Wel­ten und Zei­ten XVIII

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Mut zur Lücke: ei­ne be­lieb­te Wort­fü­gung, oft als Mot­to ver­wen­det. Wie­so man zum Lücken­ma­chen oder ‑las­sen Mut braucht, ist mir zwar nicht ein­sich­tig. Mei­stens wer­den Lücken ein­fach hin­ge­nom­men, un­be­küm­mert oder zäh­ne­knir­schend. Trans­ver­sa­li­tät lebt ge­wis­ser­ma­ßen von Lücken. Man kann sie sich auch als Po­ren vor­stel­len, durch die der Geist at­met. Zu­viel Dich­te be­hin­dert das Vor­stel­lungs­ver­mö­gen. Text, Tex­tur, Ge­we­be: das mehr von Phi­lo­lo­gen als von Schrift­stel­lern ge­brauch­te Bild ver­weist auf lücken­lo­se Struk­tu­ren. Tex­te, in de­nen / mit de­nen sich at­men läßt, ha­ben Po­ren, oder eben Lücken. Sie sind eher mit ei­ner Hä­kel­ar­beit ver­gleich­bar als mit ei­nem Ge­we­be.

Trotz­dem stre­ben Dich­ter, sol­che von Ge­dich­ten wie auch von Pro­sa, nach Ver­dich­tung, und oft ist ih­nen be­wußt, daß ihr Text bei­des braucht, Lücken und Dich­te: Un­ter- und Über­de­ter­mi­nie­rung. Es gilt, der Bil­der­phan­ta­sie im Kopf des Le­sers Raum zu ih­rer Ent­fal­tung las­sen. Und aus der Spra­che, noch aus der schlich­te­sten For­mu­lie­rung, mehr her­aus­zu­ho­len, als man – und wo­mög­lich der Dich­ter selbst – sich hat träu­men las­sen, daß drin­steckt. Das Ver­brauch­te er­neu­ern, neu be­le­ben. Durch die Po­ren at­men, Luft her­ein­las­sen durch grö­ße­re Öff­nun­gen. Luf­ti­ge Tex­te, so die Hoff­nung, ent­wickeln ei­nen ei­ge­nen Schwung, der den Le­ser mit­nimmt.

Auf das Epos folgt li­te­ra­tur­ge­schicht­lich der Ro­man. Al­te Hy­po­the­se. Der »mo­der­ne Ro­man« ist ein Pleo­nas­mus, in­so­fern der Ro­man mit der Mo­der­ne – der er­sten eu­ro­päi­schen Mo­der­ne, die das Mit­tel­al­ter ab­löst – ent­steht. Ob die hier und da in der x‑ten Mo­der­ne avi­sier­te Wie­der­kehr des Epos nicht bloß ei­ne Bank­rott­erklä­rung des Ro­man­ciers ist, dem die Zü­gel ent­glei­ten? Als Wahl­ja­pa­ner be­zie­he ich un­se­re Iden­ti­tät, so­weit wir halt ei­ne brau­chen, lie­ber aus dem fried­fer­ti­gen Gen­ji Mo­no­ga­ta­ri – manch­mal als »er­ster Ro­man« ti­tu­liert – als aus Sa­mu­rai-Ge­schich­ten und Bu­shi­do-Bü­chern, die ge­wis­se Zeit­strö­mun­gen und ein­zel­ne Au­toren vor­ge­zo­gen ha­ben, et­wa Yu­ko Mishi­ma in sei­nem mar­tia­li­schen Es­say Son­ne und Stahl. Das Wort »mo­no­ga­ta­ri« wür­de ich am ehe­sten mit »Ge­schich­ten­samm­lung« über­set­zen, in der Art von Boc­c­ac­ci­os De­ca­me­ro­ne oder, viel spä­ter, Goe­thes Un­ter­hal­tun­gen deut­scher Aus­ge­wan­der­ten oder, noch ein­mal spä­ter, Se­balds Die Aus­ge­wan­der­ten. Ver­sucht der Er­zäh­ler, ei­ni­ge oder min­de­stens ei­ne Fi­gur oder ei­nen in der Er­zähl­welt prä­sen­ten Er­zäh­ler über die gan­ze Samm­lung hin­weg bei der Stan­ge zu hal­ten oder, noch bes­ser, des­sen Ent­wick­lung zu zei­gen, er­hält man das, was wir im­mer noch »Ro­man« nen­nen. Doch der Be­griff ist nach hin­ten und nach vor­ne of­fen. Viel­leicht ist der Ro­man noch heu­te nichts an­de­res als ei­ne Ge­schich­ten­samm­lung. Zum Bei­spiel Hand­kes Jahr in der Nie­mands­bucht, als Mär­chen aus­ge­ge­ben und dem Epos zu­nei­gend, ist ganz klar ei­ne sol­che Samm­lung, in wel­cher sie­ben Freun­de ih­re Ge­schich­ten er­zäh­len und die Er­zäh­lun­gen von ei­nem recht prä­sen­ten Er­zäh­ler re-prä­sen­tiert wer­den. Ein Sy­stem von Ge­schich­ten, wür­de ich sa­gen. Ein Sy­stem von nar­ra­ti­ven Pla­ne­ten, die um ein Haupt­ge­stirn krei­sen, das nicht un­be­dingt oder nicht im­mer oder nur in­di­rekt strahlt.

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Das ge­fähr­de­te Ich

Ein Es­say über den Sturm-und-Drang-Li­te­ra­ten Rolf Die­ter Brink­mann

Töteberg/Vasa: Ich gehe in ein anderes Blau
Töteberg/Vasa: Ich ge­he in ein an­de­res Blau

Fünf­zig Jah­re ist es her, dass Rolf Die­ter Brink­mann im Al­ter von 35 Jah­ren in Lon­don töd­lich ver­un­glück­te, von ei­nem Au­to über­fah­ren, weil, wie es heißt, er die Um­stel­lung auf Rechts­ver­kehr nicht be­rück­sich­tigt hat­te. Jür­gen Theo­bal­dy, ein Schrift­stel­ler-Kol­le­ge (die Be­zeich­nung »Freund« ist bei Brink­mann eher schwie­rig) war da­bei und kein Buch kommt oh­ne die Schil­de­rung des Un­falls durch Theo­bal­dy aus.

Auch die bei­den neu­en Bü­cher ma­chen da kei­ne Aus­nah­me. Da ist zu­nächst ei­ne un­längst er­schie­ne­ne, neue Brink­mann-Bio­gra­fie Ich ge­he in ein an­de­res Blau von Mi­cha­el Tö­te­berg und Alex­an­dra Va­sa. Tö­te­berg ist Film­jour­na­list und lei­te­te lan­ge Jah­re die Agen­tur für Me­di­en­rech­te im Ro­wohlt Ver­lag; Alex­an­dra Va­sa ist Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin. Der Ti­tel ist ei­nem me­lan­cho­li­schen Ge­dicht Brink­manns aus den 1970ern mit dem kar­gen Ti­tel Ge­dicht ent­lehnt, wel­ches mit

  • »Wer hat ge­sagt, daß so­was Le­ben
    ist? Ich ge­he in ein
    an­de­res Blau.«

en­det. Pas­send hier­zu wur­de als Co­ver das längst iko­nisch ge­wor­de­ne Fo­to Brink­manns von Gün­ther Knipp blau ein­ge­färbt. Mi­cha­el Tö­te­berg steu­ert auch das Nach­wort zur er­wei­ter­ten Neu­aus­ga­be der Ge­dicht­samm­lung West­wärts 1 & 2 bei, die 1975, kurz vor Brink­manns Tod (ge­kürzt) er­schie­nen war.

Und im Ver­lag An­dre­as Reif­fer er­scheint dem­nächst ein als Zet­tel­ka­sten apo­stro­phier­tes bio­gra­fi­sti­sches Buch des Schrift­stel­lers und Jour­na­li­sten Frank Schä­fer. Man könn­te von ei­nem wei­te­ren Ver­such spre­chen, den To­des­tag als ei­ne Wie­der­be­le­bung von Rolf Die­ter Brink­manns Werk, das der­zeit nur bruch­stück­haft lie­fer­bar ist, zu eta­blie­ren.

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Wel­ten und Zei­ten XVII

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Ge­dich­te von Wil­liam Car­los Wil­liams im Ra­dio, Öster­rei­chi­scher Rund­funk, in ei­ner Sen­dung, die seit acht­zig Jah­ren ih­re Struk­tur und Ge­stalt nicht ver­än­dert hat und die ich schon als Stu­dent gern hör­te. Un­ver­än­dert auch der Ti­tel, ein Schu­bert-Lied zi­tie­rend, al­ter­tüm­lich und, im­mer schon, oh­ne Iro­nie: Du hol­de Kunst. Al­ter­tüm­lich oder bes­ser, mit ei­nem an­de­ren al­ter­tüm­li­chen Wort: zeit­los. Al­so hier Wil­liam Car­los Wil­liams, ein Ge­dicht aus dem All­tag, aus sei­nem Haus, sei­nem Gar­ten, aus ei­ner klei­nen Stadt, aus der Pro­vinz, der Pro­vinz des Men­schen. Spä­ter Ge­dich­te aus und über Pa­ter­son, im Al­ter wur­de so­gar Wil­liams ein we­nig ge­schwät­zig. Zwei­fel­los hat sich Jim Jar­musch für sei­nen wun­der­ba­ren Film Pa­ter­son auch von Wil­liams an­re­gen las­sen. Ge­dich­te schrei­ben, Ge­dich­te hö­ren, Ge­dich­te le­sen – üb­ri­gens auch im Film – ist hier ein Platz ma­chen, Weg­räu­men von Un­er­heb­li­chem, nicht et­wa, um ir­gend­ein We­sent­li­ches ins Au­ge zu fas­sen, son­dern um das, was da ist, die paar Din­ge, mei­ne ei­ge­ne We­nig­keit, ins spär­li­che Wort zu set­zen.

  • Wenn mei­ne Frau schläft
    wenn das Klei­ne und Kath­rin
    wenn sie schla­fen
    und die Son­nen­schei­be flam­mend
    weiß in sei­de­nen Ne­beln
    über schim­mern­den Bäu­men steht
    wenn ich dann in mei­nem Zim­mer, –
    nörd­lich, nackt, gro­tesk
    vor mei­nem Spie­gel tan­ze,
    schwenk mein Hemd mir um den Kopf
    und mir lei­se selbst zu­sin­ge:
    »Ich bin ein­sam, ein­sam,
    und zum Ein­sam­sein ge­bo­ren,
    ein­sam bin ich auf der Hö­he!«
    Wenn ich Ar­me und Ge­sicht,
    Schul­tern, Flan­ken, Hin­tern an mir selbst
    be­wund­re vor den gel­ben Ja­lou­sien, –
    Wer leug­net dann, daß ich hier glück­lich
    und mein gu­ter Haus­geist bin?

Al­so Platz schaf­fen für Be­deu­tung, nicht für gro­ße, son­dern für klei­ne, ge­rin­ge, ver­ein­zel­te Be­deu­tung. Weg mit dem Bla­bla, mit dem Rau­schen, dem Viel-zu-Vie­len, weg mit den Me­di­en (ab­ge­se­hen von Ra­dio und Buch). Kon­text re­du­zie­ren, bis nur ein paar Wör­ter üb­rig­blei­ben, die die Din­ge ih­rer Exi­stenz ver­si­chern, und dich dei­ner. Ei­ne Art von – Ge­nug­tu­ung. Das Wil­liams­sche Ge­dicht tut ge­nau ge­nug.

Und die­sen Ro­man woll­te ich ei­gent­lich gar nicht le­sen: De Vri­endt kehrt heim von Ar­nold Zweig. War­um nicht? Weil mir Ar­nold Zweig, so mein Vor­ur­teil, zu sehr im Fahr­was­ser je­ner da­mals, seit den zwan­zi­ger Jah­ren des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts, vor Hit­lers Macht­er­grei­fung und der Emi­gra­ti­on der deut­schen Gei­stes­welt, im Schwan­ge be­find­li­chen, po­li­tisch kor­rek­ten, hu­ma­ni­sti­schen, pa­zi­fi­sti­schen, an­ti­fa­schi­sti­schen Li­te­ra­tur schrieb. Li­on Feucht­wan­ger, Le­on­hard Frank, Erich Ma­ria Re­mar­que. Das Pro­blem mit De Vri­endt kehrt heim ist aber nicht sein Hu­ma­nis­mus oder An­ti­fa­schis­mus (ver­stan­den als Ab­leh­nung von Ge­walt als po­li­ti­schem Mit­tel), son­dern die jour­na­li­sti­sche Mach­art. Li­te­ra­ri­sche Kon­fek­ti­ons­wa­re, ge­schickt ver­fugt. War­um auch nicht? Als ar­mer Schlucker kann ich mir maß­ge­schnei­der­te Kla­mot­ten ja auch nicht lei­sten, war­um soll­te ich von Bü­chern ver­lan­gen, daß sie ex­qui­sit sind? Ex­qui­sit wie was? Wie die Jo­sephs­ro­ma­ne, wo Tho­mas Mann – wie üb­lich – ver­steckt von sich selbst er­zählt. Au­to­fik­ti­on, ist das et­wa bes­ser?

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Wel­ten und Zei­ten XVI

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Ar­son von Lau­ra Freu­den­tha­ler, ei­ne Art Um­welt­sor­ge­pro­sa in Welt­un­ter­gangs­stim­mung. Da und dort, im­mer wie­der, bre­chen Brän­de aus. Wie in der Wirk­lich­keit in Ka­li­for­ni­en, zum Bei­spiel. Was brin­gen sol­che Wald­brän­de für die Li­te­ra­tur, oder um­ge­kehrt: Wie soll der Au­tor ih­rer hab­haft, ih­nen ge­recht wer­den, wenn er sie schon nicht lö­schen kann? Was ver­mag das al­te, kul­tu­rell ge­präg­te Na­tur­ge­fühl ge­gen­über den Feu­ern? Über al­len Wip­feln ist Ruh; über ka­li­for­ni­schen Wip­feln schla­gen die Flam­men zu­sam­men.

Freu­den­tha­ler pflegt un­ter an­de­rem, wie vie­le Au­toren heu­te, ei­nen Es­say­is­mus im Mu­sil­schen Sin­ne, man er­laubt sich gern Ab­schwei­fun­gen – De­fi­ni­ti­on von »Es­sai«: das schwei­fen­de Gen­re –, hier zum Bei­spiel nach Su­ma­tra, über die dor­ti­gen Wald­brän­de. Auch Tho­mas Mann hat das ge­tan, sei­ner­zeit, nur we­ni­ger auf­dring­lich als Mu­sil, nicht so theo­rie­la­stig, nicht zwang­haft-über­höht, son­dern in al­ler Ru­he von der gu­ten Schreib­stu­be aus, sie­he zum Bei­spiel die um­fas­sen­de Welt­erklä­rung, die er im Fe­lix Krull ei­nem ge­wis­sen Pro­fes­sor Kuckuck un­ter­schiebt: Dort geht es nicht bloß um ein paar Aspek­te, nicht nur um die Mög­lich­keit des Welt­un­ter­gangs bzw. des En­des der Erd­ge­schich­te, die­se ist dem Pro­fes­sor so­wie­so ge­wiß; nicht nur das ein­zel­ne Men­schen­le­ben oder die gan­ze Mensch­heit, son­dern der Pla­net Er­de ist wei­ter nichts als ei­ne un­er­heb­li­che Epi­so­de im All. Un­ser klei­he­i­ner Pla­net… Der be­rühm­te Pas­cal­sche Schau­der. Trotz­dem sind die vor­zeit­li­chen Farn­wäl­der, von de­nen letz­te Re­ste im Bo­ta­ni­schen Gar­ten von Lis­sa­bon zu be­sich­ti­gen sind, wis­sen­schaft­li­cher Stu­di­en und all­ge­mein­mensch­li­cher Wert­schät­zung wert. Die Fi­gu­ren und ih­re Be­zie­hun­gen zu­ein­an­der sind nur Hilfs­kon­struk­te, um in­ter­es­san­te Ge­dan­ken aus­zu­füh­ren.

Blei­ben wir bei der ge­gen­wär­ti­gen Ge­gen­warts­li­te­ra­tur. Ar­son nennt sich auch gar nicht »Ro­man«, nennt sich über­haupt nicht. Das Buch bie­tet ei­ne Ver­samm­lung von Epi­so­den, Stim­mungs­bil­dern, Frag­men­ten, die hin und wie­der Se­quen­zen bil­den, Sprach­per­len an Mo­tiv­schnü­ren – das Tho­mas Mann-Jahr wirft sei­ne Schat­ten vor­aus – wie Schlaf­lo­sig­keit oder die Wun­de an der Lip­pe, sie wer­den vor­sätz­lich nicht ver­knüpft, son­dern locker auf­ge­fä­delt, so daß kei­ne Strän­ge ent­ste­hen, kei­ne Ge­we­be, son­dern. Hand­lungs­mo­men­te. Auf­pop­pen. Da ist wie­der mal ei­ne Lip­pe auf­ge­platzt. Ein Wald­stück auf­ge­flackert. Edel­pop!

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Wel­ten und Zei­ten XV

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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So­wohl als Le­ser wie auch als Schrei­ber glau­be ich bei be­stimm­ten Tex­ten et­was wie Dring­lich­keit zu spü­ren. Selt­sa­mer­wei­se oft bei äl­te­ren Tex­ten, und beim Schrei­ben so­zu­sa­gen: im­mer sel­te­ner. In der ge­gen­wär­ti­gen Li­te­ra­tur fin­de ich sol­che Dring­lich­keit kaum. Auch und ge­ra­de dann, wenn sich Au­toren um mög­lichst ak­tu­el­le The­men be­mü­hen, ent­steht der Ein­druck von Dring­lich­keit nicht, statt des­sen ein an­de­rer, näm­lich daß sie ein selbst auf­er­leg­tes Pro­gramm er­fül­len, ei­ne Pflicht er­le­di­gen. Vie­le wol­len die Be­dro­hung der Um­welt in den Tex­ten »un­ter­brin­gen«. In den Er­zäh­lun­gen wird es im­mer hei­ßer, dort und da bre­chen Brän­de aus, aber die Sät­ze bren­nen nicht un­ter den Nä­geln.

War­um? Li­te­ra­tur – soll ich sa­gen: ech­te Li­te­ra­tur? – ist in­ak­tu­ell, manch­mal so­gar an­ti­ak­tu­ell. Je­ne Dring­lich­keit, die ich mei­ne, ist zum Bei­spiel bei An­nie Er­naux zu spü­ren, die sich, je­den­falls in ih­ren li­te­ra­ri­schen Tex­ten (was sie über Pa­lä­sti­na denkt, hat da­mit we­nig zu tun), nicht um ak­tu­el­le The­men küm­mert. Ernst­haf­tig­keit ist ein ver­wand­ter Be­griff, ei­ne ähn­li­che Hal­tung. Ernst­haft kann hei­ßen: durch den Schlei­er der Spra­che zur Wirk­lich­keit durch­drin­gen wol­len. Dring­lich­keit und Durch­drin­gen. Weil Spra­che, weil un­se­re Er­zäh­lun­gen, un­se­re My­then, die all­ge­mei­nen wie die pri­va­ten, das Ge­sche­he­ne eher ver­decken als ent­hül­len. Au­toren wie Er­naux geht es um das Ent­hül­len: die Spra­che so weit wie mög­lich zu­rück­schrau­ben, in­ter­pre­ta­ti­ons­los schrei­ben, was war. Wahr­schein­lich kann es da im­mer nur An­nä­he­rung zei­gen. Bei Er­naux be­steht das Er­zäh­len im Mit­schrei­ben die­ser An­nä­he­rung.

Ernst­haf­tig­keit ist aber nicht al­les, sie hat ei­nen eh­ren­wer­ten Op­po­nen­ten: die Ver­spielt­heit. »Ver­spielt­heit« klingt ab­wer­tend, ist aber nicht so ge­meint. Spie­le­ri­sche Er­zähl­li­te­ra­tur, und nicht nur sprach­spie­le­ri­sche, son­dern mit Er­zähl­ele­men­ten und Bil­dern spie­len­de, trägt ih­re rai­son d’être in sich, sie ist Selbst­zweck, man muß sie nicht recht­fer­ti­gen. Kunst ist ih­rer Ge­ne­se nach ei­ne Form des Spiels, oh­ne das mensch­li­che Ent­wick­lung nicht mög­lich ist. Wer Künst­ler wird oder bleibt, ist bloß mehr Kind ge­blie­ben als an­de­re Er­wach­se­ne. Die­ses spie­le­ri­sche Mo­ment ent­hal­ten auch zahl­lo­se ernst­haf­te Er­zäh­lun­gen, et­wa die von Pe­ter Ste­phan Jungk, wo­bei ich an den au­to­bio­gra­phisch-sur­rea­len Ro­man Die Rei­se über den Hud­son eben­so den­ke wie an das li­te­ra­risch-eth­no­gra­phi­sche Kunst­werk Markt­ge­flü­ster. In der öster­rei­chi­schen Li­te­ra­tur gibt es ei­ne be­son­ders stark aus­ge­präg­te Nei­gung zum spie­le­ri­schen und ver­spiel­ten Schrei­ben: Ne­stroy, Herz­ma­nov­sky-Or­lan­do, die Wie­ner Grup­pe, Ernst Jandl, Franz­obel, He­le­na Ad­ler – um hier nur an­zu­deu­ten, was und wen ich im Blick ha­be. Auch Frie­de­ri­ke May­röcker. Sur­rea­lis­mus bringt die Ord­nun­gen und Ebe­nen durch­ein­an­der und baut neue Ord­nun­gen auf, die wir nicht im­mer so­fort nach­voll­zie­hen kön­nen oder wol­len. Dann las­sen wir uns vom Cha­os strei­cheln. Das nen­ne ich »Spiel«. »Cha­os­mos«, der von De­leu­ze ge­präg­te, je­doch von Ja­mes Joy­ce ge­klau­te Be­griff ge­fällt mir im­mer noch, ob­wohl der Phi­lo­soph mitt­ler­wei­le recht in­ak­tu­ell ge­wor­den ist. Zeit, ihn wie­der zu le­sen. Cha­os­mos: die Welt im Zu­stand ih­rer Ent­ste­hung.

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Wel­ten und Zei­ten XIV

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Zwei Bü­cher über die Trau­er. Nicht ir­gend­ei­ne Trau­er, son­dern die Trau­er nach dem Tod ei­nes ge­lieb­ten Men­schen. Das ei­ne ist ein Ro­man, das an­de­re läßt sich gen­re­mä­ßig kaum zu­ord­nen, läuft aber chro­no­lo­gisch, da­bei mehr­schich­tig, wie ein Ta­ge­buch ab. Bei­de Bü­cher wur­den un­ge­fähr zur glei­chen Zeit ge­schrie­ben und ver­öf­fent­licht; der Ro­man stammt von Sa­bi­ne Gru­ber, das Trau­er­ta­ge­buch, fast ei­ne Art An­ti-Ro­man, von Ol­ga Mar­ty­n­o­va. Hier ein klei­ner Ent­wick­lungs­ro­man, der er­zählt, wie je­mand durch die Pha­sen der Trau­er geht und die Trau­er letzt­lich über­win­det. Dort die Ge­schich­te ei­ner Ver­wei­ge­rung, in­so­fern die Be­trof­fe­ne in ih­rer Trau­er als in ei­nem Zu­stand zwi­schen Tod und Le­ben ver­harrt und die­sen im Grun­de gar nicht ver­las­sen will.

Die bei­den Bü­cher sind al­so trotz des ge­mein­sa­men The­mas gar nicht ver­gleich­bar. Viel­leicht kann man so­wie­so kei­ne Bü­cher ver­glei­chen, aber ne­ben­ein­an­der­stel­len kann man sie wohl: mit­ein­an­der be­kannt­ma­chen. Nicht Er­kennt­nis, nicht Be­kennt­nis, son­dern Be­kannt­nis.

Ol­ga M. hat mich ein­mal nach dem shis­ho­setsu ge­fragt, ja­pa­nisch für »Ich-Ro­man»1. Ob ich so et­was schrei­ben wür­de? Ich ha­be im­mer noch kei­ne Lust, dar­auf zu ant­wor­ten, aber die Fra­ge geht mir nicht aus dem Kopf. Ich ver­su­che, mich schrei­bend von mei­nem Ich zu lö­sen, doch es ge­lingt nie­mals. Es kann nicht ge­lin­gen, das weiß ich, und ver­su­che es trotz­dem, im­mer wie­der: Si­sy­phus auf dem Pla­teau. An­ders ge­sagt: ein über sich selbst re­flek­tie­ren­der Si­sy­phus. Da ist kein Berg, kein im­mer schnel­ler wer­den­der Stein oder Schnee­ball, nur ei­ne end­lo­se Ebe­ne, wei­te­ster Ho­ri­zont, mit stram­men Grä­sern und Sin­nes­täu­schun­gen, aben­teu­er­lich wie die Pam­pa. Aben­teu­er der Phan­ta­sie, des Ritts über den Bo­den­see.

Ich woll­te nicht von mir er­zäh­len, we­nig­stens jetzt nicht. Sträu­ben wir uns ge­gen den Ich-Ro­man. Das Er­leb­te, das ei­nem na­he­geht, und tief­geht, kann man durch Fik­tio­na­li­sie­rung nur lä­cher­lich ma­chen, aber nicht ver­ste­hen, schon gar nicht über­win­den. Man muß ihm in die Au­gen se­hen, wie es ist. Des­halb hat der Ro­man aus­ge­dient, ein­schließ­lich der so­ge­nann­ten Au­to­fik­ti­on. Der Ro­man bleibt nicht auf der Hö­he der rea­len Er­fah­run­gen und Ge­füh­le, er kann die­se nur ab­schwä­chen, und wenn es um den Tod geht, wür­de ich so­gar das Wort wa­gen: ent­wei­hen.

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  1. Musterbeispiel ist für mich Eine persönliche Erfahrung von Kenzaburō Ōe, der in diesem Roman von den Tagen um die Geburt seines, wie sich herausstellt, schwer behinderten Sohnes erzählt. 

Wel­ten und Zei­ten XIII

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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»Road mo­vie« ist ein ge­läu­fi­ger Be­griff der Ci­ne­phi­lie, je­der Ki­no­ge­her könn­te so­fort ein paar Bei­spie­le da­für auf­zäh­len. Aber »Rei­se­ro­man« sagt man ge­wöhn­lich nicht, ob­wohl es sehr vie­le Rei­se­ro­ma­ne gibt. Road no­vels. Vie­le Ro­man­hel­den be­we­gen sich gern, sind nicht seß­haft, ver­spü­ren Wan­der­lust wie wei­land Ei­chen­dorffs Tau­ge­nichts.

Schon die Wil­helm Mei­ster-Ro­ma­ne sind road no­vels; die Thea­ter­trup­pe, der sich Wil­helm an­schließt, ist ei­ne Wan­der­trup­pe. Rei­sen birgt Ge­fah­ren und die Chan­ce auf Aben­teu­er. Ge­hen wir noch wei­ter zu­rück: Don Qui­jo­te, der, wie oft ge­sagt wird, er­ste eu­ro­päi­sche Ro­man, ist ein Rei­se­ro­man, das Gen­re de­fi­niert sich zu­nächst als ei­nes der Be­weg­lich­keit, erst spä­ter, im 19. Jahr­hun­dert, meh­ren sich die häus­li­chen Ro­ma­ne, von wel­chen Bud­den­brooks ei­nen Kul­mi­na­ti­ons­punkt dar­stellt. Das Haus Bud­den­brook und sei­ne Re­prä­sen­tan­ten., die Er­ben von Ver­mö­gen und Ver­ant­wor­tung. Da­ge­gen sind Don Qui­jo­te und sei­ne Nach­fah­ren bis hin zu den Ro­man­ti­kern No­ma­den.

Ein Gut­teil der Ro­ma­ne Pe­ter Hand­kes sind Rei­se­ro­ma­ne. Der kur­ze Brief zum lan­gen Ab­schied so­wie­so, ein Ame­ri­ka­ro­man, wie Lang­sa­me Heim­kehr, wo der Weg in die um­ge­kehr­te Rich­tung führt. Spä­ter die Hei­mat Nie­mands­bucht, wo der Er­zäh­ler sie­ben Rei­se­be­rich­te von Freun­den emp­fängt: mul­ti­ple road no­vel. Aber auch spä­te Wer­ke wie Die Obst­die­bin.

Oder Ro­ber­to Bo­la­ños Wil­de De­tek­ti­ve, wo die me­xi­ka­ni­sche Rei­se im ame­ri­ka­ni­schen Stra­ßen­kreu­zer als Quest der jun­gen Dich­ter und Le­bens­künst­ler an­ge­legt ist.

(Ne­ben­bei be­merkt: Ad­ven­ture-Vi­deo­ga­mes fol­gen fast im­mer dem mit­tel­al­ter­li­chen Sche­ma der Quest. Er­zähl­tech­nisch al­so nichts Neu­es. Nur me­di­en­tech­nisch. Ei­ne Quest, was oder wen im­mer du auch suchst, macht je­de Ge­schich­te span­nend. Amen!)

Wie­der­lek­tü­ren ste­hen ei­nem al­ten Mann bes­ser an als Neulek­tü­ren. War­um? Weil vom Neu­en bei ihm nicht viel hän­gen bleibt; weil es ihn nicht tief be­rührt und je­den­falls sei­ne Per­sön­lich­keit nicht mehr prä­gen kann. Von neu­en Bü­chern, die ich jetzt le­se, mer­ke ich mir bei wei­tem nicht so viel wie von Bü­chern, die ich als 15‑, 20- oder 30jähriger las. Die jet­zi­gen Lek­tü­ren sen­ken sich nicht in die Tie­fe mei­nes We­sens. Klingt pa­the­tisch, ist aber ein­fach so. Der­zeit le­se ich Wil­helm Mei­sters Lehr­jah­re wie­der, und par­al­lel da­zu Tor­qua­to Tas­so (kein Ro­man, son­dern ein sehr klas­si­sches Dra­ma). Da den­ke ich ein ums an­de­re Mal: Aha, ge­nau, so ist er, die­ser Wil­helm, die­ser Tas­so! Ich ken­ne sie, mei­ne Pap­pen­hei­mer. Dann wie­der Er­in­ne­rungs­blit­ze: Ach, das hat­te ich ganz ver­ges­sen! Ich se­he man­che Fi­gu­ren, Si­tua­tio­nen, ge­dank­li­chen Im­pli­ka­tio­nen neu, auch das kommt vor. Ei­ni­ges hat­te ich viel­leicht vor vier­zig Jah­ren nicht be­grif­fen. Aber ins­ge­samt hat­te ich viel, viel mehr be­grif­fen, als ich jetzt bei ei­ner Erst­lek­tü­re be­grei­fe. Mein Ge­hirn ist nicht mehr das, was es war. In man­cher Hin­sicht ist es jetzt viel­leicht so­gar bes­ser: kon­nek­ti­ver, manch­mal auch schnel­ler, weil ge­schult. In an­de­rer Hin­sicht ist es schwä­cher, trä­ger: be­gei­ste­rungs­trä­ge.

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Wel­ten und Zei­ten XII

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Tschechows Ge­wehr. Wenn zu Be­ginn ei­ner Er­zäh­lung ein Ge­wehr an der Wand hängt, muß es ir­gend­wann los­ge­hen, sei es auch erst auf der letz­ten Sei­te. Die­ser Satz wird oft als Re­gel pro­pa­giert. Öko­no­mi­sches Er­zäh­len, jahr­zehn­te­lang das li­te­ra­tur­kri­ti­sche Ide­al und Heil­mit­tel des deut­schen Feuil­le­tons. Bloß nichts Über­flüs­si­ges in die Ge­schich­ten!

Was, wenn das Ge­wehr nicht los­geht? In ei­nem Film kann es mehr oder we­ni­ger zu­fäl­lig an der Wand hän­gen, ein ver­ges­se­nes Re­likt, ir­gend­wer hat es ir­gend­wann dort auf­ge­hängt. Doch der Schrift­stel­ler muß es wil­lent­lich und ei­gen­hän­dig be­schrei­ben oder we­nig­stens evo­zie­ren, al­so gleich­sam selbst auf­hän­gen, sonst ist es nicht da. Der Schrift­stel­ler wählt im­mer aus, selbst wenn er Rea­li­en in gro­ßer Fül­le liebt, die Fül­le der Nich­tig­kei­ten. Er ent­schei­det – si­cher oft un­be­wußt, aber in ei­nem fort –, was zur Exi­stenz kommt und was nicht. Das­sel­be gilt für Ma­ler, nicht aber für Pho­to­gra­phen. Gött­li­che Dich­ter!

2002 sag­te ein ame­ri­ka­ni­scher Film­kri­ti­ker im Ge­spräch mit Ha­yao Mya­za­ki, dem Zeich­ner und Re­gis­seur zahl­rei­cher Zei­chen­trick­fil­me, er lie­be die »gra­tui­tous mo­ti­on«, die un­mo­ti­vier­ten Be­we­gun­gen – schwer zu über­set­zen – in des­sen Fil­men. Grund- und zweck­lo­se klei­ne Sze­nen, oh­ne Be­grün­dung oder not­wen­di­ge Funk­ti­on im Er­zähl­ver­lauf. Din­ge, die sind, weil sie sind, und sich ein­fach nur ih­rer Exi­stenz er­freu­en (oder zu ihr ver­dammt sind). Und den Be­trach­ter er­freu­en (oder be­un­ru­hi­gen), weil sie exi­stie­ren. Hin und wie­der sitzt ei­ne Fi­gur bloß da oder seufzt oder schaut auf ei­nen da­hin­flie­ßen­den Fluß, oder tut zu­sätz­lich ir­gend­was, das die Hand­lung nicht wei­ter­bringt, »ein­fach nur, um ein Ge­fühl für die ver­ge­hen­de Zeit und für den Ort, an dem sie ge­ra­de sind, zu ver­mit­teln.« Adal­bert Stif­ter hat das auch ge­macht, fast ein biß­chen ex­zes­siv in sei­nem letz­ten gro­ßen Werk, dem Wi­ti­ko. Er­zäh­len – und Le­sen, viel­leicht so­gar noch mehr als Er­zäh­len – heißt auch, sich in Ge­duld zu üben. Ei­ne wich­ti­ge Übung, auf die wir nicht ver­zich­ten soll­ten. Ja, ja, lie­be Tik­To­ker!

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