­lich ir­gend­was, das die Hand­lung nicht wei­ter­bringt, »ein­fach nur, um ein Ge­fühl für die ver­ge­hen­de Zeit und für den Ort, an dem sie ge­ra­de sind, zu ver­mit­teln.« Adal­bert Stif­ter hat das auch ge­macht, fast ein biß­chen ex­zes­siv in sei­nem letz­ten gro­ßen Werk, dem Wi­ti­ko. Er­zäh­len – und Le­sen, viel­leicht so­gar noch mehr als Er­zäh­len – heißt auch, sich in Ge­duld zu üben. Ei­ne wich­ti­ge Übung, auf die wir nicht ver­zich­ten soll­ten. Ja, ja, lie­be Tik­To­ker!

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Wel­ten und Zei­ten XI

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Herz­klap­pen von John­son & John­son von Va­le­rie Frit­sch: ein Buch, das ich gern mö­gen und als »neu­ar­tig« her­vor­he­ben wür­de. Ganz oh­ne Dia­lo­ge, auch oh­ne in­ne­re Mo­no­lo­ge, ganz ge­schrie­be­ne Spra­che, ge­feilt und aus­ge­feilt, des­halb im­mer (nur?) schön. An­de­rer­seits ist die Ge­schich­te frag­wür­dig, sie wird ver­nach­läs­sigt, un­ernst er­zählt. Der Groß­va­ter im Krieg als Mör­der, wirk­lich? Al­le die­se la­tent oder auch ma­ni­fest vor­wurfs­vol­len Kriegs­ge­schich­ten, auf­ge­spürt und aus­ge­gra­ben von En­keln und Ur­en­keln, die von der Ge­schich­te, die sich ih­nen ver­wei­gert, be­trof­fen sein wol­len. Je­der Sol­dat ein Mör­der? Ja, si­cher, aber das müß­te man dann kon­se­quent so schrei­ben und nicht den ei­nen Groß­va­ter an­kla­gen. Sol­da­ten sind Mör­der, von den Vor­ge­setz­ten und letzt­lich vom Staat zum Mord ver­pflich­tet. Wei­gern sie sich zu tö­ten, wer­den sie selbst ge­tö­tet.

Und die Mut­ter der Er­zäh­le­rin ist auch was Be­son­de­res, näm­lich Schlaf­wand­le­rin. Der Va­ter kommt fast gar nicht vor, viel­leicht zu nor­mal? Die Ka­pi­tel set­zen die Fi­gu­ren kaum mit­ein­an­der in Be­zie­hung, viel­mehr wid­met sich je­des je­weils ei­ner Fi­gur, der Rei­he nach, wie Wä­sche auf der Lei­ne. Und dann blei­ben sie mehr oder we­ni­ger aus dem Buch fort. Ein­fa­cher ge­sagt: Die Ge­schich­te ist nicht durch­ge­hal­ten. Auch der Lieb­ha­ber der Er­zäh­le­rin und spä­te­re Ehe­mann bleicht aus. Und der schmerz­un­emp­find­li­che Emil. Gibt es das über­haupt, Men­schen, die gar kei­nen Schmerz emp­fin­den? An­schei­nend ja, sehr sel­ten. An­al­ge­sie heißt das. Laut Wi­ki­pe­dia sind bis­her drei­ßig da­von be­trof­fe­ne Per­so­nen be­kannt. Drei­ßig welt­weit, oder wo? Steht nicht in dem Ar­ti­kel. Nach der Lek­tü­re des Buchs kann ich mir die­sen Zu­stand nicht vor­stel­len. Kei­ne Bo­den­haf­tung, die Er­zäh­le­rin stellt sie nicht her.

Vö­gel schau­en zum Fen­ster her­ein, und die Men­schen schau­en hin­aus. Die Vö­gel woh­nen drau­ßen, des­halb schau­en sie manch­mal her­ein; die woh­nen her­in­nen, des­halb schau­en sie hin­aus. Nein, die Vö­gel flie­gen so­fort weg, wenn sie se­hen, daß sich et­was be­wegt. Aber das Bild von den her­ein­schau­en­den Vö­geln ist hübsch. Die Ge­fähr­dung Emils, des Schmerz­un­emp­find­li­chen, wird ei­ne Zeit­lang aus­gie­big be­schrie­ben, dann kommt es zu ei­ner Au­to­rei­se nach Ka­sach­stan, die meh­re­re Wo­chen dau­ert, das al­les kur­so­risch er­zählt, zu­sam­men­fas­send, por­trät­haft um­grei­fend. Aber, Fra­ge des Le­sers mit sei­ner Wirk­lich­keits­sor­ge: Ist das nicht völ­lig ver­ant­wor­tungs­los, auf ei­ner Rei­se in ein fer­nes Land, na­he an Kriegs­ge­bie­ten, wo kei­ne ärzt­li­che Ver­sor­gung zu er­war­ten ist – ist es nicht ge­fähr­lich, ja, ver­ant­wor­tungs­los, ein sol­cher­art ge­fähr­de­tes Kind mit­zu­neh­men? Ei­nen An­al­ges­iker! Die Fra­ge platzt aus dem Rea­li­täts­be­wußt­sein in die Fik­ti­on her­ein. Die Schrei­be­rin stellt sie nicht (mehr). Und die Tei­le der Ge­schich­te grei­fen nicht (mehr) in­ein­an­der.

Die­ses Buch bie­tet ei­ne Va­ri­an­te des Um-je­den-Preis-ori­gi­nell-sein-Müs­sens. Die­se be­son­ders au­ßer­ge­wöhn­li­chen Fi­gu­ren, mit be­son­ders ge­schärf­ten oder auch, an­ders­rum, feh­len­den Sin­nen. Va­ri­an­ten der Be­müht­heit. Und dann ver­ebbt der Schwung, reicht nicht aus bis zum Schluß. Kei­ne Dra­ma­tik. An­ge­neh­mes Da­hin­schnur­ren der Er­zäh­lun­gen, man liest sie gern. Wenn man sich nicht ge­ra­de über ein De­tail är­gert, ein, zwei Mal pro Sei­te. Da­hin­schnur­ren – Är­gern – Da­hin­schnur­ren – Är­gern…

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Sieg­fried Un­seld zum 100.

Un­ter­neh­men Un­seld ist das ak­tu­el­le Heft der Zeit­schrift für Ideen­ge­schich­te über­schrie­ben. Es gilt den 100. Ge­burts­tag von Sieg­fried Un­seld zu fei­ern. Da die Kon­vo­lu­te pri­va­ter Kor­re­spon­den­zen in­zwi­schen zwar ar­chi­viert, aber ge­sperrt sind, bleibt der Le­ser glück­li­cher­wei­se mit mo­ra­li­sie­rend ver­pack­ten Schlüs­sel­loch­ge­schich­ten ver­schont und man kon­zen­triert sich im Schwel­gen und Rä­so­nie­ren auf das Le­bens­werk, dem Ver­lag­s­im­pe­ri­um rund ...

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Wel­ten und Zei­ten X

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

← Wel­ten und Zei­ten IX

Die Ent­ste­hung ei­nes Schrift­stel­lers. Er oder sie ent­deckt für sich die Li­te­ra­tur, mit Hil­fe von El­tern oder Groß­el­tern oder der Bi­blio­thek des Va­ters oder der Schul­bi­blio­thek, meist früh­zei­tig, liest Bü­cher, son­dert sich ab, ver­sucht selbst zu schrei­ben, man braucht da­zu nur ei­nen Blei­stift, Pa­pier, ei­ne Schreib­ma­schi­ne. Ta­len­tiert oder stüm­per­haft, in je­dem Fall ehr­gei­zig, wird sie oder er lang­sam bes­ser (au­ßer Rim­baud, der war von An­fang an – aber nur für drei Jah­re – der, der er war), ei­ne Zeit­schrift oder Zei­tung oder heu­te er selbst, im In­ter­net, ver­öf­fent­licht sei­nen er­sten Text.

Ganz an­ders Tho­mas Bern­hard. In sei­ner Ju­gend schwer er­krankt, mit dem Über­le­bens­kampf aus­ge­la­stet, dann Mu­sik, Ge­sang, Jour­na­lis­mus. Ei­ge­nes Schrei­ben re­la­tiv spät, und zwar Ge­dich­te. Die wur­den ver­öf­fent­licht, im Ot­to Mül­ler Ver­lag. Wir schrei­ben 1957, 1958, im da­ma­li­gen Kon­text klin­gen sei­ne Ge­dich­te et­was al­ter­tüm­lich, sie rie­chen nach Ge­org Tra­kl (des­sen Werk eben­falls im Ot­to Mül­ler Ver­lag er­schien). In ho­ra mor­tis, ein ba­rocker Ti­tel, la­tei­nisch wie da­mals noch die ka­tho­li­sche Lit­ur­gie, wie sie in Öster­reich in zahl­lo­sen Ba­rock­kirch­lein durch­ge­führt wur­de. Und dann plötz­lich Frost, 1963, et­was ganz an­de­res, ein Ro­man, der al­le sti­li­sti­schen, the­ma­ti­schen und mo­ti­vi­schen Ei­gen­schaf­ten auf­weist, die bis zu­letzt das Werk Bern­hards kenn­zeich­ne­ten. Das In­ter­es­san­te, für mich je­den­falls: Bern­hard hat das ly­ri­sche Früh­werk hin­ter sich ge­las­sen. Es ist, als hät­te Frost ei­ne an­de­re Per­son ge­schrie­ben als der Ver­fas­ser von In ho­ra mor­tis. Zwi­schen bei­den Pha­sen gibt es kei­nen Zu­sam­men­hang.

Wie so oft regt sich auch hier ein: And yet… Und doch. Denn er­stens bleibt der Tod, die Ver­gäng­lich­keit, Hin­fäl­lig­keit, Nich­tig­keit des mensch­li­chen Le­bens und Trei­bens Bern­hards the­ma­ti­sche Quel­le – ich könn­te auch sa­gen: Er­fah­rungs­quel­le –, die über­reich spru­del­te. Auch sei­ne spä­te­re Ko­mik, auf dem Thea­ter wie beim Er­zäh­len, be­zieht dar­aus ih­re Kraft. Und zwei­tens hat Bern­hard auf ra­di­kal­ste Wei­se dich­te­ri­sche Tech­ni­ken auf sei­ne Pro­sa über­tra­gen: An­ti­the­tik, ob­ses­si­ve Wie­der­ho­lung, ver­bun­den mit Stei­ge­rung (die Rhe­to­rik nennt das »am­pli­fi­ca­tio«). Im we­sent­li­chen al­so ge­nau je­ne sprach­sti­li­sti­schen Ver­fah­ren, die Ro­man Ja­kobson dem zu­ord­ne­te, was er als »poe­ti­sche Funk­ti­on« des Spre­chens de­fi­nier­te.

Für mich sind bis heu­te je­ne Ro­ma­ne und Er­zäh­lun­gen am an­zie­hend­sten – oder li­te­ra­risch am stärk­sten, falls es denn noch er­laubt ist, äs­the­ti­sche Wer­tun­gen übers Ge­schmäck­le­ri­sche hin­aus zu äu­ßern –, die aus dem sol­cher­art de­fi­nier­ten Poe­ti­schen schöp­fen, sich die­sem im­mer wie­der nä­hern und ei­ne er­zäh­lend poe­ti­sche Spra­che kre­ieren. (»Kre­ieren« wie crea­te, auf deutsch »schöp­fen«; die al­ten Grie­chen, die uns im­mer noch nach­hän­gen, spra­chen von »Poie­sis«.) Na­tür­lich gibt es auch die Kunst des Er­zäh­lens als sol­che, es gibt her­vor­ra­gen­de, schöp­fe­ri­sche münd­li­che Er­zäh­ler, die nie auf die Idee kä­men, et­was vom Er­zähl­ten nie­der­zu­schrei­ben. Aber auch in die­sen spon­ta­nen Er­zäh­lun­gen, die sich um Sprach­li­ches gar nicht be­wußt küm­mern, wirkt und werkt die poe­ti­sche Funk­ti­on. Es ist nicht nur Spra­che, nicht nur Rhe­to­rik, die da­bei zur An­wen­dung kom­men, es ist auch ein Han­tie­ren und Kom­po­nie­ren mit er­zäh­le­ri­schen Ein­hei­ten, Blöcken, klei­ne­ren nar­ra­ti­ven Ele­men­ten. Das al­les wur­de längst be­merkt und er­forscht, im aka­de­mi­schen Raum mit oft wahn­wit­zi­ger, ab­ge­ho­be­ner Be­griff­lich­keit (Gé­rard Ge­net­te!), die mit dem tat­säch­li­chen Er­zäh­len nicht mehr viel zu tun hat und den Er­zäh­lern selbst, soll­ten sie je da­von Kennt­nis er­hal­ten, nichts nützt.

Wei­ter­le­sen ...