H. M. van den Brink: Ein Le­ben nach Maß

Hans Maarten van den Brink: Ein Leben nach Maß

H. M. van den Brink:
Ein Le­ben nach Maß

Seit ei­ni­gen Wo­chen er­scheint er re­gel­mä­ßig im Traum und plötz­lich steht er dann schwei­gend in der Woh­nung: Karl Di­jk. Je­ner ehe­ma­li­ge Ar­beits­kol­le­ge des na­men­lo­sen Ich-Er­zäh­lers in Hans Maar­ten van den Brinks »Ein Le­ben nach Maß«. Es ist ir­gend­wann um 2009, der Er­zäh­ler ist Mit­te 60. Er ist pen­sio­niert, ein ehe­ma­li­ger Mit­ar­bei­ter der Eich­be­hör­de. Na­tür­lich ist das ei­ne Hal­lu­zi­na­ti­on, ein Fie­ber­traum, der im­mer wie­der Frag­men­te des Le­bens her­vor­spült. Und be­son­ders eben je­ne Zu­sam­men­ar­beit mit Karl Di­jk, der Ei­gen­bröt­ler, der hart­näckig Ab­we­sen­de, der selbst sei­ner Ab­schieds­fei­er fern­blieb, was die um­trie­bi­ge Di­rek­to­rin nicht da­von ab­hielt, die vom Er­zäh­ler ver­fass­te Re­de vor­zu­tra­gen.

Es be­ginnt am 2. Ja­nu­ar 1961 als der Er­zäh­ler 18jährig sei­nen Dienst beim Eich­amt be­ginnt und dort den we­nig äl­te­ren Karl Di­jk trifft. Es ist der Tag des er­sten und letz­ten Hän­de­drucks; so eng die Zu­sam­men­ar­beit auch teil­wei­se war, es wird nie der­art in­tim. Noch exi­stent sind Tra­di­ti­on und Ethos ei­ner Be­hör­de, die die Waa­gen der Le­bens­mit­tel­händ­ler, Markt­leu­te, Flei­scher, Dro­gi­sten und Apo­the­ker kon­trol­liert – sei es, dass man ih­nen die­se bringt oder sie im Au­ßen­dienst be­sucht. Sie sind we­nig be­liebt, zu­wei­len wer­den sie so­gar be­droht. Der Prü­fer als Feind und man be­ginnt an Jo­sef Roths »Das fal­sche Ge­wicht« zu den­ken. Und es ist die Zeit, in der die »per­ma­nen­te Ver­änderung…noch nicht er­fun­den« war.

Aber nach­träg­lich sieht man sie na­tür­lich. Aus den Dör­fern wur­den Vor­or­te, aus Wie­sen Ge­wer­be­ge­bie­te und aus der Be­hör­de ein pri­va­tes Dienst­lei­stungs­un­ter­neh­men. Die Stra­ßen sind vol­ler Au­tos, aber längst oh­ne die Fahr­zeu­ge der mo­bi­len Bäcker, Flei­scher und Le­bens­mit­tel­händ­ler. Das al­les wird leicht, la­ko­nisch, aber nie­mals ver­klä­rend er­zählt. Kein »Frü­her war al­les bes­ser«, denn schließ­lich stan­ken die Grach­ten er­bärm­lich nach Müll, Un­rat und »En­ten­grüt­ze«. Und die Kun­den wur­den be­schum­melt.

Karl Di­jk bleibt all die Jahr­zehn­te ein »Mo­nu­ment«. Ein Schwei­ger, der nur ab und zu lei­den­schaft­li­che Plä­doy­ers hielt, ein Mann mit gro­ßer Bil­dung, streng, fast ver­bis­sen. Ei­ne küh­le Ur­teils­kraft über das, was er »An­thro­po­zän« nennt. Er hat­te im fach­li­chen Din­gen na­he­zu im­mer recht, aber das war es, was ihn so un­nah­bar mach­te. Schlei­chend be­gan­nen die Ver­än­de­run­gen; schon in den 1960ern. Di­jk und der Er­zäh­ler be­kom­men an­de­re Auf­ga­ben; Gas­uh­ren und Zapf­säu­len bei­spiels­wei­se. Sinn­bild für die Ver­än­de­run­gen sind die wech­seln­den Re­fe­renz­grö­ßen für das Me­ter. Und das Ur-Ki­lo­gramm in Pa­ris ist auch nicht mehr das, was es ein­mal war.

Der Er­zäh­ler hei­ra­tet Ada, die als ei­ne Art Kaf­fee-Mäd­chen in der Be­hör­de ge­ar­bei­tet hat­te. Zwei Kin­der; in­zwi­schen er­wach­sen. Di­jk bleibt le­dig, sein Pri­vat­le­ben ta­bu. Bei den Re­cher­chen zu der Re­de ent­deckt er, dass Di­jk jün­ger ist als er. Ein Wai­sen­kind. Er fin­det drei an­ony­me Brie­fe, die ihn vor Jahr­zehn­ten de­nun­zie­ren soll­ten. Aber der da­ma­li­ge Di­rek­tor igno­rier­te sie.

Be­hut­sam zeigt van den Brink die Ero­si­on von Ge­wiss­hei­ten, die gro­ßen ud klei­nen Um­brü­che in der Ge­sell­schaft. Aus dem Eich­mei­ster wird ein Prüf­be­am­ter und schließ­lich ein Dienst­lei­ster, der ei­ne »Auf­sicht« führt. Und was war das für ein Mo­ment, als der er­ste Mit­ar­bei­ter oh­ne Kra­wat­te ins Bü­ro kam. Es ge­schah nichts, kein Rüf­fel, kei­ne Zurecht­weisung. Bis dann an­de­re sei­nem Bei­spiel folg­ten. Es gibt vie­le die­ser klei­nen Weg­mar­ken, die die Ver­än­de­run­gen an­zei­gen. Nur ein­mal folg­te Di­jk ei­nem sol­chen Trend: Er gibt das Rau­chen auf. An­son­sten bleibt er so et­was wie der letz­te Nie­der­län­der.

Es sind nicht die Elek­tro­waa­gen, die das Eich­we­sen ver­än­dern. Es sind die Su­per­märk­te, das Ver­schwin­den der klei­nen Ge­schäf­te und die »Pri­va­ti­sie­rung der Ehr­lich­keit« durch die ab­ge­pack­ten Le­bens­mit­tel. Der Kun­de muss nun dem Un­ter­neh­men ver­trau­en; die ein­sti­ge (staat­li­che) In­sti­tu­ti­on ist weit­ge­hend über­flüs­sig. Die Neu­aus­rich­tung der ehe­ma­li­gen Be­hör­de zum »Dienst­lei­ster« »BV Me­trifact« mu­tet selbst dem Er­zäh­ler merk­wür­dig an – für Di­jk ist es un­mög­lich. Ir­gend­wie un­künd­bar aber auf ei­nem »Ne­ben­gleis« ver­scho­ben bleibt un­klar, was er nach der Pri­va­ti­sie­rung macht. Der Com­pu­ter scheint weit­ge­hend un­be­nutzt, da­für klap­pert zu­wei­len die letz­te Schreib­maschine des Un­ter­neh­mens, auf de­nen Di­jk sei­ne Ein­ga­ben und Vor­schlä­ge von sei­nem »Ver­ban­nungs­ort« aus ver­fasst. Rück­sich­ten kennt er kei­ne, wenn er sich im Recht fühlt. Schließ­lich macht man ihm, dem Mann mit den Ver­dien­sten, die der Ver­gan­gen­heit an­ge­hö­ren, ein An­ge­bot, wel­ches er an­nimmt. Da­nach wird er nie mehr ge­se­hen.

Das al­les wird un­auf­ge­regt, in zu­wei­len me­lan­cho­lisch-ele­gi­schen Sät­zen er­zählt. Der Er­zäh­ler ist klug, denn er weiß, dass al­les Er­in­nern auch ei­ne Täu­schung ist, denn »den Blick von da­mals hat man nicht mehr«. Die Per­spek­ti­ven wech­seln stän­dig. Eben noch bei der Re­de der Di­rek­to­rin, dann das Zu­rück zu den An­fän­gen, spä­ter dann die Rou­ti­nen. Al­les oh­ne Weh­mut oder fal­sches Pa­thos.

An­ders als in den Bü­chern sei­nes Lands­manns Ger­brand Bak­ker gibt es bei »Ein Le­ben nach Maß« kei­ne Hö­hen oder Tie­fen, kei­ne auf­re­gen­den Brü­che in den Le­bens­läu­fen der Prot­ago­ni­sten. Die Aus­nah­me bil­det nur ei­ne Phi­le­mon-und-Bau­cis-Al­le­go­rie, die den Nie­der­gang des tra­di­tio­nel­len Ein­zel­han­dels sym­bo­li­sie­ren soll. Wun­der­bar, wie van den Brink Ge­rü­che nicht be­schreibt, son­dern er­zählt: Beim Ein­tre­ten in Lebensmittel­geschäfte, in Metz­ge­rei­en, beim Kar­tof­fel­bau­er, aber auch am Ar­beits­platz, in der Be­hör­de. Über­haupt wird ei­ne Bü­ro­welt im Wan­del der Zei­ten skiz­ziert, wie dies in der nie­der­län­di­schen Li­te­ra­tur häu­fig zu fin­den ist.

Nein, die­ses Buch mit sei­nem Gleich­maß ist al­les an­de­re als lang­wei­lig. Mit knap­pen, aber schar­fen Stri­chen er­wei­tert sich die klei­ne Kul­tur­ge­schich­te des Ei­chens, Mes­sens und Wie­gens zu ei­ner Kul­tur­ge­schich­te der Nie­der­lan­de und des glo­ba­li­sier­ten Han­dels, dem al­les un­ter­ge­ord­net wird. Ein gro­ßes-klei­nes, ein sanf­tes Buch. Ei­ne Wohl­tat.