Wel­ten und Zei­ten XVII

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Ge­dich­te von Wil­liam Car­los Wil­liams im Ra­dio, Öster­rei­chi­scher Rund­funk, in ei­ner Sen­dung, die seit acht­zig Jah­ren ih­re Struk­tur und Ge­stalt nicht ver­än­dert hat und die ich schon als Stu­dent gern hör­te. Un­ver­än­dert auch der Ti­tel, ein Schu­bert-Lied zi­tie­rend, al­ter­tüm­lich und, im­mer schon, oh­ne Iro­nie: Du hol­de Kunst. Al­ter­tüm­lich oder bes­ser, mit ei­nem an­de­ren al­ter­tüm­li­chen Wort: zeit­los. Al­so hier Wil­liam Car­los Wil­liams, ein Ge­dicht aus dem All­tag, aus sei­nem Haus, sei­nem Gar­ten, aus ei­ner klei­nen Stadt, aus der Pro­vinz, der Pro­vinz des Men­schen. Spä­ter Ge­dich­te aus und über Pa­ter­son, im Al­ter wur­de so­gar Wil­liams ein we­nig ge­schwät­zig. Zwei­fel­los hat sich Jim Jar­musch für sei­nen wun­der­ba­ren Film Pa­ter­son auch von Wil­liams an­re­gen las­sen. Ge­dich­te schrei­ben, Ge­dich­te hö­ren, Ge­dich­te le­sen – üb­ri­gens auch im Film – ist hier ein Platz ma­chen, Weg­räu­men von Un­er­heb­li­chem, nicht et­wa, um ir­gend­ein We­sent­li­ches ins Au­ge zu fas­sen, son­dern um das, was da ist, die paar Din­ge, mei­ne ei­ge­ne We­nig­keit, ins spär­li­che Wort zu set­zen.

  • Wenn mei­ne Frau schläft
    wenn das Klei­ne und Kath­rin
    wenn sie schla­fen
    und die Son­nen­schei­be flam­mend
    weiß in sei­de­nen Ne­beln
    über schim­mern­den Bäu­men steht
    wenn ich dann in mei­nem Zim­mer, –
    nörd­lich, nackt, gro­tesk
    vor mei­nem Spie­gel tan­ze,
    schwenk mein Hemd mir um den Kopf
    und mir lei­se selbst zu­sin­ge:
    »Ich bin ein­sam, ein­sam,
    und zum Ein­sam­sein ge­bo­ren,
    ein­sam bin ich auf der Hö­he!«
    Wenn ich Ar­me und Ge­sicht,
    Schul­tern, Flan­ken, Hin­tern an mir selbst
    be­wund­re vor den gel­ben Ja­lou­sien, –
    Wer leug­net dann, daß ich hier glück­lich
    und mein gu­ter Haus­geist bin?

Al­so Platz schaf­fen für Be­deu­tung, nicht für gro­ße, son­dern für klei­ne, ge­rin­ge, ver­ein­zel­te Be­deu­tung. Weg mit dem Bla­bla, mit dem Rau­schen, dem Viel-zu-Vie­len, weg mit den Me­di­en (ab­ge­se­hen von Ra­dio und Buch). Kon­text re­du­zie­ren, bis nur ein paar Wör­ter üb­rig­blei­ben, die die Din­ge ih­rer Exi­stenz ver­si­chern, und dich dei­ner. Ei­ne Art von – Ge­nug­tu­ung. Das Wil­liams­sche Ge­dicht tut ge­nau ge­nug.

Und die­sen Ro­man woll­te ich ei­gent­lich gar nicht le­sen: De Vri­endt kehrt heim von Ar­nold Zweig. War­um nicht? Weil mir Ar­nold Zweig, so mein Vor­ur­teil, zu sehr im Fahr­was­ser je­ner da­mals, seit den zwan­zi­ger Jah­ren des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts, vor Hit­lers Macht­er­grei­fung und der Emi­gra­ti­on der deut­schen Gei­stes­welt, im Schwan­ge be­find­li­chen, po­li­tisch kor­rek­ten, hu­ma­ni­sti­schen, pa­zi­fi­sti­schen, an­ti­fa­schi­sti­schen Li­te­ra­tur schrieb. Li­on Feucht­wan­ger, Le­on­hard Frank, Erich Ma­ria Re­mar­que. Das Pro­blem mit De Vri­endt kehrt heim ist aber nicht sein Hu­ma­nis­mus oder An­ti­fa­schis­mus (ver­stan­den als Ab­leh­nung von Ge­walt als po­li­ti­schem Mit­tel), son­dern die jour­na­li­sti­sche Mach­art. Li­te­ra­ri­sche Kon­fek­ti­ons­wa­re, ge­schickt ver­fugt. War­um auch nicht? Als ar­mer Schlucker kann ich mir maß­ge­schnei­der­te Kla­mot­ten ja auch nicht lei­sten, war­um soll­te ich von Bü­chern ver­lan­gen, daß sie ex­qui­sit sind? Ex­qui­sit wie was? Wie die Jo­sephs­ro­ma­ne, wo Tho­mas Mann – wie üb­lich – ver­steckt von sich selbst er­zählt. Au­to­fik­ti­on, ist das et­wa bes­ser?

Im Ver­gleich zu solch ge­die­ge­ner Hau­te Cou­ture hat Ar­nold Zweig sei­ne Cha­rak­te­re rasch zu­sam­men­ge­schnip­selt, um po­li­ti­sche Ver­hält­nis­se zu ver­an­schau­li­chen, die er als en­ga­gier­ter Au­tor recht ei­gent­lich mit­tei­len möch­te. Auch in­for­mie­ren möch­te er, wo Hau­te Cou­ture-Ro­ma­ne be­wußt auf kru­de In­for­ma­ti­on ver­zich­ten. Es gibt so­wie­so viel zu viel In­for­ma­ti­on, heu­te mehr denn je, al­so weg mit dem Vie­len, mit dem Bla­bla. In De Vri­endt kehrt heim tut Zweig das Ge­gen­teil, er stopft die Sei­ten voll mit In­for­ma­tio­nen über Pa­lä­sti­na, sei­ne Land­schaft, sei­ne Eth­ni­en, sei­ne re­li­giö­sen und po­li­ti­schen Grup­pie­run­gen, sei­ne Kul­tur­ge­schich­te, sät­tigt und über­sät­tigt sie mit Dis­kus­sio­nen und Stand­punk­ten. Ar­nold Zweig hat ei­nen 1932 hoch­ak­tu­el­len Ro­man ge­schrie­ben, und neu auf­ge­legt wur­de er, weil er heu­te, nach dem 7. Ok­to­ber 2023, im­mer noch und schon wie­der und erst recht hoch­ak­tu­ell ist, wie auch der Vor­wort­schrei­ber Me­ron Men­del, ein Päd­ago­ge und, wie es heißt, Pu­bli­zist, be­tont. Wir er­fah­ren viel, sehr viel über die ver­fah­re­ne Si­tua­ti­on in Pa­lä­sti­na, über die Ge­gend, die 1932 oder 1929 – zu die­ser Zeit spielt der Ro­man – ein bri­ti­sches Pro­tek­to­rat war und heu­te der Staat Is­ra­el ist.

Nun ja, ge­nau das er­war­te ich mir nicht von Li­te­ra­tur: Ak­tua­li­tät. Eher das Ge­gen­teil, Un­zeit­ge­mäß­heit und Zeit­lo­sig­keit (was nicht das­sel­be ist). Des­halb mein Un­wil­le, die­sen Ro­man zu le­sen. Ge­le­sen ha­be ich ihn dann doch, weil die Haupt- und Ti­tel­fi­gur ein Pä­do­phi­ler ist. Das hat mich nun doch neu­gie­rig ge­macht, und zwar ge­ra­de des­halb, weil die Re­zen­sio­nen, et­wa in der ZEIT, der Süd­deut­schen Zei­tung oder der Frank­fur­ter Rund­schau, die­se Tat­sa­che re­gel­recht ver­schwei­gen oder be­sten­falls strei­fen, ge­nau wie schon Me­ron Men­del im Vor­wort, der ver­schämt ein »gleich­ge­schlecht­li­ches Be­geh­ren« ab­hakt. Jiz­chak de Vri­endt, ein nie­der­län­di­scher, nach Pa­lä­sti­na aus­ge­wan­der­ter Ju­de, als Dich­ter, Pu­bli­zist und Theo­lo­ge tä­tig, liebt ei­nen vor­pu­ber­tä­ren Kna­ben, erst am En­de des Buchs, nach ei­nem vol­len Er­zähl­jahr, als de Vri­endt längst tot ist, wird ihm ein leich­ter Bart­flaum an­ge­dich­tet.

Ich will nicht be­haup­ten, daß Pä­do­phi­lie das zen­tra­le The­ma die­ses Ro­mans ist. Die Kna­ben­lie­be, die Zweig durch­aus so­kra­tisch-päd­ago­gisch ge­stal­tet, ist je­doch ein we­sent­li­ches Ele­ment der Per­sön­lich­keit de Vri­endts wie auch des Plots so­wie der Ver­mu­tun­gen und In­ter­pre­ta­tio­nen, die sich um die Er­eig­nis­se ran­ken. Der Ro­man ist näm­lich als Kri­mi an­ge­legt, das mei­ste Ge­sche­hen wird durch die Bril­le ei­nes bri­ti­schen Po­li­zei­of­fi­ziers er­zählt. Ein Mit­glied der ara­bi­sche Fa­mi­lie des Kna­ben Saúd könn­te den un­mo­ra­li­schen Ver­füh­rer er­mor­det ha­ben, oder aber po­li­tisch mo­ti­vier­te Zio­ni­sten. Die Lie­be zwi­schen Saúd und dem »Va­ter des Bu­ches«, wie er ihn nennt, wird als ge­gen­sei­tig, fast als in­nig ge­schil­dert, und der Po­li­zei­mann hat sich den klu­gen Mann zum Freund und Schach­part­ner er­ko­ren, dem er sein La­ster um­stands­los nach­sieht. Po­li­ti­sche, re­li­giö­se, mo­ra­li­sche, se­xu­el­le, eth­ni­sche Ge­sichts­punk­te und Er­zähl­strän­ge sind so sehr mit­ein­an­der ver­strickt, daß der Durch­blick schwie­rig ist, auch für den iro­nisch-prag­ma­ti­schen Kri­mi­na­li­sten, der mich hin und wie­der an ei­nen ge­wis­sen Phil­ip Mar­lo­we den­ken ließ. Am En­de be­schwört die­ser ei­ne Art Got­tes­ur­teil her­auf – ei­ne er­zähl­tech­ni­sche Lö­sung, die mir eben­falls nicht ge­fiel, ein biß­chen gar zu locker auf­ge­zäumt, un­be­küm­mert um Wahr­schein­lich­kei­ten, die für so ei­nen halb­do­ku­men­ta­ri­schen Ro­man nicht ganz un­wich­tig sind.

Das al­les fällt in der Re­zep­ti­on des Jah­res 2024 un­ter den Tisch. War­um? Weil Pä­do­phi­lie ein hei­ßes Ei­sen ist, das nie­mand, auch und be­son­ders nicht die schwu­len Com­mu­ni­ties, an­grei­fen wol­len. Pä­do­phi­le sind die Sün­den­böcke der heu­ti­gen Ge­sell­schaft, man wür­de sie am lieb­sten op­fern, nach ei­nem mensch­li­chen Um­gang mit ih­nen zu su­chen, ist müh­sam und po­li­tisch ab­träg­lich. De Vri­endt aber ist ge­nau das, ein Mensch, da­zu noch ein sen­si­bler, in sei­nen ver­que­ren Mei­nun­gen hoch­in­ter­es­san­ter. Das darf nicht sein. Die Re­zep­ti­on macht ihn zum blo­ßen Re­prä­sen­tan­ten ei­ner re­li­giö­sen und po­li­ti­schen Strö­mung.

Ar­nold Zweig be­kann­te sich zum Ju­den­tum, ei­ne Zeit­lang ar­bei­te­te er als Re­dak­teur der Jü­di­schen Rund­schau. Sein An­lie­gen war es 1932, als Schrift­stel­ler um Ver­ständ­nis für die schwie­ri­ge Exi­stenz der Ju­den in Pa­lä­sti­na und, als Hu­ma­nist, für ein fried­li­ches Zu­sam­men­le­ben zwi­schen Ara­bern und Ju­den zu wer­ben. Daß dies nicht gänz­lich un­mög­lich sein kann und es in frü­he­ren Jahr­hun­der­ten of­fen­bar dau­er­haft gut­nach­bar­li­che Be­zie­hun­gen gab, ge­hört zu den Er­kennt­nis­sen, die mir Zweigs Ro­man be­schert hat (auch ich un­ter­schrei­be den Ho­raz­schen Satz vom »pro­des­se et delec­ta­re« der Dich­ter). Ei­nem sol­chen Mann darf man heu­te, da wie­der ein­mal der An­ti­se­mi­tis­mus auf­keimt, kein Ver­ständ­nis für ei­nen Pä­do­phi­len zu­schrei­ben, und wenn er es denn hat­te, muß man es un­ter den Tep­pich keh­ren. Man soll­te sein Werk auch nicht nach äs­the­ti­schen Kri­te­ri­en be­wer­ten und wo­mög­lich zu dem Schluß kom­men, daß es sich um Kon­fek­ti­ons­wa­re han­delt. Spielt doch kei­ne Rol­le, es geht um die gu­te Sa­che.

Auch die­ses Ge­dicht ha­be ich ge­hört:

  • Ich ha­be mei­nen Traum ge­träumt,
    und er ist zu nichts ge­wor­den, und so
    steh ich nun hier, sorg­los,
    die Fü­ße in den Bo­den ge­stemmt
    und schaue hin­auf zum Him­mel –
    ich spü­re an mir mei­ne Klei­der,
    das Ge­wicht mei­nes Kör­pers in mei­nen Schu­hen,
    die Krem­pe an mei­nem Hut, die Luft, die ein und aus
    durch mei­ne Na­se geht, und sa­ge mir: es ist aus­ge­träumt.

Was soll man sonst noch sa­gen? Vie­le Ge­dich­te von Wil­liam Car­los Wil­liams könn­ten hier ste­hen (über­setzt von H. M. En­zens­ber­ger). Und we­ni­ge. Die­ses steht hier in sei­nem So-Sein, pla­stisch und kom­men­tar­los. Und Ar­nold Zweig? Die Un­men­ge an In­for­ma­tio­nen, die er zu­sam­men­trägt und er­zäh­lend bün­delt, ist na­tür­lich stu­pend. Den zio­ni­sti­schen Traum hat­te Zweig wäh­rend sei­nes Exils in Pa­lä­sti­na aus­ge­träumt, und De Vri­endt kehrt heim läßt sol­ches ah­nen. Aber soll­ten wir nicht al­le träu­men, min­de­stens je­den Don­ners­tag?

—Fort­set­zung folgt—

© Leo­pold Fe­der­mair

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