Han­no Rau­ter­berg: Wie frei ist die Kunst?

Hanno Rauterberg: Wie frei ist die Kunst?

Han­no Rau­ter­berg:
Wie frei ist die Kunst?

Kunst, die als Ver­un­glimp­fung, Her­ab­set­zung oder Dis­kri­mi­nie­rung ei­ner Per­son oder Per­so­nen­grup­pe oder ge­sell­schaft­li­chen Grup­pie­rung auf­grund von Haut­far­be, Glau­ben, Ge­schlecht, kör­per­li­cher Ver­fas­sung, Al­ter oder na­tio­na­ler Her­kunft ver­stan­den wer­den könn­te soll­te grund­sätz­lich von staat­li­chen För­der­mit­teln ausge­schlossen wer­den.

Die­se For­de­rung könn­te durch­aus als Im­pe­ra­tiv im Rah­men ei­nes zeit­ge­nös­si­schen Dis­kur­ses um ei­nen sich neu for­mie­ren­den Kunst- und Kul­tur­be­griff ste­hen. For­mu­liert wur­de er aber nicht von ei­nem AStA, ei­ner Gleich­stel­lungs­be­auf­trag­ten oder ver­meint­lich pro­gressiven Kunst­kri­ti­kern son­dern be­reits im Jahr 1989 vom 2008 ver­stor­be­nen re­pu­bli­ka­ni­schen US-Se­na­tor Jes­se Helms im Rah­men des­sen, was man post fe­stum »Cul­tu­re wars« nann­te. Helms woll­te un­ter an­de­rem die­se Richt­li­nie als Zu­satz zur ame­ri­ka­ni­schen Ver­fas­sung im­ple­men­tie­ren. Die Poin­te: Er war ul­tra-kon­ser­va­tiv, ho­mo­phob und trat ve­he­ment ge­gen die Gleich­be­rech­ti­gung von Wei­ßen und Schwar­zen ein. Sein Vor­stoß galt den da­mals »un­züch­ti­gen« und »blas­phe­mi­schen« Kunst­pro­duk­ten bei­spiels­wei­se ei­nes Fo­to­gra­fen wie Ro­bert Mapp­le­thor­pe, der Sän­ge­rin Ma­don­na oder Mar­tin Scor­se­ses »Die letz­te Ver­su­chung Chri­sti«.

Helms’ Zi­tat ist aus Wie frei ist die Kunst?, dem neue­sten Buch des ZEIT-Feuil­le­ton­­re­dak­teurs Han­no Rau­ter­berg. Es trägt den Un­ter­ti­tel Der neue Kul­tur­kampf und die Kri­se des Li­be­ra­lis­mus. Aus vier Sicht­wei­sen – Pro­duk­ti­on (Künst­ler), Dis­tri­bu­ti­on (Mu­se­en), Re­zep­ti­on und In­te­gra­ti­on – un­ter­sucht Rau­ter­berg das ge­wan­del­te Ver­ständ­nis von Kunst von der Mo­der­ne über die Post­mo­der­ne hin zur Ge­gen­wart, die im Buch Di­gi­tal­mo­der­ne ge­nannt wird.

In der Ein­lei­tung be­nennt Rau­ter­berg an ei­ni­gen Bei­spie­len der letz­ten Zeit die sich strikt an »Wer­te« ori­en­tie­ren­den An­sprü­che an Kunst. Da wer­den Per­so­nen aus Fil­men her­aus­ge­schnit­ten, die we­gen se­xu­el­ler Über­grif­fe an­ge­zeigt wur­den. Da wird ein Ge­dicht an ei­ner Häu­ser­fas­sa­de über­malt, weil es frau­en­ver­ach­tend und se­xi­stisch sein soll. Als dis­kri­mi­nie­rend emp­fun­de­ne Wör­ter sol­len aus Bü­chern ge­tilgt wer­den. Werk­schau­en wer­den auf­grund von Se­xis­mus-Vor­wür­fen an den Künst­ler ab­ge­sagt oder als an­stö­ßig emp­fun­de­ne Kunst­wer­ke aus Aus­stel­lun­gen ent­fernt. Ka­ri­ka­tu­ren blei­ben un­ge­zeigt, weil sie re­li­giö­se Ge­füh­le ver­let­zen könn­ten.

War die Mo­der­ne die Agen­tin der Öff­nung, die mit avant­gar­di­sti­schem Im­pe­tus das Be­währ­te über­schrei­ten und sitt­li­che Gren­zen wei­ten woll­te, so wird aus der Kunst in der Di­gi­tal­mo­der­ne die Emis­s­ä­rin ei­ner ab­gren­zen­den Ver­ge­wis­se­rung, für vie­le Ein­zel­ne und mehr noch für Kol­lek­ti­ve. Die Be­wer­tung von Kunst­wer­ken ge­schieht dar­auf­hin, ob Emp­fin­dun­gen bei Re­zi­pi­en­ten ver­letzt wer­den. Rau­ter­berg nennt dies das Un­wohl­sein des Ein­zel­nen. Das Un­wohl­sein ge­biert »Op­fer«, die, wenn ih­nen sel­ber nicht »un­wohl« ist, pa­ter­na­li­stisch be­schützt wer­den müs­sen. Das Wi­der­sprüch­li­che, Sper­ri­ge, zur Not auch Ab­sei­ti­ge wird gar nicht erst dis­ku­tiert, son­dern so­fort ab­ge­lehnt.

Das Un­wohl­sein, so Rau­ter­berg, mag ei­nen be­rech­tig­ten Grund ha­ben, denn es kann sich um Fäl­le po­li­ti­scher oder öko­no­mi­scher Be­tei­li­gung han­deln. Doch um die­se Benach­teiligung zu be­kämp­fen, fa­vo­ri­siert die po­li­ti­sche Kor­rekt­heit eben kei­ne of­fen­siv po­li­ti­sche oder öko­no­mi­sche Ge­gen­wehr, viel­mehr setzt sie vor­nehm­lich auf ei­ne Ver­än­de­rung in ih­rer Wort­wahl und Ver­hal­tens­wei­se… Die Fol­ge sei pa­ra­do­xer­wei­se ei­ne ver­stärk­te Emo­tio­na­li­sie­rung, ob­wohl es ja ge­ra­de die Af­fek­te sind, die nor­ma­tiv ge­re­gelt wer­den soll­ten.

Letz­te­res ist ei­ne nicht ganz schlüs­sig be­leg­te Be­haup­tung. Geht es nicht ge­ra­de dar­um, Af­fek­te zu er­zeu­gen um ein be­stimm­tes Ziel zu er­rei­chen? Rau­ter­berg spricht sel­ber von Af­fekt­ge­mein­schaf­ten, in der die Rück­sicht auf Par­ti­ku­lar­in­ter­esssen über das all­ge­mein Ver­bin­den­de und Äs­the­ti­sche ste­hen. Ih­re Prot­ago­ni­sten sind laut und gut ver­netzt. Sie be­nut­zen die di­gi­ta­len Me­di­en als Ver­stär­ker. Es ge­nügt, dass ein Ge­dicht als se­xi­stisch, ein Künst­ler als über­grif­fig, ein Kunst­werk als ge­walt­ver­herr­li­chend und/oder ras­si­stisch, ei­ne For­mu­lie­rung als dis­kri­mi­nie­rend po­stu­liert wird. Die Re­ak­tio­nen der Kunst­institutionen – der Mu­se­en und Ga­le­rien, in ei­nem Fall auch ei­nes Thea­ters – wer­den aus­gie­big do­ku­men­tiert. Na­he­zu im­mer en­det es mit dem Ein­len­ken auf den Pro­test.

Aus­stel­lun­gen (und nicht nur die­se) wer­den so­mit zu po­li­ti­schen Pro­gram­men um­funk­tio­niert. Wich­tig ist da­bei ein­zig die Emp­find­sam­keit je­des Ein­zel­nen, die den Dis­kurs und den »Wert« des Kunst­wer­kes be­stimmt. Je­de noch so klei­ne Min­der­heit kann da­mit die Ver­brei­tung ei­nes Kunst­wer­kes hem­men, in­so­fern sie sich an­ge­grif­fen, dis­kri­mi­niert oder be­lei­digt fühlt. Wei­te­rer Be­grün­dun­gen be­darf es nicht. Dis­kus­si­on um äs­the­ti­sche Kri­te­ri­en un­ter­blei­ben. Rau­ter­berg nennt dies an ei­ner Stel­le ei­nen äs­the­ti­schen Kli­ma­wan­del.

Hier ist ei­ne er­ste kri­ti­sche Be­mer­kung an­ge­bracht. Zwar ist es lo­bens­wert, dass sich der Au­tor be­müht, den Af­fek­ten nicht sei­ner­seits nach­zu­ge­ben und sehr wohl Ar­gu­men­te für die­se Form der in­ter­ven­tio­na­li­sti­schen Kunst»kritik« fin­det. Und auch sein Be­fund ist klar: die­se Form des Um­gangs mit Kunst kon­ter­ka­riert den Li­be­ra­lis­mus, der ge­ra­de in der Mo­der­ne ih­re größ­te Aus­prä­gung ge­fun­den hat­te und sich auch in der Ge­sell­schaft – ge­gen al­le re­gres­si­ven Wi­der­stän­de – nie­der­schlug. Den­noch will er nicht pauscha­lisierend auf ei­nen An­griff auf die Frei­heit der Kunst spre­chen, sei­en doch die Aus­prä­gun­gen ins­ge­samt bis­her zu ver­nach­läs­si­gen. Die Ar­gu­men­ta­ti­on des AStA in der Dis­kus­si­on um die Ent­fer­nung des Gom­rin­ger-Ge­dichts von der Fas­sa­de des Ge­bäu­des gilt hier als In­diz, dass die In­itia­to­ren nicht die Kunst­frei­heit per se an­grei­fen, weil sie zu­ge­ste­hen, dass sich je­der das Ge­dicht in sei­ne Woh­nung hän­gen kön­ne. Es ge­he nur um die Ent­fer­nung des als frau­en­feind­lich emp­fun­de­nen Tex­tes aus der Öf­fent­lich­keit. Ein Ar­gu­ment, dass in Be­zug auf mu­sea­le Kunst­wer­ke und Per­for­man­ces al­ler­dings nicht mehr gilt.

Den an­ma­ßen­den To­ta­li­ta­ris­mus, der in sol­chen »Gna­den­ak­ten« liegt, er­kennt er nicht. Erst im letz­ten Ka­pi­tel, als er von den ver­meint­li­chen Ret­tern der Kunst­frei­heit be­rich­tet, die er vor al­lem auf der po­li­ti­schen rech­ten Sei­te ver­or­tet, kommt ihm das Wort von der »Il­li­be­ra­li­tät« in den Sinn. Hell­sich­tig er­klärt er zwar, dass die rechten/identitären Be­we­gun­gen die Kri­tik an der mo­ra­li­sie­ren­den Kunst­be­trach­tung als tro­ja­ni­sches Pferd für ih­re ei­ge­nen, re­stau­ra­ti­ven Kunst­auf­fas­sun­gen miss­brau­chen. Ei­nen Mit­tel­weg be­schreibt er je­doch nicht. So­mit ge­rät man schnell un­ter Re­stau­ra­ti­ons­ver­dacht. Da­mit spielt er un­frei­wil­lig-frei­wil­lig das Spiel de­rer, die das, was er die Li­be­ra­li­tät nennt, aus­he­beln.

Dass die Il­li­be­ra­li­tät der rech­ten und lin­ken nur zwei Sei­ten der glei­chen Me­dail­le sind, kommt nur sehr de­zent vor: Es war die Kunst, die dem In­di­vi­du­um ei­ne größt­mög­li­che Frei­heit zu­ge­stand, da­mit es sich selbst und wo­mög­lich ei­ne hö­he­re Wahr­heit fin­de und auf die­se Wei­se die Ge­sell­schaft zu ei­ge­nen Frei­sin­nig­keit an­re­gen kön­ne. Die­ser Im­puls droht – egal von wel­chem La­ger – ab­ge­würgt zu wer­den. Rich­tig heißt es: Nicht die Fi­xie­rung auf fe­ste Iden­ti­tä­ten war die Be­stim­mung die­ser li­be­ra­len Kunst, viel­mehr zog sie al­le und al­les hin­ein in ein Spiel be­frei­en­der, uni­ver­sell ge­mein­ter Wan­del­bar­keit.

Statt die Zu­mu­tun­gen des Li­be­ra­lis­mus zu er­tra­gen wer­den Po­si­tio­nen be­zo­gen und das fun­da­men­ta­li­sti­sche Ver­lan­gen nur noch grö­ßer. So schwin­det das Un­ge­wis­se der Kunst, ih­re schö­ne, fun­keln­de Po­ly­va­lenz. Sie sei, so die Quint­essenz, das wah­re Op­fer der Kul­tur­kämp­fe. Mu­se­en agie­ren aus Furcht vor Shits­torms. Der Be­su­cher wird be­vor­mun­det, in­dem ihm nicht für ad­äquat ge­hal­te­ne Kunst ver­bor­gen bleibt. Und wenn nicht das, wenn wer­den »un­pas­sen­de« Ti­tel von Kunst­wer­ken mit Stern­chen ab­ge­än­dert. Ex­po­na­te wer­den nicht mehr im Kon­text der Zeit ge­se­hen son­dern mit heu­ti­gen Sicht­wei­sen be­wer­tet. Es fin­det ei­ne En­t­hi­sto­ri­sie­rung der Ex­po­na­te statt. Et­was, was ver­stärkt auch für die Li­te­ra­tur be­ob­ach­tet wer­den kann.

Kei­ne Fra­ge, Rau­ter­berg be­schreibt sehr stim­mig das es­sen­tia­li­sti­sche Den­ken, wel­ches den Ein­zel­nen auf sei­ne Merk­ma­le re­du­zie­re und so­mit so­fort Af­fek­te pro­du­ziert, wenn es »un­pas­sen­de« Kunst und/oder Künst­ler ge­be. Hier ist er von Pe­ter Slo­ter­di­jks Dik­tum, die Mas­sen­kom­mu­ni­ka­ti­on als das or­ga­ni­sier­te »per­ma­nen­te Ple­bis­zit ge­mein­sa­mer Sor­gen« sieht, nicht weit ent­fernt. Ge­sell­schaft exi­stie­re, so Slo­ter­di­jk, nur noch als »mas­sen­me­di­al in­te­grier­te, zu­meist po­ly­the­ma­ti­sche Stress-Kom­mu­ne«. Wich­tig ist nur noch, die Ba­lan­ce zwi­schen Ab­len­kung und Stress, zwi­schen »locke­ren un­ter­hal­tungs­ge­mein­schaft­li­chen« und »dich­ten kampf­ge­mein­schaft­li­chen« Zu­stän­den zu fin­den.

Ei­ni­ges spricht da­für, dass aus der Un­ter­hal­tungs­ge­mein­schaft ei­ne ve­ri­ta­ble Hyper­ventilationsgemeinschaft ge­wor­den ist. Wer die Er­re­gun­gen über Kunst­wer­ke und Künst­ler in den letz­ten Jah­ren ver­folgt hat stellt, so Rau­ter­berg, fest, dass Mit­spra­che- und Ur­teils­kom­pe­tenz längst nach Her­kunft, Haut­far­be, Ge­schlecht, se­xu­el­ler Ori­en­tie­rung ge­wich­tet wer­den. Da­bei er­lischt al­ler­dings je­de Form von pro­duk­ti­vem Dis­kurs, weil in­fol­ge ei­ner Ero­si­on ge­sell­schaft­li­cher Ver­bind­lich­kei­ten kei­ne über­in­di­vi­du­ell gül­ti­gen Ar­gu­men­te mehr exi­stie­ren. Statt­des­sen ent­steht ei­ne Heu­ri­stik des Ver­dachts. Der (selbst­ver­schul­de­te) Ver­lust des frei­en Den­kens und Ar­gu­men­tie­rens wird an et­li­chen (zu­meist US-ame­ri­ka­ni­schen) Bei­spie­len gut il­lu­striert (deut­sche Vor­komm­nis­se, wie der »Fall« Die­ter We­del, feh­len – als ZEIT-Re­dak­teur wä­re es im letz­ten Fall wohl zu kri­tisch).

Statt der er­wähn­ten ge­sell­schaft­li­chen Ver­bind­lich­kei­ten gibt es omi­nö­se, ein­sei­tig ver­fass­te Ver­bo­te und Ta­bui­sie­run­gen, die ei­nen Ab­so­lut­heits­an­spruch be­haup­ten. Nicht nur die 70er Jah­re Frei­zü­gig­keit ist pas­sé. Auch die Tren­nung von Au­tor und Werk exi­stiert längst nicht mehr. War­um dies so ist, bleibt hier un­ge­wiss. Ei­ne Mit­schuld ist si­cher­lich dem Feuil­le­to­nis­mus zu ge­ben, der die­se Ver­knüp­fung aus Grün­den der grif­fi­ge­ren Schrei­be we­gen seit vie­len Jah­ren prak­ti­ziert.

Ein we­nig arg sche­ma­tisch er­scheint Rau­ter­bergs Re­kurs auf das, was er Di­gi­tal­mo­der­ne nennt. Es han­delt sich um ei­nen Be­griff, der die Be­deu­tung der di­gi­ta­len Me­di­en auf die ge­gen­wär­ti­ge Kunst­re­zep­ti­on und –be­ur­tei­lung ver­deut­li­chen soll. Das In­ter­net ist zwar nicht der »bö­se Bu­be«, aber letzt­lich die In­stanz, die die Idio­syn­kra­si­en und For­de­run­gen trans­por­tiert, wenn nicht gar ver­ur­sacht. Ein Bei­spiel sind für ihn die Mo­ham­med-Ka­ri­ka­tu­ren. Aber be­reits zu »ana­lo­gen« Zei­ten ge­lang die an­ge­spro­che­ne Mo­bi­li­sie­rung des Un­be­ha­gens, wie man an den welt­wei­ten Pro­te­sten über Sal­man Rush­dies »Sa­ta­ni­sche Ver­se« 1988 se­hen kann (die Lek­tü­re die­ses Bu­ches zur Be­grün­dung der Krän­kung schien ent­behr­lich; man kennt dies al­ler­dings auch aus an­de­ren Kul­tur­krei­sen). Und auch der Blick auf die Kul­tur­kämp­fe in den 1990er Jah­ren in den USA (der ge­streift wird) hät­te ihm sa­gen müs­sen, dass dies nur ein Teil der Wahr­heit ist. Na­tür­lich kann man heut­zu­ta­ge in kur­zer Zeit Pe­ti­tio­nen und Shits­torms zu Al­les und ge­gen je­den bin­nen we­ni­ger Stun­den mit ein paar Tau­send Un­ter­schrif­ten in­iti­ie­ren. Da­mit ist al­ler­dings nichts über die Re­prä­sen­ta­ti­on die­ser In­ter­ven­tio­nen ge­sagt. Die viel be­schwo­re­ne »De­mo­kra­ti­sie­rung«, die durch das In­ter­net auch in äs­the­ti­schen Fra­gen her­ge­stellt wer­den soll, ist näm­lich oft ge­nug nichts an­de­res als ein Pro­jekt von ei­ner Min­der­heit in der Min­der­heit. Ver­läss­li­che Zah­len über die Nut­zung bei­spiels­wei­se von Twit­ter exi­stie­ren nicht – es schwankt zwi­schen rund 2 Mil­lio­nen »re­gel­mä­ssi­ger« Nut­zer in Deutsch­land bis zu 12 Mil­lio­nen -, aber die Zahl de­rer, die den Klick­ti­vis­mus als ak­ti­vi­sti­sches Me­di­um ver­wen­den dürf­te im Ver­hält­nis zum Re­so­nanz­raum, der er­zeugt wer­den soll, mar­gi­nal sein. Si­cher­lich, in ei­nem klei­nen Topf kann Was­ser ko­chen und dann ist es dort sehr heiß. Man darf das dann al­ler­dings nicht mit den an­de­ren Töp­fen auf dem Herd und der Tem­pe­ra­tur in der Kü­che ver­wech­seln. Dass In­itia­ti­ven in den so­zia­len Netz­wer­ken ei­ne brei­te gesell­schaftliche Dis­kus­si­on an­sto­ssen, ist eher sel­ten. Un­längt war dies bei dem #Me­too-Hash­tag zu be­ob­ach­ten. Al­ler­dings müs­sen dann die »kon­ven­tio­nel­len« Me­di­en dies auf­neh­men und ver­tie­fen.

Die Vor­gän­ge in der Li­te­ra­tur­kri­tik und ‑re­zep­ti­on klam­mert Rau­ter­berg gänz­lich aus. Wie es dort um das »Schnüf­feln« in und um Tex­ten steht, konn­te man un­längst in die­sem Bei­trag nach­le­sen. Gen­re­über­grei­fend ist zu be­mer­ken, dass die­se af­fek­tiv von Idio­syn­kra­si­en be­stimm­ten Co­di­zes kei­ne tem­po­rä­re An­ge­le­gen­heit sein dürf­ten. Zen­sur­blei­stift und Spit­zer wer­den an den Uni­ver­si­tä­ten wei­ter­ge­ge­ben. Ei­ni­ges er­in­nert an die Un­zei­ten des so­zia­li­sti­schen Rea­lis­mus. Ab­wei­chun­gen wer­den mit Ver­ban­nung sank­tio­niert, wel­che die Teil­nah­me an den Sub­ven­ti­ons- und son­sti­gen För­der­töp­fen er­schwert bzw. ver­un­mög­licht. Spä­te­re Ka­no­ni­sie­rung frag­lich bis aus­ge­schlos­sen. Und ein Künst­ler, der Stig­ma­ta auf­weist, er­zielt auch kei­ne der in­zwi­schen wahn­sin­ni­gen Prei­se für sei­ne Wer­ke auf dem Kunst­markt mehr und wird für po­ten­ti­el­le Samm­ler un­in­ter­es­sant. Ein Ca­ra­vag­gio hät­te heu­te kei­ne Chan­ce mehr. Der leicht op­ti­mi­sti­sche Aus­blick in Be­zug auf die Kunst­sze­ne kommt ei­nem da fast ein we­nig rüh­rend vor.

Rau­ter­berg ver­zich­tet auf Po­le­mik und schar­fe For­mu­lie­run­gen. Eben­so ist er sicht­lich be­müht »Kampf­be­grif­fe« (»PC«, »Gen­der­wahn«) zu ver­mei­den. Nur ein­mal ist von po­li­ti­scher Kor­rekt­heit die Re­de. Da­bei ist sei­ne Mei­nung durch­aus ein­deu­tig: Die Kunst ver­liert als Kampf­mit­tel ei­ner Selbst­ver­ge­wis­se­rungs­in­du­strie ih­re in der Mo­der­ne end­gül­tig er­run­ge­ne Frei­hei­ten. Den­noch ver­sucht er ei­ne de­es­ka­lie­ren­de Spra­che, um bei­de Sei­ten mög­lichst un­vor­ein­ge­nom­men und vor al­lem oh­ne die (zu Recht) kri­ti­sier­ten Af­fek­te dar­zu­stel­len. Ziel ist es ei­ne ver­mit­teln­de Po­si­ti­on ein­neh­men. Sein Plä­doy­er für den »Li­be­ra­lis­mus« in der Kunst bleibt da­bei lei­der et­was kon­tur­los, weil der Be­griff am En­de nicht aus­rei­chend de­fi­niert wird. So ist der Text mehr Auf­satz als Es­say. Trotz­dem ist Wie frei ist die Kunst? der ge­lun­ge­ne Ver­such ei­nen Über­blick über die ak­tu­el­le Ver­fasst­heit vor al­lem in der Kunst­sze­ne zu ver­schaf­fen. Dem­zu­fol­ge ei­ne fast unverzicht­bare Lek­tü­re. In ei­ni­gen Jah­ren wird man dann se­hen, ob die heu­ti­gen Zei­ten als Be­ginn ei­ner neu­en Epo­che oder nur als ein Stroh­feu­er ge­se­hen wer­den.

Die kur­siv ge­setz­ten Pas­sa­gen sind Zi­ta­te aus dem be­spro­che­nen Buch.

13 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Ich möch­te bei­pflich­ten: Af­fek­te wer­den nicht grund­sätz­lich be­fragt, son­dern ein­ge­setzt und die je­wei­li­ge An­ge­le­gen­heit oder das je­wei­li­ge Ziel ent­schei­den über die Recht­fer­ti­gung ih­res Aus­ma­ßes und nicht et­wa die Ge­bo­te ei­nes ver­nunft­ori­en­tier­ten Dis­kur­ses. Wenn die Ver­fasst­heit un­se­rer Ge­sell­schaft Af­fekt­kon­trol­le, aber auch die Aus­dif­fe­ren­zie­rung der in­di­vi­du­el­len Ge­fühls­welt, er­schwert, dann wä­re das ein Teil der Er­klä­rung; ein an­de­rer könn­te sein, dass ei­ne im­mer li­be­ra­ler wer­den­de, al­so das In­di­vi­du­um aus al­len (gei­sti­gen) Ver­bind­lich­kei­ten ent­las­sen­de Welt, dem Af­fekt wie­der ei­ne grup­pen­kon­sti­tu­ie­ren­de Funk­ti­on wie­der­gibt, ja mehr noch, dass die in­stru­men­tel­len Lo­gi­ken (Öko­no­mie, Bü­ro­kra­tie) ihn her­aus­for­dern und frei­set­zen. Rau­ter­berg scheint da et­was »schul­dig« zu blei­ben.

    An­de­rer­seits könn­te man fest­stel­len, dass das schlicht und er­grei­fend der »Dis­kurs« un­se­rer Zeit ist, der eben auch (aber nur auch) die Kunst trifft. Sie teilt die all­ge­mei­ne Ma­lai­se (Ro­bert Pfal­ler, auf den Leo­pold Fe­der­mair un­längst hin­ge­wie­sen hat, spricht vom Ver­schwin­den der Spra­che er­wach­se­ner Men­schen und von ei­ner Re­de über Be­find­lich­kei­ten, die die Ge­sell­schaft spal­tet, weil sie Per­so­nen und Grup­pen ge­gen­ein­an­der aus­spielt, der Nutz­nie­ßer ist das ka­pi­ta­li­sti­sche Sy­stem, weil kein ge­samt­ge­sell­schaft­li­cher, al­so über Gren­zen hin­weg­ge­hen­der, Wi­der­stand mehr ent­steht, et­wa da­durch, dass man auf et­was wie ein Ge­mein­wohl hin­denkt...).

  2. Ich glau­be ja, dass die Ge­sell­schaft ge­ra­de an Li­be­ra­li­tät ein­büßt, ob­wohl im­mer das Ge­gen­teil be­haup­tet wird. Die zahl­rei­chen Im­pe­ra­ti­ve, die zu be­rück­sich­ti­gen sind um kei­ne Min­der­hei­ten zu ver­är­gern, schrän­ken ja künst­le­ri­sche Frei­hei­ten ein.

    Frag­lich fin­de ich den Be­fund, dass hier­durch so et­was wie das Ge­mein­wohl ver­drängt wird. Der Be­griff war (und ist?) im­mer noch ne­ga­tiv be­setzt. Wer »Ge­mein­schaft« sagt gilt in­zwi­schen (wie­der? oder noch im­mer?) als rechts. Ge­mein­wohl wird da­bei je nach An­schau­ung de­fi­niert. Haupt­au­gen­merk wird nur noch dar­auf ge­legt, ob nicht ir­gend­wo ei­ne Dis­kri­mi­nie­rung kon­sta­tiert wer­den kann.

  3. Dan­ke für die Be­spre­chung, Dan­ke auch für den Link auf Pfal­ler. Der Kar­di­nals­feh­ler der kul­tu­ra­li­sti­schen Lin­ken wird von Pfal­ler m.M.n. rich­tig er­kannt. Ich ver­mu­te, auch Mark Lil­la oder Jo­na­than Haidt wür­den hier zu­stim­men. Wenn sich die Lin­ke ent-öko­no­mi­siert, al­so die Re­ge­lung der Märk­te und die Kon­trol­le des Ka­pi­tals (In­vest­ment) auf­gibt, be­geht sie ei­nen ver­häng­nis­vol­len Feh­ler. So ge­sche­hen, wohl En­de der Acht­zi­ger. Zwar kann sie ih­re Wer­te-Hier­ar­chie zu­nächst noch ganz gut über die In­ter­es­sen von Min­der­hei­ten ar­ti­ku­lie­ren, aber wie man in­zwi­schen sieht, sind die Min­der­hei­ten kei­nes­wegs frei von pri­mi­ti­ven Macht­al­lü­ren.
    Die di­rek­te Fol­ge des cul­tu­ral turns ist, dass man an­fängt, Kunst­er­zeug­nis­se zu ver­un­glimp­fen, die sich den ge­setz­ten Prio­ri­tä­ten ent­zie­hen. Das fällt ja in die selbst­ge­wähl­te Zu­stän­dig­keit. Die ga­ran­tier­te Frei­heit des Rechts­staats kann man mit sub­ver­si­ven Mit­teln un­ter­lau­fen, et­wa »ab­sicht­li­ches Falsch­le­sen«, wie Slo­ter­di­jk es nann­te, mo­ra­li­sche Ent­rü­stung im dün­nen Man­tel der »Theo­rie«, Skan­da­li­sie­rung, Schmerz­de­mon­stra­tio­nen, Mob­bing, etc.
    Aber fal­sche Po­li­tik hat im­mer Kon­se­quen­zen, und sei es die Ver­schlim­me­rung der La­ge durch das Auf­kom­men ei­nes un­barm­her­zi­gen Geg­ners. Der Rechts­po­pu­lis­mus und die Pro­pa­gan­da der Emp­find­lich­keit sind bei­na­he schon sym­me­tri­sche Über­trei­bun­gen, die an das Pa­ra­dox von Hen­ne und Ei er­in­nern. Was war zu­erst?! Die Kau­sa­li­tät ist nicht zu ent­schlüs­seln, aber man hasst sich pri­ma auf bei­den Sei­ten.
    Die Kunst ist im­mer noch frei; aber wie wird sie auf die po­li­ti­sche Dy­na­mik re­agie­ren?! Die Dra­ma­ti­ker müs­sen ei­gent­lich nur mit­schrei­ben. Die Ly­ri­ker müs­sen sich wohl die Oh­ren zu­stop­fen. Der Ro­man kann ganz un­ter­schied­lich aus­fal­len: die Su­che nach der Idyl­le (Hand­ke); die Er­fah­run­gen von Min­der­hei­ten, am be­sten frisch nach der Mi­gra­ti­on, in der er­sten Ge­ne­ra­ti­on; oder mi­lieu­be­ding­ter Wi­der­stand durch äs­the­ti­sche Sub­li­ma­ti­on, auch wie­der ver­teilt in links und rechts (De­spen­tes vs. Hou­el­le­becq)

  4. @die_kalte_Sophie
    Die Fra­ge nach der Frei­heit der Kunst stellt sich ei­gent­lich erst, wenn die Wer­ke (gleich­sam) die ei­ge­nen vier Wän­de ver­las­sen. Aber das ist eben ent­schei­dend.

    Zur Par­al­le­li­tät von Po­pu­lis­mus und Emp­find­lich­keits­po­li­tik (wie der oben ge­nann­ten Pro­ble­ma­tik am Bei­spiel der Kunst) ge­hört auch, dass in bei­den Fäl­len nicht nur ge­hasst wird, son­dern vor al­lem Af­fek­te (aber auch Mo­ral) als Bin­de­mit­tel wir­ken. Die Iden­ti­tä­ren, die man zwar kei­nem der bei­den »La­ger« ei­gent­lich zu­rech­nen kann, sind nichts an­de­res als die rech­te Ant­wort auf die links­li­be­ra­le Iden­ti­täts­po­li­tik, so­zu­sa­gen ein Ge­gen­an­griff mit den­sel­ben Mit­teln.

    @Gregor
    Die Fra­ge nach ei­ner Ein­bu­ße von Li­be­ra­li­tät ist am­bi­va­lent: In der Öko­no­mie und der von ihr ko­lo­ni­sier­ten Päd­ago­gik wer­den Ar­beit und Ler­nen (»Bil­dung«) im­mer stär­ker frei­ge­stellt (fle­xi­bi­li­siert) und auf selbst­stän­di­ge Teams oder den Ein­zel­nen (Selbst­bil­dung) ver­la­gert; hin­zu kommt aber ei­ne ri­gi­de End­kon­trol­le (Qua­li­täts­prü­fung, Lern­ziel­über­prü­fung). Et­was all­ge­mei­ner for­mu­liert: Wir sind frei zahl­rei­che Ent­schei­dun­gen zu tref­fen, wir kön­nen kau­fen was wir wol­len, eben­so un­se­re Frei­zeit ge­stal­ten oder uns amü­sie­ren und auch in der Wahl un­se­rer Ar­beit steht uns vie­les of­fen. Al­ler­dings müs­sen wir sy­stem­kon­form agie­ren und wer­den im­mer um­fas­sen­der über­wacht. — Was mei­nen wir mit un­se­rer Idee von der Frei­heit, gleich was li­be­ral und Li­be­ra­lis­mus nun be­deu­ten? Das ist die Fra­ge, die sich auf­drängt und die Kunst ist da­für viel­leicht gar kein schlech­tes Bei­spiel.

    Es mag sein, dass man als rechts gilt, wenn man über et­was wie das Ge­mein­wohl nach­denkt, aber ist das nicht un­um­gäng­lich, wie die Fra­ge nach Ge­rech­tig­keit oder eben Frei­heit? Das Ge­mein­wohl ist ei­ne Idee, die da­von aus­geht, dass es Be­lan­ge gibt, die al­le be­tref­fen, et­was wie In­ter­es­sen von al­len und sie (die Idee) fällt da­mit, dass man im­mer nur Teil­grup­pen kon­sti­tu­iert und über de­ren Be­find­lich­kei­ten dis­ku­tiert. Zu mehr kommt es eben nicht, weil In­ter­es­sen, die über Ge­schlecht, Haut­far­be, se­xu­el­le Ori­en­tie­rung, Mi­gra­ti­ons­hin­ter­grund oder was auch im­mer hin­aus­ge­hen, gar nicht an­ge­nom­men wer­den. Und das kommt den In­ter­es­sen oder Prak­ti­ken ent­ge­gen, die so­zu­sa­gen als ein­zi­ge uni­ver­sal sind, den öko­no­mi­schen.

  5. @metepsilonema
    Das Agie­ren in ei­ner ge­wis­sen Kon­for­mi­tät mit ei­nem »Sy­stem« gab es im­mer schon. Und frü­her gab es ja sehr wohl so et­was wie ei­nen so­zia­len Druck – was sich z. B. am äu­ße­ren Er­schei­nungs­bild in der Öf­fent­lich­keit zeig­te. Mit der In­di­vi­dua­li­sie­rung, die ver­stärkt ab den 1970er-Jah­ren ein­setz­te, ver­schwan­den die­se zum Teil ar­chai­schen Ver­hal­tens­vor­ga­ben. Nicht um­sonst nann­te man dies dann ir­gend­wann das Zeit­al­ter des »anything goes« (nicht nur als Be­schrei­bung in der Kunst­welt). Ne­ben den Vor­tei­len gab es den Nach­teil ei­ner Ent-So­zia­li­sie­rung von Ge­sell­schaft. Wenn je­der sich selbst der Näch­ste ist, dann gibt es so et­was wie »Ge­mein­wohl« nicht. Das ist kei­nes­falls mit dem so­ge­nann­ten »Neo­li­be­ra­lis­mus« zu ver­wech­seln, der erst in den 2000er Jah­ren in Deutsch­land Fuß fass­te (nach­dem er in den USA und Groß­bri­tan­ni­en be­reits 20 Jah­re zu­vor »aus­ge­bro­chen« war).

    Das »anything goes« ist nun ei­nem zum Teil an­ders-re­pres­si­ven Sy­stem ge­wi­chen, in dem Ab­wei­chun­gen mit öko­no­mi­schen, vor al­lem aber so­zia­len Aus­schlüs­sen sank­tio­niert wer­den. Es gibt kei­ne »Be­tre­ten verboten«-Schilder mehr auf Ra­sen­flä­chen wie in den 1950er Jah­ren. Die Im­pe­ra­ti­ve sind an­de­re, fei­ner for­mu­liert, aber nicht we­ni­ger deut­lich. Bei dem viel­be­schwo­re­nen und – teil­wei­se – be­klag­ten En­de der so­ge­nann­ten »Volks­par­tei­en« in den De­mo­kra­tien wird die Par­ti­ku­la­ri­sie­rung deut­lich. In­dem im­mer mehr be­stimm­te Min­der­hei­ten zu po­li­ti­schen Mehr­heits­ma­chern wer­den, wer­den ih­re Be­dürf­nis­sen zu all­ge­mei­nen Be­dürf­nis­sen ge­macht. Das zeigt sich ins­be­son­de­re in der Kunst sehr deut­lich, wes­halb Rau­ter­bergs Buch für mich so et­was wie das Buch der Stun­de ist (trotz der an­ge­spro­che­nen Schwä­chen).

    Die Ent­öko­no­mi­sie­rung (@ die_kalte_Sophie) der Lin­ken zeigt sich vor al­lem dar­in, dass so et­was wie ein be­din­gungs­lo­ses Grund­ein­kom­men ein­ge­for­dert bzw. ge­plant wird. Da­mit sol­len dann al­le Pro­ble­me ge­löst wer­den. Wo­zu braucht man dann noch Marx?

  6. @Gregor
    Ich stel­le ja nicht in Ab­re­de, dass es frü­her kei­nen Kon­for­mi­täts­druck gab, mei­ne aber, dass der äu­ßer­lich we­ni­ger sicht­bar, da­für aber um­fas­sen­der und sub­ti­ler ge­wor­den ist (da schei­nen wir ja über­ein­zu­stim­men). Ich ha­be die 68iger Jah­re und die dar­auf fol­gen­den nicht er­lebt, mei­ne aber schon, dass da­mals so­zia­le Fra­gen ge­stellt wur­den, dass nicht nur ein »anything goes« galt. Ab­ge­se­hen da­von: Wenn z.B. lau­fend von der Be­nach­tei­li­gung von Frau­en (in die­ser All­ge­mein­heit) zu hö­ren ist, dann ge­ra­ten all je­ne Män­ner aus dem Blick, die in Be­ru­fen ar­bei­ten (Brief­trä­ger, Müll­ab­fuhr, Bau­ar­bei­ter, Fern­fah­rer,...), die kör­per­li­chen Ver­schleiß mit sich brin­gen und die ge­wiss kei­ne »öko­no­misch pri­vi­le­gier­te« Po­si­ti­on be­deu­ten, ob­wohl vie­le da­von in die Ru­brik »he­te­ro­se­xu­el­le wei­ße Män­ner« fal­len. Das spielt Frau­en ge­gen Män­ner aus und treibt vor al­lem die letz­te­ren Rich­tung Po­pu­lis­mus, weil der auf ih­re klas­si­sche Po­si­ti­on re­kur­riert. Der Nut­zen ist doch of­fen­kun­dig (dass das Den­ken an et­was wie ein Ge­mein­wohl oder an Ver­gleich­ba­res schon vor­her zu ero­die­ren be­gann, ja si­cher­lich, ich ha­be auch nicht be­haup­tet, dass das an­ders ge­we­sen wä­re...).

  7. In­zwi­schen wird ja of­fen dis­ku­tiert, ob es nicht ei­ne Art »Po­pu­lis­mus von links« ge­ben soll­te, der sich ge­gen den Rechts­po­pu­lis­mus wen­det (selbst bei Mül­ler wird das ja an­ge­schnit­ten, al­ler­dings ver­wirft er weit­ge­hend ei­ne sol­che Po­si­ti­on). Im Zen­trum die­ser Be­trach­tun­gen steht ein be­haup­te­tes Span­nungs­ver­hält­nis zwi­schen Li­be­ra­lis­mus und De­mo­kra­tie.

    Das oben ver­link­te Ge­spräch mit der Adep­tin ei­nes not­wen­di­gen lin­ken Po­pu­lis­mus ist da­hin­ge­hend in­ter­es­sant, als das die Mi­gra­ti­ons­fra­ge als Fo­lie die­ses Span­nungs­ver­hält­nis­ses dient. In­ter­es­sant ist wie der Be­griff der Li­be­ra­li­tät hier de­fi­niert wird. Li­be­ral wä­re dem­nach die un­be­ding­te Grenz­öff­nung, »de­mo­kra­tisch« der Re­kurs auf na­tio­na­le Gren­zen.

    Ent­schei­dend für die­se Dis­kus­si­on ist aber die Aus­sa­ge, dass plu­ra­li­sti­sche De­mo­kra­tien für »Gleich­heit der po­li­ti­schen Rech­te, Gleich­heit der Par­ti­zi­pa­ti­ons­mög­lich­kei­ten, Gleich­heit der po­li­ti­schen Ein­fluss­mög­lich­kei­ten« ste­hen. Die Fra­ge ist nun, wie dies im all­täg­li­chen Ge­brauch um­ge­setzt wird. Die von Rau­ter­berg skiz­zier­ten Kul­tur­kämp­fer wol­len die­se Gleich­heits­grund­sät­ze nicht nur in ru­hen­den Grund­rech­te­ver­trä­gen er­füllt se­hen, son­dern mah­nen die­se in der Pra­xis of­fen­siv an. Da­bei wer­den die Emp­find­lich­kei­ten im­mer aus­ge­präg­ter und im­mer skur­ri­ler. Über »Gleich­heit« ist ja nichts ge­sagt, ob ich nun das ge­ne­ri­sche Mas­ku­li­num ver­wen­de oder per­ma­nent ein Gen­der­stern­chen set­ze.

    Am En­de sind die­se in­ter­ven­tio­na­li­sti­schen Idio­syn­kra­si­en so et­was wie der An­fang ei­nes »lin­ken Po­pu­lis­mus«. Fol­gen: un­be­kannt.

  8. Aus­drück­li­che Zu­stim­mung (@mete) noch ein­mal für die Be­deu­tung der Af­fek­te bei der Or­ga­ni­sa­ti­on von po­pu­li­sti­schen Be­we­gun­gen. Ich glau­be, Jan-Wer­ner Mül­ler steht mit sei­ner Un­ter­schei­dung von »Plu­ra­li­tät« und Al­lein­ver­tre­tung et­was zu weit im Gar­ten der nor­ma­ti­ven Ka­te­go­rien, der Sy­stem­kon­for­mi­tät und der »gu­ten Ma­nie­ren«, dar­in lei­der Ha­ber­mas fort­schrei­bend, der die Par­al­le­le von Aka­de­mie und Öf­fent­lich­keit idea­li­siert.
    Ja, und wel­che Raf­fi­nes­se liegt ei­gent­lich dar­in, ei­ne im­mer schon Emo­ti­ons-be­gab­te Lin­ke zur Grün­dung ei­nes ei­ge­nen Po­pu­lis­mus auf­zu­ru­fen... Ein Eti­ket­ten­schwin­del, der an die Nach­da­tie­rung von ab­ge­lau­fe­nen Fleisch­pro­duk­ten im Su­per­markt er­in­nert.
    Chan­tal Mouf­fe ist be­mer­kens­wert be­triebs­blind, wenn sie der Lin­ken wie­der mal die na­tür­li­che Be­ga­bung zur ver­nünf­ti­gen Ar­gu­men­ta­ti­on be­schei­nigt, der für mich »größ­te My­thos un­se­rer Zi­vi­li­sa­ti­on über­haupt«, dicht ge­folgt von der Auf­er­ste­hung Chri­sti. Ein schwa­cher Be­griff der Ra­tio­na­li­tät mit ei­nem Echo­raum für die Wer­te­p­re­fe­ren­zen machts im­mer noch mög­lich.
    Wer so weit da­ne­ben liegt, zieht na­tür­lich die ex­akt fal­sche Schluss­fol­ge­rung: mehr Af­fek­te, mehr Lei­den­schaft, mehr Lie­bes­ver­hält­nis­se ent­lang der »Dis­kur­se« durch Ver­ein­fa­chung ge­sell­schaft­li­cher Kom­ple­xi­tät.
    So dreht sich das Rad im­mer wei­ter: Li­be­ra­lis­mus ist nur noch in der Ver­packung des Links­li­be­ra­lis­mus zu ha­ben, je­den­falls nach der Vor­sor­tie­rung im me­dia­len Groß­han­del. Ge­fühls­be­ton­te Iden­ti­fi­ka­tio­nen be­grün­den die Kor­rek­tur an der Frei­heit an­de­rer, der Ver­stand hat noch im­mer die nö­ti­gen »Ar­gu­men­te« ge­lie­fert.
    Was lan­ge gährt, wird end­lich Es­sig.

  9. @die_kalte_Sophie
    Na­ja, es gibt schon noch den so­ge­nann­ten »Neo­li­be­ra­lis­mus«, der ja in Wirk­lich­keit ein Lais­sez-fai­re des Öko­no­mi­schen vor dem So­zia­len ist und ei­gent­lich Wirt­schaft­li­ber­ta­ris­mus ge­nannt wer­den müss­te, weil er eher dem li­ber­tä­ren als dem li­be­ra­len zu­neigt.

    Und aus dem Links­li­be­ra­lis­mus keimt ei­ne Art von pa­ter­na­li­sti­sches Welt­rich­ter­tum – in sich min­de­stens au­to­ri­tär, wenn sich to­ta­li­tär. Al­les na­tür­lich im Sin­ne des »Gu­ten«. Da ist der Weg zur Re­li­gi­on nicht mehr weit.

  10. @Gregor
    Das Span­nungs­ver­hält­nis zwi­schen Frei­heit und Gleich­heit ist nicht ge­ra­de die al­ler­neu­ste Neu­ig­keit, da­für bleibt un­er­wähnt, dass sich Li­be­ra­li­tät ge­sell­schaft­lich und /oder (!) wirt­schaft­lich äu­ßern kann (kla­rer­wei­se kann dann ein au­to­ri­tä­res Sy­stem »li­be­ra­le« Aspek­te be­sit­zen). Bei­pflich­ten möch­te ich, dass es zu­min­dest den An­schein hat, dass vie­le Re­prä­sen­tan­ten un­se­rer Funk­ti­ons­eli­ten nicht ver­ste­hen, dass »der Po­pu­lis­mus« ein sy­stem­be­ding­tes Phä­no­men ist, im Span­nungs­feld ei­nes Oben und Un­ten, ei­nes ab­strak­ten, zu­min­dest teil­wei­se selbst­ge­nüg­sa­men, ja selbst­re­fe­ren­ti­el­len po­li­ti­schen Sy­stems (vgl. Hai­der in Öster­reich, wo­bei das »Aus­län­der­the­ma« et­was leicht­fer­tig bei­sei­te ge­scho­ben wird). Oh­ne die Eu­ro­päi­sche Uni­on gä­be es das Phä­no­men in die­ser Form nicht. Ein schwe­rer Feh­ler, vor al­lem der so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei­en, war, sich rück­halt­los dem Pro­jekt EU zu ver­schrei­ben, was der Auf­ga­be je­der kri­ti­schen Po­si­ti­on gleich­kam; die­ses Feld bleibt den so­ge­nann­ten po­pu­li­sti­schen Par­tei­en vor­be­hal­ten (zu­züg­lich ei­ni­ger lin­ker Grup­pie­run­gen).

    Wenn man zwi­schen Af­fek­ten (we­nig durch­drun­ge­ne und be­wusst wahr­ge­nom­me­ne Re­gun­gen und Aus­brü­che, »Über­schüs­se«) und Ge­füh­len dif­fe­ren­ziert, fin­det man viel­leicht ei­ne Er­klä­rung: Af­fek­te su­chen sich Zie­le, ja Adres­sa­ten und zwar ih­res­glei­chen oder ver­wand­tes, sie su­chen Bin­dung und wer­den aus­ge­löst oder sind – so­zu­sa­gen – vor­han­den (als Re­sul­tat des Le­bens­voll­zugs). Ich will Ge­füh­le als ein der Ver­nunft bei­gestell­tes Ent­schei­dungs­mit­tel gar nicht dis­kre­di­tie­ren, aber ei­ne Po­li­tik, die vor­nehm­lich auf Af­fek­te zielt, egal wie sie sich nennt, ent­zieht die­se letzt­lich al­ler Be­grün­dungs­pflicht und der Fra­ge nach Wahr­heit. Wenn man auf letz­te­res Wert legt, kann ein sol­ches Un­ter­fan­gen kein Ziel sein. Trotz­dem ver­wei­sen die Af­fek­te, vor al­lem die ne­ga­ti­ven, auf et­was, des­sen man ana­ly­tisch »hab­haft« wer­den muss (das scheint ein Vor­teil der rech­ten Be­we­gun­gen zu sein, dass sie es schaf­fen die ne­ga­ti­ven Af­fek­te zu sam­meln, da­her wohl auch die For­de­rung nach ei­nem lin­ken Po­pu­lis­mus).

    Wenn ich an Pe­ter Pilz in Öster­reich den­ke, der auch ger­ne von lin­kem Po­pu­lis­mus spricht, dann gibt es schon Un­ter­schie­de ei­nes lin­ken Po­pu­lis­mus zu den lin­ken kul­tu­ra­li­sti­schen Un­ter­fan­gen und zwar bei den The­men Mi­gra­ti­on und Is­lam.

  11. Ich bin (@Gregor) of­fen für je­de ge­lun­ge­ne Ab­gren­zung des Li­be­ra­lis­mus vom Li­ber­ta­ris­mus, so­wohl in der Theo­rie als auch in der Re­al­po­li­tik. Aber ein­fach ist das nicht. Die Ab­wä­gung der so­zia­len Im­pli­ka­tio­nen ge­gen­über dem Pri­mat der wirt­schaft­li­chen Frei­heit muss ja pau­sen­los ge­sche­hen. Die west­li­chen De­mo­kra­tien ha­ben dar­in be­acht­li­che Er­fol­ge er­zielt, aber ein wo­mög­lich »prin­zi­pi­el­les Un­be­ha­gen« bleibt. Ich se­he kein struk­tu­rel­les De­fi­zit, das den Pha­sen­be­griff »Neo­li­be­ra­lis­mus« de­fi­nie­ren könn­te. Ar­ti­ku­liert sich dar­in ei­ne Grund­er­fah­rung, wie der Ab­stand der Ar­beit­neh­mer zu Ent­schei­dun­gen der Un­ter­neh­mens­füh­rung?! Das wä­re ur­alt, und nicht »Neo«... Oder ist es die tech­no­kra­ti­sche Spra­che der Wirt­schafts­po­li­tik, die Ar­beit­neh­mer­inter­es­sen kei­ne Prio­ri­tät ein­räu­men kann, manch­mal so­gar völ­lig aus­blen­det?!
    Ich kann mir kei­nen Reim dar­auf ma­chen, des­halb die rhe­to­ri­schen Fra­gen. Ich ver­mu­te, der Be­griff ist selbst ein Er­zeug­nis des Mei­nungs- und Deu­tungs­kamp­fes der Acht­zi­ger Jah­re, al­so ein po­li­ti­scher Be­griff nach Kos­sel­eck, d.h. nur be­dingt ob­jek­ti­vier­bar.

    @mete: Ih­re Un­ter­schei­dun­gen von Emo­tio­nen und Af­fek­ten scheint mir ge­lun­gen. Ei­ne Ge­gen­über­stel­lung von ra­tio­na­ler (Iro­nie: links-ra­tio­na­ler) Po­li­tik und af­fekt­ge­la­de­nen Über­wäl­ti­gungs­ver­su­chen (Po­pu­lis­mus) ver­fehlt die Be­deu­tung der Emo­ti­on in der po­li­ti­schen Sphä­re: De­mo­kra­tie lebt von ei­nem sach­lich un­ge­nau­en Ver­mitt­lungs­pro­zess. Das wür­de am En­de kein »ani­mal ra­tio­na­le« über­zeu­gen, wenn die Emo­tio­nen nicht mit­hel­fen wür­den.
    Um die Qua­li­tät der Po­li­tik zu prü­fen, braucht es die Be­grün­dung. Nur dann kann man sich rück­ver­si­chern dar­über, ob wir es mit Bauch­ent­schei­dun­gen, Ideo­lo­gie oder Po­pu­lis­mus zu tun ha­ben. Af­fek­te ste­hen zu Recht in Ver­dacht, un­fai­re und we­nig re­flek­tier­te Po­li­ti­ken zu »kom­mu­ni­zie­ren«, aber völ­lig ir­ra­tio­nal sind die­se Po­li­ti­ken nicht.
    Der Hin­weis auf die EU ist voll­kom­men rich­tig: war­um nimmt es man nicht zur Kennt­nis, dass sich bei­na­he al­le Po­pu­li­sten mit der EU an­le­gen?! Mit der EU ist der pre­kä­re Ver­mitt­lungs­pro­zess des Po­li­ti­schen auf die Spit­ze ge­trie­ben wor­den. Die Re­gie­ren­den sind Un­be­kann­te, die Ver­ant­wor­tung für Ent­schei­dun­gen kann nicht mehr zu­ge­ord­net wer­den. Par­la­ment und Kom­mis­si­on ge­ra­ten zur Black Box.
    Auf die­ses eli­tä­re Macht­ver­hält­nis mit Af­fek­ten zu re­agie­ren, ist ver­tret­bar. Dass man da­bei den po­li­ti­schen Schalt­kreis wie­der auf die na­tio­na­le Ebe­ne ver­engt, liegt in der Na­tur der Sa­che. Ge­nau da ist die De­mo­kra­tie be­hei­ma­tet.
    Die EU hat den Po­pu­lis­mus nach sich ge­zo­gen. Auch wenn es wie ei­ne Kon­fron­ta­ti­on von Pro­gres­si­vi­tät und re­ak­tio­nä­rer Re­stau­ra­ti­on aus­sieht, ist es nicht mit der Er­klä­rung der Ir­ra­tio­na­li­tät ge­tan. Ge­nau­so ir­ra­tio­nal war es, die EU mit post­na­tio­na­len Uto­pien auf­zu­la­den.

  12. Ich glau­be nicht, dass der EU ei­ne grö­sse­re »Schuld« am Po­pu­lis­mus-Phä­no­men zu­zu­wei­sen ist. Zu­mal sie erst seit kur­zer Zeit als han­deln­der Ak­teur wahr­ge­nom­men wird. Vor der Eu­ro­kri­se war die EU in der Be­völ­ke­rung nicht ge­liebt, aber ge­dul­det. Man mo­kier­te sich über ein­zel­ne Ver­ord­nun­gen und hat­te sich da­mit ab­ge­fun­den, dass Volks­ab­stim­mun­gen ge­gen sie so­lan­ge wie­der­holt wer­den, bis das ge­wünsch­te Er­geb­nis her­aus­kommt. In Deutsch­land än­der­te sich dies mit der Ban­ken- und vor al­lem der Grie­chen­land-Eu­ro­kri­se. Hier lag – das wird oft ver­ges­sen – der Im­pe­tus für ei­nen ge­wis­sen Pro­fes­sor Lucke, ei­ne »Al­ter­na­ti­ve für Deutsch­land« zu grün­den. Ein sub­ku­ta­nes Ver­spre­chen der deut­schen Po­li­tik wur­de näm­lich ge­bro­chen. Bis da­hin hat­ten die Deut­schen ger­ne auf na­tio­na­le Sym­bo­le ver­zich­tet. Schwarz-Rot-Gold war nicht wich­tig ge­we­sen. Das ein­zi­ge, mar­kan­te na­tio­na­le Sym­bol war die Deut­sche Mark. Das Ver­spre­chen war, dass sich mit dem Eu­ro nur die Be­zeich­nung än­dert. Die Sta­bi­li­tät bleibt nicht an­ge­ta­stet. Wer dies be­frag­te, galt als »eu­ro­kri­tisch«. Klein­ste Ris­se be­kam das Ver­spre­chen als Län­der wie Grie­chen­land und Ita­li­en die Kri­te­ri­en er­füll­ten, ob­wohl man im­mer von de­ren wirt­schaft­li­che In­sta­bi­li­tät hör­te.

    Das än­der­te sich 2008ff. Es lag auf dem Tisch, dass ge­mau­schelt wur­de und der Eu­ro ei­ne po­li­ti­sche Ent­schei­dung war statt ei­ne öko­no­mi­sche. Von nun an kann­te das EU-Bas­hing kei­ne Gren­zen mehr. Das hal­fen auch die jähr­li­chen Mel­dun­gen in den Nach­rich­ten, dass die Roa­ming­ta­ri­fe bei Han­dys auf­grund von EU-In­itia­ti­ven re­du­ziert und schließ­lich ab­ge­schafft wur­den, nicht mehr. Die Er­eig­nis­se vom des Flücht­lings­herb­stes 2015 gab der EU dann den Rest, ob­wohl sie da­für wirk­lich nichts konn­te.

    Das Pro­blem ist, dass die wich­ti­gen Prot­ago­ni­sten der EU schwach sind. Jun­cker ist nur dort, weil er so­lan­ge schon an an­de­rer Stel­le war – er muss­te sei­nen Job fin­den (bei Schulz wä­re es ähn­lich ge­we­sen). Die Eu­ro­kri­se hat al­ler­dings ge­zeigt, dass die EU im­mer noch an den Na­tio­nal­staa­ten hängt. Da­her die Uto­pien, sie so­zu­sa­gen ei­gen­stän­di­ger zu ma­chen. Au­ßer ein paar In­tel­lek­tu­el­le in­ter­es­sie­ren sich aber zu we­ni­ge da­für, da die Ver­än­de­run­gen gra­vie­rend wä­ren. Selbst Macron be­nutzt die EU nur noch um im Fal­le ei­nes Fal­les Eu­ro­bonds ein­zu­rich­ten um die fran­zö­si­sche Wirt­schaft vor dem Kol­laps zu be­wah­ren.

  13. Na­tür­lich hängt die EU am Na­tio­nal­staat, es ist im­mer noch er der un­se­re Bür­ger­rech­te si­cher­stellt, für Recht­spre­chung sorgt und al­le we­sent­li­chen all­täg­li­chen Verwaltungs‑, Bil­dungs- und So­zi­al­auf­ga­ben er­füllt. Ein Teil der Ge­setz­ge­bung wur­de aus­ge­la­gert, es gibt ei­ne Au­ßen­gren­ze, ei­nen Bin­nen­markt und ei­ne ge­mein­sa­me Wäh­rung (für ei­ni­ge Staa­ten je­den­falls); aber für je­de Um- und Durch­set­zung ir­gend­wel­cher Be­schlüs­se ist der Na­tio­nal­staat mit sei­nen In­sti­tu­tio­nen un­ent­behr­lich. Des­we­gen ist der Ver­wal­tungs­ap­pa­rat der EU re­la­tiv klein, ver­gli­chen mit den je­wei­li­gen na­tio­nal­staat­li­chen.

    Die­ser Schief­la­ge ein­ge­denk, bin ich mir recht si­cher, dass al­le ab­strak­ten bü­ro­kra­ti­schen Ent­schei­dun­gen, als rein ra­tio­nal-ord­nen­de und da­mit ver­fü­gen­de, Wi­der­stand er­zeu­gen, al­so dif­fu­se Emo­tio­nen (Af­fek­te). Bei­spie­le sind et­wa die Um­stel­lung der Heiz­wert- auf die Brenn­wert­ther­me (Öko­de­sign­richt­li­nie) oder die Da­ten­schutz­grund­ver­ord­nung, die teil­wei­se tief in die je­weils in­di­vi­du­el­len Le­ben ein­grei­fen und Ohn­macht er­zeu­gen (da re­de ich noch gar nicht von de­mo­kra­tie­po­li­ti­schen Din­gen oder dem Über­tre­ten selbst ge­setz­ter Re­geln). Si­cher­lich wer­den Din­ge auf die EU ge­scho­ben, für die die­se nicht ver­ant­wort­lich ist, aber ein so ge­stal­te­tes po­li­ti­sches Un­ter­neh­men er­zeugt die­se Pro­ble­ma­tik – wie die kal­te So­phie schon an­merkt – selbst mit. Oder an­ders: Die kon­kre­ten Sub­jek­te tau­chen in den Ge­set­zes­vor­la­gen und Über­le­gun­gen gar nicht erst auf; das liegt zwar in der Na­tur der Sa­che, aber die Be­rück­sich­ti­gung schwin­det mit der Ebe­ne der Ab­strak­ti­on.