Der Wil­le zum Nicht­wis­sen (9/9)

An­mer­kun­gen zu ei­ner Hand­voll le­gen­dä­rer Sät­ze

9 – Un­schul­di­ge For­men der Über­trei­bung

First, the facts. Zu­erst die Fak­ten. Mit die­sem Satz be­gann Jo­el Pol­l­ak, Chef­re­dak­teur der Web­site Breit­bart News, am 23. Ja­nu­ar 2017 sei­nen Leit­ar­ti­kel, in dem er Do­nald Trump und sei­ne Mit­ar­bei­ter in Schutz nahm, die in Be­zug auf die Zahl der bei der Amts­einführung des Prä­si­den­ten an­we­sen­den Per­so­nen maß­los über­trie­ben hat­ten. Kel­ly­an­ne Con­way, sei­ne Spre­che­rin, hat­te von »al­ter­na­ti­ven Fak­ten« ge­spro­chen, um Trumps groß­spu­ri­ge Be­haup­tung, das Pu­bli­kum sei zahl­rei­cher ge­we­sen als bei sei­nem Amts­vor­gän­ger, zu ze­men­tie­ren.

Wel­che Fak­ten hat­te Pol­l­ak in die­ser An­ge­le­gen­heit zu bie­ten? Nun, er führ­te aus, daß die Men­ge von der Tri­bü­ne her ge­se­hen, al­so vom Stand­ort des Prä­si­den­ten, ge­wal­tig wirk­te – er selbst kön­ne dies be­stä­ti­gen, denn er ha­be ei­nen Platz auf der Tri­bü­ne er­gat­tert ge­habt. Die­se Recht­fer­ti­gung, der Prä­si­dent sei halt ei­ner sub­jek­ti­ven Täu­schung er­le­gen, mag den Jour­na­li­sten eh­ren. Vom Stand­punkt der Wahr­haf­tig­keit aus ge­se­hen ist es be­denk­lich, wenn sub­jek­ti­ve Ein­drücke zu Fak­ten ge­adelt wer­den. So­wohl in der Wis­sen­schaft als auch in der Po­li­tik und in der me­dia­len Be­richt­erstat­tung soll­te bei­des ge­trennt wer­den. Was Pol­l­ak als Fak­ten be­zeich­ne­te, ist nichts an­de­res als die Fest­stel­lung der Sub­jek­ti­vi­tät der Wahr­neh­mung, die na­tür­lich für je­der­mann gilt. Wir ha­ben täg­lich den Ein­druck, die Son­ne be­we­ge sich um die Er­de, und un­se­re Spra­che spie­gelt die­sen Ein­druck wi­der: Die Son­ne geht auf und sie geht un­ter. Wir wis­sen aber heu­te dank Ko­per­ni­kus und Ga­li­lei, daß die Tat­sa­chen an­ders lie­gen.

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Han­no Rau­ter­berg: Wie frei ist die Kunst?

Hanno Rauterberg: Wie frei ist die Kunst?
Han­no Rau­ter­berg:
Wie frei ist die Kunst?

Kunst, die als Ver­un­glimp­fung, Her­ab­set­zung oder Dis­kri­mi­nie­rung ei­ner Per­son oder Per­so­nen­grup­pe oder ge­sell­schaft­li­chen Grup­pie­rung auf­grund von Haut­far­be, Glau­ben, Ge­schlecht, kör­per­li­cher Ver­fas­sung, Al­ter oder na­tio­na­ler Her­kunft ver­stan­den wer­den könn­te soll­te grund­sätz­lich von staat­li­chen För­der­mit­teln ausge­schlossen wer­den.

Die­se For­de­rung könn­te durch­aus als Im­pe­ra­tiv im Rah­men ei­nes zeit­ge­nös­si­schen Dis­kur­ses um ei­nen sich neu for­mie­ren­den Kunst- und Kul­tur­be­griff ste­hen. For­mu­liert wur­de er aber nicht von ei­nem AStA, ei­ner Gleich­stel­lungs­be­auf­trag­ten oder ver­meint­lich pro­gressiven Kunst­kri­ti­kern son­dern be­reits im Jahr 1989 vom 2008 ver­stor­be­nen re­pu­bli­ka­ni­schen US-Se­na­tor Jes­se Helms im Rah­men des­sen, was man post fe­stum »Cul­tu­re wars« nann­te. Helms woll­te un­ter an­de­rem die­se Richt­li­nie als Zu­satz zur ame­ri­ka­ni­schen Ver­fas­sung im­ple­men­tie­ren. Die Poin­te: Er war ul­tra-kon­ser­va­tiv, ho­mo­phob und trat ve­he­ment ge­gen die Gleich­be­rech­ti­gung von Wei­ßen und Schwar­zen ein. Sein Vor­stoß galt den da­mals »un­züch­ti­gen« und »blas­phe­mi­schen« Kunst­pro­duk­ten bei­spiels­wei­se ei­nes Fo­to­gra­fen wie Ro­bert Mapp­le­thor­pe, der Sän­ge­rin Ma­don­na oder Mar­tin Scor­se­ses »Die letz­te Ver­su­chung Chri­sti«.

Helms’ Zi­tat ist aus Wie frei ist die Kunst?, dem neue­sten Buch des ZEIT-Feuil­le­ton­­re­dak­teurs Han­no Rau­ter­berg. Es trägt den Un­ter­ti­tel Der neue Kul­tur­kampf und die Kri­se des Li­be­ra­lis­mus. Aus vier Sicht­wei­sen – Pro­duk­ti­on (Künst­ler), Dis­tri­bu­ti­on (Mu­se­en), Re­zep­ti­on und In­te­gra­ti­on – un­ter­sucht Rau­ter­berg das ge­wan­del­te Ver­ständ­nis von Kunst von der Mo­der­ne über die Post­mo­der­ne hin zur Ge­gen­wart, die im Buch Di­gi­tal­mo­der­ne ge­nannt wird.

In der Ein­lei­tung be­nennt Rau­ter­berg an ei­ni­gen Bei­spie­len der letz­ten Zeit die sich strikt an »Wer­te« ori­en­tie­ren­den An­sprü­che an Kunst. Da wer­den Per­so­nen aus Fil­men her­aus­ge­schnit­ten, die we­gen se­xu­el­ler Über­grif­fe an­ge­zeigt wur­den. Da wird ein Ge­dicht an ei­ner Häu­ser­fas­sa­de über­malt, weil es frau­en­ver­ach­tend und se­xi­stisch sein soll. Als dis­kri­mi­nie­rend emp­fun­de­ne Wör­ter sol­len aus Bü­chern ge­tilgt wer­den. Werk­schau­en wer­den auf­grund von Se­xis­mus-Vor­wür­fen an den Künst­ler ab­ge­sagt oder als an­stö­ßig emp­fun­de­ne Kunst­wer­ke aus Aus­stel­lun­gen ent­fernt. Ka­ri­ka­tu­ren blei­ben un­ge­zeigt, weil sie re­li­giö­se Ge­füh­le ver­let­zen könn­ten.

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Der Wil­le zum Nicht­wis­sen (8/9)

An­mer­kun­gen zu ei­ner Hand­voll le­gen­dä­rer Sät­ze

8 – Den­ken ist vor al­lem Mut.

Der Satz stammt stammt in die­ser Form zwar von Lud­wig Hohl, aber man kann ihn fast wort­gleich schon bei Im­ma­nu­el Kant in des­sen Schrift Was ist Auf­klä­rung le­sen. Das Sub­jekt, von dem Kant dort spricht, ist »der Mensch«. Der Kö­nigs­ber­ger Phi­lo­soph be­an­sprucht mit­hin, für al­le zu spre­chen (und bei je­man­dem, der die Schrit­te und Be­grif­fe sei­nes Den­kens so ge­nau zu durch­den­ken ge­wohnt war, kann man an­neh­men, daß er sich des Sinns sei­ner Äu­ße­run­gen bis in die Ein­zel­hei­ten be­wußt war). Dumm sind die Men­schen dann, wenn es ih­nen an Mut man­gelt, den ei­ge­nen Ver­stand zu ge­brau­chen. Den ei­ge­nen Ver­stand zu ge­brau­chen setzt je­doch vor­aus, daß im Prin­zip je­der fä­hig ist, dies auch zu tun und da­durch zu mehr oder min­der ver­nüf­ti­gen Schlüs­sen zu ge­lan­gen. Ernst Cas­si­rer be­tont in sei­ner Er­läu­te­rung der Kri­tik der rei­nen Ver­nunft, das Kant­sche Sub­jekt sei iden­tisch mit der mensch­li­chen Ver­nunft. Ob die­se Be­haup­tung – oder doch eher For­de­rung? – im prak­ti­schen Sinn zu ver­ste­hen ist, muß man sich zu Be­ginn des 21. Jahr­hun­derts fra­gen. Im Grun­de ge­nom­men trifft sich Ador­no in sei­ner anthropo­logischen Er­klä­rung der Dumm­heit mit Kant, denn wenn man wei­ter nach­fragt, wie es denn zur be­an­stan­de­ten Mut­lo­sig­keit kom­men konn­te, so wird man frü­her oder spä­ter auf das Phä­no­men der Angst sto­ßen. Frei­lich, im Zeit­al­ter der all­mäch­ti­gen Kul­tur­in­du­strie, die Ador­no als er­ster sy­ste­ma­tisch zu be­schrei­ben un­ter­nahm, be­steht in den so­ge­nann­ten ent­wickel­ten Län­dern für die gro­ße Mehr­heit der Bür­ger we­nig Grund zur Denk- und Sprech­angst. Ih­re Träg­heit ist eher dar­auf zu­rück­zu­füh­ren, daß sie macht­vol­len Stra­te­gien der Ein­lul­lung, der vor­sätz­li­chen Ver­dum­mung, der me­di­en­be­ding­ten In­fan­ti­li­sie­rung zum Op­fer fal­len. Oder muß man gar, im Wi­der­spruch zu Kant, an­neh­men, es ge­be so et­was wie ei­ne mensch­li­che Grund­ei­gen­schaft der Träg­heit als in­di­vi­du­al­psy­cho­lo­gi­sche Ent­spre­chung zum an­thro­po­lo­gi­schen To­des­trieb, den Freud »ent­deck­te«? So daß nicht nur die Neu­gier dem Men­schen an­ge­bo­ren wä­re, son­dern auch ein ge­gen­läu­fi­ges Stre­ben, das ihn, wenn es über­hand nimmt, un­mün­dig macht. Die Kul­tur­in­du­strie – zu die­ser Fest­stel­lung be­darf es kei­ner aus­führ­li­chen Ar­gu­men­ta­ti­on – för­dert die Träg­heit, sti­mu­liert Süch­te, re­du­ziert die In­di­vi­du­en auf ei­ne An­zahl von Re­fle­xen und schwächt die Neu­gier, den selbst­tä­ti­gen For­schungs­geist.

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Der wun­der­ba­re Uni­ver­sal­di­let­tant

In Düs­sel­dorf gibt es Aus­stel­lung über den vor zwei Jah­ren ver­stor­be­nen Wolf­gang Welt 8. Sep­tem­ber 2018, 17.40 Uhr. Ich bin wie im­mer zu früh. Um 18 Uhr be­ginnt das Pro­gramm der Ver­nis­sa­ge. Die Tü­ren zur Aus­stel­lung sind schon of­fen. »Aber ich schrieb mich ver­rückt« lau­tet ihr Ti­tel. Da­ne­ben ein Aus­schnitt des in­zwi­schen fast schon le­gen­dä­ren ...

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Bo­do Kirch­hoff: Däm­mer und Auf­ruhr

Bodo Kirchhoff: Dämmer und Aufruhr
Bo­do Kirch­hoff:
Däm­mer und Auf­ruhr

»Aber von den spä­te­ren Ta­gen am Schwarz­see gibt es ein Foto…Ich sprin­ge da von ei­nem ho­hen Brett in den See, nur sieht man das Brett nicht und auch nicht den See, auf dem Fo­to sieht man vor al­lem mich in der Luft, die Bei­ne an­ge­zo­gen, Ar­me ge­streckt, und im Hin­ter­grund Ber­ge. Ich sprin­ge wie ei­ner, der in den Tod springt, bei dem al­les, was vor­her war, kei­ne Rol­le mehr spielt.«

Nach­ko­lo­riert fin­det sich die­ses Bild als Co­ver auf Bo­do Kirch­hoffs »Ro­man der frü­hen Jah­re« mit dem et­was rät­sel­haf­ten Ti­tel »Däm­mer und Auf­ruhr«. Es ist – dar­an be­steht kein Zwei­fel – ein au­to­fik­tio­na­les Buch. Der sprin­gen­de Jun­ge auf dem Fo­to ist 14 Jah­re alt und heißt Bo­do Kirch­hoff. Die frü­hen Jah­re, die die­ses Buch um­fas­sen, ge­hen vom 4. Le­bens­jahr bis un­ge­fähr 26, al­so von 1952 bis 1974. Un­ter­bro­chen wer­den die­se Er­in­ne­run­gen durch die Schil­de­run­gen des Auf­schrei­bens der Ge­schich­ten im Ho­tel »Beau Se­jour« in Alas­sio, in je­nem Zim­mer, in dem die El­tern 1958 in ei­nem Ur­laub oh­ne die bei­den Kin­der ih­re wo­mög­lich glück­lich­ste Zeit ver­bracht ha­ben (und doch be­reits da­mals der Keim für die spä­te­re Tren­nung auf­kam). Und auch die Re­mi­nis­zen­zen von der al­tern­den Mut­ter im Stift, un­ter­bre­chen den Strom des Ver­gan­ge­nen, der an­son­sten chro­no­lo­gisch er­zählt wird.

Wo­mög­lich rächt sich jetzt, dass der Schrei­ber die­ser Zei­len bis­her so gut wie nichts von, da­für aber ei­ni­ges über Bo­do Kirch­hoff ge­le­sen (und ge­hört) hat. Nach­tei­lig da­bei, dass Mo­ti­ve, die si­cher­lich in sei­nen an­de­ren Bü­chern be­reits auf­tau­chen, nicht er­kannt wer­den kön­nen. Manch­mal scheint Kirch­hoff den mit sei­nem Werk un­ver­trau­ten Le­ser zu hel­fen und setzt sel­ber ei­ni­ge Par­al­le­len zu den an­de­ren Bü­chern. Viel se­kun­dä­re Lek­tü­re schwirrt im Kopf her­um, wenn man die­ses Buch liest. »Por­no­schrift­stel­ler« wird er nach Pu­bli­ka­ti­on sei­ner er­sten No­vel­le (1979 »Oh­ne Ei­fer, oh­ne Zorn«) ge­nannt (so steht es »Däm­mer und Auf­ruhr«). »Macho«-Gehabe ist ein an­de­res Eti­kett (selt­sa­me Al­li­anz hier – je nach Gu­sto galt und gilt dies im­mer noch viel mehr für ei­nen an­de­ren). »Kitsch« nann­te Herr Scheck den Plot von »Wi­der­fahr­nis«. Wer ein biss­chen sucht fin­det aber auch et­li­che an­er­ken­nen­de Wor­te – von Mar­cel Reich-Ra­nicki bis Iris Ra­disch. Die üb­li­chen Ver­däch­ti­gen, die in den Ju­rys sa­ßen und sit­zen, er­wärm­ten sich den­noch eher sel­ten für Kirch­hoff (trotz lan­ger Suhrkamp-»Zugehörigkeit«; spä­ter wech­sel­te er zum Sohn). So kam es ei­ner Sen­sa­ti­on gleich, als er 2016 den Deut­schen Buch­preis ge­wann.

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Der Wil­le zum Nicht­wis­sen (7/9)

An­mer­kun­gen zu ei­ner Hand­voll le­gen­dä­rer Sät­ze

7 – Wir goo­geln uns blöd!

Di­gi­ta­le De­menz lau­tet der rei­ße­ri­sche Ti­tel ei­nes Buchs, das vor ei­ni­gen Jah­ren in Deutsch­land ein Best­sel­ler­er­folg war. Doch der in zwei Wor­te ge­faß­te Be­fund des Ge­hirn­for­schers und Psych­ia­ters Man­fred Spit­zer ist wohl­über­legt und wohl­for­mu­liert. Bild­schirm­me­di­en hin­dern die Ge­hirn­tä­tig­keit eher, als daß sie sie för­dern: das galt schon für das Fern­seh­zeit­al­ter, und es gilt erst recht für die di­gi­ta­len Me­di­en. Das Ab­neh­men der Lei­stungs­fä­hig­keit des Ge­hirns be­zeich­net man als »De­menz«; es muß nicht zwangs­läu­fig erst im ho­hen Al­ter ein­set­zen. Ei­ne zwei­te Be­deu­tung der For­mel be­zieht sich auf ge­sell­schaft­li­che Aus­wir­kun­gen der in­zwi­schen über­mäch­ti­gen Di­gi­tal­kul­tur. Wer­den die Be­völ­ke­run­gen ten­den­zi­ell im­mer düm­mer? Spit­zer zi­tiert ei­ne Rei­he von Stu­di­en und Ex­pe­ri­men­ten, die die­sen Schluß na­he­le­gen. Ins­ge­samt ist die Schul- und Hochschul­bildung im Ver­lauf des 20. Jahr­hun­derts in den west­li­chen Län­dern si­cher viel brei­ter ge­wor­den. Ob sie – Mas­sen­uni­ver­si­tä­ten statt Eli­te­schmie­den – auch bes­ser ge­wor­den ist, ist ei­ne an­de­re Fra­ge. Wenn es ei­nen Um­kehr­punkt ge­ge­ben hat, wann ge­nau und wes­halb? Die Com­pu­ter wer­den nicht al­lein dar­an schuld sein.

Spit­zers zwang­haf­te Art, den Ein­druck wis­sen­schaft­li­cher Ab­si­che­rung zu er­wecken, ist ei­ne der Sei­ten, die an sei­nen Auf­trit­ten kri­ti­siert wer­den. Je­de Men­ge Sta­ti­sti­ken, Kor­re­la­tio­nen, aber kein Ent­fal­ten von Zu­sam­men­hän­gen. Und pau­scha­le Ver­ur­tei­lun­gen, ein ums an­de­re Mal wie­der­holt. We­nig Er­zäh­lung, wür­de ich hin­zu­fü­gen: We­nig kon­kre­te Bei­spie­le, we­nig ei­ge­ne Er­fah­run­gen. Aber das mag Auf­ga­be der Li­te­ra­tur sein, al­so mei­ne. Im gro­ßen und gan­zen stim­me ich Spit­zers Ein­schät­zun­gen zu, auch wenn mir sein häm­mern­der Stil auf die Ner­ven geht. Daß wir uns vom di­gi­tal-me­dia­len Über­bau nicht gänz­lich be­frei­en kön­nen und das folg­lich auch nicht ver­su­chen soll­ten, ge­steht er selbst zu, al­ler­dings tönt die Kon­zes­si­on viel lei­ser als sei­ne Un­ken­ru­fe. Wir soll­ten un­se­re Auf­ent­halts­zeit in der di­gi­ta­len Welt be­schrän­ken, d. h. re­gu­lie­ren (hor­ri­bi­le dic­tu!), manch­mal auch län­ge­re Pau­sen ein­le­gen, und vor al­lem soll­ten wir ei­ne sol­che Di­ät schon un­se­ren Kin­dern an­ge­dei­hen las­sen. Die viel­be­schwo­re­nen di­gi­ta­len Kom­pe­ten­zen las­sen sich nur in Ver­bin­dung mit »Vor­wis­sen«, wie Spit­zer es nennt, al­so mit tra­di­tio­nel­len gei­sti­gen Fä­hig­kei­ten, die man nicht am Bild­schirm er­wirbt, son­dern im Kon­takt mit der Er­fah­rungs­welt, mit Bü­chern und mit Er­zie­hungs­per­so­nen, sinn­voll aus­üben.

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An­fangs­sym­pa­thie

Über zwei Bü­cher von mir nicht ganz Un­be­kann­ten.

An­dre­as H. Dre­scher und Marc De­gens ken­ne ich ei­gent­lich nicht. Wenn man »ken­nen« in den Kri­te­ri­en des »re­al life« de­fi­niert. Wir ha­ben uns noch nie ge­se­hen. Wir korrespon­dieren zu­wei­len bzw. ha­ben kor­re­spon­diert. Die Be­kannt­schaft ist vi­ral und sehr spo­ra­disch. An­dre­as H. Dre­scher schick­te mir vor vie­len Jah­ren ein Ma­nu­skript, dass ich ziem­lich gut fand. Sei­ne zwei­te Ver­si­on hat­te ich dann ir­gend­wie nicht mehr ge­le­sen, da ich sel­ber an ei­nem Buch­pro­jekt ar­bei­te­te. Da war die Mög­lich­keit mein Hand­ke-Ju­go­sla­wi­en-Buch im SuKuL­TuR-Ver­lag von Marc De­gens zu pu­bli­zie­ren, schon ver­wirkt (mei­ne Schuld).

An­dre­as H. Dre­scher hat ak­tu­ell »Koh­len­hund« pu­bli­ziert; in ei­nem Ver­lag, der sein ei­ge­ner ist (wenn ich das rich­tig ver­ste­he; bei Ama­zon ist er zur Zeit nicht lie­fer­bar). Und von Marc De­gens er­fährt man in »Eri­wan« end­lich, was er zwi­schen 2008 und 2010 in Ar­me­ni­en ge­macht und er­lebt hat. »Eri­wan« er­scheint bei »Il­le & Rie­mer««, je­nem Ver­lag, der mein Hand­ke-Ju­go­sla­wi­en-Buch 2012 ver­legt hat­te.

Die bei­den Bü­cher ha­be ich al­so mit ei­ner ge­wis­sen An­fangs­sym­pa­thie ge­le­sen. Das soll­te man wis­sen, wenn man mei­ne Be­mer­kun­gen liest.

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H. M. van den Brink: Ein Le­ben nach Maß

Hans Maarten van den Brink: Ein Leben nach Maß
H. M. van den Brink:
Ein Le­ben nach Maß

Seit ei­ni­gen Wo­chen er­scheint er re­gel­mä­ßig im Traum und plötz­lich steht er dann schwei­gend in der Woh­nung: Karl Di­jk. Je­ner ehe­ma­li­ge Ar­beits­kol­le­ge des na­men­lo­sen Ich-Er­zäh­lers in Hans Maar­ten van den Brinks »Ein Le­ben nach Maß«. Es ist ir­gend­wann um 2009, der Er­zäh­ler ist Mit­te 60. Er ist pen­sio­niert, ein ehe­ma­li­ger Mit­ar­bei­ter der Eich­be­hör­de. Na­tür­lich ist das ei­ne Hal­lu­zi­na­ti­on, ein Fie­ber­traum, der im­mer wie­der Frag­men­te des Le­bens her­vor­spült. Und be­son­ders eben je­ne Zu­sam­men­ar­beit mit Karl Di­jk, der Ei­gen­bröt­ler, der hart­näckig Ab­we­sen­de, der selbst sei­ner Ab­schieds­fei­er fern­blieb, was die um­trie­bi­ge Di­rek­to­rin nicht da­von ab­hielt, die vom Er­zäh­ler ver­fass­te Re­de vor­zu­tra­gen.

Es be­ginnt am 2. Ja­nu­ar 1961 als der Er­zäh­ler 18jährig sei­nen Dienst beim Eich­amt be­ginnt und dort den we­nig äl­te­ren Karl Di­jk trifft. Es ist der Tag des er­sten und letz­ten Hän­de­drucks; so eng die Zu­sam­men­ar­beit auch teil­wei­se war, es wird nie der­art in­tim. Noch exi­stent sind Tra­di­ti­on und Ethos ei­ner Be­hör­de, die die Waa­gen der Le­bens­mit­tel­händ­ler, Markt­leu­te, Flei­scher, Dro­gi­sten und Apo­the­ker kon­trol­liert – sei es, dass man ih­nen die­se bringt oder sie im Au­ßen­dienst be­sucht. Sie sind we­nig be­liebt, zu­wei­len wer­den sie so­gar be­droht. Der Prü­fer als Feind und man be­ginnt an Jo­sef Roths »Das fal­sche Ge­wicht« zu den­ken. Und es ist die Zeit, in der die »per­ma­nen­te Ver­änderung…noch nicht er­fun­den« war.

Aber nach­träg­lich sieht man sie na­tür­lich. Aus den Dör­fern wur­den Vor­or­te, aus Wie­sen Ge­wer­be­ge­bie­te und aus der Be­hör­de ein pri­va­tes Dienst­lei­stungs­un­ter­neh­men. Die Stra­ßen sind vol­ler Au­tos, aber längst oh­ne die Fahr­zeu­ge der mo­bi­len Bäcker, Flei­scher und Le­bens­mit­tel­händ­ler. Das al­les wird leicht, la­ko­nisch, aber nie­mals ver­klä­rend er­zählt. Kein »Frü­her war al­les bes­ser«, denn schließ­lich stan­ken die Grach­ten er­bärm­lich nach Müll, Un­rat und »En­ten­grüt­ze«. Und die Kun­den wur­den be­schum­melt.

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