Das ge­fähr­de­te Ich

Ein Es­say über den Sturm-und-Drang-Li­te­ra­ten Rolf Die­ter Brink­mann

Töteberg/Vasa: Ich gehe in ein anderes Blau

Töteberg/Vasa: Ich ge­he in ein an­de­res Blau

Fünf­zig Jah­re ist es her, dass Rolf Die­ter Brink­mann im Al­ter von 35 Jah­ren in Lon­don töd­lich ver­un­glück­te, von ei­nem Au­to über­fah­ren, weil, wie es heißt, er die Um­stel­lung auf Rechts­ver­kehr nicht be­rück­sich­tigt hat­te. Jür­gen Theo­bal­dy, ein Schrift­stel­ler-Kol­le­ge (die Be­zeich­nung »Freund« ist bei Brink­mann eher schwie­rig) war da­bei und kein Buch kommt oh­ne die Schil­de­rung des Un­falls durch Theo­bal­dy aus.

Auch die bei­den neu­en Bü­cher ma­chen da kei­ne Aus­nah­me. Da ist zu­nächst ei­ne un­längst er­schie­ne­ne, neue Brink­mann-Bio­gra­fie Ich ge­he in ein an­de­res Blau von Mi­cha­el Tö­te­berg und Alex­an­dra Va­sa. Tö­te­berg ist Film­jour­na­list und lei­te­te lan­ge Jah­re die Agen­tur für Me­di­en­rech­te im Ro­wohlt Ver­lag; Alex­an­dra Va­sa ist Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin. Der Ti­tel ist ei­nem me­lan­cho­li­schen Ge­dicht Brink­manns aus den 1970ern mit dem kar­gen Ti­tel Ge­dicht ent­lehnt, wel­ches mit

  • »Wer hat ge­sagt, daß so­was Le­ben
    ist? Ich ge­he in ein
    an­de­res Blau.«

en­det. Pas­send hier­zu wur­de als Co­ver das längst iko­nisch ge­wor­de­ne Fo­to Brink­manns von Gün­ther Knipp blau ein­ge­färbt. Mi­cha­el Tö­te­berg steu­ert auch das Nach­wort zur er­wei­ter­ten Neu­aus­ga­be der Ge­dicht­samm­lung West­wärts 1 & 2 bei, die 1975, kurz vor Brink­manns Tod (ge­kürzt) er­schie­nen war.

Und im Ver­lag An­dre­as Reif­fer er­scheint dem­nächst ein als Zet­tel­ka­sten apo­stro­phier­tes bio­gra­fi­sti­sches Buch des Schrift­stel­lers und Jour­na­li­sten Frank Schä­fer. Man könn­te von ei­nem wei­te­ren Ver­such spre­chen, den To­des­tag als ei­ne Wie­der­be­le­bung von Rolf Die­ter Brink­manns Werk, das der­zeit nur bruch­stück­haft lie­fer­bar ist, zu eta­blie­ren.

Auf­säs­sig, aber nicht re­bel­lisch

Der Va­ter war 27, die Mut­ter 32 als Rolf Die­ter 1940 in Vech­ta ge­bo­ren wur­de. Spä­ter wird er sa­gen, er sei in den »Kriegs­ta­gen zu­sam­men­ge­fickt« wor­den, was, wenn man nach­rech­net, ei­gent­lich nur für den Bru­der stimm­te, der 1944 ge­bo­ren wur­de. Der Va­ter war Un­ter­of­fi­zier in der Wehr­macht, die Mut­ter Kö­chin im na­he­ge­le­ge­nen Flug­ha­fen, der im Krieg zu ei­nem Flie­ger­horst der Wehr­macht wur­de. Der war auch der Grund für um­fas­sen­de Bom­bar­de­ments der Al­li­ier­ten, zum Bei­spiel am 23. März 1945. Er­ste Er­in­ne­run­gen des Kin­des an Luft­schutz­kel­ler und, wie er spä­ter schreibt, zer­sprin­gen­de Ein­mach­glä­ser, Ver­wü­stung, schrei­en­de Men­schen. Drei Wo­chen da­nach wa­ren die Bri­ten in Vech­ta.

Der Va­ter, im Ge­gen­satz zur jäh­zor­ni­gen, fast im­mer miss­ge­laun­ten Mut­ter ein ge­sel­li­ger Mensch, kam beim Fi­nanz­amt un­ter. Man ar­ran­gier­te sich; die Zeit war ent­beh­rungs­reich. Rolf Die­ter ging zur Volks­schu­le, ab 1951 ins Gym­na­si­um. Brink­mann wird im­mer wie­der die Leh­rer, die Schu­le, den Ka­tho­li­zis­mus schmä­hen und be­schimp­fen (nur der Deutsch­leh­rer wird aus­ge­nom­men). Er war auf­säs­sig, aber nicht re­bel­lisch. 1956 trat er dem De­bat­tier­klub »Rhe­to­ri­ka« bei, der dem Gym­na­si­um an­ge­glie­dert war. Er re­fe­rier­te über Exi­sten­tia­lis­mus und trug sei­ne ei­ge­nen Ge­dich­te vor. Die er­sten li­te­ra­ri­schen Hel­den wa­ren Sart­re, Ca­mus – und Benn, dem er ei­nen Brief mit sei­nen Ge­dich­ten schrieb (der un­be­ant­wor­tet bleibt). Sei­ne Vor­trä­ge wur­den kon­tro­vers auf­ge­nom­men; Sart­re stand auf dem In­dex. 1957 führ­te die »Rhe­to­ri­ka« Wolf­gang Bor­cherts Drau­ßen vor der Tür auf. Brink­mann spiel­te mit Be­gei­ste­rung die Haupt­rol­le des Kriegs­heim­keh­rers Beck­mann.

Brink­mann woll­te un­be­dingt pu­bli­zie­ren, schick­te sei­ne Ge­dich­te an Li­te­ra­tur­zeit­schrif­ten und di­ver­se Ver­la­ge, un­ter an­de­rem auch an Pe­ter Suhr­kamp. Er ist sieb­zehn Jah­re alt, mach­te sich manch­mal äl­ter – es half nichts. Ein­zel­ne, noch er­hal­te­ne Ge­dich­te aus die­ser Zeit las­sen, wie es heißt, die Ab­sa­gen ver­ständ­lich er­schei­nen. Er schwänz­te die Schu­le, ging lie­ber in den Wald, schrieb im­mer wei­ter. Als sei­ne Mut­ter an Brust­krebs er­krank­te, ver­fass­te er ei­ne gna­den­lo­se Er­zäh­lung über de­ren kör­per­li­chen Ver­fall (Der Arm). Die Fehl­zei­ten nah­men zu, der Va­ter zog die Reiß­lei­ne. Brink­mann ver­ließ 1958 oh­ne Ab­schluss die Schu­le. Über den kur­zen Weg beim Fi­nanz­amt Ol­den­burg ging es schließ­lich nach Es­sen zu ei­nem Buch­händ­ler. Hier be­geg­ne­te er Ralf-Rai­ner Ry­gul­la; bei­de wa­ren Son­der­lin­ge, wur­den Freun­de. Brink­mann ließ von sei­nen Be­wer­bun­gen nicht ab, schrieb an Ro­wohlt, wo da­mals Pe­ter Rühm­korf tä­tig war. Sei­nen Ge­dich­ten leg­te er aus­führ­li­che In­ter­pre­ta­tio­nen und Selbst­wür­di­gun­gen bei. Oh­ne Er­folg. Schließ­lich ver­leg­te er sich auf Er­zäh­lun­gen.

Tö­te­berg und Va­sa schil­dern Brink­manns lan­gen, dor­ni­gen Weg zur Pu­bli­ka­ti­on nüch­tern und un­auf­ge­regt. Früh wird Brink­manns Ei­gen­sinn deut­lich, mit dem er sich häu­fig scha­de­te. So schlug er ei­ne Ein­la­dung zur Grup­pe 47 aus. Schon da­mals wi­dert ihn der Be­trieb an. Über die zeit­ge­nös­si­schen Au­toren sprach er ver­ächt­lich. Er zog Ja­kob Was­ser­mann Tho­mas Mann vor. Er moch­te in­halts­lo­se, hand­lungs­lo­se Pro­sa, fühl­te sich in­zwi­schen vom Nou­veau Ro­man an­ge­zo­gen, ließ aber nur Rob­be-Gril­let gel­ten. Spä­ter wur­de er zum Ki­no­ge­her. Auch hier in­ter­es­sier­te ihn das Ab­sei­ti­ge, die Nou­vel­le Va­gue. Der Le­ser er­hält ei­nen gu­ten Über­blick, wel­che Fil­me er an­schau­te – deut­sche Au­toren­fil­me und Hol­ly­wood-Block­bu­ster wa­ren es eher nicht. Be­gei­stert war er al­ler­dings von Nicht ver­söhnt von Jean Ma­rie Straub und Da­niè­le Huil­let, ei­ner Ad­ap­ti­on von Hein­rich Bölls Ro­man Bil­lard um halb­zehn, die da­mals in mehr­fa­cher Hin­sicht skan­da­lös war. Brink­mann fand den Film bes­ser als das Buch.

Er zog nach Köln, stu­dier­te an der Päd­ago­gi­schen Hoch­schu­le und lern­te Ma­leen Kra­mer, die Toch­ter ei­nes Bi­blio­the­kars, ken­nen. Die bei­den hei­ra­te­ten 1964. We­ni­ge Mo­na­te spä­ter wur­de Sohn Ro­bert ge­bo­ren, der, wie sich spä­ter her­aus­stell­te, gei­stig be­hin­dert war. Die Fa­mi­lie leb­te in ei­ner Woh­nung, die teil­wei­se un­ter­ver­mie­tet wer­den muss­te. Er sah sich ein­ge­schränkt, fand kei­ne Ru­he. Mit Die­ter Wel­lers­hoff, der da­mals bei Kie­pen­heu­er & Witsch ar­bei­te­te, fand er ei­ne Mi­schung aus Men­tor, li­te­ra­ri­sche Va­ter­fi­gur und ver­ständ­nis­vol­len Lek­tor, der die Es­ka­pa­den des jun­gen Au­tors zu neh­men ver­stand. Es ent­stan­den jetzt tat­säch­lich Ge­dicht­bän­de. Brink­mann war ver­ses­sen dar­auf, bis ins letz­te De­tail Co­ver, Druck und Schrift­bild zu de­fi­nie­ren. We­he, man hielt sich nicht dar­an. Sei­ne Schaf­fens­kraft war so groß, dass er auch bei Klein- und Kleinst­ver­la­gen Bü­cher pu­bli­zier­te, die häu­fig nur ei­ne Auf­la­ge von 200 oder 500 Ex­em­pla­ren er­reich­te. Wa­ren die Pro­ble­me bei Ki­Wi schon groß, so schie­nen sie bei den klei­nen Ver­la­gen noch grö­ßer zu sein. Aber die Ge­dich­te fan­den im Feuil­le­ton kaum Auf­merk­sam­keit.

Der ein­zi­ge Ro­man

Brink­manns ein­zi­ger Ro­man Kei­ner weiß mehr er­schien 1968 und liest sich zu­nächst wie ein ty­pi­scher 1970er-Jah­re-Text, vor al­lem wenn man die spä­ter er­schie­ne­nen Tex­te an­de­rer Au­toren zu­erst ge­le­sen hat. Ein Un­ter­schied be­steht dar­in, dass es kein »Ich« gibt. Es wird dort in der drit­ten Per­son er­zählt. »Er« ist als Stu­dent mit Frau und Kind und hat Ähn­lich­kei­ten mit Brink­mann. »Sie« oder »die Frau« hat Zü­ge von Ma­leen. Das »Kind« ist in Ro­berts Al­ter (die Be­hin­de­rung spielt kei­ne Rol­le). Zwei Freun­de, die zeit­wei­se auch in der Woh­nung le­ben, kom­men eben­falls vor. Sie wer­den kaum ver­frem­det. Ei­ner da­von, Rai­ner, über­rascht den Stu­den­ten, weil er sich als ho­mo­se­xu­ell outet. Er ist un­schwer als Brink­manns Freund Ry­gul­la zu iden­ti­fi­zie­ren.

Rolf Dieter Brinkmann: Keiner weiß mehr

Rolf Die­ter Brink­mann: Kei­ner weiß mehr

Pri­mär geht es um die fra­gi­le psy­chi­sche Ver­fasst­heit des Stu­den­ten, der sich in per­ma­nen­ter Un­rast be­fin­det und, wie man da­mals sag­te, ma­nisch-de­pres­si­ve Zü­ge trägt. Die­se Dia­gno­se ver­mei­det der Text na­tür­lich; die In­ter­pre­ta­ti­on liegt beim Le­ser. Mit Ver­lauf des Bu­ches schei­nen sei­ne zu­nächst nur ima­gi­nier­ten phy­si­schen An­grif­fe ge­gen sei­ne Frau in der Rea­li­tät statt­zu­fin­den; ganz si­cher ist das nicht. Zu­meist er­folgt rasch ei­ne Art Ver­söh­nung, meist über ein­ver­nehm­li­chen Sex. Ge­gen En­de scheint er so­gar ei­ne Ver­ge­wal­ti­gung zu be­gin­nen, stoppt dann je­doch noch. Der Ro­man quillt über von Be­ob­ach­tun­gen und An­schau­un­gen, die un­ge­fil­tert und oh­ne auf­ein­an­der Be­zug zu neh­men wie­der­ge­ge­ben wer­den. »Schnapp­schüs­se des Au­gen­blicks«, nann­te Brink­mann in ei­nem an­de­ren Zu­sam­men­hang die­ses Ver­fah­ren.

Die Ge­fühls­welt des Stu­den­ten ist star­ken Schwan­kun­gen un­ter­wor­fen. Mal ist es Hass, mal Geil­heit, mal Mü­dig­keit, mal Ver­zweif­lung über sei­ne Un­mög­lich­keit, sich auf sei­ne Ar­beit zu kon­zen­trie­ren. Man be­kommt den Ein­druck ei­ner ticken­den Zeit­bom­be. Im­mer stär­ker dreht es sich um sei­ne se­xu­el­le Be­frie­di­gung, die auf un­ter­schied­li­che Wei­se (als Span­ner, mit Pro­sti­tu­ier­ten oder als Ma­stur­ba­ti­on mit oder oh­ne Zu­schau­er) ex­er­ziert und dra­stisch ge­schil­dert wird. Das En­de ge­rät da­ge­gen fast ein biss­chen spie­ßig: »Abends sah dann schon wie­der al­les ganz an­ders aus. Am näch­sten Tag auch. Und so ging das gut. Im­mer wei­ter…« Schließ­lich scheint der na­hen­de Som­mer das Ge­müt zu be­ru­hi­gen.

Die zahl­rei­chen por­no­gra­phi­schen Stel­len pro­vo­zier­ten Re­ak­tio­nen, die den Ro­man in die Schlag­zei­len brach­te. Man muss­te schließ­lich beim Kauf ei­ne Er­klä­rung un­ter­schrei­ben, dass man voll­jäh­rig ist und den Ro­man nur zum pri­va­ten Ge­brauch ver­wen­det. Der Coup ge­lingt nur teil­wei­se; im er­sten Jahr wur­den trotz Er­wäh­nung in der Spie­gel-Best­sel­ler Li­ste nur 18.898 Ex­em­pla­re ver­kauft. Bis heu­te sind es 50.000.

Ame­ri­ka-An­tho­lo­gien

Aus dem Nou­veau Ro­man war, so die Bio­gra­fen, »Dir­ty Speech« ge­wor­den. Die Lek­tü­re er­zeugt bei mir Un­be­ha­gen, weil die Di­stanz über die drit­te Per­son den Le­ser zum Voy­eur macht. Wo­mög­lich mag dies die Ab­sicht ge­we­sen sein. Die Er­zähl­po­si­ti­on ist es auch, die den Ro­man von den spä­te­ren In­ner­lich­keits-Tex­ten der 70er Jah­re un­ter­schei­det. Am ehe­sten fühlt man sich an Pe­ter Hand­kes Die Angst des Tor­manns beim Elf­me­ter er­in­nert, des­sen Haupt­fi­gur Bloch wie bei­läu­fig ei­nen Mord be­geht. Kei­ner weiß mehr lebt vor al­lem von ei­ner un­ter­grün­di­gen Span­nung, der Spe­ku­la­ti­on über die Un­be­re­chen­bar­keit des Man­nes, der am En­de je­doch trotz der in­ten­si­ven Be­schrei­bun­gen sei­ner Hand­lun­gen und sei­nes Den­kens selt­sam un­nah­bar bleibt.

Sein be­ster Freund Ry­gul­la war zeit­wei­se nach Lon­don ge­zo­gen, nicht zu­letzt, um sei­ne Ho­mo­se­xua­li­tät aus­le­ben zu kön­nen. Brink­mann be­such­te ihn mehr­mals dort, er­leb­te hier ei­ne Frei­heit, die er aus Deutsch­land nicht kann­te, mach­te Be­kannt­schaft mit Un­der­ground­li­te­ra­tur, ame­ri­ka­ni­scher Ly­rik und den Au­toren der Beat-Ge­ne­ra­ti­on, ih­rer Cut-up-Tech­nik. Die bei­den schmie­de­ten Plä­ne. 1969 er­schei­nen in kur­zer Fol­ge zwei heu­te längst kul­tig ver­ehr­te Text­samm­lun­gen, die Brink­mann mit her­aus­gibt. Zum ei­nen zu­sam­men mit Ralf-Rai­ner Ry­gul­la ACID im März-Ver­lag von Jörg Schrö­der. »Neue ame­ri­ka­ni­sche Sze­ne« lau­te­te der Un­ter­ti­tel. ACID be­stand aus Ge­dich­ten, Pro­sa, Es­says, In­ter­views, Text­mon­ta­gen, Co­mics, Bil­dern, Col­la­gen und Fo­tos. Kurz dar­auf er­schien die An­tho­lo­gie Sil­ver Screen (Un­ter­ti­tel: »Neue ame­ri­ka­ni­sche Ly­rik«) bei sei­nem Haus­ver­lag Kie­pen­heu­er & Witsch. Brink­mann wirk­te hier (mit an­de­ren) als Ar­ran­geur, Über­set­zer und Her­aus­ge­ber US-ame­ri­ka­ni­scher Ly­rik. Sei­ne Vor­bil­der wa­ren jetzt Wil­liam S. Bur­roughs und Frank O’Ha­ra. Die Ent­decker­lust kann­te kei­ne Gren­zen. Die Bio­gra­fie do­ku­men­tiert aus­führ­lich die Schwie­rig­kei­ten der Pro­duk­tio­nen, die Ver­wer­fun­gen und Ver­lags­wech­sel. Aber sie zeigt auch Brink­manns Be­gei­ste­rungs­fä­hig­keit.

Ex­kurs: Brink­manns Zorn

Rolf Die­ter Brink­mann war, wie es in der Bio­gra­fie heißt, ein »in­ter­me­di­al ope­rie­ren­der Au­tor. An­ders, so sei­ne Über­zeu­gung, sei die Ge­gen­wart li­te­ra­risch nicht dar­zu­stel­len.« Tra­dier­te For­men soll­ten auf­ge­bro­chen bzw. er­wei­tert wer­den. So hat­te er es bei sei­nen Vor­bil­dern ge­se­hen. Die Be­schäf­ti­gung mit Un­der­ground­li­te­ra­tur kur­bel­te sei­ne Krea­ti­vi­tät an. Zwi­schen 1967 und 1970 er­schie­nen, so Töteberg/Vasa, fünf Ge­dicht­bän­de, die bei­den An­tho­lo­gien (plus ei­ne nur über Frank O’Ha­ra), der Ro­man, fast 50 Buch­kri­ti­ken im Ra­dio (wie für vie­le an­de­re Au­toren war der Rund­funk exi­sten­ti­ell), ein Por­trait von Mi­chel Bu­tor im Deutsch­land­funk, ein Ra­dio­fea­ture über Lon­don und ins­ge­samt sechs Stun­den Film­ma­te­ri­al, das Brink­mann im Su­per-8-For­mat auf­ge­nom­men hat­te. Die wer­den al­ler­dings erst 2007 von Ha­rald Berg­mann in ei­nem »Director’s Cut« von 88 Mi­nu­ten Län­ge un­ter dem Ti­tel Brink­manns Zorn ver­öf­fent­licht. Die zu­sam­men­ge­schnit­te­nen Sze­nen wur­de von Berg­mann mit Mu­sik un­ter­legt, die das Ge­zeig­te kon­ge­ni­al un­ter­stüt­zen. Man sieht hier Brink­mann in al­len mög­li­chen Si­tua­tio­nen, bei­spiels­wei­se auf ei­ner Fei­er, bei der Weih­nachts­be­sche­rung, im Zug in die Toi­let­te uri­nie­rend, sei­nen Kopf po­sie­rend in ei­ne Hand le­gend, mit ei­nem Ton­band durch ei­nen Tun­nel schrei­tend, sei­nen Sohn Ro­bert füt­ternd, mit der Zun­ge ei­nen Tisch und spä­ter ei­ne Tür­klin­ke ab­leckend oder bei der Ma­stur­ba­ti­on. Er filmt sei­ne Woh­nung, man be­kommt ei­nen Ein­druck von den aus Zeit­schrif­ten aus­ge­schnit­te­nen Bil­dern, zwei Freun­de von ihm ge­hen in und durch ein Kauf­haus, wo­bei ei­ner Be­we­gun­gen macht, die man da­mals Schwu­len zu­schrieb. Er zeigt Ma­leen, die nackt auf dem Bal­kon mit Ro­bert po­siert. Län­ge­re Pas­sa­gen zei­gen Tra­ve­stie­künst­ler; Brink­mann ver­klei­det und schminkt sich sel­ber, zieht sich schließ­lich ei­nen Bü­sten­hal­ter aus und pu­stet Sei­fen­bla­sen. Wil­des, un­ge­bühr­li­ches Le­ben wur­de von ihm da ge­filmt, frei­lich nicht im­mer oh­ne Po­se.

Harald Bergmann: Brinkmanns Zorn

Ha­rald Berg­mann: Brink­manns Zorn

Ei­ne län­ge­re Se­quenz bil­det ei­ne Rei­se nach Vech­ta. Frau­en in wei­ßen Knie­strümp­fen mit und oh­ne Kin­der­wa­gen auf der Stra­ße. Ein Zeit­do­ku­ment. Die mil­de, städ­ti­sche Welt wird rasch kon­ter­ka­riert, die Bild­fol­ge ist atem­be­rau­bend schnell. Aus­gie­big und aus al­len Per­spek­ti­ven be­kommt man das Ge­fäng­nis ge­zeigt, auch Brink­manns Gym­na­si­um flasht auf. Schmut­zi­ge Stel­len am Ran­de des Wal­des. Torf­ab­bau. Öl­för­de­rung. Tri­stesse, aber kei­ne Zeit zur Ru­he. Im­mer wie­der geht der Blick nach oben, in den Him­mel: Mi­li­tär­flug­zeu­ge schei­nen dort auf, Hub­schrau­ber (ent­spre­chend un­ter­malt im Ton). Brink­mann stört sich nicht dar­an, dass ein Fa­den auf der Ka­me­ra liegt – es ist ein Au­gen­blick, dann noch ein Au­gen­blick, dann noch ei­ner und im­mer so wei­ter. Wackel­ka­me­ra.

Ein paar Jah­re spä­ter wird Brink­mann in dem groß­ar­ti­gen Hör­spiel Be­such in ei­ner ster­ben­den Stadt die Ein­drücke von ge­le­gent­li­chen Be­su­chen in sei­ne Hei­mat­stadt in ei­ne ex­pres­si­ve Er­zähl-Col­la­ge ver­dich­ten.

Der zwei­te Ro­man

Die Ak­ti­vi­tä­ten zeig­ten Spu­ren. Brink­mann fühl­te sich ge­hetzt, gleich­zei­tig ent­frem­de­te er sich von ei­ni­gen Freun­den. Er brach so­gar mit Ry­gul­la, der Lek­tor bei Ro­wohlt wur­de und ge­wis­ser­ma­ßen die Sei­ten ge­wech­selt hat­te. Die po­li­ti­schen Am­bi­tio­nen der 68er, ihr Kol­lek­ti­vis­mus stie­ßen ihn ab. Es gab stän­dig Är­ger mit Kie­pen­heu­er & Witsch. Brink­mann er­hielt Vor­schüs­se, aber »lie­fer­te« nicht. Er woll­te un­be­dingt die Er­war­tun­gen an ei­nen zwei­ten Ro­man er­fül­len, steck­te aber fest, rauch­te Un­men­gen, trank, ex­pe­ri­men­tier­te mit Dro­gen. 1971 be­gann er mit ei­nem Col­la­ge- und Mon­ta­ge­buch mit dem sper­ri­gen Ti­tel Er­kun­dun­gen für die Prä­zi­sie­rung des Ge­fühls für ei­nen Auf­stand. Es be­stand aus ein­ge­kleb­ten Zei­tungs­ar­ti­keln und sei­ten­lan­gen ge­tipp­ten Tex­ten, manch­mal als »Ro­man­an­fang« ge­kenn­zeich­net, meist je­doch rasch aus­ufernd in Be­ob­ach­tungs­or­gi­en. Es sind zu­wei­len Blei­wü­sten mit Kor­rek­tu­ren, Strei­chun­gen, Wie­der­ho­lun­gen und Ver­wer­fun­gen. Manch­mal drei oder vier Spal­ten pro Sei­te, meh­re­re Tex­te par­al­lel, de­ren Fort­set­zung man su­chen muss und oft ge­nug nicht fin­det. Er stell­te auch Brie­fe an ihn ein, dann sei­ne Ant­wor­ten dar­auf, aus­ufernd. Brink­mann ist ver­zwei­felt und un­glück­lich mit die­sen »het­zi­gen Schü­ben und flie­hen­den, schnel­len Ge­dan­ken be­zw. Dro­hun­gen oder fla­chen un­ge­nau­en Äng­sten an­ge­trie­ben.«

Rolf Dieter Brinkmann: Erkundungen...

Rolf Die­ter Brink­mann: Er­kun­dun­gen...

Der Band er­scheint erst 1987, ist schwer les­bar, vor al­lem weil Brink­mann die Un­art be­saß, Leer­zei­chen nach Kom­ma­ta und Punk­ten aus­zu­las­sen1. Das ver­stärkt noch den Ein­druck des un­ge­ord­ne­ten Er­zähl­stroms, strengt aber un­ge­mein an. Man spürt den An­spruch, mit den ame­ri­ka­ni­schen Vor­bil­dern mit­hal­ten zu kön­nen. Er will ei­nen be­son­de­ren Ro­man schaf­fen, mit sich stell­ver­tre­tend für die Ge­ne­ra­ti­on im Mit­tel­punkt. Aber wie? An­de­re Schrift­stel­ler schwei­gen bei Schreib­hem­mun­gen, Brink­mann schreibt im­mer mehr, er­geht sich im »gro­ßen Ki­no des Be­wußt­seins«, er streunt durch Stra­ßen und Land­schaf­ten, sieht über­all Ver­fall, er­geht sich in re­pe­ti­ti­ven Ver­nich­tungs- und Por­no­gra­phie­phan­ta­sien. Er woll­te weg von der »Ad­di­ti­on von Wör­tern«, »von dem ir­ren to­ta­len Ein­zel­hei­ten-se­hen«, statt­des­sen »Vor­stel­lun­gen […] pro­ji­zie­ren«, »nicht die Re­pro­duk­ti­on ab­strak­ter, bil­der­lo­ser syn­tak­ti­scher Mu­ster«. Es ist ei­ne Pro­gram­ma­tik, die dem Ki­no nä­her ist als der Li­te­ra­tur. »An­ge­lehnt an Jack Ke­rouac, präg­te er die For­mel: Der Film in Wor­ten«, so die Bio­gra­fen.

Im No­vem­ber 1971 geht es für ein paar Wo­chen nach Lang­kamp in ei­ne ein­sa­me Müh­le oh­ne flie­ßen­des Was­ser und oh­ne Strom. Brink­mann woll­te zur Ru­he kom­men, ent­floh den auf ihn ein­pras­seln­den und nicht mehr aus­zu­hal­te­nen Bil­dern der Groß­stadt. In­zwi­schen hat­te er ei­ne Ar­no-Schmidt-haf­te Idio­syn­kra­sie ent­wickelt, die bis­wei­len in Wut­schü­be mün­de­ten. Der Auf­ent­halt war auch der Ver­such ei­ner Art Ent­zie­hungs­kur von Zi­ga­ret­ten und Dro­gen. Spä­ter kam der Künst­ler Hen­ning John von Frey­end, den er aus den Zei­ten der Künst­ler­grup­pe EXIT kann­te, hin­zu. Nach drei Wo­chen fuh­ren sie wie­der zu­rück; man ging sich in­zwi­schen auf der Ner­ven und stell­te die Fra­ge nach dem Sinn des Auf­ent­halts.

Vil­la Mas­si­mo, Rom

Zu­min­dest Ret­tung von der no­to­ri­schen Geld­not nah­te im Früh­jahr 1972. Brink­mann hat­te ein Sti­pen­di­um an der Vil­la Mas­si­mo in Rom er­hal­ten. 1.500 Mark mo­nat­lich, Un­ter­kunft und Rei­se­ko­sten frei, be­fri­stet für acht Mo­na­te mit Aus­sicht auf Ver­län­ge­rung. Der Schrift­stel­ler Her­mann Pe­ter Pi­witt, der zu­vor die­ses Sti­pen­di­um er­hal­ten hat­te, hat­te in der Ju­ry-Sit­zung ei­ni­ge Skep­ti­ker über­zeugt. Die Kri­tik hielt Ab­stand. Für den Spie­gel war er »ein un­ter­setz­ter Ge­sin­nungs­un­ra­sier­ter mit schlak­si­gem Mund­werk«. Selbst un­ter den als Bür­ger­schrecks apo­stro­phier­ten Prot­ago­ni­sten wur­de Brink­mann mit ei­ner Mi­schung aus Be­frem­den, Ver­ach­tung und Un­ver­ständ­nis be­trach­tet. Im Ge­dächt­nis blieb vor al­lem der Vor­fall vom 17. No­vem­ber 1968 in Ber­lin. Au­toren soll­ten mit Kri­ti­kern dis­ku­tie­ren. Auf der Büh­ne Tho­mas Bern­hard und Rolf Die­ter Brink­mann als Ver­tre­ter der Au­toren und Ru­dolf Har­tung und Mar­cel Reich-Ra­nicki als Kri­ti­ker. Letz­te­rer hat­te Brink­manns Pro­sa wohl­wol­lend, wenn auch nicht en­thu­sia­stisch be­spro­chen.

Es be­gann da­mit, dass Bern­hard nicht ne­ben Reich-Ra­nicki sit­zen woll­te, Har­tung be­schimpf­te und schließ­lich die Büh­ne ver­ließ. Dann Brink­manns Auf­tritt, der so­fort ge­gen Har­tung pol­ter­te und be­klag­te, dass sei­ne Ge­ne­ra­ti­on ih­re Macht miss­brau­chen wür­de, in dem man die jun­gen Au­toren nicht ge­nü­gend be­rück­sich­ti­ge. Har­tung ließ das nicht gel­ten, zeih­te Brink­mann Ah­nungs­lo­sig­keit. Der stei­ger­te sich nun in Ra­ge: »Sie wol­len mich in die­ser Si­tua­ti­on zu ei­ner Dif­fe­ren­zie­rung nö­ti­gen. […] Es geht nicht um Dif­fe­ren­zie­rung, es geht viel­leicht gar nicht um Li­te­ra­tur. Ich müss­te ein Ma­schi­nen­ge­wehr ha­ben und Sie über den Hau­fen schie­ßen.«

Töteberg/Vasa schrei­ben, der Vor­gang sei durch ei­nen Mit­schnitt des SFB do­ku­men­tiert. Was die Do­ku­men­ta­ti­on nicht ver­mag, ist die Fra­ge nach der Schreib­wei­se des »Sie« zu be­ant­wor­ten. Ist mit »Sie« Har­tung ge­meint? Reich-Ra­nicki be­zog es so­gar auf sich und woll­te es skan­da­li­sie­ren, wit­ter­te Un­dank. Noch in sei­nem Nach­ruf auf Brink­mann er­in­ner­te er an die Sze­ne. Oder war es ein all­ge­mei­nes »sie«, al­so die Kri­ti­ker ins­ge­samt? Oder mein­te er das Pu­bli­kum mit?

»Mie­se Ge­mein­schaft« und »Schlam­per«

Brink­mann neig­te da­zu, rasch im­pul­siv und ver­let­zend zu wer­den, auch wenn es zu sei­nem Nach­teil ge­reich­te. Und schon bald sich zei­gen, dass er auch in der Vil­la Mas­si­mo das en­fant ter­ri­ble war. Er fand kei­nen Zu­gang zu den an­de­ren Künst­lern und Au­toren, sprach über sie ver­ächt­lich. Ita­li­en war für ihn ein »ver­wahr­lo­stes Land«, Rom fand er häss­lich, ver­rot­tet und schmut­zig, die Denk­mä­ler zu wuch­tig. Die Aus­nah­me war die Sta­tue von Giord­a­no Bru­no am »Cam­po dei Fio­ri«. Brink­mann war ein »miss­lau­ni­ger Fla­neur«, wie es in der Bio­gra­fie heißt. Be­son­de­re Ab­scheu emp­fand er für die Scha­ren von Tou­ri­sten. Da­bei war er, wie die bei­den Bio­gra­fen in ei­nem An­flug von Mei­nung ein­streu­en, sel­ber ei­ner und ge­bär­de­te sich nicht ei­nen Deut bes­ser, in­dem er mit sei­nem Fo­to­ap­pa­rat Bil­der knip­ste.

Rolf Dieter Brinkmann: Rom, Blicke

Rolf Die­ter Brink­mann: Rom, Blicke

1979, vier Jah­re nach sei­nem Tod, er­schien Rom, Blicke, ein Rei­se­ta­ge­buch, ge­spickt mit Ein­drücken, Mecke­rei­en und Brie­fen. Die von ihm evo­zier­ten »Sinn­bil­der« (Selbst­be­schrei­bung) mit ih­ren »cut-ups«, die­ser hef­ti­ge, fast un­kon­trol­lier­te Mit­tei­lungs­drang, wirkt et­was do­me­sti­zier­ter als die Auf­zeich­nun­gen von 1971. An Ma­leen schreibt er Kar­ten und Brie­fe epi­schen Aus­ma­ßes; ein Brief ist län­ger als 100 Sei­ten, zwi­schen­zeit­lich te­le­fo­nie­ren sie. Brink­mann ist no­to­risch un­zu­frie­den – mit dem Quar­tier, der Lei­tung der Vil­la, den an­de­ren Sti­pen­dia­ten dort, die er pau­schal »Schlam­per« nennt aber auch mit der Stadt Rom, den Ita­lie­nern.

Die zeit­ge­nös­si­schen Schrift­stel­ler sei­en al­le »nicht zu er­tra­gen«, »er­bärm­lich bür­ger­lich- kit­schig und stink-kon­ven­tio­nell«. Er at­te­stiert ih­nen, dass sie »Schnitt­mu­ster-Bo­gen des Be­wußt­seins an sich an­ge­legt« hät­ten. Die we­ni­gen Zu­sam­men­künf­te in der Vil­la Mas­si­mo wi­dern ihn an, er sieht »die­se mie­se Ge­mein­schaft«. Ge­le­gent­li­che Aus­flü­ge mit den Sti­pen­dia­ten ge­ra­ten zu Tor­tu­ren. Er ent­deck­te über­all »nur noch ge­sell­schaft­li­ches Leer-Ge­re­de, Sät­ze, die vor Ent­lee­rung ei­nen to­ta­len ne­ga­ti­ven Un­ter­druck im Raum her­vor­rie­fen« und wun­der­te sich, dass we­gen des »ne­ga­ti­ven Un­ter­drucks« kei­ne Fen­ster zer­sprun­gen wa­ren. Schon ein »Du« ei­nes Men­schen, den er nicht kann­te, brach­te ihn zum Ko­chen. »Ich ha­be Schwie­rig­kei­ten, die gan­ze enor­me Häß­lich­keit der Ge­gen­wart zu ak­zep­tie­ren«, schrieb er Ma­leen, die er ne­ben sei­nen Ein­drücken auch noch über­schüt­tet wird mit sei­nen se­xu­el­len Vor­stel­lun­gen und Wün­schen, Rück­blicken aus der Kind­heit und Ju­gend und Zu­kunfts­äng­sten (auch um sei­nen Sohn Ro­bert).

Plä­doy­er für den Ein­zel­nen

Nur ein­mal ver­lässt Brink­mann in die­sen Auf­zeich­nun­gen den rei­nen Be­ob­ach­tungs­mo­dus. Es ist ei­ne Ant­wort auf ei­nen Brief von Hans Pe­ter Pi­witt, des­sen Vor­ge­schich­te die Bio­gra­fen skiz­zie­ren. Pi­witt be­fand sich in Le­a­ming­ton, Eng­land, in ei­ner Ein­rich­tung für deut­sche Schrift­stel­ler und kri­ti­sier­te Brink­manns ge­sell­schaft­li­che An­sich­ten un­ter mar­xi­sti­schen Ge­sichts­punk­ten, ver­se­hen mit ei­ni­gen Brecht-Zi­ta­ten. Der So­zia­lis­mus wür­de nicht ewig hal­ten, so Pi­witt, aber die kom­mu­ni­sti­sche Uto­pie wür­de blei­ben. Brink­manns Her­aus­stel­lung des Ein­zel­nen ge­gen die Mas­se de­nun­zier­te er als Ge­nie­kult und warf ihm Es­ka­pis­mus vor. Brink­manns Ant­wort vom 21.11.1972 fiel scharf ar­gu­men­tie­rend aus. Er kan­zel­te Brecht als »blö­de« ab und hob zu ei­nem lei­den­schaft­li­chen Plä­doy­er für den Ein­zel­nen an, der im­mer un­ter­drückt wor­den sei, »von Ge­schich­te, von Ta­ges­pflich­ten, von der je­wei­li­gen den Tag be­herr­schen­den Ver­pflich­tung, wie heu­te durch die Ver­pflich­tung, an die Vie­len zu den­ken und für sie zu spre­chen.«

Der Ein­zel­ne war für Brink­mann der »Künst­ler, Ent­decker, Er­fin­der, Her­aus­fin­der, Be­ob­ach­ter«, je­mand der »über dem Durch­schnitt« ist. Brink­mann war er­regt über Pi­witts Es­ka­pis­mus-Vor­wurf ge­gen ihn (er schrieb es, ver­mut­lich um des­sen Al­ter­tüm­lich­keit zu il­lu­strie­ren, »Es­ca­pis­mus«) und wehr­te sich ge­gen das Vor­ge­hen, »je­de Win­zig­keit über den Lei­sten der ge­sell­schaft­li­chen Nütz­lich­keit zu schla­gen.« Brink­manns »gro­ße Ein­zel­ne« wa­ren zu die­ser Zeit Wil­helm Reich, Da­vid Coo­per (bei­de ge­gen Freud), Hans Hen­ny Jahnn (mit dem er kurz vor des­sen Tod 1959 ei­nen klei­nen Brief­wech­sel be­gon­nen hat­te) und Giord­a­no Bru­no. Mit Er­grif­fen­heit zi­tier­te er die Le­gen­de, Bru­no ha­be die Schmer­zen auf dem Schei­ter­hau­fen still er­tra­gen, um den Rich­tern kei­nen Tri­umph zu gön­nen. Sei­ne Ab­rech­nung mit dem kol­lek­ti­vi­sti­schen Wort­ge­klin­gel sei­ner Zeit ist schlicht groß­ar­tig. Brink­mann ver­sucht so­gar die Ona­nie als De­mon­stra­ti­on des Ein­zel­nen zu in­ter­pre­tie­ren. Ei­ne Ant­wort von Pi­witt dar­auf ist nicht im Buch.

Brink­mann war men­tal auf ei­nem Tief­punkt an­ge­langt, »nichts: kei­ne Freu­de, kein Ge­nuß«. We­ni­ge Ta­ge vor Weih­nach­ten ver­ließ er Rom und ließ sich in Ole­va­no Ro­ma­no, ca. 50 km von Rom ent­fernt, in die Ca­sa Bal­di, ei­ner De­pen­dance der Vil­la Mas­si­mo nie­der. Ole­va­no ist ein klei­nes Berg­dorf, 571 m hoch, mit 6.160 Ein­woh­nern. Das Le­ben in der Ca­sa Bal­di war spar­ta­nisch, er muss­te Le­bens­mit­tel und Brenn­stoff ein­kau­fen, aber er hat­te sei­ne Ru­he. Für kur­ze Zeit leb­ten auch der Dich­ter Lud­wig Tieck und der Ma­ler Franz Theo­bald Hor­ny in dem klei­nen Ort. Brink­manns Be­ob­ach­tungs­ma­schi­ne läuft auf hal­ber Kraft; er fin­det plötz­lich Ge­fal­len an Wol­ken­for­ma­tio­nen (»grel­le wei­ße Wol­ken­bäu­che« wech­seln mit »bren­nen­den, glü­hen­den Wol­ken­schei­ten« ab) und Licht­ver­hält­nis­se: »zu­erst und im­mer an­we­send ist ei­ne Stil­le und mit der Stil­le das Licht«. Zwar sieht er auch hier häss­li­che Ge­bäu­de und Ver­fall (»über­al­te­ter Ort« in »ran­zi­ger Ar­mut«), aber nicht mehr aus­schließ­lich. In West­wärts 1 & 2 kann man im wun­der­bar sanf­ten Ge­dicht Can­ne­lo­ni in Ole­va­no, dem ein ita­lie­ni­sches Wort von Tieck vor­an- und ans En­de ge­stellt ist, Brink­manns Ent­span­nung er­le­ben: »Weit weg dü­ster­te West­deutsch­land da­hin, der / Alb­traum, zu­sam­men­ge­fal­len, rau­chen­de In­du­strie« und er kon­sta­tiert: »zog man die In­du­strie / ab, was blieb dann da­von?« Die hei­ßen Can­ne­lo­ni mach­ten es, »sich gut zu füh­len«.

Das Ka­pi­tel um Vil­la Mas­si­mo und Ca­sa Bal­di ist das ge­lun­gen­ste in der Bio­gra­fie, weil die Ver­schmel­zung der Er­eig­nis­se mit den Zi­ta­ten aus dem Rei­se­ta­ge­buch kon­ge­ni­al ge­lingt. Am En­de schien, so Tö­te­berg und Va­sa, Brink­mann fast mit Ita­li­en ver­söhnt zu sein. Rom, Blicke lässt das nicht un­be­dingt er­ken­nen. Er lern­te ge­gen En­de Ró­bert Wit­tin­ger ken­nen, ei­nen Kom­po­ni­sten, mit dem er sich wie auch mit dem Zeich­ner und Fo­to­graf Gün­ther Knipp an­freun­de­te. We­ni­ger ver­träg­lich en­de­te das Sti­pen­di­um. Die Ver­län­ge­rung wur­de ihm nicht ge­währt und er hat­te 6.000 Mark Te­le­fon­schul­den.

»Das all­täg­li­che Le­ben in der Ge­gen­wart«

Hen­ning John von Frey­end wur­de der be­vor­zug­te Brief­part­ner von Brink­mann. Die fi­nan­zi­el­le Si­tua­ti­on spitz­te sich wei­ter zu. Der Rund­funk half mit Auf­trä­gen. Un­ter an­de­rem er­mög­lich­te man ihm ein Selbst­por­trait, in dem Brink­mann auf wun­der­ba­re Wei­se ei­nen Über­blick über sei­ne Le­bens­auf­fas­sung und Poe­tik bie­tet (Die Wör­ter sind bö­se – ab 5:00). Da kam der Ruf nach Austin/Texas ganz recht. Ak­zen­te-Her­aus­ge­ber Hans Ben­der fä­del­te die Do­zen­tur für Brink­mann im »Wri­ters in Residence«-Programm ein. Es gab 7.000 Dol­lar für das Se­me­ster; der Dol­lar stand da­mals um die 2,50 Mark. Im Ja­nu­ar 1974 ging es los, Un­ter­richt von »zwei Klas­sen«, ein­mal drei Stun­den wö­chent­lich plus 14tägig zwei Stun­den »in­for­mel­le Ge­sprä­che mit ver­schie­de­nen The­men«. Als Ti­tel sei­nes Se­mi­nars wähl­te er: »Spra­che, Li­te­ra­tur, Kör­per­ver­hal­ten.« Brink­mann er­stell­te ei­ne Lek­tür­eli­ste mit 40 Bü­chern. Auch in Au­stin blei­ben Kon­flik­te nicht aus, we­ni­ger mit den Stu­den­ten als mit den Pro­fes­so­ren. So mit dem Ger­ma­ni­sten Rein­hold Grimm, den Brink­mann nach ei­nem Vor­trag die gan­zen Kli­schees, die er ver­wen­det hat­te, vor­hielt. Als Grimm sich ver­tei­dig­te, dass dies Ab­sicht ge­we­sen sei, lach­te das Pu­bli­kum und Brink­mann ver­ließ den Saal.

Brink­mann traf sich auch pri­vat mit den Stu­den­ten. Mit Hart­mut Schnell, »ei­nem fast gleich­alt­ri­gen Stu­den­ten im zehn­ten Se­me­ster«, freun­de­te er sich an. Man mach­te Aus­flü­ge. Brink­mann re­flek­tier­te sei­ne Zeit in den letz­ten Jah­ren, fass­te neu­en Mut. Ma­leen hat­te das Stu­di­um an den Päd­ago­gi­schen Hoch­schu­le wie­der auf­ge­nom­men und auch Brink­mann er­wog dies und schick­te sei­nem Pro­fes­sor in Köln Vor­schlä­ge für neue Un­ter­richts­for­men an Schu­len. Im Mai ging es wie­der zu­rück in die En­ge Kölns. Die wirt­schaft­li­che La­ge hat­te sich nicht ver­än­dert. Das Te­le­fon war auch zu Hau­se ab­ge­stellt, der Ge­richts­voll­zie­her ging ein und aus, es droh­te die Ab­schal­tung des Stroms.

Aber er hat­te wie­der Lust aufs Schrei­ben, schwor dem Ro­man ab, über­ar­bei­te­te zu­rück­ge­leg­te Ge­dich­te und auch neue ent­stan­den. Zu­sätz­lich ver­fass­te er ein Art Es­say, ei­ne Ge­gen­warts­be­schrei­bung sei­nes Den­kens, Füh­lens und Schrei­bens, die im­mer um­fang­rei­cher wur­de. Wie­der gab es Är­ger; Brink­mann reiz­te je­de Frist für die Zu­sen­dung des Ma­nu­skripts aus. West­wärts 1 & 2 soll­te der Band hei­ßen. Den Klap­pen- bzw. Pres­se­text dik­tier­te er dem Ver­lag per Te­le­fon. »Ih­re The­men sind das all­täg­li­che Le­ben in der Ge­gen­wart, Se­xua­li­tät, die Um­ge­bung, die Un­ru­he, die Spra­che und das Spre­chen, das Hin und Her zwi­schen den ver­schie­de­nen Or­ten, Men­schen und Be­wußt­seins­zu­stän­den.« Er sel­ber ka­te­go­ri­siert sei­ne Ly­rik als »oft lan­ge aus­schwei­fen­de und ab­schwei­fen­de, rausch­haf­te Tex­te«, die »zu ei­nem in­ten­si­ven Er­leb­nis­wir­bel« wür­den.

Schließ­lich muss­te er Kom­pro­mis­se ma­chen, ei­ni­ge Ge­dich­te wur­de ge­stri­chen und der Es­say schaff­te es auch nicht ins Buch. Den­noch war er zu­frie­den und freu­te sich auf die Ein­la­dung zum »Cam­bridge Poet­ry Fe­sti­val«. Die wei­ter­hin gro­ßen fi­nan­zi­el­len Schwie­rig­kei­ten so­wie die mög­li­che Tren­nung von Ma­leen konn­te er aus­blen­den; die er­sten Vor­ab­ex­em­pla­re von West­wärts 1 & 2 wa­ren da. Er nahm ei­nes mit. Und dann kam die Ka­ta­stro­phe.

Be­mer­kens­wert, dass Brink­mann in Kei­ner weiß mehr ei­nen Un­fall be­schrie­ben hat­te, der dem sei­nes To­des ver­blüf­fend äh­nel­te, frei­lich für ei­ne an­de­re Per­son: »Sie rennt über ei­ne Stra­ße, die Kreu­zung dort bei den Hoch­haus, Wa­gen kom­men schnell, und dicht hin­ter­ein­an­der auf­ge­fah­ren her­an, ein Wa­gen schleu­dert sie weg, ge­gen ei­nen an­de­ren Wa­gen. Al­les ge­schieht sehr schnell und ist nur ein ein­zi­ges zu­sam­men­ge­scho­be­nes Ge­räusch…« In den Er­kun­dun­gen wird der »Tö­tungs­in­stinkt ei­nes Au­to­fah­rers« be­schrie­ben. Dies­mal ist er das Op­fer: »als ich die Stra­ße über­que­re, und er di­rekt auf mich zu­rast und so­gar ei­nen klei­nen Schwen­ker macht, ne­ben ihm saß so ei­ne Fot­ze, und er fuhr wie ein Ir­rer tat­säch­lich ir­re«. Auch in sei­nen Ma­te­ria­li­en kom­men im­mer wie­der Au­to­un­fäl­le vor, als hät­te er ei­ne Ah­nung ge­habt.

Zet­tel­ka­sten

370 Sei­ten (plus 16 Sei­ten Fo­to­ab­drucke) um­fasst die weit­ge­hend chro­no­lo­gi­sche Bio­gra­phie von Mi­cha­el Tö­te­berg und Alex­an­dra Va­sa. Die End­no­ten sind aus­schließ­lich Re­fe­ren­zen; es gibt kei­ne Ne­ben­tex­te. Ei­ni­ge Ge­dich­te fal­len auf, die oh­ne Quel­len­an­ga­be ab­ge­druckt sind und so­mit neu sein dürf­ten. Der Ton des Bu­ches ist an­ge­nehm, an Fak­ten ori­en­tiert. Kon­zen­triert auf Per­son und Le­ben, ent­hal­ten sich die Au­toren wohl­tu­end über­bor­den­der Deu­tun­gen. Das gilt auch für die ein­zel­nen Werk­stücke, die nur skiz­ziert wer­den. In­ter­pre­ta­tio­nen, die über die mög­li­chen Par­al­le­len zwi­schen Fik­ti­on und Rea­li­tät hin­aus ge­hen, gibt es so gut wie gar nicht. Man mag dies be­kla­gen, aber es för­dert, ja: er­zwingt das In­ter­es­se des Le­sers, sich an­hand der Ori­gi­nal-Tex­te ein ei­ge­nes Bild zu ma­chen.

Frank Schäfer: Rolf Dieter Brinkmann - Ein Zettelkasten

Frank Schä­fer: Rolf Die­ter Brink­mann –
Ein Zet­tel­ka­sten

In Frank Schä­fers Zet­tel­ka­sten ent­deckt man na­tur­ge­mäß Über­schnei­dun­gen mit der Bio­gra­fie. Den­noch könn­ten bei­de Bü­cher nicht un­ter­schied­li­cher sein. Schä­fer hat The­sen zu Per­son und Werk und lie­fert In­ter­pre­ta­tio­nen. Über­prü­fen kann man sei­ne Zi­ta­te lei­der nicht; es gibt kei­ne Fuß- oder End­no­ten. Er kommt am En­de zu der Kon­klu­si­on, dass »die wah­re Tra­gik« die­ses Schrift­stel­lers dar­in lie­ge, dass sein Werk »sei­ne post­hu­me Au­ra­ti­sie­rung zur Kult­fi­gur gar nicht nö­tig ge­habt« ha­be.

Auf den 160 Sei­ten un­ter­nimmt Schä­fer tat­säch­lich al­les, um die­se Au­ra­ti­sie­rung – falls es sie über­haupt ge­ge­ben hat – ein­zu­rei­ßen und das sich an­geb­lich selbst fei­ern­de »Ge­nie« auf den Bo­den zu ho­len. So wird bei­spiels­wei­se über Brink­manns »stin­ken­den Ach­sel­schweiß« be­rich­tet, den nicht ein­mal sei­ne Mut­ter »ab« konn­te. Schä­fer hat in Er­fah­rung ge­bracht, dass Brink­mann wäh­rend sei­ner Aus­bil­dung Bü­cher ge­stoh­len hat­te. Bei­des fin­det sich in der Bio­gra­fie nicht.

Schä­fer be­rich­tet zwar, dass das 1940 ge­bo­re­ne Kind bei den al­li­ier­ten Luft­an­grif­fen auf Vech­ta, sei­ner Ge­burts­stadt, von »zer­sprin­gen­den Ein­weck­glä­sern auf dem Kel­ler­re­gal« die Er­fah­rung von »Zer­stö­rung, Ver­hee­rung, Angst« breit ge­macht hat­te. Aber es stört ihn, er wit­tert, dass sich Brink­mann als Op­fer des Krie­ges se­he, was die­ser aber, so Schä­fer de­kre­tie­rend, gar nicht dür­fe. Ein wei­te­rer Be­leg wird in Brink­manns Iden­ti­fi­ka­ti­on für Wolf­gang Bor­cherts Drau­ßen vor der Tür ge­ba­stelt, denn Bor­cherts Stück sei ei­ne »lar­moy­an­te Kla­ge über die Zeit« und my­sti­fi­zier­te den Wehr­machts­sol­da­ten. Der Gym­na­si­ast Brink­mann auf der fal­schen Spur. Im­mer­hin geht Schä­fer nicht so weit wie der SS-Mann und spä­te­re Kri­ti­ker Hol­thusen, der in Bor­cherts Stück »sau­ren Kitsch« kon­sta­tier­te.

Zu­sam­men mit ei­ni­gen spä­ter ge­mach­ten Äu­ße­run­gen Brink­manns wird die­ser po­li­tisch fast als Re­vi­sio­nist cha­rak­te­ri­siert. Zum Bei­spiel als er in ei­nem Brief an Ma­leen in Rom, Blicke, fest­stell­te, es herr­sche bei den Deut­schen »die dump­fe At­mo­sphä­re ei­ner Kol­lek­tiv­schuld«. Mit wei­te­ren Re­cher­chen hät­te Schä­fer viel­leicht noch die Stel­le in den Er­kun­dun­gen ge­fun­den, in der er sich ähn­lich äu­ßert, von »Ri­tua­len ei­nes ein­ge­üb­ten Schuld­be­wußt­seins« schreibt und für sich fest­stellt: »ich ha­be kei­ne Schuld.« »Es wird ei­nem mul­mig bei die­sem Op­fer­la­men­to«, so Schä­fer, »bei dem das Leid der an­de­ren nur als Ur­sa­che für die ge­sell­schaft­li­che Zwangs­jacke der Nach­kriegs­zeit in die Wer­tung kommt.« Schä­fer er­kennt in der Ab­leh­nung von per­sön­li­cher Schuld das gän­gi­ge deut­sche Op­fer­n­ar­ra­tiv und macht dies zur Ur­sa­che für Brink­manns Jäh­zorn, sei­ne Zor­nes- und Wut­aus­brü­che, sei­ne Ge­walt­tä­tig­keit. Brink­mann kom­pen­sier­te, so die The­se, die­sen Hass mit ei­nem Ge­nie­kult. Bei nä­he­rer Be­trach­tung sei­nes Wer­kes ist die­ser Ein­wurf min­de­stens zwei­späl­tig. Und wenn Brink­mann sei­ne per­sön­li­che Schuld an Na­zis­mus und Krieg ne­giert, so ist dies nicht zwin­gend falsch. Brink­mann in­di­rekt (neu-)rechtes Ge­dan­ken­gut zu un­ter­stel­len, ist ab­surd.

Die Hy­po­the­sen hin­dern Schä­fer nicht, sich zu­wei­len dem Duk­tus Brink­manns an­zu­nä­hern. Da­bei ist es durch­aus er­fri­schend, wenn ei­ni­ge der ganz frü­hen Ge­dich­te und Pro­sa-Din­ge ver­wor­fen wer­den. Wie et­wa die »Rob­be-Gril­let­sche Tech­nik des Bei­na­he-Still­le­bens« in Rau­pen­bahn. Und da­mit der Le­ser ei­nen Ein­druck be­kommt, wird noch der Lek­tü­re-Ein­druck des Au­tors Schä­fer vom Nach­som­mer von Adal­bert Stif­ter an­ge­führt, von dem er »nie mehr als 50 Sei­ten« ge­schafft ha­be. Nur: Wen soll das in­ter­es­sie­ren?

Die rea­len wie ver­meint­li­chen Be­ein­flus­sun­gen Brink­manns wer­den feuil­le­ton­ge­mäss ab­ge­hakt: Zu­nächst Exi­sten­tia­lis­mus, dann Nou­veau Ro­man, spä­ter Pop-Li­te­ra­tur-Pio­nier. Dass Schä­fer ei­ne De­fi­ni­ti­on des Pop-Li­te­ra­tur-Be­griffs ver­wei­gert, ist ihm nicht an­zu­la­sten – schließ­lich er­leich­tert es die Deu­tun­gen, wenn al­les im Un­ge­fäh­ren, Ober­fläch­li­chen bleibt. Und dann kom­men schließ­lich »li­te­ra­ri­sche Zeitströmung[en]« die man, wie Schä­fer weiß, heu­te »Neue Sub­jek­ti­vi­tät«, »Neue Emp­find­sam­keit« oder »Neue In­ner­lich­keit« nennt. Das klingt gut, hat aber mit dem li­te­ra­ri­schen Oeu­vre von Brink­mann nichts zu tun. Der be­gab sich nach ei­ner Pha­se gro­ßer Schaf­fens­kraft ins öf­fent­li­che Schwei­gen, be­vor er sich schließ­lich in ei­nem schmerz­haf­ten Pro­zess der Ly­rik zu­wand­te. Es wä­re in­ter­es­san­ter ge­we­sen, über die­se kom­ple­xi­täts­re­du­zie­ren­de Em­ble­ma­tik hin­weg die­se Ent­wick­lung her­aus­zu­ar­bei­ten. Die Ma­te­ria­li­en hier­zu lie­gen ja jetzt auf dem Tisch.

Si­cher, da wird im­mer der »Be­schrei­bungs­ge­ne­ra­tor« Brink­mann the­ma­ti­siert, et­was, was sich durch sein gan­zes Werk zieht. Aber wor­in liegt der Zweck die­ser »Be­schrei­bungs­po­tenz«, wie Schä­fer das ein­mal nennt? Und wie ver­trägt sich das mit der »Djan­go-At­ti­tü­de« des Schrift­stel­lers? Am En­de kommt er dann drauf, spricht von den »pro­fa­ne Epi­pha­ni­en« »auf­ge­ho­ben« in Ge­dich­ten, die, wie es mir scheint, manch­mal Be­schwö­run­gen na­he­kom­men und dies, wie Schä­fer kon­sta­tiert, »in­mit­ten zi­vi­li­sa­to­ri­schen Zer­falls«, den Brink­mann im­mer wie­der wü­tend fest­stell­te.

Zwei Ka­pi­tel in die­sem Zet­tel­ka­sten sind sehr in­struk­tiv. Zum ei­nen der Ab­druck ei­ner Re­zen­si­on, oder bes­ser: Buch­kri­tik von Hel­mut Sal­z­in­ger aus dem Jahr 1970 zu Brink­manns Sil­ver Screen. Der Text weckt In­ter­es­se an dem lei­der nur an­ti­qua­risch lie­fer­ba­ren Buch. (Der Le­ser fragt sich nur, war­um Brink­mann in Rom, Blicke knapp drei Jah­re spä­ter schrieb, »die USA-Din­ger« hät­te er »gar nicht ma­chen« dür­fen.) Und zum an­de­ren die Aus­füh­run­gen zu Fritz Mauth­ner, den Sprach­phi­lo­so­phen und ‑skep­ti­ker, den Brink­mann zu­neh­mend als Re­fe­renz ent­wickel­te. Dem­nach wä­re sein Schrei­ben ein Pa­ra­do­xon: »Spra­che zu über­win­den mit der Spra­che«. Hier punk­tet Schä­fer und wie wich­tig Mauth­ner für Brink­mann ist, kann man bei ihm sel­ber nach­le­sen.

Lei­der zi­tiert er dann Zeit­zeu­gen, die über Brink­mann ur­tei­len. Den Bruch mit Pi­witt re­ka­pi­tu­liert Schä­fer aus Rom, Blicke und nennt Brink­manns Re­plik »pe­dan­tisch-psy­cho­lo­gi­sie­rend«. Nach den Re­cher­chen der Bio­gra­fen Tö­te­berg und Va­sa in Pi­witts Vor­lass weiß man, dass der rea­le Aus­lö­ser die­ser klei­nen »Be­lei­di­gungs­sua­da« (Schä­fer) ver­mut­lich ei­ne sa­lop­pe For­mu­lie­rung Pi­witts an Brink­mann war: »Ich fin­de, es wird Zeit, daß wir un­se­ren Brief­wech­sel ver­sil­bern«. Brink­mann war höchst ir­ri­tiert. Das klang doch arg nach Nütz­lich­keits­den­ken, et­was, was ihm zu­tiefst ver­hasst war. Die­se Pas­sa­ge so­wie die Ant­wort Brink­manns dar­auf wur­de in Rom, Blicke ge­tilgt. Das »ver­sil­bern« wird al­ler­dings von Brink­mann auf Sei­te 333 noch ein­mal er­wähnt.

Wolf Wond­rat­schek kann in sei­nem State­ment nicht wi­der­ste­hen, für sich sel­ber Pu­bli­ci­ty zu ma­chen. In den Er­kun­dun­gen kann man nach­le­sen, dass Brink­mann ab­ge­sto­ßen und fas­zi­niert zu­gleich von ihm war. Bis­wei­len ist nicht klar, ob die Ur­tei­le über Brink­mann aus Nach­ru­fen er­fol­gen (wie bei Ni­co­las Born) oder aus an­de­ren Zei­ten (wie bei Jörg Schrö­der). Wohl­tu­end die Schil­de­run­gen von Hart­mut Schnell, den Brink­mann in Au­stin ken­nen­lern­te. Hier er­fährt man von Brink­manns Lie­be zu den al­ten te­xa­ni­schen Ei­chen. Man be­kommt den Ein­druck, dass Hart­mut Schnell ei­ner der we­ni­gen war, die Brink­mann nicht als Pro­fi­lie­rung für ih­re ei­ge­nen Ak­ti­vi­tä­ten sa­hen.

Weg von die­sen »Scheiß-Per­so­nen«: West­wärts 1 & 2

Ei­ner der Grün­de für das Aus­blei­ben des zwei­ten Ro­mans: Brink­mann konn­te kei­ne Fi­gu­ren ent­wer­fen. In den Er­kun­dun­gen kann man sein Schei­tern auf hun­der­ten von Sei­ten nach­le­sen. Fast ver­zwei­felt fin­det sich ir­gend­wann ei­ne No­tiz: »Ich fin­de es wi­der­lich, so­bald je­mand mit Per­so­nen! in ei­nem Ro­man an­fängt!!! Ich weiß, wie stark das ein­engt! Legt aber al­les auch fest. Des­we­gen kann ich nicht mehr schrei­ben. Ich will von die­sen Scheiß Per­so­nen weg!« Er kann die Flut sei­ner Ein­drücke nicht in Pro­sa ver­wan­deln. Im Ge­dicht war das an­ders. Hier konn­te er bei sich blei­ben. So ent­stand West­wärts 1& 2. Der Ro­wohlt-Ver­lag legt nun ei­ne neue, er­wei­ter­te Aus­ga­be von West­wärts 1 & 2 vor, er­gänzt mit 26 bis­her nicht oder ver­streut er­schie­ne­nen Ge­dich­ten. Auch wird der mehr als 70seitige Es­say, der 1975 ver­lags­sei­tig ge­stri­chen wur­de, ab­ge­druckt.

Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2

Rolf Die­ter Brink­mann:
West­wärts 1 & 2

Es wä­re leicht­fer­tig, die­sen Text, den Brink­mann Ein un­kon­trol­lier­tes Nach­wort zu mei­nen Ge­dich­ten über­schreibt, zu über­schla­gen, stellt er doch ein Ex­trakt all der (zur da­ma­li­gen Zeit) un­ver­öf­fent­lich­ten Notiz‑, Col­la­gen- und Ma­te­ri­al­bän­de dar. Hier bün­delt Brink­mann nicht mehr und nicht we­ni­ger als sei­ne poe­ti­sche Pro­gram­ma­tik. Es ist ei­ne Quint­essenz der Jah­re öf­fent­li­chen Schwei­gens und un­ent­weg­ten Be­ob­ach­tens und No­tie­rens.

Die­ses Nach­wort ist zu­gleich ei­ne wil­de Eman­zi­pa­ti­on von Brink­manns Göt­tern und Ge­schich­ten der Ver­gan­gen­heit. Hin­zu kommt ei­ne un­barm­her­zi­ge Ne­ga­ti­on al­ler gei­stes­wis­sen­schaft­li­chen Ana­ly­sen, sei­en sie li­te­ra­risch oder so­zio­lo­gisch, psy­cho­lo­gisch oder po­li­tisch grun­diert, die un­ter dem Schmäh­be­griff »Vieh­lo­lo­gie« sub­sum­miert wer­den. Da­ge­gen setzt er simp­le (simp­le?) Be­ob­ach­tun­gen, wie et­wa: »Hat wer den schwarz ver­kohl­ten Gin­ster am Bahn­damm ge­se­hen?«

Er bricht er so­gar mit dem einst so ver­ehr­ten Gott­fried Benn, den er ka­ri­kiert als je­mand, der in »Ga­ma­schen mit ei­ner Dienst­ak­ten­ta­sche über die Eis­fel­der ge­flüch­tet« sei, at­te­stiert ihm ei­ne »schluch­zen­de Dun­kel­heit al­ter Män­ner, die auf ei­ner Park­bank sit­zen, an ei­nem künst­li­chen Teich mit Trau­er­wei­den…« Er ver­höhnt lust­voll Li­te­ra­tur­kri­ti­ker (er ha­be ein­mal je­man­den »mie­se Nö­del­tri­ne« ge­nannt), wünscht sich die Zer­stö­rung des Thea­ters mit ih­ren »al­ten ver­gam­mel­ten My­then von Lie­be von Tod«, schimpft über Se­mi­na­re des Uni­ver­si­täts- und Wis­sen­schafts­be­triebs, die »voll­ge­stopft mit sinn­lo­sem Ge­re­de« da­her­kom­men und seit drei­ßig Jah­ren »im Ir­ren­haus der Tau­to­lo­gien« ro­tier­ten. Mas­sen­me­di­en, die die Spra­che be­stim­men, sind »in­stal­lier­te Kon­troll­ma­schi­nen«. In den Ton­band­auf­zeich­nun­gen, die Ha­rald Berg­mann in Brink­manns Zorn col­la­gier­te, fällt der Satz, Mas­sen­me­di­en leg­ten ih­re Lar­ven in den Kör­pern der Men­schen ab. Er hasst den Ka­pi­ta­lis­mus mit sei­nem Kon­sum, der ein mehr oder we­ni­ger schnö­der »Er­satz für Le­ben­dig­keit« sei. Al­les die­ne ei­ner Ge­sell­schaft, ei­nem Kol­lek­tiv, der »Zi­vieh­li­sa­ti­on« – für Brink­mann, dem Ver­fech­ter des rück­halt­lo­sen, ge­ra­de­zu li­ber­tär an­mu­ten­den In­di­vi­dua­lis­mus, ein »Ter­ror des All­ge­mein­ge­fühls«.

In den Ge­dich­ten fin­den sich zahl­rei­che, fast schon ob­ses­si­ve Ne­ga­ti­va zur so­zia­len und po­li­ti­schen La­ge »West­deutsch­lands« in den 1970ern. Da ist zum Bei­spiel von ei­ner »Krebs­ge­sell­schaft« die Re­de. Und die »ge­gen­wär­ti­gen Ge­mein­schafts­for­men / ver­der­ben mir je­des­mal den Ge­schmack«, denn »der Grup­pen­haß (Grup­pen­dy­na­mik) gilt je­der ein­zel­nen Per­son, die / ab­weicht.« Auch von Eu­ro­pa hält er nicht viel: »Eu­ro­pa ist ein Ge­rüm­pel und die My­then sind schlam­pi­ge // Nut­ten, die durchs Be­wußt­sein lun­gern…« Im­mer wie­der spricht Brink­mann von »Krieg«, dem Krieg der Ge­schlech­ter, aber auch der Krieg, der sich naht­los nach 1945 fort­ge­setzt ha­be und sich im Zwang zur Ver­wert­bar­keit zei­ge.

Die Ver­nei­nung der Spra­che

Nichts be­steht. Selbst die Spra­che nicht. Sie sei gar nicht so wich­tig, po­stu­liert Brink­mann im Nach­wort und zi­tiert den be­reits an­ge­spro­che­nen Mauth­ner, »daß in der Spra­che kei­ne Er­kennt­nis­se zu ma­chen sind«. In den Ton­bän­dern stell­te er Ma­leen die Fra­ge, ob es nicht lä­cher­lich sei, Ge­dan­ken durch Wör­ter aus­rücken zu müs­sen. Je­des Ge­dicht, so Brink­mann im Nach­wort, ent­hal­te in sich »die Ver­nei­nung der Spra­che«, es zei­ge, so schwingt mit, »die Er­schöp­fung durch Be­grif­fe und Wör­ter.« Ein Stoß­seuf­zer auf den Ton­bän­dern: »Ach, ge­hen Sie weg mit ih­ren Wör­tern!« Ei­ne ra­di­ka­le­re Ab­kehr der gän­gi­gen Schaf­fens- wie Re­zep­ti­ons­mu­ster von Li­te­ra­tur wird man kaum zu le­sen be­kom­men.

Hier­zu passt Klaus The­we­leits Hy­po­the­se im Film Schnit­te Col­la­gen in­ner­halb des Pro­jek­tes Brink­manns Zorn. The­we­leit glaubt, Brink­mann ha­be (wie auch er) er­kannt, dass die Spra­che als Do­mi­nanz­me­di­um aus­ge­dient ha­be. »Der Im­puls, mit Spra­che auf­zeich­nen zu wol­len, was al­les los ist […] hat die Ly­rik der Avant­gar­de, et­wa von Pound bis Benn und die Pro­sa von Joy­ce bis Schmidt [ge­meint ist Ar­no Schmidt], aus­ge­reizt.«. The­we­leit schließt dar­aus: »Hät­te er [Brink­mann] an­ge­fan­gen, Fil­me zu ma­chen, wä­re das viel­leicht ei­ne Ret­tung ge­we­sen.« Die Ma­te­ri­al­ge­mi­sche aus Text, Fo­to und Col­la­ge, die­se »Scrap­books« (Hel­mut Pie­per), müss­te man sich dem­nach als Über­gän­ge zum Me­di­um Film hin vor­stel­len. In­di­rekt stützt Ma­leen Brink­mann die­se Theo­rie, in dem sie dar­auf hin­weist, Rolf Die­ter hät­te Film­pro­jek­te ge­plant, aber kei­ne Un­ter­stüt­zung ge­fun­den. Er bleibt auf die Spra­che an­ge­wie­sen und wählt da­für das Ge­dicht, weil er sich hier auf das »Ich« kon­zen­trie­ren kann.

Ins­be­son­de­re die po­ly­pho­nen Flä­chen­ge­dich­te mit ih­ren »dis­pa­ra­ten ty­po­gra­phi­schen Er­schei­nungs­bil­dern« (Die­ter Lie­wer­scheidt) in West­wärts 1 & 2, in der oft drei oder vier Stim­men par­al­lel er­schei­nen, zei­gen Brink­manns Ver­su­che, sich an die Gren­zen der Spra­che zu be­ge­ben. Es geht um das Fest­hal­ten der (als schä­big emp­fun­de­nen) Ge­gen­wart, im Wis­sen dar­um, dass, je län­ger Ge­gen­warts­mo­men­te be­schrie­ben wer­den, die Ver­gan­gen­heit ein­greift und das Kon­zept der Un­mit­tel­bar­keit sinn­li­cher Er­leb­nis­se ge­stört oder gar ver­un­mög­licht wird.

Schon in der be­rühmt ge­wor­de­nen Vor­be­mer­kung in West­wärts 1 & 2 wird die­se Si­tua­ti­on ma­ni­fest: »Die Ge­schich­ten­er­zäh­ler ma­chen wei­ter, die Au­to­in­du­strie macht wei­ter, die Ar­bei­ter ma­chen wei­ter, die Re­gie­run­gen ma­chen wei­ter, die Rock ’n’ Roll-Sän­ger ma­chen wei­ter, die Prei­se ma­chen wei­ter, das Pa­pier macht wei­ter, der Mond geht auf, die Son­ne geht auf, die Au­gen ge­hen auf, Tü­ren ge­hen auf, der Mund geht auf…« He­ra­klits »Al­les fließt« ist für Brink­mann nicht nur Zu­stands­be­schrei­bung, son­dern Mo­ti­va­ti­on und Ver­pflich­tung, denn, so heißt es auch im Un­kon­trol­lier­ten Nach­wort, »die Ta­ge ma­chen wei­ter, die Mo­na­te, die Jah­res­zei­ten ma­chen wei­ter…«. Der Dich­ter gibt die­sem Wei­ter­ma­chen ei­ne Form, in Spra­che ge­fasst, gleich­zei­tig wis­send, dass dies pro­ble­ma­tisch bleibt.

Brink­manns Ge­dicht­samm­lung ist ein he­te­ro­ge­ner Kor­pus, ein Wir­bel­strom, der ei­nem mit­reißt aber manch­mal auch aus­spuckt. Die er­wähn­ten kom­pli­zier­ten Flä­chen­ge­dich­te, die viel­fa­che Gleich­zei­tig­kei­ten si­mu­lie­ren, ste­hen ne­ben ru­hi­gen, bei sich blei­ben­den, fast be­schwö­rend-poe­ti­schen Au­gen­blicksbe­trach­tun­gen, die zu­wei­len so­gar ins hu­mo­ri­ge ge­hen. Wür­de man die Ge­dich­te mit Ge­mäl­den ver­glei­chen, dann gibt es vor al­lem die mon­strös-gru­se­li­gen Wim­mel­bil­der ei­nes Hie­ro­ny­mus Busch (die West­wärts- und Bruch­stücke-Ge­dich­te et­wa oder Ge­dicht 30.10.74, Po­li­ti­sches Ge­dicht 13. Nov. 74 oder Frag­ment zu ei­ni­gen po­pu­lä­ren Songs). Dann die be­rücken­den Ed­ward-Hop­per-ähn­li­chen Be­schwö­run­gen ei­nes Ste­hen­den Jetzt, wie bei­spiels­wei­se Die Oran­gen­saft­ma­schi­ne, Ein an­de­res Lied, das Can­ne­lo­ni-Ge­dicht, Oh, fried­li­cher Mit­tag, Mond­licht in ei­nem Bau­ge­rüst, Fron­leich­nams­blues). Schließ­lich die­se dü­ste­ren Ar­muts­bil­der, er­in­nernd an den frü­hen van Gogh, wie das Lied von den kal­ten Bau­ern auf dem kal­ten Land… oder Ei­ni­ge sehr po­pu­lä­re Songs, die zu­wei­len in End­zeit­sze­na­ri­en über­ge­hen. Da­zwi­schen, fast ver­steckt, ein rüh­rend-zärt­li­ches Va­ter-/Mut­ter­ge­dicht (Frag­ment, 3). Mehr­mals wird Kind­heit und Ju­gend evo­ziert, frei­lich nie ver­klä­rend, eher als Mühl­stein, der es un­mög­lich macht, Sinn­lich­keit in der Ge­gen­wart frei zu (er)leben. Man­che Ge­dich­te schei­nen ei­nem Mot­to ver­pflich­tet, wie dem Schat­ten, dem Al­lein­sein oder ei­nem dif­fu­sen Pa­nik-Ge­fühl über al­les und je­den. Wie nicht an­ders zu er­war­ten gibt es, was Mo­ti­ve und Me­ta­phern an­geht, Red­un­dan­zen und Wie­der­ho­lun­gen.

Sturm und Drang

Nach Kei­ner weiß mehr nann­te Karl Heinz Boh­rer Brink­mann den er­sten Pop-Li­te­ra­ten Deutsch­lands. Die­ses Eti­kett soll­te er nicht mehr los­wer­den und schien sich mit sei­ner Af­fi­ni­tät zum ame­ri­ka­ni­schen Un­der­ground noch zu ver­fe­sti­gen. Aber was ist Pop-Li­te­ra­tur ei­gent­lich? Töteberg/Vasa ver­su­chen die­ses La­bel als »Kampf zwi­schen Hoch- und Tri­vi­al­kul­tur« zu de­fi­nie­ren. Bis­her tri­vi­al ein­ge­schätz­te Er­zäh­lun­gen der Un­ter­hal­tungs­in­du­strie, wie Co­mics, Mu­sik oder Fil­me ran­gie­ren jetzt gleich­be­rech­tigt ne­ben den My­then der Hoch­kul­tur oder über­la­gern sie gar. Wie Brink­mann dies ver­stand, zeig­te sich, als er vom Un­fall­tod O’Ha­ras hör­te. Von ihm hat­te er ge­lernt, »daß schlecht­hin al­les, was man sieht und wo­mit man sich be­schäf­tigt, wenn man nur ge­nau ge­nug sieht und di­rekt ge­nug wie­der­gibt, ein Ge­dicht wer­den kann, auch wenn es sich um ein Mit­tag­essen han­delt.«

Einst als »Au­tor sei­ner Ge­ne­ra­ti­on« be­trach­tet, schei­ter­te ei­ne nach­hal­ti­ge Ka­no­ni­sie­rung, was nicht zu­letzt an den bruch­stück­haf­ten Pu­bli­ka­ti­ons­for­men sei­nes Wer­kes ge­le­gen hat. Nein, ein »Pop-Li­te­rat« war Brink­mann nie; es half vor­über­ge­hend, ein Eti­kett zu fin­den. Zu­mal sich der Be­griff ge­wan­delt hat. Ge­gen­wär­ti­ge Pop-Li­te­ra­ten ste­hen der Kon­sum- und Wa­ren­welt weit­ge­hend af­fir­ma­tiv ge­gen­über; sie ver­wen­den sie als In­di­zi­en für die Cha­rak­te­ri­sie­rung ih­rer Fi­gu­ren. Al­so was kann ei­nem die­ser »an­gry young man« (Lie­wer­scheidt) mit sei­nen schon da­mals aus der Zeit ge­fal­le­nen Ge­dich­ten heu­te noch sa­gen? Er­ste Ant­wor­ten gibt es wo­mög­lich in der Be­trach­tung der Ge­gen­warts­li­te­ra­tur. Wo gibt es denn ei­ne die­se flir­ren­de, wü­ten­de, un­flä­ti­ge, von Ekel ge­trie­be­ne, un­ver­söhn­li­che und zu­gleich sehn­suchts­ge­lei­te­te, ra­sier­mes­ser­schar­fe Ra­di­ka­li­tät, wie sie Brink­mann nicht nur aus­drück­te, son­dern ex­zes­siv vor­leb­te? »Mei­ne Wör­ter« schreibt er ein­mal: »Ficken, Tit­ten, Fot­ze, Schwän­ze, Grün, Mond, Ster­ne, Tun, Kraft!«

Frank Schä­fer zi­tiert Her­mann Pe­ter Pi­witt von 1979, der ihn da­mals ver­ächt­lich »D’An­nun­zio aus Vech­ta« nann­te. Selbst nach dem Tod warf man noch mit Dreck. Ge­schah es aus Un­ver­ständ­nis oder aus Ge­häs­sig­keit? Si­cher­lich, Brink­mann war ein Wort- ein Sinn­zer­stö­rer, ein Lo­go­klast und Denk­mal­stür­mer. »Hal­lo, ich has­se Sie, ich bin der schmie­ri­ge häß­li­che Träu­mer…«, schreibt er ein­mal. Nichts bän­digt ihn in sei­ner Mi­schung aus Selbst­hass und Grö­ßen­wahn. Ex­em­pla­risch die­se sei­ten­lan­gen apo­ka­lyp­ti­schen Ver­nich­tungs­phan­ta­sien von Köln in den Er­kun­dun­gen, mit »ver­stüm­mel­ten Kör­pern« auf den Stra­ßen. Ir­gend­wo be­kennt Brink­mann, er kön­ne nur spre­chen, so­bald ihm et­was nicht ge­fal­le: »das Schö­ne ist für mich sprach­los«. Und zu­gleich zeigt er im­mer wie­der, wie er für die Sehn­sucht lebt, mit Spra­che Le­ben­dig­keit zu er­zeu­gen.

Ei­ne Sze­ne in Ole­va­no aus Rom, Blicke kommt ei­nem in den Sinn. Er fand dort Mu­ße zur Lek­tü­re, Klas­si­ker be­vor­zugt, Jean Paul, Karl Phil­ipp Mo­ritz, Fluß oh­ne Ufer von Jahnn und ent­wickel­te da­bei fast spie­le­risch ei­ne ver­blüf­fen­de De­fi­ni­ti­on des deut­schen Cas­par-Da­vid-Fried­rich-Ro­man­ti­kers, den er als je­man­den sah, der sich im Zer­fall, »im Ka­put­ten, Über­al­ter­ten« ein­ge­rich­tet hat­te, »schä­bi­ge klei­ne Hüt­ten, aus­ge­fran­ste Hin­ter­hö­fe, abend­li­che Däm­me­rung […], ei­ne ster­ben­de Welt, […] ei­ne re­si­gnie­ren­de Welt, ei­ne abend­län­di­sche Welt, ei­ne deut­sche Welt, ei­ne To­des­welt.« Und das ist auch sei­ne Welt ge­we­sen. Aber der Wunsch war ein an­de­rer: »Ich möch­te ei­ne ganz an­de­re Welt!« brüll­te er ein­mal auf Band. Rolf Die­ter Brink­mann war 1975 im Über­gang ei­nes Sturm-und-Drang­li­te­ra­ten, ei­nes Lenz des 20. Jahr­hun­derts, auf dem Weg zum Ro­man­ti­ker. Die­se Ent­wick­lung blieb ihm ver­wehrt.

Da­zu passt dann die­ser Nach­ruf von Pe­ter Hand­ke, den man in Töteberg/Vasas Bio­gra­fie fin­det. Hand­ke sah Brink­mann als ein »Ich, das quer­liegt zur Welt« und schrieb wei­ter: »Im Ver­gleich zu al­len sub­jek­ti­ven Sa­chen, die jetzt als Ret­tung der Li­te­ra­tur auf­tau­chen, ist bei Brink­mann das Ich nicht ge­ret­tet. Die­ses nicht ge­ret­te­te, im­mer noch ge­fähr­de­te, im­mer noch be­droh­te, be­dräng­te, er­schla­ge­ne Ich, das macht für mich in den Ge­dich­ten von Brink­mann das Wah­re, das Be­zeich­ne­te aus. […] Brink­mann weist in die Zu­kunft, da­durch, dass er zeigt, dass das Ich für im­mer ge­fähr­det sein wird, und das Ich nicht ge­ret­tet sein will in ir­gend­ei­ner Art von po­li­ti­schem Sy­stem.«

Was wä­ren das für 80er Jah­re mit Rolf Die­ter Brink­mann ge­wor­den…

© Lo­thar Struck

Ver­wen­de­te Ma­te­ria­len:

Rolf Die­ter Brink­mann: Kei­ner weiß mehr , Ro­wohlt, Neu­aus­ga­be 2005.
Rolf Die­ter Brink­mann: Er­kun­dun­gen für die Prä­zi­sie­rung des Ge­fühls für ei­nen Auf­stand. Hg. von Ma­leen Brink­mann, Ro­wohlt 1987.
Rolf Die­ter Brink­mann: Die Wör­ter sind bö­se, Hör­spiel, WDR, 1973.
Rolf Die­ter Brink­mann: Be­such in ei­ner ster­ben­den Stadt, Hör­spiel, WDR, 1973.
Rolf Die­ter Brink­mann: Rom, Blicke. Hg. von Ma­leen Brink­mann. Ro­wohlt 1979.
Rolf Die­ter Brink­mann: West­wärts 1 & 2, Ro­wohlt 2025.

Ha­rald Berg­mann: Brink­manns Zorn , Ha­rald-Berg­mann-Film­pro­duk­ti­on, 2007.
Die­ter Lie­wer­scheidt: Kon­struk­ti­ve De­kon­struk­tio­nen, XS-Ver­lag, 2024.
Frank Schä­fer: Rolf Die­ter Brink­mann Zet­tel­ka­sten, Ver­lag An­dre­as Reif­fer, 2025.
Mi­cha­el Töteberg/Alexandra Va­sa: Ich ge­he in ein an­de­res Blau, Ro­wohlt, 2025.


  1. 1988 erschien mit Schnitte ein weiterer Materialienband Brinkmanns. Der spielt im weiteren Verlauf dieses Essays keine Rolle. Eine Übersicht über diesen Band liefert das gleichnamige collagierte Hörspiel vom BR, das 1995 produziert wurde

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  1. Für mich war »Rom, Blicke« ein sehr wich­ti­ges Buch, im­mer wie­der ge­le­sen, aber nie von der er­sten bis zur letz­ten Sei­te. War­um auch soll­te man die Re­stau­rant­rech­nun­gen und Schimpf­ti­ra­den ei­nes Au­tors ih­rer Ge­samt­heit stu­die­ren? Aber im­mer wie­der dar­in ge­le­sen, das ja. Wie in der Bi­bel blät­ternd, im­mer wie­der bei ei­ner Pas­sa­ge hän­gen­blei­bend.

    Im­mer wie­der mal fand ich Brink­mann beim Le­sen so klein­bür­ger­lich wie die (Klein-)Bürger, über die er her­zog. Gries­grä­mig, pe­dan­tisch, dau­ernd un­zu­frie­den. Ein ty­pi­scher Deut­scher, der kein Deut­scher sein will.

    Was in die­sem Es­say klar wird: Die bi­po­la­ren Ver­hal­tens­mu­ster Brink­manns. So wür­de man es heu­te nen­nen. Die ma­ni­sche Ex­pres­si­vi­tät, mit Zwei­feln an Mög­lich­keit und Sinn der Ex­pres­si­on, wirkt da­bei stil­bil­dend.

  2. Vie­len Dank für die ein­fühl­sa­me Be­spre­chung. Ich ha­be von dem Au­tor tat­säch­lich erst neu­lich ge­hört, als Sie die Stu­di­en von Lie­wer­scheidt be­spro­chen ha­ben. Gibt vie­les, was mir ein­leuch­tet, be­son­ders die Ne­ga­ti­vi­tät und das kleb­ri­ge vor­läu­fi­ge Un­glück, nicht da­von weg­zu­kom­men. Den gan­zen to­ta­li­tä­ren Zorn kann man im­mer noch Eins zu Eins zi­tie­ren. Hat sich nichts ge­än­dert, an der Ge­samt­si­tua­ti­on. – Ih­re Klas­si­fi­ka­ti­on ge­fällt mir auch: auf dem Weg zur Ro­man­tik vor­zei­tig... ver­un­glückt. Hand­ke da­zu sehr ab­strakt aber ver­mut­lich rich­tig! Was mir noch fehlt, ist die Er­klä­rung, war­um die Poe­sie nicht als Spe­zi­al­ge­biet gel­ten durf­te, da­mals. Muss es im­mer die gro­ße Er­zäh­lung sein?! Steckt da­hin­ter wie­der nur ein Gel­tungs­drang, der Wil­le zur Au­to­ri­tät?! Der Ge­schäfts­sinn kann es ja nicht ge­we­sen sein. In ei­nem Dra­ma (1. FC Kunst vs. Uni­on Deutsch­spre­cher) wür­de ich zu­nächst die Poe­sie als we­sent­lich be­nach­tei­ligt ein­ord­nen. Deut­lich mehr ge­fähr­det als die um­fäng­li­che Er­zäh­lung. Ein­ge­zwängt zwi­schen Ver­kehrs­spra­che, In­for­ma­ti­ons­zir­kus und »kol­lek­ti­vi­sti­schen Schein­ge­dan­ken«. Sie wä­re al­so zu­al­ler­erst zu ret­ten, auf dem un­ter­ge­hen­den Schiff Zi­vi­li­sa­ti­on. – Was mir im­po­niert hat: dass Brink­mann die Es­sen­zia­li­tät der Spra­che ge­gen­über dem Den­ken er­fasst. Der Text ist, was vom Ge­dan­ken ans Licht kommt, Kom­pres­si­on und In­te­gral... In ei­ner Zeit zu­mal, die ei­ne ziem­lich ab­sur­de »Lai­en-Lin­gu­istik« pro­pa­giert hat. Neu­ro­ti­zi­tät, auf­ge­motzt zur Sprach­phi­lo­so­phie! Da scheint B. nicht drauf rein­zu­fal­len. Gut ge­macht, un­be­kann­ter Au­tor!

  3. @ Leo­pold Fe­der­mair

    Brink­mann war auch von Selbst­hass durch­zo­gen und im­mer wenn er er­kann­te, in wel­cher Aus­sichts­lo­sig­keit er sich zwi­schen »Klein­bür­ger­tum« und »Schrift­stel­ler« be­fand, ge­riet er in Zorn. Der frü­he Tod ver­hin­der­te, dass er sich ent­schei­den muss­te: Ei­ne Kar­rie­re wie z. B. Rai­nald Goetz hin­zu­le­gen oder ei­ner je­ner zu wer­den, den man ir­gend­wann nur noch als »Ge­heim­tip« kennt. Die ka­ta­stro­pha­le Edi­ti­ons­ge­schich­te nach sei­nem Tod steu­er­te dann auf das zu­letzt ge­nann­te zu.

    Nach der Lek­tü­re frag­te ich mich, in­wie­fern Brink­mann be­stehen wird. Ich ha­be da Zwei­fel. Viel­leicht wer­den zwei oder drei sei­ner Ge­dich­te in An­tho­lo­gien »über­le­ben«. Im­mer­hin.

    @ die_kalte_Sophie

    Die »Poe­sie« – ich neh­me an, Sie mei­nen »Ly­rik« – spielt nach wie vor kei­ne gro­ße Rol­le im Li­te­ra­tur­be­trieb und fri­stet ein Ni­schen­da­sein. Im­mer noch »zählt« nur der Ro­man. Er fin­det in den Feuil­le­tons Be­ach­tung. Al­les an­de­re läuft ne­ben­her.

  4. Bays­wa­ter

    Er war aus Vech­ta (weiß nicht, wo das siegt).
    Mit­ten im Re­de-Schritt, hört man
    (ja, furcht­bar: „h ö r t“ )
    nachts über­fah­ren hier.

    Mün­zen roll­ten, eng­li­sche wohl. Wäh­rend
    der an­de­re, zu­rück­blei­bend,
    am Bord­stein Wur­zeln schlug.
    Cha­ron hier nicht ge­fragt. Das Klas­si­sche

    war Brink­mann das Ver­pön­te.
    So über­sah er wohl stets das Pro­fil,
    den Na­sen­rücken, fein er­hellt, so­wie
    den fe­sten (nicht et­wa ge­stren­gen) Blick

    und auf­merk­sa­men (würd ich sa­gen) Mund:
    die stum­me Mah­nung: nicht nur
    nach vorn zu schau­en, son­dern auch
    nach rechts — wie die so jung Ge­krön­te.

    https://www.begleitschreiben.net/wp-content/uploads/2025/03/pence.jpg

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