Jan-Wer­ner Mül­ler: Was ist Po­pu­lis­mus?

An­mer­kung zur Le­se­run­de:

Die­se ein­lei­ten­den Aus­füh­run­gen sol­len die The­sen aus Jan-Wer­ner Mül­lers Buch »Was ist Po­pu­lis­mus?« vor­stel­len. Dies soll so neu­tral wie mög­lich ge­sche­hen; wo dies nicht der Fall sein soll­te und vor­ei­li­ges Ur­teil her­vor­schim­mert, bit­te ich um Nach­sicht.


Jan-Werner Müller: Was ist Populismus?

Jan-Wer­ner Mül­ler:
Was ist Po­pu­lis­mus?

In­zwi­schen gibt es kaum noch ei­ne Nach­rich­ten­sen­dung, die oh­ne den Be­griff des »Po­pu­lis­mus« auf­kommt; meist in der Form als »Rechts­po­pu­lis­mus«, et­wa wenn es um die öster­rei­chi­sche FPÖ, den fran­zö­si­schen Front Na­tio­nal, die un­ga­ri­sche oder die pol­ni­sche Re­gie­rung geht. Aber was ist ei­gent­lich Po­pu­lis­mus? Wel­che Fol­gen hat er, könn­te er ha­ben? Jan-Wer­ner Mül­ler, Leh­rer für po­li­ti­sche Theo­rie und Ideen­ge­schich­te in Prin­ce­ton, möch­te mit sei­nem Buch »Was ist Po­pu­lis­mus?« ab­seits ta­ges­po­li­ti­sche Auf­geregtheiten ei­ne »kri­ti­sche Theo­rie des Po­pu­lis­mus« for­mu­lie­ren.

Be­reits auf den er­sten Sei­ten bi­lan­ziert er sei­ne The­se: Po­pu­lis­mus sei »der Ten­denz nach zwei­fels­oh­ne an­ti­de­mo­kra­tisch«. Po­pu­li­sten ge­fähr­de­ten die Grund­prin­zi­pi­en der re­prä­sen­ta­ti­ven De­mo­kra­tie. Po­pu­lis­mus sei »ei­ne ganz be­stimm­te Po­li­tik­vor­stel­lung, laut der ei­nem mo­ra­lisch rei­nen, ho­mo­ge­nen Volk stets un­mo­ra­li­sche, kor­rup­te und pa­ra­si­tä­re Eli­ten ge­gen­über­ste­hen«. Da­her en­ga­gier­ten sich Po­pu­li­sten für ple­bis­zi­tä­re Ele­men­te, aber, so die The­se, »Po­pu­li­sten in­ter­es­sie­ren sich gar nicht für die Par­ti­zi­pa­ti­on der Bür­ger an sich; ih­re Kri­tik gilt nicht dem Prin­zip der po­li­ti­schen Re­prä­sen­ta­ti­on als sol­chem … son­dern den am­tie­ren­den Re­prä­sen­tan­ten, wel­che die In­ter­es­sen des Vol­kes an­geb­lich gar nicht ver­tre­ten.«

Es gibt laut Mül­ler zwei es­sen­ti­el­le Iden­ti­fi­ka­ti­ons­merk­ma­le für Po­pu­lis­mus, die in­ein­an­der grei­fen. Zum ei­nen ist er an­ti­plu­ra­li­stisch (nicht per se an­ti-in­sti­tu­tio­nell). Und zum an­de­ren nimmt er für sich und sei­ne po­li­ti­schen The­sen die al­lei­ni­ge mo­ra­li­sche Ver­tre­tung in An­spruch. Und so kommt es, dass, »wer sich ih­nen [den Po­pu­li­sten] ent­ge­gen­stellt und ih­ren mo­ra­li­schen Al­lein­ver­tre­tungs­an­spruch be­strei­tet«, »auto­matisch nicht zum wah­ren Volk« zu­ge­schla­gen und am En­de aus­ge­grenzt wer­de. Po­pu­li­sten sa­gen: »Wir – und nur wir – re­prä­sen­tie­ren das Volk«, und das nicht als em­pi­ri­sche, son­dern als mo­ra­li­sche Aus­sa­ge.

An­ti­plu­ra­lis­mus und mo­ra­li­scher Al­lein­ver­tre­tungs­an­spruch grei­fen zwar durch­aus in­ein­an­der. Ist aber ei­nes der Kri­te­ri­en nicht er­füllt, han­delt es sich – so die The­se – nicht um Po­pu­lis­mus. So ge­rier­ten sich Po­pu­li­sten zwar ge­gen die be­stehen­den For­men po­li­ti­scher Re­prä­sen­ta­ti­on und ge­gen das po­li­ti­sche Estab­lish­ment, aber – und das macht die Sa­che kom­pli­ziert – »nicht je­der, der Eli­ten kri­ti­siert, ist ein Po­pu­list«. Und auch wer »auf der Grund­la­ge mo­ra­li­scher Ab­so­lut­heits­an­sprü­che agiert, sich je­doch nicht über das Kol­lek­tiv­sub­jekt Volk le­gi­ti­miert« sei kein Po­pu­list sei. Wäh­rend Po­pu­li­sten ih­rem Ver­ständ­nis nach 100% des Vol­kes re­prä­sen­tie­ren, hät­te die Oc­cu­py-Be­we­gung von sich als Ver­tre­ter der »99%« ge­spro­chen. Dem­zu­fol­ge sei, so der Schluss, Oc­cu­py nicht po­pu­li­stisch.

Durch die­se Vol­te wird, wie sich spä­ter zei­gen wird, Po­pu­lis­mus auf na­tio­na­li­sti­sche, ja völ­ki­sche Di­men­sio­nen ver­engt. Und dies üb­ri­gens trotz der von Mül­ler im­mer wie­der, wo­mög­lich aus Grün­den ei­nes dif­fu­sen Aus­ge­wo­gen­heits­ge­fühls ein­ge­streu­ten Bei­spie­le ei­nes so­ge­nann­ten Links­po­pu­lis­mus ve­ne­zo­la­ni­scher oder, von ihm sel­te­ner berück­sichtigt, bo­li­via­ni­scher Prä­gung, die bei­de bei nä­he­rer Sicht stark na­tio­na­li­sti­sche Ele­men­te auf­wei­sen.

Mül­ler gibt ei­nen kur­zen hi­sto­ri­schen Über­blick und be­schäf­tigt sich mit dem amerikan­ischen Po­pu­lis­mus-Ver­ständ­nis, dass deut­lich von dem eu­ro­päi­schen va­ri­iert. Und es gibt ei­nen kur­zen Ab­riss über tat­säch­li­che oder ver­meint­li­che po­pu­li­sti­sche Strö­mun­gen in der Ge­schich­te, be­vor er zu dem Schluss kommt, dass Po­pu­lis­mus ein re­la­tiv neu­es Phä­no­men der Mo­der­ne ist.

Mül­ler er­kennt im Po­pu­lis­mus ei­ne am­bi­va­len­te Ge­gen­strö­mung zur re­prä­sen­ta­ti­ven De­mo­kra­tie. Re­prä­sen­ta­ti­on sei auch »an sich« kein rein de­mo­kra­ti­sches Prin­zip. Dies ha­be da­mit zu tun, dass es in ei­ner De­mo­kra­tie kein im­pe­ra­ti­ves Man­dat ge­ben kön­ne – aber ge­nau dies kön­ne man aus der Re­prä­sen­ta­ti­on her­aus­le­sen. Hier gibt es ei­nen Hia­tus: Der po­li­ti­sche ge­wähl­te Re­prä­sen­tant, der Ab­ge­ord­ne­te ist laut Grund­ge­setz aus­schließ­lich sei­nem Ge­wis­sen ver­ant­wort­lich und nicht den Wäh­lern. Po­pu­li­sten in­stru­men­ta­li­sier­ten nun den Ge­dan­ken ei­nes im­pe­ra­ti­ven Man­dats, wel­ches ple­bis­zi­tär ver­ge­ben wür­de.

In der Pra­xis zei­ge sich, wenn Po­pu­li­sten erst ein­mal an der Macht sei­en, ihr »re­al praktizierte[r] An­ti­plu­ra­lis­mus« über­deut­lich, so Mül­ler. Da wä­re zu­nächst der Ver­such der »Ver­ein­nah­mung des ge­sam­ten Staa­tes«. Ver­fas­sun­gen und Ge­set­ze wür­den zu­recht­ge­bo­gen, das Sy­stem von »Checks and Ba­lan­ces«, es­sen­ti­ell für de­mo­kra­ti­sche Struk­tu­ren, aus­ge­he­belt. Ge­sell­schaft­lich re­le­van­te In­sti­tu­tio­nen wür­den mit loya­len Per­so­nen un­ter­wan­dert. Das nennt Mül­ler »Mas­sen­kli­en­te­lis­mus«. Je­der be­kom­me das Ge­fühl, an der Um­set­zung des »Volks­wil­lens«, der in Wahr­heit na­tür­lich nur der Wil­len der Par­tei oder der Be­we­gung dar­stellt, mit­zu­wir­ken. Schließ­lich wür­den op­po­si­tio­nel­le Tei­le der Zi­vil­ge­sell­schaft in­klu­si­ve der Me­di­en un­ter­drückt bzw. auf Re­gie­rungs­li­nie ge­bracht. Ein­her geht dies mit ei­nem fort­ge­setz­ten Alar­mis­mus. »Kri­se wird zum Dau­er­zu­stand sti­li­siert«, so Mül­ler. Der Wahl­kampf en­de für Po­pu­li­sten nie.

Ge­spannt ist man auf das Ka­pi­tel »Vom de­mo­kra­ti­schen Um­gang mit Po­pu­li­sten«. Hier hat der Au­tor Pro­ble­me bei der all­zu schnel­len und schrof­fen Ex­klu­si­on von Po­pu­li­sten aus dem De­bat­ten­dis­kurs. Er warnt au­ßer­dem vor vor­ei­li­gen oder all­zu grif­fi­gen Deu­tun­gen, war­um Wäh­ler po­pu­li­sti­schen Strö­mun­gen zu­nei­gen. Die gän­gi­gen so­zio­lo­gi­schen Er­klä­run­gen, et­wa dass die An­hän­ger po­pu­li­sti­scher Par­tei­en Mo­der­ni­sie­rungs­ver­lie­rer sei­en, lehnt er aus em­pi­ri­schen Grün­den eben­so ab wie pau­scha­le »psy­cho­lo­gi­sche Un­ter­stel­lun­gen«, wie bei­spiels­wei­se die At­te­stie­rung ei­nes au­to­ri­tä­ren Cha­rak­ters von Po­pu­lis­mus-An­hän­gern. Bei der Zu­wei­sung die­ser At­tri­bu­te schwin­ge im­mer et­was von »Her­ren­rei­ter-At­ti­tü­de« mit, ein her­ab­las­send-für­sorg­li­cher Ge­stus. An ih­ren Wor­ten soll man die Po­pu­li­sten er­ken­nen – nicht an ih­ren Wäh­lern, so Mül­ler. Und so­gar die The­se, dass der Po­pu­lis­mus ein­fa­che Lö­sun­gen for­de­re, wird ver­wor­fen.

Ei­ne wei­te­re Ge­fahr sieht der Au­tor dar­in, dass der Po­pu­lis­mus-Vor­wurf in­fla­tio­när für je­de miss­lie­bi­ge Mei­nung ver­wen­den wür­de (hier nennt er die kri­ti­schen Stim­men bei der so­ge­nann­ten »Eu­ro-Ret­tung« der letz­ten Jah­re, die all­zu oft und in Win­des­ei­le zu »EU-Geg­nern« und, zu­wei­len, zu Frie­dens­fein­den ge­macht wor­den wa­ren). Er ist ge­gen Sprech­ver­bo­te; statt Il­li­be­ra­li­tät den Il­li­be­ra­len ge­gen­über plä­diert er für ei­ne »Aus­einandersetzung«, die in ei­nem Kli­ma des »zivilisierte[n] Plu­ra­lis­mus« statt­zu­fin­den ha­be. Es ge­he dar­um, die »mo­ra­li­sche Di­men­si­on des po­pu­li­sti­schen Welt­bil­des« zu ver­ste­hen und ernst zu neh­men, statt zur Denk­faul­heit nei­gen­de Dä­mo­ni­sie­run­gen vor­zu­neh­men. Da­bei stellt Mül­ler klar, dass man­che Ein­wän­de ge­gen Po­pu­li­sten eben­falls an­ti­plu­ra­li­stisch und mit Al­lein­ver­tre­tungs­an­spruch da­her­kä­men. Man kämp­fe für die »rich­ti­ge Sa­che« – et­was, was eben auch Po­pu­li­sten für sich in An­spruch neh­men. Aber de­mo­kra­ti­sche De­bat­ten wür­den we­der ei­nen Ga­ran­ten noch ein vor­be­stimm­tes En­de ken­nen.

Mül­ler be­merkt ei­ne ve­ri­ta­ble Ver­un­si­che­rung der po­li­ti­schen Eli­ten. Ih­re Pro­jek­te wan­ken und ih­re Deu­tungs­ho­heit wird be­droht. An zwei Bei­spie­len wird dies aus­ge­führt. Da ist zu­nächst die zu­neh­men­de Ab­leh­nung der Institution(en) der Eu­ro­päi­schen Uni­on ge­gen­über (all­zu schnell als »an­ti­eu­ro­pä­isch« de­nun­ziert). Bis in die 1990er Jah­re hin­ein sei­en die Maß­nah­men zur fort­schrei­ten­den In­te­gra­ti­on der EU oh­ne gro­ße Akzeptanz­probleme ver­lau­fen. Es ha­be zwi­schen Be­völ­ke­rung und Po­li­tik ei­nen »per­mis­si­ven Kon­sens« ge­ge­ben, was »Eu­ro­pa« an­ge­he. Erst als die po­li­ti­schen Maß­nah­men im­mer mehr Be­rei­che des All­tags be­rühr­ten, be­gann die Zu­stim­mung zu bröckeln. Als be­son­ders ein­schnei­dend wur­den hier die Auf­ga­be der Na­tio­nal­wäh­run­gen zu Gun­sten des Eu­ro und sich seit 2008 zei­gen­den, kri­sen­haf­ten Sym­pto­me wahr­ge­nom­men. Mül­ler macht die von den po­li­ti­schen Ent­schei­dungs­trä­gern auf­ge­bau­te Fa­ta­li­tät der Al­ter­na­tiv­lo­sig­keit für die Es­ka­la­ti­on für die­se EU-Ver­dros­sen­heit mit ver­ant­wort­lich.

Der an­de­re Punkt be­trifft die Flücht­lings­kri­se im Herbst 2015. Auch hier sei­en be­rech­tig­te Be­den­ken ge­gen die Po­li­tik der Bun­des­kanz­le­rin schon im An­satz dif­fa­miert wor­den. Mül­ler mar­kiert hier ei­ne Kon­flikt­li­nie zwi­schen zwei Po­li­tik­ent­wür­fen: der »In­te­gra­ti­on« und der »De­mar­ka­ti­on«. Bei­de Sei­ten be­an­spruch­ten für sich je die ab­so­lu­te Wahr­heit. Die Kos­mo­po­li­ten (In­te­gra­ti­on), die der un­ein­ge­schränk­ten Auf­nah­me der Flücht­lin­ge das Wort re­de­ten, hät­ten in po­pu­li­sti­scher Ma­nier ei­nen mo­ra­li­schen Alleinvertretungs­anspruch gel­tend ge­macht. Die­ser sei aber nicht in ei­nem de­mo­kra­ti­schen Ver­fah­ren le­gi­ti­miert wor­den. Die Aus­gren­zung der De­mar­ka­ti­ons-Be­für­wor­ter durch die Kos­mo­po­li­ten sei ei­ner de­mo­kra­ti­schen Ent­wick­lung nicht för­der­lich.

Es gibt nun po­li­ti­sche Kom­men­ta­to­ren, die ei­ne Art künst­li­chen Po­pu­lis­mus von links als Ge­gen­ge­wicht eta­blie­ren wol­len. Mit die­sen Ent­wür­fen be­schäf­tigt sich Mül­ler aus­gie­big – um sie am En­de zu ver­wer­fen (was er auch muss, wenn er sei­ne Bi­lanz Ernst nimmt). Wort­reich er­klärt er schließ­lich, war­um er zur Be­wäl­ti­gung der Le­gi­ti­ma­ti­ons­kri­se der Eu­ro­päi­schen Uni­on ei­ner »Öff­nung Eu­ro­pas für po­li­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zun­gen« (à la Ha­ber­mas) zu­stimmt und war­um dies kein Links­po­pu­lis­mus ist.

Das Pro­ze­de­re die­ser Öff­nung bleibt dif­fus. Mül­ler spricht von »Po­li­ti­sie­rung von oben«. Da aber ei­gent­lich vom Au­tor ple­bis­zi­tä­re Ele­men­te ab­ge­lehnt wer­den, an­de­rer­seits aber von ei­nem »Ri­si­ko« ge­spro­chen wird, kann man mut­ma­ßen, dass es zu ei­ner wie auch im­mer ge­ar­te­ten Form ei­ner Ab­stim­mung kom­men wird, die Le­gi­ti­ma­ti­on er­zeu­gen soll.

So­weit der Ver­such ei­ner Zu­sam­men­fas­sung. Mei­ne Kri­tik in den Kom­men­ta­ren. Und dort auch bit­te die Kri­tik der Mit­le­ser.

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  1. Es gibt von mei­ner Sei­te meh­re­re Vor­be­hal­te zu die­sem Buch.

    Zum ei­nen: Wann wird die Schwel­le vom Po­pu­lis­mus zur Dem­ago­gie über­schrit­ten? Ei­ne ge­naue Aus­ar­bei­tung die­ser Pro­ble­ma­tik un­ter­bleibt. Und noch ei­ne Fra­ge bleibt un­be­ant­wor­tet. Schlüs­sig er­klärt Mül­ler, dass po­pu­li­sti­sche Par­tei­en, so­bald sie an der Macht sind, da­zu nei­gen, ih­ren Alleinvertretungs­anspruch zü­gig zu in­sti­tu­tio­na­li­sie­ren und da­mit zu fe­sti­gen. Aber wann wird dann dar­aus ei­ne Dik­ta­tur? Das Ab­hal­ten von Wah­len ist ja nach Mül­ler kein hin­rei­chen­des Ab­gren­zungs­kri­te­ri­um mehr. Er weist dar­auf hin, dass sich Po­pu­li­sten zu­min­dest zu Be­ginn durch Wah­len in ih­rer Po­li­tik be­stär­ken las­sen. Wann schlägt es al­so um?

    Mül­lers Buch wird in­zwi­schen schon als Stan­dard­werk her­um­ge­reicht. Aber es bie­tet lei­der nur ei­ne re­du­zier­te Sicht; un­ab­läs­sig wie­der­holt der Au­tor sei­ne The­sen, fasst sie am En­de noch ein­mal in zehn Punk­ten zu­sam­men. So bleibt et­li­ches auf der Strecke. Wie sieht es zum Bei­spiel mit dem Po­pu­lis­mus von per se nicht un­ter Po­pu­lis­mus­ver­dacht ste­hen­den Par­tei­en aus? Mül­ler kri­ti­siert, dass Po­pu­li­sten Län­der häu­fig wie Un­ter­neh­men füh­ren wol­len (Ber­lus­co­ni ist da ein gu­tes Bei­spiel). Da­bei un­ter­schlägt er, dass der Po­pu­lis­mus sich auch bei ei­nem wie Ger­hard Schrö­der zeig­te, der zum Re­gie­ren nur »Bild, BamS und Glot­ze« brauch­te. Und die Nach­fol­ge­rin? Fällt ei­nem nicht so­fort der Atom­aus­stieg 2011 nach dem Un­fall von Fu­ku­shi­ma ein? Ob­wohl ei­ni­ge Mo­na­te vor­her noch die Atom­ener­gie ge­setz­li­che und da­mit rechts­ver­bind­li­che Si­che­rungs­zu­sa­gen er­hielt, wur­de prak­tisch über Nacht ei­ne 180-Grad-Wen­de voll­zo­gen; nicht zu­letzt um die dro­hen­de Nie­der­la­ge bei ei­ner Land­tags­wahl noch ab­zu­wen­den (was nicht ge­lang). Po­pu­lis­mus wird näm­lich nicht nur von an­ti­plu­ra­li­sti­schen Demokratie­verächtern ein­ge­setzt (die man schnell in ei­ne Schmud­del­ecke stel­len kann), son­dern eben auch von »nor­ma­len« Par­tei­en, wenn sie glau­ben, dass es ih­nen die­nen könn­te.

    Mül­ler ver­säumt es, das Schei­tern po­pu­li­sti­scher Wahl­kämp­fe zu be­schrei­ben, wie sie bei­spiels­wei­se die SVP in der Schweiz durch­aus er­lebt (me­di­al ist es nur dank­ba­rer, die ver­meint­li­chen Er­fol­ge der SVP in den Ab­stim­mun­gen her­aus­zu­stel­len). Auch der de­zi­diert zu­wan­de­rungs­feind­lich ge­führ­te und am En­de ge­schei­ter­te Wahl­kampf der CDU in Hes­sen un­ter Ro­land Koch von 1999 wird nicht er­wähnt. Es gibt al­so sehr wohl Mög­lich­kei­ten, po­pu­li­sti­schen Pa­ro­len jen­seits TINA (»The­re Is No Al­ter­na­ti­ve«) et­was ent­ge­gen­zu­set­zen.

    Da­mit kommt man zum Ur­grund des­sen, was Po­pu­lis­mus ei­gent­lich ist, aber bei Mül­ler eben­falls nicht vor­kommt. Po­pu­lis­mus ist ein Po­li­tik­stil, der mit­tels un­ter­kom­ple­xer, ver­meint­lich po­pu­lä­rer Phra­sen Kom­ple­xi­tät leug­net. Statt­dessen wer­den ein­gän­gi­ge Phra­sen als Lö­sun­gen für kom­pli­zier­te po­li­ti­sche Sach­ver­hal­te an­ge­bo­ten. Die po­li­ti­sche Spann­brei­te ist da­bei enorm. Sie reicht von »Aus­län­der ‘raus« über »Wir schal­ten jetzt al­le AKW und Koh­le­kraft­wer­ke ab« bis zu »Hartz IV ab­schaf­fen«. Po­pu­lis­mus ist al­so zu­nächst ein­mal ein rhe­to­ri­sches Mit­tel um (durch Um­fra­gen wahr­ge­nom­me­ne) Stim­mun­gen bei po­ten­ti­el­len Wäh­lern für die ei­ge­ne Agen­da auf­zu­neh­men. Po­pu­li­sten wis­sen in der Re­gel, dass ih­re For­de­run­gen nicht der­art um­setz­bar sind wie dies sug­ge­riert wird bzw. kei­ne grund­sätz­li­chen Lö­sun­gen ge­bo­ten wer­den. Sie wer­den den­noch ver­wen­det um zu de­mon­strie­ren, dass man han­delt bzw. han­deln wür­de. In­so­fern ist die Re­gie­rung im Ge­gen­satz zur Op­po­si­ti­on vor Po­pu­lis­mus meist ge­feit – sie müss­te ein­fach nur han­deln. Wo dies nicht geht, wer­den dann doch zu­wei­len po­pu­li­sti­sche Ha­ken ge­schla­gen, in dem das Nicht-Han­deln mit frem­den Zwän­gen be­grün­det wird (bei Pro­ble­men in­ner­halb der EU wird dies ger­ne auf die Gre­mi­en in Brüs­sel ge­scho­ben oder in­nen­po­li­tisch wer­den die Mehr­heits­ver­hält­nis­se im Bun­des­rat her­an­ge­zo­gen).

    Po­pu­li­sten schie­len nach Mehr­hei­ten. Dies al­lei­ne ge­nügt in­zwi­schen um ple­bis­zi­tä­ren Ele­men­ten ge­gen­über skep­tisch ein­ge­stellt zu sein. Hier ent­wickelt Mül­ler ei­nen Pa­ter­na­lis­mus, den er den Geg­nern des Po­pu­lis­mus vor­wirft. Die­ser ist üb­ri­gens längst Kon­sens im links­grü­nen Spek­trum ge­wor­den; ent­ge­gen dem, was man vor noch rund 20 Jah­ren dach­te, als ei­ne ver­stärk­te Par­ti­zi­pa­ti­on der Bür­ger als not­wen­dig er­ach­tet wur­de. Das in­zwi­schen ge­reif­te Miss­trau­en ge­gen­über »Volks­ent­schei­den« nimmt zu­wei­len ab­sur­de Zü­ge an. Es gip­felt dar­in, dass die Be­grif­fe »Volk« und »Volks­wil­len« als in­exi­stent de­kla­riert wer­den. »Die« Volks­mei­nung ge­be es nicht, weil sie sich stän­dig än­de­re und auch nicht klar sei, wer un­ter dem Be­griff »Volk« zu sub­sum­mie­ren sei. Die Be­ru­fung von Po­pu­li­sten auf die »schwei­gen­de Mehr­heit« sei dem­zu­fol­ge nur ei­ne Be­haup­tung um für sich die Le­gi­ti­ma­ti­on zu er­hal­ten. Dass es so et­was wie ei­ne »Schwei­ge­spi­ra­le« gibt, scheint er zu ne­gie­ren.

    Zwar hat Mül­ler for­mal Recht – selbst am Wahl­tag ei­ner Bun­des­tags­wahl wür­de die Wahl, wenn man sie zwei Stun­den spä­ter noch ein­mal statt­fin­den las­sen wür­den, si­cher­lich an­ders aus­fal­len. Aber ent­fernt man die dis­kre­di­tier­ten Be­grif­fe »Volk« und »Volks­wil­len« und er­setzt sie durch »Wäh­ler« und »Mehr­heit der Wäh­ler«, so löst sich die­se Ar­gu­men­ta­ti­on und da­mit ein Bau­stein sei­ner Po­pu­lis­mus-Theo­rie fast schon auf. Und hier zeigt sich dann auch das Man­ko sei­nes »Occupy«-Vergleichs. Nur weil die­se sich als Sprach­rohr für 99% se­hen, sind sie nicht we­ni­ger po­pu­li­stisch als die­je­ni­gen, die, so Mül­ler, für sich 100% Zu­stim­mung in An­spruch neh­men. Und so dumm kann kein Po­pu­list sein, dass er für sich 100% Zu­stim­mung re­kla­miert (es sei denn, er ist Dik­ta­tor). In­so­fern führt Mül­lers Ver­wen­dung des Toc­que­ville-Be­griffs der »Ty­ran­nei der Mehr­heit« nicht wei­ter. Da­bei soll­te längst Kon­sens sein, dass de­mo­kra­ti­sche Po­li­tik im­mer auf Mehr­heits­ent­schei­dun­gen ba­siert, die al­ler­dings durch ent­spre­chen­de in­sti­tu­tio­na­li­sier­te Kon­troll­me­cha­nis­men aus­ba­lan­ciert wer­den muss. Erst wenn die­se Kon­troll­me­cha­nis­men nicht mehr funk­tio­nie­ren bzw. Hand an sie ge­legt wird, droht Un­ge­mach. Das ist aber dann kein Po­pu­lis­mus mehr, son­dern Dik­ta­tur.

    Aus der Ab­leh­nung ple­bis­zi­tä­rer Ele­men­te spricht ne­ben der Furcht vor dem »fal­schen« Re­sul­tat – vor­sich­tig aus­ge­drückt – auch ei­ne Ge­ring­schät­zung des po­ten­ti­el­len Wäh­lers. Die­ser kön­ne, so die un­aus­ge­spro­che­ne The­se, die kom­ple­xen Sach­ver­hal­te nicht »rich­tig« be­wer­ten. (In­wie­fern dies die Re­prä­sen­tan­ten kön­nen, die 1000-sei­ti­ge Kon­vo­lu­te über EU-Ret­tungs­schir­me bin­nen 24 oder 48 Stun­den le­sen, ver­ste­hen und be­wer­ten sol­len, wird nicht dis­ku­tiert.) Da­her ver­sucht man erst gar nicht mit­tels ar­gu­men­ta­ti­ver, an­ti-po­pu­li­sti­scher Aus­ein­an­der­set­zung die »rich­ti­ge« Po­li­tik na­he­zu­brin­gen. Die Furcht vor dem »fal­schen« Re­sul­tat ist zu groß. In­di­rekt zeigt sich da­mit auch, dass die Bil­dungs­po­li­tik der letz­ten Jahr­zehn­te ver­sagt hat. Die ge­le­gent­lich so hoch­ge­hal­te­ne »Schwarm­in­tel­li­genz« hat schein­bar dort ih­re Gren­zen, wo sie wich­ti­ge po­li­ti­sche Ent­schei­dun­gen tref­fen soll. Statt­des­sen tritt ei­ne Art tau­to­lo­gi­scher Po­li­tik­stil in den Vor­der­grund: Et­was ist rich­tig, weil es rich­tig ist.

    Die Vor­schlä­ge Mül­lers zum Um­gang mit Po­pu­li­sten im Ta­ges­ge­schäft fal­len eher be­schei­den aus. Auf die Grün­de für das Er­star­ken der po­pu­li­sti­schen Par­tei­en (oder Be­we­gun­gen) geht er kaum ein. Die über Jahr­zehn­te als Er­star­rung wahr­ge­nom­me­ne Po­li­tik der so­ge­nann­ten »eta­blier­ten« Par­tei­en, die all­zu oft in Gro­ßen Ko­ali­tio­nen Pro­ble­me nur noch »auf Sicht« ver­wal­ten statt neu zu struk­tu­rie­ren, könn­te ei­ne Er­klä­rung für die merk­wür­di­ge Stär­ke der Po­pu­li­sten lie­fern.

    Die Am­bi­va­len­zen der Re­prä­sen­ta­ti­on sieht Mül­ler ja durch­aus. Aber sei­ne Sicht ist de­mo­kra­tie-theo­re­tisch, rich­tet sich ge­gen den eher ab­strak­ten Be­griff des im­pe­ra­ti­ven Man­dats. Die »mo­der­ne De­mo­kra­tie«, so Mül­ler, ken­ne nur das »freie Man­dat«. Das dies ei­ne rei­ne Be­haup­tung ist, die durch­aus kon­tro­vers dis­ku­tiert wer­den könn­te, kommt gar nicht vor. (Häu­fig emp­fin­den sich deut­sche Ab­ge­ord­ne­te als Re­prä­sen­tan­ten ih­rer Par­tei, die sie zur Wahl auf­ge­stellt und ih­ren Wahl­kampf be­strit­ten hat. Es gibt al­so auch noch ein im­pe­ra­ti­ves Man­dat in Be­zug auf die Par­tei. Dies ist bei der Be­trach­tung des Po­pu­lis­mus al­ler­dings zu ver­nach­läs­si­gen, da die­se Par­tei­en häu­fig auf ei­ne Per­son aus­ge­rich­tet sind.)

    Was aber, wenn er­heb­li­che Tei­le des öf­fent­li­chen Mei­nungs­spek­trums in den Par­la­men­ten gar nicht mehr re­prä­sen­tiert wer­den? Soll­te man nicht auf ei­ne ge­wis­se Art und Wei­se po­pu­li­sti­sche (nicht ex­tre­mi­sti­sche!) Par­tei­en so­gar be­grü­ßen, da sie not­wen­di­ge Dis­kus­sio­nen an­sto­ssen? (Mül­ler ne­giert das nicht ganz.) Aber dies ist na­tür­lich an­stren­gend, denn dass ei­ne Dä­mo­ni­sie­rung sinn­los ist, müss­te je­dem auch noch gut­wil­li­gen Ak­ti­vi­sten in­zwi­schen däm­mern. Ein ein­fa­ches Nach­plap­pern von Po­pu­lis­men zwecks »Stim­men­fang« ist auf lan­ge Sicht auch nicht ziel­füh­rend, da man be­reits ge­se­hen hat, dass lie­ber der Ori­gi­nal­ton als das Echo ge­wählt wird. In­so­fern ist das jahr­zehn­te­lan­ge tak­tisch an­ge­leg­te Kon­zept der Uni­ons­par­tei­en, dass rechts von ih­nen kei­ne star­ke po­li­ti­sche Kraft ent­ste­hen darf, ge­schei­tert.

    Im Herbst 2017 wird in Deutsch­land ein neu­er Bun­des­tag ge­wählt. Be­reits jetzt mah­nen, ja: be­schwö­ren ei­ni­ge Po­li­ti­ker, Ex­per­ten, So­zi­lo­gen, Politikwissen­schaftler, Lob­by­grup­pen und NGOs, dass be­stimm­te The­men bit­te in kei­nem Fall in den be­vor­ste­hen­den Wahl­kampf ein­ge­bracht wer­den soll­ten. Aber ist die­se Art von Ta­bui­sie­rung nicht das Ge­gen­teil des­sen, was in Wahl­kämp­fen ei­gent­lich statt­zu­fin­den hat. Wie­so darf man nicht Qua­li­fi­zie­rung und In­te­gra­ti­on von Zu­wan­de­rern the­ma­ti­sie­ren, auf die even­tu­el­le Be­la­stung der So­zi­al­sy­ste­me und Schu­len, des Woh­nungs- und Ar­beits­mark­tes hin­wei­sen und hier­für po­li­ti­sche Lö­sungs­vor­schlä­ge ein­brin­gen? War­um sol­len Dis­kus­sio­nen über neue Ren­ten­sy­ste­me und –for­meln nicht ge­führt wer­den? Wel­che Grün­de gibt es da­für, nicht über die Zu­kunft der Eu­ro­päi­schen Uni­on in den näch­sten fünf bis zehn Jah­ren zu strei­ten? War­um sind an­geb­lich Na­tio­nal­staa­ten zu­kunfts­los und Su­pra­na­tio­na­li­tät das Ge­bot der Stun­de? Die Li­ste der The­men lie­ße sich noch fort­set­zen. Statt­des­sen führt(e) man lie­ber Wahl­kampf über lä­cher­li­che Rand- bzw. Schein­the­men wie PKW-Maut, Be­treu­ungs­geld, Elek­tro­au­tos oder die Bro­sche der Kanz­le­rin und Stin­ke­fin­ger des Kan­di­da­ten.

    Wird das 2017 an­ders wer­den? Schon klar: Über­all lau­ert der Po­pu­list, der hier­aus, so die Furcht, Was­ser für sei­ne Müh­len ab­zwei­gen könn­te. Mül­ler spricht von ei­nem Bo­den­satz von 10–15% po­pu­li­sti­scher Wäh­ler. In Öster­reich und Frank­reich zeigt sich al­ler­dings, dass die po­pu­li­sti­schen Par­tei­en in dem Ma­ße Zu­lauf ge­win­nen, in dem man sie mit Em­pö­rungs­ri­tua­len, künst­li­chen Aus­gren­zun­gen und An­hän­ger­be­schimp­fung ver­sucht zu be­kämp­fen oder, das er­wähnt Mül­ler, ein­zel­ne po­li­ti­sche Ent­schei­dun­gen nicht an­fasst oder, an­ders her­um, in Ak­tio­nis­mus ver­fällt. Vie­les spricht al­so da­für, den dor­ni­gen Weg des Dis­kur­ses zu be­schrei­ten. Da­bei müss­ten die po­li­ti­schen Eli­ten agie­ren, ver­su­chen, zu über­zeu­gen statt von oben her­ab zu de­kre­tie­ren. Und spä­te­stens hier wür­de den (öf­fent­lich-recht­li­chen) Me­di­en ei­ne wich­ti­ge Rol­le zu­kom­men: Weg von der per­so­na­li­sier­ten Schlag­zei­len­be­richt­erstat­tung hin zu ei­ner sach­be­zo­ge­nen, ver­tie­fen­den aber eben nicht pa­ter­na­li­sti­schen Auf­klä­rung. »Po­li­tik von oben« al­lei­ne wird nicht funk­tio­nie­ren.

  2. Ich be­gin­ne mit dem, was Sie @Gregor am Schluss aus­führ­ten. Ich ha­be den Ein­druck, dass mit der »The­men­ver­mei­dung« bei Wahl­kämp­fen und der Ver­le­gen­heit Mül­lers, den Po­pu­li­sten mit kom­ple­xen Ar­gu­men­ta­tio­nen schlecht bei­kom­men zu kön­nen, ei­ne The­se von Gil­les De­leu­ze wie­der ak­tu­ell wird. Er sprach von der Kon­trol­le, wel­che die Spät­bür­ger­li­chen nicht nur über die Märk­te son­dern auch über die Dis­kur­se aus­üben zu müs­sen.
    Ich wür­de dem die schon mehr­fach ge­fal­le­ne Ein­ord­nung (auch Sar­ra­zin zu­letzt) vom wil­den Po­li­ti­schen zur Sei­te stel­len. Der Kon­troll­ver­lust der Bür­ger­li­chen er­streckt sich über die Fi­nanz­märk­te bis hin zu ei­ner ho­hen Ar­beits­lo­sig­keit im Sü­den, wei­ters über ei­ne gan­ze An­zahl von Mi­gra­ti­ons­be­we­gun­gen »in die Mit­te Eu­ro­pas hin­ein«, bis hin zu die­ser vo­gel­wil­den Trup­pe, die sich mit Pe­gi­da, der AfD und pu­bli­zi­sti­schen Free­lan­cern kund­tut, wel­che wie­der­um auf die Märk­te und die Mi­gra­ti­on Be­zug nimmt. Will sa­gen, der Kon­troll­ver­lust be­zieht sich auf Rea­les und auch auf den »Dis­kurs an sich«, den man mit Be­grif­fen wie »Main­stream« oder »de­mo­kra­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung« um­schreibt, wenn man meint, al­les im Griff zu ha­ben.

  3. @die_kalte_Sophie
    Dan­ke für den Ein­wurf, aber ich möch­te zu­nächst die Dis­kus­si­on im Sin­ne des­sen, was ich »Le­se­run­de« nen­ne auf das Buch von Mül­ler kon­zen­trie­ren. An­de­re Punk­te kön­nen wir spä­ter hin­zu­neh­men.

  4. Beim Him­mel, was ha­ben Sie sich für ei­ne Ar­beit ge­macht! Ich fürch­te, ich bin eben­falls ein we­nig un­or­dent­lich, nun denn:

    Was mich be­schäf­tigt an der Cau­sa, ist die Sor­ge Mül­lers, je­mand be­ru­fe sich aufs Volk und ent­dif­fe­ren­zie­re da­durch den po­li­ti­schen Dis­kurs.
    Zu recht wei­sen Sie dar­auf hin, dass die­ser Vor­gang nach al­len po­li­ti­schen Rich­tun­gen hin of­fen ist, dass Mül­ler aber vor­nehm­lich die rechts­po­pu­li­sti­sche Va­ri­an­te be­trach­tet. Wie Sie eben­falls fest­stel­len, macht Mül­ler nicht viel dar­aus, au­ßer dass er in Sa­chen Oc­cu­py in Recht­fer­ti­gungs­nö­te kommt.

    Viel­leicht noch die­se The­se: Die Ent­dif­fe­ren­zie­rung des po­li­ti­schen Dis­kur­ses brin­ge ei­ne At­ti­tu­de her­vor, die struk­tu­rell an­ti­de­mo­kra­ti­sche (= an­ti­plu­ra­li­sti­sche) Zü­ge tra­ge.
    Über­haupt neigt die Po­pu­li­stin nach Mül­ler da­zu, ih­re sub­kom­ple­xe Sicht der Din­ge zur Norm zu er­he­ben und da­durch selbst die be­währ­ten Tra­di­ti­ons­be­stän­de an in­sti­tu­tio­nel­lem und kul­tu­rel­lem Reich­tum zu schlei­fen.

    Die bei­den gro­ßen The­men sind: Mi­gra­ti­on (Im­mi­gra­ti­on) und der Eu­ro und sei­ne Fol­gen.

    Die prak­ti­schen Pro­ble­me, die an die­sen bei­den Groß-The­men hän­gen, sol­len hand­hab­ba­rer wer­den, in­dem die Eli­ten eben­so wie die eu­ro­päi­schen In­tel­lek­tu­el­len und die Me­di­en sich für die EU ein­set­zen. Dies sei an­ge­zeigt, da a) Eu­ro­pa im Welt­maßs­stab ge­se­hen oh­ne­hin schrumpft und b) die gro­ßen Pro­ble­me die Län­der­gren­zen längst ob­so­let ge­macht ha­ben (Welt­han­del, Kli­ma­schutz, Welt­frie­den). Ein Ruck soll durch Eu­ro­pa ge­hen und ei­ne se­gens­rei­che »Po­li­ti­sie­rung von oben« er­wir­ken.

    Lie­ber Herr Keu­sch­nig: Sie be­to­nen, dass Mül­ler den Feh­ler ma­che, die Haupt-Krux des Po­pu­lis­mus zu über­se­hen: Näm­lich des­sen Nei­gung, die Wäh­ler mit­tels Schein­lö­sun­gen und lee­ren ver­spre­chen an die Ur­nen zu locken und recht ei­gent­lich Kom­ple­xi­tät zu leug­nen.

    So­lan­ge das ab­strakt bleibt, ist es ok: Man soll nicht sub­kom­plex ar­gu­men­tie­ren. Über­kom­plex ist aber auch nicht gut. Da sei Ock­ham vor.

    Es muss im­mer zwi­schen der Ex­per­ten­kul­tur hie und der Le­bens­welt da ver­mit­telt wer­den (das ist ei­ne der Kern­the­sen der Theo­rie des Kom­mu­ni­ka­ti­ven Han­delns). Ock­ham ist auch in­so­fern ak­tu­ell, als er mit der rö­mi­schen Theo­lo­gie ei­ne hy­per­tro­phe Ex­per­ten­kul­tur an­griff. Wie man heu­te weiß, nicht ganz fol­gen­los. Und ja: Die Re­for­ma­ti­on war in theo­lo­gi­scher Hin­sicht ei­ne er­heb­li­che Form der Kom­ple­xi­täts­re­duk­ti­on.
    Mit Ock­ham: Man kann die Pro­blem­la­ge auch über­kom­plex dar­stel­len (Freud nann­te das Ra­tio­na­li­sie­rung).
    Es ist al­so ein sy­ste­ma­ti­scher Feh­ler in der Dis­kus­si­on über Po­pu­li­mus, Kompexi­täts­re­duk­ti­on per se zu brand­mar­ken. Oder Kom­ple­xi­täts­tei­ge­rung per se zu be­für­wor­ten. In­so­fern be­ruht ein gut Teil der Po­pu­li­mus-Ver­äch­tung auf ei­nem Denk­feh­ler.

    Was sie über die Mas­sen­me­di­en schrei­ben ist be­den­kens­wert. Was mich dort stark ir­ri­tiert: Die Ver­men­gung von kon­sta­ti­ver Re­de und the­ra­peu­ti­scher In­ter­ven­ti­on. Man soll nicht so­zi­al­wis­sen­schaft­li­che Fak­ten ta­bui­sie­ren mit Blick auf die ad ul­ti­mo ger­ma­nisch-na­zi­stisch ver­seuch­te deut­sche Volks­see­le. Die deut­sche Ge­sell­schaft ist ak­tu­ell we­der ein Po­ny­hof noch dro­hen »fa­schi­sto­ide« (R. D. Precht ge­gen Slo­ter­di­jk) oder frei­corps-ar­ti­ge Zu­tän­de (Zeit-on­line eben­falls ge­gen Slo­ter­di­jk – und Sa­fran­ski).
    Wer­ter Herr Keu­sch­nig: Ob sie mir bei­pflich­ten wür­den, wenn ich be­haup­te: Das ist ak­tu­ell der Zu­stand des dor­ni­gen We­ges des Dis­kur­ses – ein­schließ­lich ei­nem an­ti­se­mi­ti­schen Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ker, sei­nes Zei­chens Schrift­stel­ler und re­ti­rier­ter Haus­arzt im ba­den-würt­tem­ber­gi­schen Land­tag na­mens Ge­de­on.

  5. Blei­ben wir bei Mül­ler, na­tür­lich. – - Was mich gleich in der Ein­lei­tung er­nüch­tert hat, ist die Be­schrei­bung sei­ner Kern­the­se. Die The­se ist le­dig­lich ei­ne BEWERTUNG des Po­pu­lis­mus, die sich an ei­nem uni­ver­sel­len De­mo­kra­tie-Be­griff auf­hängt. Das ist fach­lich ziem­lich nied­rig an­ge­setzt, auch wenn Mül­ler aus­führ­lich ver­sucht, den Zu­sam­men­hang zwi­schen »Populismus«-Theorie und De­mo­kra­tie-Theo­rie zu ent­fal­ten.
    Da­mit hängt die Qua­li­tät der Er­ör­te­rung doch ein­zig al­lein an der Plau­si­bi­li­tät der De­mo­kra­tie-Theo­rie. Und die­se ist ja, wie Sie @ Gre­gor aus­führ­ten, nicht im­mer hieb und stich­fest. Sie­he der Hin­weis auf das »im­pe­ra­ti­ve Man­dat« und das heil­lo­se Krei­sen um die ma­jo­ri­tä­ren Be­grif­fe »Volk« und »Mo­ral«.
    Er­ste Kri­tik: ei­ne phä­no­me­no­lo­gi­sche Er­ör­te­rung des Po­pu­lis­mus müss­te der De­mo­kra­tie-Theo­rie vor­aus­ge­hen. Das ist re­la­tiv viel For­schungs­ar­beit, weil man die frag­li­chen Län­der von Bo­li­vi­en, Ve­ne­zue­la, Thai­land, die Phil­ip­pi­nen, Hol­land, Schwe­den, Dä­ne­mark, Frank­reich, GB, U.S.A., etc. nicht mehr mit Stich­punk­ten ab­han­deln kann. Man müss­te dann zwi­schen de­mo­kra­ti­schen Struk­tu­ren, il­li­be­ra­len Po­li­ti­ken und au­to­ri­tä­ren Ge­bil­den in den staats­tra­gen­den Par­tei­en un­ter­schei­den, schon um die Fall­ge­wiss­heit über den Um­schlag­punkt zur Dik­ta­tur zu er­rei­chen. Ein all­ge­mei­ner »In­stinkt« ge­gen das Au­to­ri­tä­re und Il­li­be­ra­le, auf den sich Mül­ler zwei­fel­los ver­steht, ist nicht be­son­ders ur­teils­si­cher.
    Üb­ri­gens spielt auch der Be­griff »Ur­teil« in ei­ner Ana­ly­se ei­ne für mich nicht nach­voll­zieh­ba­re Rol­le. Das soll Si­cher­heit si­gna­li­sie­ren, wenn die Ge­nau­ig­keit fehlt?!

  6. @Gregor
    Ich tei­le Dei­ne Ein­wän­de (und er­spa­re mir durch Dei­ne Vor­ar­beit ei­ni­ges an Schreib­ar­beit).

    Ich möch­te noch ein­mal auf ei­nen Punkt ver­wei­sen, der schon an­ge­klun­gen ist: Po­pu­lis­mus (und Dem­ago­gie; mei­ne De­fi­ni­tio­nen vor dem Le­sen, dort und dort) zer­stö­ren und er­set­zen ei­nen dif­fe­ren­zier­ten, ar­gu­ment­ba­sier­ten Dis­kurs (war­um das pas­siert und mög­lich ist, hängt mit den Ur­sa­chen und dem Er­folg po­pu­li­sti­scher Be­we­gun­gen zu­sam­men; er scheint mir im Grund­satz nur bei ei­nem eher klei­nen Teil der Be­völ­ke­rung »na­tur­ge­ge­ben« zu sein). Ei­ne Ana­ly­se po­pu­li­sti­scher »Dis­kurs­mu­ster« müss­te man mit ei­ner der Be­we­gun­gen ver­bin­den und klä­ren war­um auf Po­pu­lis­mus ger­ne mit dem­sel­ben Mit­tel re­agiert wird und wo die Un­ter­schie­de lie­gen. — In der Zer­stö­rung bzw. Er­set­zung des öf­fent­li­chen Dis­kurs­raums se­he ich die größ­te Ge­fahr und erst da­durch wird al­les Wei­te­re mög­lich (ein Pro­zess den man fast über­all be­ob­ach­ten kann).

    Öster­reich könn­te ein in­ter­es­san­tes und lehr­rei­ches Bei­spiel sein: Wir ha­ben ei­ne Re­gie­rung, die sich in­ner­halb ih­rer Amts­zeit per­so­nell er­neu­ert und ei­nem Neu­be­ginn ver­schrie­ben hat; das ist kei­ne neue Pra­xis und mitt­ler­wei­le stel­len sich – nach er­staun­lich kur­zer Zeit – die er­sten Kon­flik­te nach al­ten Mu­stern ein. Wir wer­den se­hen wie sich das wei­ter­ent­wickelt, aber ei­nes ist klar: Das Ver­spre­chen ei­nes Neu­be­ginns ist ei­ne Glaubwürdigkeits‑, nein: ei­ne Ver­trau­ens­pro­be und das Eis ist dünn. — Mei­ne The­se ist, dass Po­pu­li­sten ih­re gro­ßen Er­fol­ge zu ei­nem gu­ten Teil der Ab­nut­zung und dem Schei­tern der eta­blier­ten po­li­ti­schen Eli­ten ver­dan­ken: Dann grei­fen ih­re Phra­sen, ge­ra­de dann tref­fen sie Rea­li­tät am be­sten und die Men­schen sind am ehe­sten be­reit ih­nen zu fol­gen.

    Ich muss mir noch mei­ne et­was chao­ti­schen No­ti­zen durch­se­hen, dann fol­gen viel­leicht noch ein paar Punk­te.

  7. @Gregor Keu­sch­nig

    Ih­re Ein­lei­tung ist sehr ge­lun­gen, fasst al­le we­sent­li­chen Ideen zu­sam­men. Auch ih­rem Kom­men­tar kann ich im We­sent­li­chen zu­stim­men.

    Als er­stes ist mir klar ge­wor­den, dass mein Be­griff des Wor­tes sehr dif­fus war. Schan­de über mich. Die we­sent­li­chen Ei­gen­schaf­ten wa­ren für mich der Op­por­tu­nis­mus, das An­spre­chen von ho­hen wie nie­de­ren In­stink­ten der Wäh­ler, wie Ge­rech­tig­keits­emp­fin­den und Neid, so­wie die von Ih­nen ge­nann­te Kom­ple­xi­täts­re­du­zie­rung. Ich wür­de aber nicht die Fra­ge stel­len: Wann wird die Schwel­le vom Po­pu­lis­mus zur Dem­ago­gie über­schrit­ten?, son­dern eher: Ist Po­pu­lis­mus eher op­por­tu­ni­stisch oder dem­ago­gisch?. Der Du­den de­fi­niert die Be­grif­fe so:

    Op­por­tu­nis­mus, der
    (bil­dungs­sprach­lich) all­zu be­reit­wil­li­ge An­pas­sung an die je­wei­li­ge La­ge aus Nütz­lich­keits­er­wä­gun­gen

    Po­pu­lis­mus, der
    (Po­li­tik) von Op­por­tu­nis­mus ge­präg­te, volks­na­he, oft dem­ago­gi­sche Po­li­tik, die das Ziel hat, durch Dra­ma­ti­sie­rung der po­li­ti­schen La­ge die Gunst der Mas­sen (im Hin­blick auf Wah­len) zu ge­win­nen

    De­m­a­go­gie, die
    Volks­ver­füh­rung, Volks­auf­wie­ge­lung, po­li­ti­sche Het­ze

    Und da stol­pe­re ich zum er­sten Mal. Po­pu­lis­mus ist von Op­por­tu­nis­mus = An­pas­sung ge­prägt oft aber auch dem­ago­gisch = Volks­ver­füh­rung. Da stimmt was nicht. Bei­spie­le: Trump ist si­cher­lich op­por­tu­ni­stisch. Wäh­rend der Pri­ma­ries will er ei­ne Mau­er Rich­tung Me­xi­ko bau­en, kaum ist er no­mi­niert, liebt er al­le His­pa­nics und pu­bli­ziert ein Fo­to mit wie auch im­mer ge­ar­te­tem His­pa­nic­food. Cruz da­ge­gen ist Ta­li­ban. Dem­ago­gisch ver­sucht er sei­ne il­li­be­ra­len kru­den The­sen den Wäh­lerns kom­pro­miss­los über­zu­stül­pen. Pret­ty dif­fe­rent? Nö, bei­des Po­pu­li­sten. Da Mül­ler den op­por­tu­ni­sti­schen Teil des Wor­tes erst gar nicht the­ma­ti­siert, war mir zu­min­dest schnell klar, dass es hier nur um den kul­tur­wis­sen­schaft­li­chen Dis­kurs geht und mit dem Wort, dass sich die Kon­tra­hen­ten in den Talk­shows um die Oh­ren hau­en, nicht viel zu tun hat.

    In Er­man­ge­lung ei­nes ech­ten Text­kor­puses ha­be ich mal mit Goo­gles Ng­ram View­er die Ver­brei­tung der Wör­ter nach­ge­se­hen. Die Ad­jek­ti­ve und die No­men zei­gen er­staun­li­cher­wei­se ein recht un­ter­schied­li­che Ver­wen­dung. Dem­ago­gisch und Dem­ago­gie schei­nen auf dem ab­stei­gen­den Ast, das No­men war in den 70er-Jah­ren plötz­lich sehr mo­dern. Po­pu­lis­mus tritt über­haupt erst in den 60er-Jah­re auf (ob durch die Stu­den­ten­be­we­gung oder den von Mül­ler an­ge­spro­che­nen Kon­gress in Lon­don sei da­hin­ge­stellt), hat seit­dem Kon­junk­tur. Über­ra­schen­der­wei­se ist bei den Ad­jek­ti­ven op­por­tu­ni­stisch viel stär­ker en vogue als po­pu­li­stisch.

    Da­mit ist das Kar­di­nal­pro­blem klar. Je­der meint et­was an­de­res, wenn er das Wort ver­wen­det. Und da­mit ist auch Mül­lers Pro­blem um­ris­sen. Er ver­sucht das kul­tur­wis­sen­schaft­li­che Wort als Ur­me­ter für je­de an­de­re Ver­wen­dung zu be­nutz­ten, was kaum ge­lin­gen kann. Die Pro­ble­me mit den 100% ha­ben Sie schon an­ge­spro­chen. Auch wenn man zu­gu­te hält, das Mül­ler nicht meint, dass ein Po­pu­list wirk­lich glau­ben muss, dass er 100% ver­tritt. Es reicht, wenn er so tut. Als Ge­gen­bei­spiel ha­be ich so­fort Gui­do We­ster­wel­le mit der 18 auf den Soh­len und sein spä­te­rer Aus­spruch über die spät­rö­mi­sche De­ka­denz vor Au­gen. Für mich Po­pu­lis­mus in Rein­kul­tur, oh­ne auch nur ei­ne Mehr­heit an­zu­vi­sie­ren.

    Zum er­sten Mal die Au­gen­braue ge­ho­ben, ha­be ich, als er von auf­ge­reg­tem Ge­re­de über Post­de­mo­kra­tie sprach, die we­der nor­ma­tiv noch em­pi­risch zu se­hen ist. Das ist schon ei­ne aben­teu­er­li­che Be­haup­tung. Es gibt wahr­lich ge­nug an­er­kann­te Wis­sen­schaft­ler, die zu­min­dest die­se The­se für dis­kus­si­ons­wür­dig hal­ten. In Zei­ten, in de­nen Ab­ge­ord­ne­te nicht mehr ver­ste­hen, wor­über sie abtim­men, in de­nen Steu­er­ge­set­ze von den Fir­men zu­min­dest mit­ge­schrie­ben wer­den, die spä­ter mit ent­spre­chen­den Steu­er­spar­mo­del­len an den Kun­den ge­hen, Post­de­mo­kra­tie als Ge­re­de ab­zu­tun, hat ihm in mei­nen Au­gen schon auf S.17 schwe­ren Scha­den zu­ge­fügt.

    Ähn­lich sei­ne fast schon dua­li­sti­sche Wer­tung von de­mo­kra­ti­scher Wahl und Ple­bis­zit. Die Wahl ist Al­les, das Ple­bis­zit Nichts. Als ob der Wäh­ler bei der Bun­des­tags­wahl all sei­ne schlech­ten Ei­gen­schaf­ten ab­le­gen wür­de, die er beim Ple­bis­zit wie ein Ban­ner vor sich her trägt. In Wahr­heit sieht es doch eher so aus, dass man bei ei­ner Wahl nur ein ver­spro­che­nes Mei­nungs­bou­quet wählt, an das man sich spä­ter hält oder auch nicht. Beim Ple­bis­zit gilt es und zwar so, wie bei der viel­be­schwo­re­nen De­mo­kra­tie in Grie­chen­land auf der Ago­ra oder in Rom auf dem Fo­rum. Nicht Areo­pag oder Se­nat ha­ben die Ge­set­ze ge­macht, das Volk hat ab­ge­stimmt. Und wenn da was aus dem Ru­der läuft, ist Platz für Po­pu­li­sten. So­weit erst­mal und als Zwi­schen­fa­zit (und um doch noch Be­zug zur EM zu be­kom­men): Po­li­tik muss kon­se­quent Raum­deckung ge­gen Po­pu­li­sten spie­len und bei be­son­ders ge­fähr­li­chen Stür­mern wie Le Pen oder Wil­ders muss man sie auch mal in Frau-/Mann­deckung neh­men.

  8. Noch ein paar An­mer­kun­gen in Ver­bin­dung mit mei­nen No­ti­zen:

    • Um das bis­her ge­sag­te fort zu spin­nen (ich hat­te mir das wäh­rend des Le­sens no­tiert): Wenn Po­pu­lis­mus meist oder im­mer ei­ne Fra­ge von Op­por­tu­nis­mus ist, dann muss man ihn als Me­tho­de cha­rak­te­ri­sie­ren und nicht als Ideo­lo­gie (was Mül­ler tut; wo­bei mir nicht ganz klar ist, was er in die­sem Fall mit Ideo­lo­gie meint). Je­den­falls: Ei­ne me­tho­di­sche Auf­fas­sung von Po­pu­lis­mus wür­de sei­ne viel­ge­stal­ti­gen Er­schei­nungs­for­men er­klä­ren hel­fen und zu­dem ei­ne Dif­fe­ren­zie­rung ge­gen­über dem Phä­no­men Na­tio­na­lis­mus zu­las­sen, was mir bei Mül­ler zu­sam­men zu fal­len scheint (aber nicht not­wen­dig muss). Das ist si­cher auch ei­ne Schwach­stel­le sei­nes Kon­zepts.
    • Fast lä­cher­lich fand ich die Ein­wen­dun­gen ge­gen den Be­griff »Volk«; das ist nun ein­mal ein Be­griff, ein Ab­strak­tum, ein Ide­al (Äu­ßerst sel­ten wird man das Volk da drau­ßen her­um­lau­fen se­hen, ge­nau­so wie nie­mand den Fuchs oder den Wolf oder den Ma­ri­en­kä­fer fin­den wird oder die Tier­welt); wer ihn nicht mag und den Fo­kus lie­ber auf den Ein­zel­nen hin ver­schiebt, kann Be­völ­ke­rung vor­zie­hen (oder Wäh­ler, Bür­ger, usw.).
    • Man konn­te im Prä­si­dent­schafts­wahl­kampf in Öster­reich auch Bei­spie­le fin­den, da kann man viel­leicht Un­ter­schie­de her­aus­ar­bei­ten: Ho­fer gab ger­ne an, dass er das Volk hin­ter sich ha­be und van der Bel­len bloß die hau­te vo­lee. Ganz klas­sisch. Dann aber warn­te van der Bel­len vor ei­ner blau­en Re­pu­blik, die er zu­vor selbst noch »ver­nein­te«, weil er ei­ne Mehr­heit für die FPÖ in näch­ster Zu­kunft aus­ge­schlos­sen hat­te (sie wür­de al­so ei­nen Ko­ali­ti­ons­part­ner be­nö­ti­gen, die Re­pu­blik wä­re nicht aus­schließ­lich blau); und dann viel ir­gend­wann das Wort, dass al­le Ho­fer-Wäh­ler Na­zis wä­ren (ich weiß nicht mehr wer das war). Al­le drei Bei­spie­le sind Po­pu­lis­men (und zu­gleich op­por­tu­ni­stisch, weil man sich Nut­zen von die­sen »re­duk­tio­ni­sti­schen« Aus­sa­gen er­hoff­te, et­wa Wäh­ler zu mo­ti­vie­ren), auch wenn, wie im letz­ten Bei­spiel, da­mit gar kei­ne Mehr­heit be­zeich­net wird. Und ja, letzt­lich liegt dar­in ein Stück Dem­ago­gie, weil die Be­haup­tung ei­ne Ku­lis­se auf­baut, die es zwar so nicht gibt, auf de­ren emo­tio­na­le Wir­kun­gen man aber hofft (so wur­de die BP-Wahl auch zu ei­ner Ver­hin­de­rungs­wahl, nicht un­be­dingt ein Ruh­mes­blatt).
    • Ich über­le­ge ge­ra­de: Viel­leicht ist die Eli­ten­kri­tik so­gar das wich­tig­ste Ver­satz­stück der Po­pu­li­sten aus prak­ti­scher Sicht: Eli­ten­kri­tik ist im­mer gut um all­ge­mei­ne (Lebens)unzufriedenheit um­zu­len­ken; das ge­nügt für 10–15%; hö­he­re Stim­men­an­tei­le ge­win­nen sie erst, wenn tat­säch­lich mit ei­nem gu­ten Teil der Eli­ten »et­was nicht stimmt« (sie zum Bei­spiel kei­ne kon­si­sten­te Po­li­tik mehr zu­stan­de brin­gen, Kor­rup­ti­ons­fäl­le auf­tau­chen, Ab­nut­zungs­er­schei­nun­gen zu Ta­ge tre­ten, etc.); das zen­tra­le Wahl­mo­tiv ist wo­mög­lich das Al­te (die al­ten Eli­ten) zum Ab­tre­ten zu zwin­gen und die be­stehen­den Zu­stän­de zu be­en­den.
    • Ein wei­te­res Man­ko von Mül­lers Ar­gu­men­ta­ti­on scheint die not­wen­di­ge Dis­kre­panz des vom Po­pu­li­sten ge­äu­ßer­ten Volks­wil­lens und der Zu­stim­mung der Wäh­ler zu sein; könn­te man nicht ein­fach ge­las­sen ent­geg­nen: Das ist nicht an­ders als mit je­dem Par­tei­pro­gramm: Man wird se­hen, ob es mehr­heits­fä­hig ist.
    • Mich über­zeugt die Ver­knüp­fung von An­ti­plu­ra­lis­mus und An­ti­de­mo­kra­tie nicht gänz­lich: Si­cher­lich ist die Ver­bin­dung von Mei­nungs­äu­ße­rung und öf­fent­li­chem Dis­kurs grund­sätz­lich viel­stim­mig; Rech­te, Min­der­hei­ten­schutz und Ge­wal­ten­tren­nung ste­hen ge­gen ei­ne ri­gi­de Durch­set­zung ei­ner all­fäl­li­gen Mehr­heits­mei­nung (na­tür­lich völ­lig zu recht). Fak­tisch ist das Pro­blem, dass po­pu­li­sti­sche Mu­ster mit sich brin­gen, dass der öf­fent­li­che Dis­kurs zu ei­nem Schat­ten ver­kommt, aus­ge­höhlt oder »er­setzt« wird. Das liegt aber an al­len Be­tei­lig­ten, nicht nur an ei­nem der schreit »ich weiß, was al­le wol­len«. Selbst wenn der Dis­kurs nicht mehr funk­ti­ons­tüch­tig ist, muss das der Rechts­staat nicht sein oder die In­sti­tu­tio­nen. Auch ei­nem An­ti­plu­ra­lis­mus mit Sy­stem kann man in­ner­halb ei­ner De­mo­kra­tie mit ra­tio­na­len Mit­teln be­geg­nen. Viel­leicht müss­te man sa­gen: Po­pu­li­sten sind schein­de­mo­kra­tisch.
  9. me­tep­si­lo­n­e­ma
    Wenn Po­pu­lis­mus meist oder im­mer ei­ne Fra­ge von Op­por­tu­nis­mus ist, ...
    Vik­tor Or­bán, Ja­ro­sław Kac­zy­ń­ski, Ma­ri­ne Le Pen, Hu­go Chá­vez, Ted Cruz, Wla­di­mir Pu­tin, dass sind doch al­les kei­ne Op­por­tu­ni­sten, gel­ten aber al­le als Po­pu­li­sten. Je­der von ih­nen hat so­weit ich dass se­he ei­ne Mis­si­on, Macht um der Macht wil­len reicht ih­nen nicht. Il­li­be­ral, an­ti­plu­ra­li­stisch, teil­wei­se an­tie­li­tär, ja, aber op­por­tu­ni­stisch, nein.

    Auf Mül­lers an­de­re De­fi­ni­ti­on des Vol­kes als hi­sto­ri­scher Zu­fall, prak­tisch Fol­ge ge­won­ne­ner Krie­ge könn­te man sich viel­leicht ei­ni­gen, oh­ne da­mit et­was ge­won­nen zu ha­ben.

    Bei dem Ver­hält­nis zwi­schen ver­meint­li­chem Volks­wil­len und po­pu­li­sti­schem Par­tei­pro­gramm hat Mül­ler sich glau­be ich arg ver­hed­dert. Sie er­ken­ne den ein­zi­gen Volk­wil­len, sind aber dem­ago­gisch, sind für Ple­bis­zi­te, aber ei­gent­lich auch nicht. Al­les sehr la­bil und in­kon­si­stent.

    Die Eli­ten­kri­tik ist si­cher­lich ein ele­men­ta­rer Teil po­pu­li­sti­scher Par­tei­en. Wie in vie­len Län­dern ha­ben wir in Deutsch­land na­tür­lich auch die Dis­kus­si­on, dass »et­was nicht stimmt«. Aber mo­men­tan eher den Vor­wurf der po­pu­li­sti­schen Mit­te, so dass das lan­ge gül­ti­ge Franz-Jo­sef-Strauss-Dik­tum, dass es kei­ne de­mo­kra­ti­sche Par­tei rechts von CDU/CSU ge­ben dür­fe, von Mer­kel (schon per TINA) in Fra­ge ge­stellt wur­de und da­durch die rech­te Flan­ke für Po­pu­li­sten ge­öff­net wur­de.

    OT: Wie hat die Auf­zäh­lung funk­tio­niert? Bei mei­nem Ver­such hat der Edi­tor die Tags ul/li ent­fernt.

  10. @Dieter Kief
    Ihr Ein­wand bzgl. der Mas­sen­me­di­en (»Die Ver­men­gung von kon­sta­ti­ver Re­de und the­ra­peu­ti­scher In­ter­ven­ti­on.«) ist ja zu­tref­fend. Da­her se­he ich die Ge­fahr der Über­kom­ple­xi­tät (Ock­ham) in den Mas­sen­me­di­en (und hier­über müs­sen wir beim The­ma Po­pu­lis­mus re­den) über­haupt nicht. Wenn Sie wol­len, strei­che ich den Be­griff des »Un­ter­kom­ple­xen« und er­set­ze ihn mit Ih­rer For­mu­lie­rung der »Ent­dif­fe­ren­zie­rung des po­li­ti­schen Dis­kur­ses«. Ich stim­me Ih­nen näm­lich zu, dass hier­in der Grund liegt für »struk­tu­rell an­ti­de­mo­kra­ti­sche (= an­ti­plu­ra­li­sti­sche) Zü­ge«. Nur: Zur Ent­dif­fe­ren­zie­rung tra­gen eben je­ne Me­di­en bei, die sich an Per­so­nen­fra­gen er­göt­zen (wie­so hat die SPD noch kei­nen Kanz­ler­kan­di­da­ten) statt sich mit den The­men zu be­schäf­ti­gen.

    Mül­ler ist sich des­sen wohl be­wusst, in dem er auch bei den Kri­ti­kern der Po­pu­li­sten ei­nen an­ti­plu­ra­li­sti­schen Af­fekt ent­deckt. Die hy­ste­risch ge­führ­ten De­bat­ten um Sloterdijk/Safranski zei­gen dies ja über­deut­lich. Sie wur­den in ei­ne »neu-rech­te« Ecke ge­stellt, weil sie es wag­ten Kri­tik zu üben. Statt sich da­mit aus­ein­an­der­zu­set­zen be­gann so­fort ei­ne Dif­fa­mie­rungs­kam­pa­gne.

    .-.-.

    @Sophie und @metepsilonema ha­ben na­tür­lich Recht. Mül­ler un­ter­nimmt gar kei­ne phä­no­me­no­lo­gi­sche Be­trach­tung des Be­griffs Po­pu­lis­mus. Bei ihm ist es so­fort ei­ne Ideo­lo­gie, nicht nur ei­ne Me­tho­de. Auch die Spe­zi­fi­zie­run­gen, wie sie @Joseph Bran­co so schön her­aus­ge­ar­bei­tet wird, fin­den nicht statt. Al­les ist so­fort Po­pu­lis­mus. Wie wohl die Goog­le-Gra­fi­ken aus­se­hen, wenn die Er­geb­nis­se bis 2015 ein­ge­ar­bei­tet sein wer­den (das ist wohl der­zeit nicht mög­lich).

    Mein Ver­dacht: Populistisch/Populismus klingt ag­gres­si­ver und ein­deu­ti­ger »bö­se« als op­por­tu­ni­stisch. Wäh­rend Op­por­tu­nis­mus eher ver­stan­den wer­den kann als ein per­sön­li­ches Ver­hal­ten (bspw. ei­nes Po­li­ti­kers), so ist Po­pu­lis­mus schon eher in­ten­tio­nal zu ver­ste­hen. Es klingt auch ein we­nig nach »po­pu­lär«, was in be­stimm­ten Krei­sen ja per se schon mit Un­be­ha­gen be­trach­tet wird. Der Be­griff der Dem­ago­gie wird wo­mög­lich al­lei­ne schon aus recht­li­chen Grün­den ge­mie­den; ich kann mich dar­an er­in­nern, dass sich in den 1970er Jah­ren schnell hit­zi­ge De­bat­ten dar­an ent­zün­de­ten, wenn die­ses Wort fiel. Dem­ago­ge wur­de (und wird) eher mit ei­ner Fi­gur wie Goeb­bels in Ver­bin­dung ge­bracht.

    Na­tür­lich sind Or­bán, Kac­zy­ń­ski, Wil­ders, und Le Pen kei­ne »Op­por­tu­ni­sten« mehr, son­dern ver­su­chen plan­voll die Macht zu über­neh­men. Ob das ei­ne Mis­si­on ist, ver­mag ich nicht zu sa­gen (viel­leicht der Ver­such ei­ner Re­stau­ra­ti­on?). Es wür­de auch we­nig än­dern. Schwie­rig wird die Sa­che im­mer dann, wenn de­mo­kra­ti­sche Struk­tu­ren da­zu ver­wen­det wer­den, um die­se dann dau­er­haft der ei­ge­nen Ideo­lo­gie an­zu­pas­sen. Das Pa­ra­dox wird noch deut­li­cher, wenn man sich die An­ti-EU-Par­tei­en im Eu­ro­päi­schen Par­la­ment an­schaut. Ih­re ein­zi­ge Pro­gram­ma­tik be­steht dar­in, ih­re je­wei­li­ge Na­ti­on aus dem Kor­pus EU her­aus­zu­brin­gen. Hier­zu nut­zen sie ziel­ge­rich­tet ei­ne In­sti­tu­ti­on, die sie gleich­zei­tig ab­leh­nen. Das Ver­hal­ten mag man als op­por­tu­ni­stisch be­zeich­nen, das Ziel ist je­doch de­struk­tiv.

    Dass Mül­ler die The­se der »Post­de­mo­kra­tie« wie ei­nen lä­sti­gen Ku­chen­krü­mel vom Tisch wischt, fand ich auch in­ter­es­sant. Ich ste­he die­sem Be­fund zwar mit ei­ner ge­wis­sen Skep­sis ge­gen­über, aber ihn mit ei­nem Satz prak­tisch weg­zu­wi­schen zeugt von we­nig Sou­ve­rä­ni­tät (und – das ist jetzt po­le­misch – »An­ti­plu­ra­lis­mus«). Na­tür­lich ist Mül­ler dem Den­ken bspw. von Möl­lers sehr nah (den er ein­mal zi­tiert, aber ei­ne wich­ti­ge Schluss­fol­ge­rung Möl­lers’ in Be­zug auf den Po­pu­lis­mus weg­lässt). Bei­de den­ken in In­sti­tu­tio­nen. So­lan­ge die­se In­sti­tu­tio­nen noch ad­mi­ni­stra­tiv funk­tio­nie­ren, wer­den die Be­den­ken schlicht­weg ge­leug­net.

    Die Eli­te-Dis­kus­si­on ist m. E. vor al­lem auf­grund des Sta­tus des Be­rufs­po­li­ti­kers vi­ru­lent. Wäh­rend man sich in Wahl­kämp­fen noch er­bit­tert be­kämpft, zeigt sich in Ko­ali­tio­nen dann, dass die Dif­fe­ren­zen gar nicht so groß sind. In Deutsch­land ist es längst Kon­sens in der Po­li­tik, dass al­le de­mo­kra­ti­schen Par­tei­en mit­ein­an­der ko­alie­ren kön­nen. Da­bei ist der Sta­tus der »de­mo­kra­ti­schen Par­tei« auch Stim­mun­gen un­ter­wor­fen. In den 1980er Jah­ren woll­ten Kon­ser­va­ti­ve die Grü­nen in kei­nem Fall da­zu rech­nen; sie gal­ten als Bür­ger­schreck. Nach der Wen­de galt die PDS, heu­te: Links­par­tei, als Pa­ria. Die­se Vor­be­hal­te wei­chen in dem Ma­ße auf, in der sich die Par­tei­en den Ge­pflo­gen­hei­ten der An­de­ren an­ge­passt ha­ben. So ent­ste­hen dann die »po­li­ti­schen Eli­ten«. Po­pu­li­sten grei­fen nun die­sen »Klün­gel« (rhei­ni­sches Wort) an und ge­rie­ren sich gleich­zei­tig als »Par­tei­en­schreck« (da, wo es frü­her der »Bür­ger­schreck« gab). Dass sie sich sel­ber eli­tär ge­ben (schon, in dem sie an­de­re schlicht­weg aus­gren­zen), scha­det ih­nen merk­wür­di­ger­wei­se nicht, zu­mal, wenn sie ih­ren An­hän­gern das Ge­fühl ver­mit­teln, ei­ner ir­gend­wie ge­ar­te­ten an­de­ren »Eli­te« an­zu­ge­hö­ren.

    Ich glau­be üb­ri­gens, dass Mül­ler in dem Punkt Recht hat, wenn er schreibt, dass Po­pu­li­sten an Ple­bis­zi­ten an sich, al­so an dem Ur­teil des Bür­gers, gar nicht in­ter­es­siert sind. Sie be­nut­zen ei­nen für sie po­si­ti­ven Be­scheid nur (s. o. das Bei­spiel mit den EU-Geg­nern im Eu­ro­päi­schen Par­la­ment).

  11. Noch ei­ne et­was ab­sei­ti­ge The­se: Kann es nicht sein, dass der Er­folg der Po­pu­li­sten auch ei­ne ge­wis­se Sehn­sucht nach ei­nem wirk­lich of­fe­nen, von jeg­li­chen Rück­sich­ten erst ein­mal be­frei­ten Dis­kurs ver­ste­hen wer­den kann? Nicht um­sonst gras­siert ja im­mer die Mär von dem, was man nicht mehr sa­gen dür­fe. In­dem Po­pu­li­sten be­wusst die­se Rol­le des »Ta­bu­bre­chers« über­neh­men, er­hal­ten sie plötz­lich ei­ne Glaub­wür­dig­keit zu­ge­spro­chen. Da­bei kommt es am En­de gar nicht mehr dar­auf an, ob das, was ge­sagt wur­de, in sich schlüs­sig ist oder stimmt. (Das kann man am Gau­land-Zi­tat se­hen: Dass sich Gau­land lau­fend wi­der­spricht, scha­det ihn bei sei­nen An­hän­gern über­haupt nicht.) Das wür­de auch er­klä­ren, war­um ei­ne ar­gu­men­ta­ti­ve Aus­ein­an­der­set­zung so schwie­rig ist.

  12. Die The­se ist be­stimmt nicht ab­sei­tig. Man kennt doch die Ge­sich­ter, die fast zu ex­plo­die­ren schei­nen, wenn end­lich mal die »Wahr­heit« ge­sagt wird. Man riecht die schwar­ze Gal­le, die sich an­ge­staut hat. Ich hat­te nach Ih­rer Re­zen­si­on an an­de­rer Stel­le von Main­stream von Uwe Krü­ger das Buch ge­le­sen, der dort über­zeu­gend her­aus­ar­bei­tet, wie es zu dem Mei­nungs­kor­ri­dor von der Brei­te ei­ner Schieß­schar­te in den Main­stream­m­e­di­en kommt. An­de­re noch de­mo­kra­ti­sche Mei­nun­gen fin­det man halt nur noch in den Schmud­del­ecken. Sich mal locker in ge­sel­li­ger Run­de hin­stel­len und »Schot­ten dicht« po­sau­nen, er­for­dert zu­min­dest Hal­tung, die oft nicht vor­han­den ist und so sucht sich der Un­ver­stan­de­ne ein Ven­til, auch wenn es ein we­nig schmie­rig ist. In dem Fall sind die Eli­ten dann nicht die da oben, son­dern die gleich­ge­schal­te­te Mit­te.

    Au­stra­li­en, ei­ner der Sehn­suchtsor­te vie­ler Eu­ro­pä­er, ver­tritt ei­ne Flücht­lings­po­li­tik, die weit rechts von al­lem steht, was die AfD je ge­for­dert hat. Boots­flücht­lin­ge wer­den vor der Kü­ste auf­ge­grif­fen und nach Pa­pua-Neu­gui­nea oder Ton­ga in un­halt­ba­re Zu­stän­de ver­frach­tet. Ins Land kommt man nur nach sehr stren­gem Ver­fah­ren. Al­lein der Ver­such an Land zu kom­men gilt als cue jum­ping und wird ge­sell­schaft­lich nicht to­le­riert. Und zwar von Kon­ser­va­ti­ven wie So­zi­al­de­mo­kra­ten. Ich glau­be bis­her hat nie­mand be­haup­tet, dass Au­stra­li­en ein ab­scheu­li­ches Land schlim­mer als Un­garn oder Russ­land ist. Weil man sich lä­cher­lich ma­chen wür­de, die Rea­li­tät plötz­lich als Maß­stab zeigt, wie klein man sel­ber denkt. Und das ist Fut­ter für Po­pu­li­sten, weil nicht ar­gu­men­tiert, son­dern dif­fa­miert wird.

    Beim Links­po­pu­lis­mus, der sich ge­gen Macht­eli­ten rich­tet, wer­de ich auch manch­mal schwach und muss mei­ne Ar­gu­men­ta­ti­on wie­der in ru­hi­ge­res Fahr­was­ser brin­gen. Vor ein paar Wo­chen ha­be ich mich mit dem Fahr­rad im Düs­sel­dor­fer Nor­den et­was ver­fah­ren und bin mit­ten in der Air­port-Ci­ty ge­lan­det. Ei­ne in­ter­es­san­te Er­fah­rung. Dass man Glo­ba­li­sie­rung füh­len kann, hät­te ich nicht ge­dacht. Zwi­schen No­bel­ho­tel und Por­sche-De­pen­dance wird die Vor­stel­lung ei­ner welt­wei­ten, trans­na­tio­na­len Eli­te spür­bar. Mül­ler un­ter­schei­det so­weit ich mich er­in­ne­re nicht, ob das an­tie­li­tä­re nur für ein­ge­bi­de­te Eli­ten gilt oder auch für rea­le. Ins­ge­samt spricht Mül­ler kaum von Ver­flech­tun­gen zwi­schen Po­li­tik und Wirt­schaft, das Po­li­ti­sche ist ihm zur Be­grün­dung ge­nug. Aber ge­ra­de der Links­po­pu­lis­mus sieht das Feind­bild doch in der Wirt­schaft und Po­li­tik ist nur Mit­tel zum Zweck.

  13. @Joseph Bran­co
    Na­tür­lich ist das Wol­len et­li­cher Prot­ago­ni­sten nicht op­por­tu­ni­stisch, aber ih­re Me­tho­dik (viel­leicht). Vie­le Po­li­ti­ker be­nut­zen po­pu­li­sti­sche For­mu­lie­run­gen, wenn es passt, wenn sie sich dar­aus ei­nen Vor­teil er­hof­fen (oder wenn es der »Geg­ner« tut). Pas­siert das bei den Ge­nann­ten aus den­sel­ben Grün­den oder ist es – so­zu­sa­gen – in­hä­rent? Falls ja, war­um (und wor­in un­ter­schei­det sich der Po­pu­lis­mus als in­hä­ren­te bzw. op­por­tu­ni­sti­sche Me­tho­de)? Und gibt es et­was wie »mo­de­ra­te Po­pu­li­sten«? Gibt es Län­der mit gleich­zei­tig meh­re­ren po­pu­li­sti­schen, po­li­ti­schen Be­we­gun­gen?

    [Zur Li­ste: An ih­rem Be­ginn das ul tag set­zen; dann vor je­dem Li­sten­punkt ein li und die­ses nach je­dem Li­sten­punkt schlie­ßen; am En­de der Li­ste das Tag ul schlie­ßen.]

  14. Der Ta­bu­bruch passt gut zur Eli­ten­kri­tik (die glau­be ich, um er­folg­reich zu sein, schon et­was mit der Rea­li­tät zu tun ha­ben muss); er kann als Speer­spit­ze der Kri­tik, als bei­spiel­haft, wahr­ge­nom­men wer­den. — Man könn­te jetzt den Po­pu­lis­mus glatt mit Gram­scis Kon­zept der He­ge­mo­nie ver­bin­den, ihn al­so als ei­nen Kampf um ei­nen Wan­del der vor­herr­schen­den (und un­aus­ge­spro­che­nen) ge­sell­schaft­li­chen Zu­stän­de deu­ten (was m.E. auch zu Jo­seph Bran­cos Links­po­pu­lis­mus passt).

  15. 1. Po­pu­lis­mus: Theo­rie...

    Die Theo­rie des Po­pu­lis­mus zu fas­sen, ist durch den schwam­mi­gen Be­griff sehr schwie­rig. Mül­ler scheint hin- und her­ge­ris­sen zwi­schen der süd­ame­ri­ka­ni­schen, nord­ame­ri­ka­ni­schen und eu­ro­päi­schen Deu­tung des Wor­tes, fin­det dann aber mit an­tie­li­tär und an­ti­plu­ra­li­stisch zwei no­te­wen­di­ge, aber nicht hin­rei­chen­de Merk­ma­le. Den Sack zu macht er mit dem mo­ra­li­schen Al­lein­ver­tre­tungs­an­spruch, der durch das Er­ken­nen des wah­ren Volks­wil­len le­gi­ti­miert ist. Wenn dies nicht per Wahl ge­lingt, stimmt ir­gend­et­was mit der De­mo­kra­tie nicht. Der Al­lein­ver­tre­tungs­an­spruch ist nicht 99%, 100% müs­sen es sein. Der Po­pu­list kann den Wil­len des Vol­kes als Ein­zi­ger er­ken­nen, heizt ihn durch ei­ne Dra­ma­ti­sie­rung der Zu­stän­de aber selbst an. Der Wäh­ler ist Klein­bür­ger oder So­zi­al­dar­wi­nist, meist ge­ring ge­bil­det und Mo­der­ni­sie­rungs­ver­lie­rer.

    Bei an­tie­li­tär und an­ti­plu­ra­li­stisch kann man kaum wi­der­spre­chen, war­um Mül­ler aber auf den 100%igen Ver­tre­tungs­an­spruch kommt, ver­schliesst sich mir, zu­mal die­se Aus­sa­ge für den Rest des Bu­ches nur Klotz am Bein bleibt. Auch die Dif­fa­mie­rung der Wäh­ler ist un­nö­tig, da hät­te man deut­lich dif­fe­ren­zier­ter vor­ge­hen kön­nen. Klein­bür­ger, So­zi­al­dar­wi­nist, Mo­der­ni­sie­rungs­ver­lie­rer mit ge­rin­ger Bil­dung oder Wut­bür­ger muss man schon sein, um Po­pu­li­sten auf den Leim zu ge­hen. So­lan­ge die­se un­ge­lieb­ten Wäh­ler der Wahl­ur­ne fern blie­ben, ver­goss man Kro­ko­dils­trä­nen ob der nied­ri­gen Wahl­be­tei­li­gung. Wenn die Wahl­be­tei­li­gung dank AfD wie­der steigt, kom­men die Pha­ri­sä­er ins Schleu­dern, müs­sen vor der Ka­me­ra dar­über froh sein, win­den sich da­bei aber wie ein Aal.

    Un­ap­pe­tit­lich fin­de ich die Pas­sa­ge, in der Mül­ler Teil­neh­mer an On­line-Pe­ti­tio­nen als Wut­bür­ger be­schimpft (ich ha­be so­wohl die »Was­ser ist ein Men­schen­recht«- als auch die »Stop TTIP/CETA«-Petitionen aus, so glau­be ich, gu­ten Grün­den ge­zeich­net) und die Kon­takt­auf­nah­me zu dem Ab­ge­ord­ne­ten als Mail-Bom­bar­de­ment be­zeich­net (ich ha­be mei­nen Ab­ge­ord­ne­ten zu sei­nem ver­mut­li­chen Ab­stim­mungs­ver­hal­ten zu TTIP/CETA kon­tak­tiert). Die Wahl ist al­lei­ni­ger Ort wo De­mo­kra­tie statt­zu­fin­den hat. Wenn ich nach Frank­reich schaue, mit wel­chem Wahl­pro­gramm Hol­lan­de hoff­nungs­froh an­ge­tre­ten ist und wel­ches er mo­men­tan per (Sach-)Zwang durch­zu­set­zen ver­sucht, ist der Wäh­ler durch­aus be­tro­gen wor­den und die Wahl oder al­ter­na­tiv die re­prä­sen­ta­ti­ve De­mo­kra­tie ad ab­sur­dum ge­führt. Auf die näch­ste Wahl zu war­ten, wenn al­les in trocke­nen Tü­chern ist, hat mit De­mo­kra­tie nichts mehr zu tun. In Deutsch­land hat­ten wir ähn­li­ches mit der Schrö­der­re­gie­rung er­lebt. Wenn man nüch­tern auf­zählt, was Rot-Grün dur­ge­setzt hat, das hät­te vor­her nie­mand ge­glaubt. Wah­len al­lei­ne rei­chen nicht, De­mo­ka­tie braucht zu­sätz­lich ein the­men­be­zo­ge­nes Kor­rek­tiv und mehr Trans­pa­renz.

    Ei­nen Blick auf Mül­lers wah­res Den­ken fin­det glau­be ich auf S.34 un­ten. Der Wäh­ler ist ge­gen­über eta­blier­ten aka­de­mi­schen Eli­ten (sprich er) feind­lich ein­ge­stellt, ob­wohl man doch selbst im In­ter­net forscht (in An­füh­rungs­stri­chen) und dort Er­kennt­nis­se ge­winnt. Wenn das kei­ne Her­ren­rei­te­rat­ti­tü­de ist, kein Res­sen­ti­ment, was dann? Und das auf wel­cher Ba­sis?

    Der Hin­weis, dass es sich bei Füh­rern po­pu­li­sti­scher Par­tei­en nicht um cha­ris­ma­ti­sche Men­schen han­deln muss, hat mich nicht sehr über­zeugt. Das Merk­mal der De­mo­kra­tie, dass Men­schen aus­tausch­bar sind, nur ei­ne Funk­ti­on aus­fül­len, gilt bei Po­pu­li­sten kaum. In Ve­ne­zue­la kann man ge­ra­de se­hen, was pas­siert, wenn der Nach­fol­ger kein Cha­ris­ma hat. In Deutsch­land sprach man aber tat­säch­lich vor den Er­fol­gen der AfD im­mer da­von, dass so­bald ein cha­ris­ma­ti­scher Füh­rer da wä­re, auch hier­zu­lan­de ei­ne po­puls­ti­sche Par­tei mög­lich wä­re. Es ist an­ders ge­kom­men, an­ders als in al­len an­de­ren Län­dern, was aber nur dem be­son­de­ren Um­stand der Flücht­lings­kri­se ge­schul­det ist.

    Rich­tig ist der Ein­wand, das Kri­tik schnell als Res­sen­ti­ment oder Po­pu­lis­mus ver­teu­felt wird. Mitt­ler­wei­le könn­te das Wort God­wins Law er­wei­tern. All­ge­mein gilt je­de Un­stim­mig­keit, ei­gent­lich der Nor­mal­zu­stand in ei­ner De­mo­kra­tie, als schäd­lich. Wenn ein The­ma in den Bun­des­tag kommt, ist meist schon ei­ne Ei­ni­gung im Hin­ter­zim­mer aus­ge­macht. Kampf­ab­stim­mun­gen gel­ten als zu ver­mei­den­der Streit (Als Jens Spahn in den Vor­stand der CDU ge­wählt wer­den woll­te, aber da­durch we­ni­ger Plät­ze als Be­wer­ber vor­han­den wa­ren, muss­te Her­mann Grö­he auf Be­fehl sei­ne Kan­di­da­tur zu­rück­neh­men). Bei Über­Me­di­en ha­be ich ge­lernt, dass CDU/CSU Ent­hal­tun­gen bei der Be­rech­nung von Wahl­er­geb­nis­sen weg­las­sen, um bes­se­re Wahl­er­geb­nis­se er­schei­nen zu las­sen. Die Men­schen wer­den har­mo­ni­e­süch­tig ge­nannt, man ver­wech­selt aber viel­leicht nur Ur­sa­che und Wir­kung.

  16. Noch ein Zwi­schen­ruf zum frei­en Dis­kurs: ich neh­me das ähn­lich wahr wie @Gregor. Es ist nicht ein­deu­tig zu­zu­ord­nen, ob hin­ter dem Mo­tiv des »Dis­kurs-Bre­chers« wirk­lich die Ab­sich­ten der Po­pu­li­sten lau­ern, oder ob es sich um ei­ne Fremd­zu­schrei­bung, und spie­gel­ver­kehrt um ei­nen »blockier­ten Wunsch« han­delt.
    Wir er­le­ben den Öf­fent­li­chen Po­li­ti­schen Dis­kurs, vor al­lem wenn er von In­sti­tu­tio­nen aus­geht, als hoch­re­gu­liert, als »ent­sub­jek­ti­viert« im Sin­ne der ver­schie­de­nen Spre­cher-Funk­tio­nen, und auf der an­de­ren Sei­te se­lek­tiv im Be­reich des po­li­ti­schen Kom­men­tars, teil­wei­se so­gar aus­wahl-se­lek­tiv bei den The­men.
    Von FREIHEIT land­auf land­ab kei­ne Spur.
    Da­ge­gen kann, wie @Branco sagt, ein un­ge­zwun­ge­ner de­re­gu­lier­ter Dis­kurs durch­aus statt­fin­den, und er fin­det ja im­mer noch statt. Schot­ten dicht, Frei­mau­rer-Hym­ne ab­sin­gen, Sit­zung er­öff­nen, und los geht’s.
    – - Das ist so­zio­lo­gisch ge­se­hen, ein Peer-Group-Set­ting. Und es ist das ein­zi­ge Set­ting, das die Dis­kurs-Idea­le ver­wirk­licht! Selt­sa­mer­wei­se rich­ten sich Ver­schwö­rungs­phan­ta­sien aber ge­nau ge­gen die­ses Set­ting. Des ei­nen Frei­heit, des an­de­ren Ver­schwö­rung?!- -
    Ich hab’ das theo­re­tisch noch nicht ganz durch­drun­gen, aber es gibt wohl ei­ne Va­ri­an­te des Li­be­ra­lis­mus, ger­ne un­ter Pu­bli­zi­sten, wel­che sich ein uto­pi­sches An­lie­gen auf die Fah­nen ge­schrie­ben hat; näm­lich die Peer-Group auf öf­fent­li­che und ge­sell­schafts-brei­te Ver­hält­nis­se aus­zu­deh­nen.

  17. Den Links­po­pu­lis­mus braucht Mül­ler zu­nächst nur, um in ihm das na­tio­na­li­sti­sche Ele­ment (wel­ches häu­fi­ger ver­tre­ten ist, als man denkt) her­aus­zu­ar­bei­ten. Spä­ter dann noch ein­mal, um ihn als Ge­gen­po­si­ti­on zum Rechts­po­pu­lis­mus zu ver­wer­fen. Das muss­te er na­tür­lich auch, sonst wä­re sein Schluss, dass Po­pu­lis­mus de­mo­kra­tie­feind­lich ist, hin­fäl­lig.

    Den Mei­nungs­kor­ri­dor, den un­ter an­de­ren auch Krü­ger an­spricht, gibt es na­tür­lich aus Grün­den der »Vor­sor­ge«. Wenn man sich heu­te po­li­ti­sche Dis­kus­sio­nen aus den 1970er und auch noch 1980er Jah­ren im Fern­se­hen an­schaut, sieht man, mit wel­chen har­ten Ban­da­gen dort agiert wur­de. Die di­ver­gie­ren­den Mei­nun­gen prall­ten oh­ne (rhe­to­ri­schen) Rück­sich­ten auf­ein­an­der. Im Un­ter­hal­tungs­fern­se­hen durf­te »Ekel Al­fred« Brandt und Schmidt auf Stamm­tisch-Ni­veau be­schimp­fen. Da war na­tür­lich Sa­ti­re mit ei­nem am En­de päd­ago­gi­schen Im­pe­tus – aber es fand eben statt.

    Am über­zeu­gend­sten bei Krü­ger fand ich des­sen Fest­stel­lung, wie Plu­ra­lis­mus in den Me­di­en zwar statt­fin­det, aber eben kei­ner­lei Ein­fluss auf die Ta­ges­be­richt­stat­tung hat. Da gibt es um 23 Uhr werk­tags ei­ne Do­ku, in der bspw. die Ukrai­ne-Kri­se dif­fe­ren­ziert dar­ge­stellt wird und mit ei­ni­gen Ver­ein­fa­chun­gen »auf­ge­räumt« wird. Aber die­ser Be­richt hat dann kei­ner­lei Aus­wir­kun­gen auf die Be­rich­te und Re­por­ta­gen zu Prime-Time-Zei­ten.

    So ent­ste­hen »Ta­bu­brü­che«, die na­tür­lich streng ge­nom­men kei­ne sind, aber als sol­che schei­nen. Das ist fa­tal, weil hier die po­pu­li­sti­sche Dar­stel­lung frucht­ba­ren Bo­den vor­fin­det. Me­di­en müs­sen hier ei­ne Ba­lan­ce fin­den; ihr vor­sorg­li­ches Be­mü­hen, dem Re­zi­pi­en­ten nicht all­zu viel zu­mu­ten zu wol­len, führt am En­de zu den Ef­fek­ten, die man dann be­klagt. An­de­rer­seits darf man auch nicht den po­pu­li­sti­schen The­sen zu viel Raum las­sen, da sie na­tür­lich von den Mas­sen­me­di­en le­ben.

    Dass Mül­ler die gän­gi­gen so­zio­lo­gi­schen Er­klä­run­gen nicht gel­ten ist, fand ich ei­gent­lich ganz gut. Ob es wirk­lich das »Lum­pen­pro­le­ta­ri­at« ist oder der »Mo­der­ni­sie­rungs­ver­lie­rer« wä­re na­tür­lich da­hin­ge­hend in­ter­es­sant, um da­ge­gen zu wir­ken. Wer ist an­fäl­lig für Po­pu­li­sten? Blei­ben wir in Deutsch­land: Die Re­zep­ti­on des er­sten Sar­ra­zin-Bu­ches war für mich nicht über­ra­schend. Er ge­rier­te sich als ei­ne Art »Mes­si­as der Mit­tel­schicht«. Ei­ner Mit­tel­schicht, die gut verdient(e), aber ih­re be­ruf­li­chen Per­spek­ti­ven ei­nem schlei­chen­den Wan­del aus­ge­setzt sieht. Wie die hart­näckig­sten Geg­ner Sar­ra­zins hat­ten sie das Buch (das sie ge­kauft hat­ten) kaum ge­le­sen, aber er ar­ti­ku­lier­te ih­re Äng­ste, dem Club der We­ber­grill-Be­sit­zer ir­gend­wann nicht mehr an­zu­ge­hö­ren. Es sind Men­schen, die Höchst­bei­trä­ge bei der Kran­ken­ver­si­che­rung be­zah­len und mehr als 40% Ein­kom­men­steu­er. Zin­sen er­hal­ten sie auf ihr Ge­spar­tes seit Jah­ren nicht mehr, da­her ge­ben sie es aus. Sie kau­fen brav die je­weils neue­sten, ak­tu­el­len tech­ni­schen Ge­rä­te nebst Au­to­mo­bil. Sie hö­ren vom üp­pi­gen So­zi­al­haus­halt und fra­gen sich, war­um sie ihn fi­nan­zie­ren müs­sen und die Mil­lio­nä­re Steu­er­schlupf­lö­cher en mas­se vor­fin­den. Sie »rie­stern« oh­ne ge­nau zu wis­sen, was das heisst und glau­ben sich da­mit ge­feit vor Al­ters­ar­mut. Aber sie spü­ren, dass sie am Peak ih­res Le­bens­stan­dards an­ge­langt sind – von nun an geht’s, wenn nicht noch ein Kar­rie­re­sprung pas­sie­ren soll­te – berg­ab. Den Staat emp­fin­den sie als den Ap­pa­rat, der ih­nen das Geld aus der Ta­sche zieht. Die Pro­jek­te, die man mit »ih­rem« Geld durch­führt, er­schei­nen ih­nen nutz­los. Meist schei­tern sie auch noch bzw. wer­den teu­rer als ge­dacht. Den Ken­ne­dy-Satz emp­fin­den sie als Hohn. Der El­len­bo­gen-In­di­vi­dua­lis­mus, der ih­nen bei­gebracht wur­de, be­ginnt sich ge­gen sie selbst zu rich­ten.

    Ge­gen ei­nen Stamm von 10% oder 15% Po­pu­lis­mus-Wäh­lern kann man ver­mut­lich nichts mehr ma­chen. Aber wenn es 30% oder mehr sind (oder dro­hen), dann ver­ab­schie­det sich die Mit­tel­schicht.

    Die Fra­ge ist in­ter­es­sant, ob es auch ge­mä­ssig­te Po­pu­li­sten gibt. Und ob es im­mer ei­ner cha­ris­ma­ti­schen Füh­rungs­fi­gur be­darf. Cha­ris­ma ist ja ei­ne Ei­gen­schaft, die man den je­wei­li­gen Per­so­nen sel­ber zu­spricht. Ich kann (und will) mir nicht vor­stel­len, dass je­mand wie Stra­che in Deutsch­land auf­grund »sei­nes« Cha­ris­mas Er­folg hät­te. Und die AfD zeigt, dass man nicht un­be­dingt cha­ris­ma­ti­sche Fi­gu­ren braucht, um ent­spre­chen­den Er­folg an der Wahl­ur­ne zu ha­ben. Die Fra­ge ist nur, wie nach­hal­tig der Er­folg der AfD ist. Ich wa­ge die Pro­gno­se, dass die Par­tei bei der Bun­des­tags­wahl 2017 un­ter 10% blei­ben wird. Eben weil ih­re Fi­gu­ren eher du­bi­os sind (Pe­try, Gau­land; von Höcke oder von Storch will ich gar nicht erst re­den). Auf Dau­er ist ei­ne smar­te, me­di­en­taug­li­che Fi­gur not­wen­dig.

    Nicht zu­fäl­lig ken­nen wir die Na­men der gän­gi­gen eu­ro­päi­schen Po­pu­li­sten. In Un­garn sieht aber die La­ge an­ders aus als in Po­len. Hier ist ein Un­be­ha­gen am Sy­stem sel­ber, das tie­fer geht als Eli­ten- oder Fi­nanz­kri­tik. Was ist mit den po­pu­li­sti­schen Be­we­gun­gen in der Slo­wa­kei und Dä­ne­mark, die dort in Re­gie­run­gen ver­tre­ten sind? De­ren Na­men kennt man (= ich) we­ni­ger (nicht). Hat es da­mit zu tun, dass sie »ge­mä­ssig­ter« sind?

    (Zum Dis­kurs spä­ter)

  18. Hier geht’s ja schon gut zur Sa­che!
    Dass Mül­ler sehr we­nig em­pi­ri­sches Ma­te­ri­al ver­ar­bei­tet bzw. aus­brei­tet, scheint mir vor al­lem der Form des Tex­tes ge­schul­det: Es­say. Aber es wä­re si­cher in­ter­es­sant, wenn man sich nicht die meist üb­li­chen Ver­däch­ti­gen (Ber­lus­co­ni, Wil­der et. al) vor­näh­me, son­dern von lin­ken-eman­zi­pa­ti­ven Be­we­gun­gen aus denkt. Lei­der lässt Mül­ler die­sen An­satz schnell fal­len (im Prin­zip ist ja sei­ne Be­griffs­ge­schich­te des Po­pu­lis­mus in den USA so ein An­satz), um ins deut­sche Feld zu­rück­zu­keh­ren. Bei der Dis­kus­si­on von Chan­tal Mouf­fes An­satz, ob ein lin­ker Po­pu­lis­mus denk­bar und wünsch­bar sei, kommt er noch mal ein biss­chen dar­auf zu­rück – aber was er da­mit will, hat sich mir nicht so recht er­schlos­sen.
    Sei­ne The­se, so hab’ ich ihn we­nig­stens ver­stan­den, dass Po­pu­lis­mus der Schat­ten ei­ner (nicht mehr gut funk­tio­nie­ren­den bzw. viel­leicht auch ein­fach nicht mehr wirk­lich ver­stan­de­nen (mei­ne Aus­wei­tung)) re­prä­sen­ta­ti­ven De­mo­kra­tie sei und de­ren hi­sto­ri­sche Her­lei­tung aus der Ge­schich­te der re­prä­sen­ti­ven De­mo­kra­tie als kon­ser­va­ti­ves De­fen­siv-Or­gan ge­gen »zu­viel« und zu »chao­ti­schem« Mei­nungs­bil­dung und Po­li­tik ma­chen in der Be­völ­ke­rung fand ich schlüs­sig. Da­mit hat er den Be­griff auch zu­min­dest teil­wei­se ent­dä­mo­ni­siert (was auch ei­nes sei­ner selbst­form­lier­ten Zie­le ist). Mit die­ser Les­art sei­nes Tex­tes schei­ne ich aber in der Dis­kus­si­ons­grup­pe hier al­lein.
    Auch sei­ne De­fin­ti­on, Po­pu­lis­mus ist, wenn je­mand den Al­lein­ver­tre­tungs­an­spruch auf den wah­ren Voks­wil­len für sich re­kla­miert, kann ich nach­voll­zie­hen. Was eben ge­ra­de nicht heißt, dass man tat­säch­lich 100% da­von ver­tritt, son­dern dass man für sich re­kla­miert, wer da­zu ge­hört und wer nicht. Da­mit lässt sich auch sehr ele­gant er­klä­ren, war­um Po­pu­lis­men, auch ge­ra­de lin­ke, so schnell den Weg in An­ti­se­mi­tis­mus und Ras­sis­mus an­tre­ten. Und auch dass po­pu­li­sti­sche Be­we­gun­gen oft so selt­sam un­po­li­tisch sind – so­wohl in den For­de­run­gen als auch im Um­gang mit und Ver­ständ­nis von be­stehen­den po­li­ti­schen In­sti­tu­tio­nen, Pro­zes­sen und Or­ga­ni­sa­tio­nen. Das läuft ja im Prin­zip auf ei­ne For­de­rug an den den Staat bzw. ‘die Eli­ten’ in der Form von Wir sind wir! Ali­men­tiert uns! hin­aus.) Iden­ti­täts­her­stel­lung und ‑durch­set­zung ist ja kei­ne po­li­ti­sche For­de­rung, auch wenn das lin­ke und rech­te Iden­ti­täts­’­po­li­ti­ker’ das ger­ne so se­hen.
    Po­pu­lis­mus als ein ra­di­ka­les De-Kom­ple­xi­fi­zie­rungs­an­ge­bot zu se­hen, kann ich auch nach­voll­zie­hen – was dann aber auch heißt, dass Po­li­tik in ei­ner Ge­sell­schaft, die ih­ren po­li­ti­schen Dis­kurs und Mei­nungs­bil­dungs­pro­zess in Form ei­ner Di­cho­to­mie zwi­schen Po­li­tisch­Un­ter­hal­tungs­in­du­stri­el­len-Kom­plex und teil­wei­se ex­trem in­trans­pa­ren­ten Aus­hand­lungs­pro­zes­sen der mit dem Re­gie­ren be­auf­trag­ten und sonst wie Macht­zu­gang ha­ben­den or­ga­ni­siert hat, im­mer star­ke po­pu­li­sti­sche Zü­ge ha­ben muss. (Mei­ne In­ter­pre­ta­ti­on. Viel­leicht müss­te man dann auch die The­se zur re­prä­sen­ta­ti­ven De­mo­kra­tie mo­di­fi­zie­ren: Re­prä­sen­ta­ti­ve De­mo­kra­tien ver­tra­gen sich nicht gut mit mas­sen­me­di­al or­ga­ni­sier­ter En­ter­tain­men­ti­fi­zie­rung der Po­li­tik, in de­nen ja Quatsch­shows wie An­ne Will et al. Volks­ver­tre­tungs­an­spruch re­kla­mie­ren, ge­nau­so wie die un­zäh­li­gen Mo­de­ra­to­ren & In­ter­view­er, die mei­nen, ir­gend­ei­nen Volks­wil­len bauch­zu­red­nern. Oder die­se dümm­li­che Re­de von der Po­li­tik, die lie­fert! Da­mit wird der Bür­ger als po­li­ti­sches Sub­jekt auf ein Couch Po­ta­to re­du­ziert – aber Po­li­tik ist nix zum Kon­su­mie­ren.)
    Was mir fehlt:
    – Was un­ter­schei­det Mül­lers Po­pu­lis­mus-Be­griff, zu­mal in sei­ner Ver­en­gung auf ein eth­ni­sches Ver­ständ­nis von Volk (das ich aber nicht ganz so stark se­he wie die mei­sten hier), vom Fa­schis­mus? Da­zu ge­hört wohl auch mei­ne Fra­ge, was aus Po­pu­li­sten wird, wenn sie tat­säch­lich an die Macht kom­men? Lässt sich ein po­pu­li­sti­sche Be­we­gung über­haupt in Re­gie­rungs­fä­hig­keit, wie un­de­mo­kra­tisch auch im­mer, über­füh­ren? Auch Dik­ta­tu­ren funk­tio­nie­ren nur über Dis­zi­plin, Wie­der­ho­lung und sta­bi­le Ent­schei­dungs­pro­zes­se, vgl. Cha­vis­mo & Per­ro­n­is­mus. Ist Po­pu­lis­mus dann nicht doch eher ein Stil, denn ei­ne po­li­ti­sche Hal­tung oder gar Pro­gramm? – Kann es sta­bi­le po­pu­li­sti­sche Be­we­gun­gen oh­ne Füh­rer­fi­gur ge­ben?
    – Ein paar Ideen & Bei­bach­tun­gen zum Zu­sam­men­hang von Po­pu­lis­mus und Mas­sen­me­di­en. Mir scheint, der Be­griff wird ge­prägt in der er­sten gro­ßen mas­sen­me­dia­len Wel­le in und nach dem US­ame­ri­ka­ni­schen Se­zes­si­ons­krieg, dann ei­ne Hoch­zeit um 1930 mit Ra­dio, Ki­no und Zei­tungs­we­sen (vgl. auch Ci­ti­zen Ka­ne & Hu­gen­berg etc.), dann in den 1960ern (TV in al­len Wohn­zim­mern) und eben jetzt (In­ter­net in al­len Hän­den qua Mo­bi­len End­ge­rä­ten).

    Fa­zit: Die Lek­tü­re hat mir mehr Fra­gen er­öff­net als ge­klärt – was ich Mül­ler aber po­si­tiv an­rech­ne. Im Mo­ment ten­die­re ich eher da­zu, dass Po­pu­lis­mus als über­ge­ord­ne­ter ana­ly­ti­scher Be­griff eher un­brauch­bar ist, ei­nen ge­wis­sen mas­sen­me­di­al ge­präg­ten und er­folg­rei­chen Stil der Pol­tik-Kom­mu­ni­ka­ti­on und der En­ter­tain­men­ti­fi­zie­rung ganz gut be­schrei­ben kann. Und so­lan­ge Face­book-Kom­men­tar­schlach­ten und Quatsch­Shows als ernst­haf­te For­men po­li­ti­scher Mei­nungs­bil­dung gel­ten, wird der auch wei­ter in so­weit er­folg­reich sein, dass der Tech­no­kra­tis­mus à la Mer­kel der Mehr­heit als ein­zig sinn­vol­le Al­ter­na­ti­ve er­scheint. Und das ist das ei­gent­li­che Pro­blem.

  19. Gre­gor Keu­sch­nig

    We­ber­grill-Be­sit­zer ist gut. Sie be­schrei­ben ge­nau die so­zia­le Grup­pe, die ich mein­te und bei Mül­ler ver­mis­se.

    Dass man die Na­men der füh­ren­den Po­pu­li­sten aus Dä­ne­mark, der Slo­wa­kei oder Finn­land nicht so­fort per Na­men pa­rat hat, liegt wahr­schein­lich nur an der hie­si­gen Pres­se­dar­stel­lung. In den ei­ge­nen Län­dern sind sie schon sehr prä­sent. Zu Ti­mo Soini (Wah­re Fin­nen) z.B. fin­det man schnell ei­nen Taz-Ar­ti­kel in dem es heißt: Das rhe­to­risch be­gab­te und cha­ris­ma­ti­sche Aus­hän­ge­schild sei­ner Par­tei .... Das Glei­che zu Kri­sti­an Thu­le­sen Dahl der Dansk Fol­ke­par­ti. Wahr­schein­lich sind sie für die Me­di­en ein­fach zu sper­rig, Le Pen und Wil­ders funk­tio­nie­ren bes­ser. Und die AfD wur­de in ih­rer Neu­struk­tu­rie­rung ein­fach über­rascht. Wenn man z.B. Frau­ke Pe­try mal ge­nau zu­hört, ist sie für ei­nen ech­ten Po­pu­li­sten noch viel zu sach­ori­en­tiert. Ich glau­be nicht, dass sie sich so auf Dau­er hal­ten kann. Ein Po­pu­list als Ar­bei­ter im Wein­berg der De­mo­kra­tie? Kaum vor­stell­bar.

    Dok­tor D

    Ich ha­de­re tat­säch­lich mit der ak­tu­el­len re­prä­sen­ta­ti­ven De­mo­kra­tie als Herr­schafts­in­stru­ment öko­no­mi­scher In­ter­es­sen. Es gibt ein all­ge­gen­wär­ti­ges Un­be­ha­gen ge­gen die nicht mehr funk­tio­nie­ren­de Re­prä­sen­ta­ti­on, das na­tür­lich miss­braucht wer­den kann. Heinz Bu­de schreibt da­zu so­gar:

    Wir be­fin­den uns of­fen­bar am En­de ei­ner Pe­ri­ode von viel­leicht drei­ßig Jah­ren, wel­che heu­te vie­len pro­mi­nen­ten Ge­gen­warts­deu­tun­gen als End­spiel zum Un­ter­gang er­scheint.

    Dum­mer­wei­se ken­ne ich aber kei­ne er­folgs­ver­spre­chen­de Kor­rek­tur.

    Die Ver­en­gung u.a. auf Eth­ni­en ist viel­leicht nur Fol­ge des Al­lein­ver­tre­tungs­an­spru­ches. In­ho­mo­ge­ne Grup­pen sind ein­fach zu schwer an­sprech­bar. Wir Ka­nin­chen­züch­ter wür­de wahr­schein­lich auch funk­tio­nie­ren.

    Die Me­di­en­ent­wick­lung als Ur­sa­che für Po­pu­lis­mus? In­ter­es­sant. Spie­len die Me­di­en dann ei­ne auf­klä­re­ri­sche Rol­le, die Pro­ble­me erst sicht­bar macht oder eher doch nur als Volks­emp­fän­ger?

  20. @ Dok­tor D
    Die 100% The­se braucht Mül­ler viel­leicht nur, um die Oc­cu­py-Be­we­gung mit ih­rem 99% igen Ver­tre­tungs­an­spruch als nicht-po­pu­li­stisch dar­zu­stel­len. Dass sich Po­li­ti­ker auf ei­ne Mehr­heit be­ru­fen, ist mei­nes Er­ach­tens we­der un­ge­wöhn­lich noch per se po­pu­li­stisch. Mer­kels Vol­te nach Fu­ku­shi­ma wä­re oh­ne ei­ner von ihr an­ti­zi­pier­ten Mehr­heit in­ner­halb der Be­völ­ke­rung gar nicht pas­siert. Es war ein ex­trem po­pu­li­sti­scher Zug.

    In­so­fern ist na­tür­lich je­de de­mo­kra­ti­sche Par­tei auf po­pu­li­sti­sche Ele­men­te aus­ge­rich­tet; heu­te mehr als da­mals (ob­wohl Ade­nau­ers Wahl­kampf mit der Angst vor der SPD als kom­mu­ni­sti­schem Ge­heim­bund schon fast dem­ago­gisch war). Par­tei­en, die sich als »Volks­par­tei­en« se­hen, müs­sen auf ge­sell­schafts­po­li­ti­sche Trends re­flek­tie­ren. Die Fra­ge ist nur, ob sie ih­nen nach­lau­fen sol­len. Brandts Ost­po­li­tik war zu­nächst we­nig po­pu­lär und da­mals kaum Be­stand­teil des 1966er Wahl­kampfs. Als er dann die­se Po­li­tik ein­lei­te­te, gab es bis in das li­be­ral-kon­ser­va­ti­ve La­ger hin­ein sehr star­ke Wi­der­stän­de. Die vor­ge­zo­ge­ne Bun­des­tags­wahl 1972 wur­de dann auch (nicht nur) zur Ab­stim­mung über die Ost­po­li­tik. Da­mals stan­den klar un­ter­schied­li­che Po­li­tik­ent­wür­fe zur Wahl. Und de­ren je­wei­li­ge Re­prä­sen­tan­ten hat­ten fürch­te­ten nicht die Wahl­nie­der­la­ge. Heu­te wer­den erst ein­mal Mei­nungs­for­schungs­in­sti­tu­te be­auf­tragt um Stim­mungs­la­gen ab­zu­scan­nen. Da­nach wird dann Po­li­tik ge­macht.

    Ich glau­be, dass die Kri­se der re­prä­sen­ta­ti­ven De­mo­kra­tie nicht ei­ne Kri­se des Sy­stems an sich ist, son­dern nur sei­ner In­ter­pre­ta­ti­on. Die sehr star­re Fo­kus­sie­rung auf den (de ju­re gar nicht exi­stie­ren­den) Frak­ti­ons­zwang trägt ein ge­rüt­telt Maß da­zu bei. In­di­rekt deu­tet Mül­ler das mit dem »im­pe­ra­ti­ven Man­dat« an, was es nicht ge­ben dür­fe. Dar­aus le­se ich zwi­schen den Zei­len: Die nur ih­rem Ge­wis­sen ver­ant­wort­li­chen Ab­ge­ord­ne­ten sol­len sich mehr trau­en, um auch De­bat­ten in den Frak­tio­nen zu füh­ren. Da ist aber das Li­sten­wahl­recht da­vor. (War­ten wir mal ab, wel­che Fol­gen be­stimm­te CDU-Po­li­ti­ker zu tra­gen ha­ben, die ein we­nig ge­gen Mer­kel »re­bel­liert« hat­ten.) Gleich­zei­tig stür­zen sich die Me­di­en bei Un­stim­mig­kei­ten, so als sei es selbst­ver­ständ­lich, dass 50 oder 200 Leu­te »wie ein Mann« ab­zu­stim­men hät­ten. Hier ist ei­ne ge­hö­ri­ge Por­ti­on Ob­rig­keits­den­ken prä­sent. ich er­in­ne­re nur an die »Ab­weich­ler« zur EU-Po­li­tik in­ner­halb der FDP in der Le­gis­la­tur 2009–2013. Dies wur­de ja da­mals von Lucke (und ei­ni­gen an­de­ren) auf­ge­nom­men, um die AfD (als An­ti-Eu­ro-Par­tei) zu grün­den. Das Er­geb­nis 2013 ent­behr­te nicht ei­ner ge­wis­sen Tra­gik. Bei­de Par­tei­en la­gen dicht­auf bei knapp un­ter 5%, was zur Fol­ge hat­te, dass sie bei­de nicht in den Bun­des­tag ka­men. Hät­te es die AfD nicht ge­ge­ben, wä­re die FDP si­cher­lich bei 6% ge­lan­det. Die Ab­spal­tung in­ner­halb der Eu­ro-Geg­ner hat al­so erst zu ei­ner 80%-Koalition im Bun­des­tag ge­führt. Aber die­se 80% re­prä­sen­tie­ren nur 66%. Da es aber 80% sind, wer­den »Ab­weich­ler« kaum noch zur Kennt­nis ge­nom­men. Die­se Ent­wick­lung führt wie­der­um zum Eli­te-Den­ken.

    Der Bür­ger als Couch-Po­ta­to – das ist sa­lopp for­mu­liert das, was von Weiz­säcker in den 1990er Jah­ren mal als ei­ne Art still­schwei­gen­des Agree­ment zwi­schen Bür­ger und Par­tei­en an­sprach. Das funk­tio­niert nur, wenn der Bür­ger da­bei das Ge­fühl hat, dass die Po­li­tik für ihn kei­ner­lei (ne­ga­ti­ve) Fol­gen hat. ich glau­be, dass die­ses Sy­stem lan­ge so funk­tio­niert hat. Erst kam der Wie­der­auf­bau und »Wohl­stand für al­le«. Dann »mehr De­mo­kra­tie wa­gen«. Bei der »gei­stig-mo­ra­li­schen Wen­de« stock­te es ein biss­chen (okay, es gab Pri­vat­fern­se­hen). Schließ­lich dann die Wen­de 1989/90 und die »blü­hen­den Land­schaf­ten«. Die Bot­schaft hieß: Gebt uns die Stim­me – den Rest ma­chen wir. Und nach vier Jah­ren geht es Euch bes­ser. Die­se Ver­spre­chun­gen und die da­mit ver­bun­de­nen Si­cher­hei­ten sind vor­bei. Po­li­tik dient nur noch zur Kri­sen­be­wäl­ti­gung. Mer­kel wird ge­wählt, weil sie das klei­ne von vie­len Übeln ist (hin­zu kommt ih­re osten­ta­ti­ve Bür­ger­lich­keit). Aber der Geist der Skep­sis ist aus der Fla­sche. Und er geht nicht mehr zu­rück.

    Mül­ler zeigt schon ge­nau, wo­hin Po­pu­li­sten an der Re­gie­rung füh­ren. Er be­nennt es nur nicht. Sie sa­gen Fa­schis­mus – ich sa­ge Dik­ta­tur. Wir mei­nen das glei­che. Wir er­le­ben die­se Ent­wick­lung ge­ra­de in der Tür­kei. Das wird Deutsch­land noch sehr stark be­schäf­ti­gen.

  21. @Joseph Bran­co
    Es gibt ein all­ge­gen­wär­ti­ges Un­be­ha­gen ge­gen die nicht mehr funk­tio­nie­ren­de Re­prä­sen­ta­ti­on, das na­tür­lich miss­braucht wer­den kann. [...] Dum­mer­wei­se ken­ne ich aber kei­ne er­folgs­ver­spre­chen­de Kor­rek­tur.
    Bu­des Be­fund tei­le ich; die Fol­gen er­schei­nen mir zu speng­le­risch.

    Ich ma­ße mir na­tür­lich nicht an, »die« oder über­haupt ei­ne Lö­sung zu ken­nen, aber viel­leicht könn­te sie dar­in lie­gen, dass das de-fac­to-im­pe­ra­ti­ve Man­dat, wel­ches die Par­tei­en für sich in An­spruch neh­men, »ab­ge­schafft« wird. Das klingt ein­fa­cher als es ist, weil Frak­tio­nen per se als 100%-Einheiten funk­tio­nie­ren, d. h. im Sin­ne Mül­lers an­ti­plu­ra­li­stisch sind. Der/die Frak­ti­ons­vor­sit­zen­de gibt im Sin­ne der Re­gie­rung bzw. Par­tei­spit­ze vor, wie ab­zu­stim­men ist. Theo­re­tisch bräuch­te man da­für nicht 600 oder 700 Ab­ge­ord­ne­te, son­dern nur 10 oder 15, die die Mehr­heits­ver­hält­nis­se spie­geln wür­den. De fac­to agie­ren Frak­tio­nen in Par­la­men­ten (be­son­ders im Bun­des­tag) wie po­pu­li­sti­sche Par­tei­en.

    Än­dern kann man das nur mit ei­ner Re­vi­si­on des Wahl­rechts. Aber das wä­re ein an­de­res The­ma.

  22. @ Dok­tor D
    Viel­leicht müss­te man dann auch die The­se zur re­prä­sen­ta­ti­ven De­mo­kra­tie mo­di­fi­zie­ren: Re­prä­sen­ta­ti­ve De­mo­kra­tien ver­tra­gen sich nicht gut mit mas­sen­me­di­al or­ga­ni­sier­ter En­ter­tain­men­ti­fi­zie­rung der Po­li­tik, in de­nen ja Quatsch­shows wie An­ne Will et al. Volks­ver­tre­tungs­an­spruch re­kla­mie­ren, ge­nau­so wie die un­zäh­li­gen Mo­de­ra­to­ren & In­ter­view­er, die mei­nen, ir­gend­ei­nen Volks­wil­len bauch­zu­red­nern

    Fin­de ich sehr plau­si­bel. Gibt es für die­se sy­ste­mi­sche The­se ir­gend­wel­che Hin­wei­se bei Mül­ler? Wenn ich rich­tig ge­le­sen ha­be, be­han­delt er die Me­di­en sehr schlicht als »rei­nen Trans­pon­der«, wel­cher auf­grund sei­ner Über­tra­gungs-Neu­tra­li­tät selbst kei­ne un­er­wünsch­te Ef­fek­te ge­ne­rie­ren kann, oder?!
    Was wenn die me­dia­le In­sze­nie­rung des Po­li­ti­schen auch ei­ne nicht-in­halt­li­che struk­tu­rel­le Wir­kung ent­fal­tet hät­te, –die Mög­lich­keit des Po­pu­lis­mus

  23. @ Gre­gor Keu­sch­nig @ die_kalte_sophie
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    Zu­nächst aber @ Jo­seph Bran­co »&« @ Doc­tor D
    Ob man nun die Po­pu­li­sten und de­ren Strategien/ Zie­le be­trach­tet oder die Dy­na­mik Etablierte/ Po­pu­li­sten oder die Zu­sam­men­hän­ge zwi­schen den Indiskutablen/Nicht diskutierenden/Nicht Dis­kurs­fä­hi­gen (links u n d rechts) und den Po­pu­li­sten – stets ist die Fra­ge, was ge­sagt wer­den kann, was ver­han­del­bar ist und was nicht; und man­che Ak­teu­re sie­deln di­rekt bei der Tat.

    Auch Ta­ten sind dann noch ir­gend­wie – oft klan­de­stin – dis­kur­siv ein­ge­bun­den, aber die Gren­ze ver­läuft spä­te­stens da, wo Ab­sich­ten straf­recht­lich re­le­vant wer­den.
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    Rück­blick auf die gro­ßen BRD-Grau­zo­nen
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    Die Grau­zo­nen zwi­schen Le­ga­li­tät und Il­le­ga­li­tät sind oft rie­sig. Ich ha­be mich ei­ne gan­ze Wei­le in zwei sol­chen Grau­zo­nen be­wegt: Der zwi­schen der Psych­ia­trie­re­form hie und der RAF da in Hei­del­berg – und der zwi­schen so­zia­li­sti­schen Ideen und er­wei­ter­ten Kon­zep­ten vom Volks­krieg (kein Ver­tip­pa) im Rhein-Neckar – Del­ta (MA – LU – HD).

    Um die Ge­schich­te gleich aus­klin­gen zu las­sen: am ver­blüf­fend­sten fand ich, mit wie­viel Lang­mut die bür­ger­li­che Ge­sell­schaft die­se Grau­zo­nen be­wirt­schaf­tet hat; und das Wun­der­sam­ste an die­sen Grau­zo­ne-Ge­schich­ten: Wie fried­lich, ja, wie kon­struk­tiv sie aus­ge­gan­gen sind, al­les in al­lem.
    Die nach­ma­li­ge Pa­ra­cel­sus-Her­aus­ge­be­rin, der nach­ma­li­ge Lehr­stuhl­in­ha­ber für öko­lo­gi­schen Wein­bau, der nach­ma­li­ge Au­to­schrau­ber und – aber ja doch: der Post­bo­te und der Schul­leh­rer oder der Be­ra­ter un­se­res gras­grü­nen Au­ßen­mi­ni­sters im Staats­se­kre­tärs­rang: Sie al­le wa­ren in MA-HD da­mals of­fen für den Volks­krieg – die ei­ne oder an­de­re ver­füg­te über Zu­gang zu Waf­fen­de­pots usw. – Sie ha­ben sich si­cher­lich be­reits un­ge­fähr ei­ne Vor­stel­lung ge­macht.
    Ja, und der Kampf ge­gen die eta­blier­te Psych­ia­trie be­inhal­te­te eben die In­dia­ner­kom­mu­ne mit­samt ih­rem Pä­do­sex als Gä­ste im be­setz­ten Haus. Und Knast­auf­ent­hal­te et­wel­cher Prot­ago­ni­sten, und Zu­sam­men­brü­che, dro­gen­in­du­zier­te Ab­stür­ze, den Tod, den Irr­weg in den be­waff­ne­ten Kampf via So­zia­li­sti­sches Pa­ti­en­ten­kol­lek­tiv.

    Pe­ter Schnei­der hat durch­aus et­was am Wickel, wenn er selbst­kri­tisch vom Wahn der 68er spricht.

    Mei­ne Über­zeu­gung hab­bich in den Sieb­zi­gern in ein paar Zei­len ge­quetscht, die im­mer noch stand­hal­ten: Po­li­tik ist nicht schön; und es hat kei­nen Sinn, das zu be­kla­gen.

    Ein­schub: Na­tür­lich hat das auch da­mit zu tun, dass Ch. En­zen­ber­gers Ver­such über den Schmutz et. al. da­für ge­sorgt hat­ten, den Sau­ber­keits­aspekt als Leit­li­nie in ho­hem Mas­se zu de­poten­zie­ren.

    Nun: Wenn ich mir an­schaue, wo­her wir kom­men, so kann ich Leu­ten, die heu­te ge­gen das Estab­lish­ment an­ren­nen, schwer­lich vor­wer­fen, dass sie nicht völ­lig zu­rech­nungs­fä­hig sind.
    Das fällt mir wahr­schein­lich um­so leich­ter, als ich
    – @ gre­gor keu­sch­nig @ die_kalte_sophie -
    mit dem Zu­stand des Ge­mein­we­sens ins­ge­samt recht zu­frie­den bin, und je­den­falls ähn­lich wie Mül­ler kei­ne vor­herr­schend post­de­mo­kra­ti­schen Zu­stän­de oder den voll­stän­di­gen Kon­troll­ver­lust aus­zu­ma­chen im­stan­de wä­re. Pars pro To­to (und schon wie­der En­zens­ber­ger): Kaum brennts ir­gend­wo, flitzt schon die schim­mern­de Wehr ums Eck.

    Den­noch sind ei­ni­ge Din­ge in den Blick­schat­ten der öf­fent­li­chen Auf­merk­sam­keit ge­ra­ten, die in der Tat wich­tig sind.
    Bei der Mi­gra­ti­ons­the­ma­tik sind zwei Din­ge nicht ok.
    a) Es gibt im­mer noch kein of­fi­zi­el­les Ein­wan­de­rungs­re­gle­ment.
    b) Die ag­gres­si­ve Sei­te des mas­sen­haf­ten Zu­zugs, wie wir ihn seit et­li­chen Jah­ren im­mer wie­der er­le­ben, wurde/wird ver­kannt.
    Dann noch die­se Pro­blem­fel­der fürs Pro­to­koll:
    3) Die Eu­ro-Ein­füh­rung hat das oh­ne­hin un­durch­sich­ti­ge in­ter­na­tio­na­le Fi­nanz­we­sen noch ein­mal ver­kom­pli­ziert.
    4) Die eu­ro­päi­sche Po­li­tik ins­ge­samt hat ein Maß an Kom­ple­xi­täts­stei­ge­rung und Ver­fah­rens­di­ver­si­tät mit sich ge­bracht, das un­ser Fas­sungs­ver­mö­gen (und das un­se­rer Re­prä­sen­tan­ten) schon arg stra­pa­ziert – cf. HM En­zens­ber­gers »Sanf­tes Mon­ster Brüs­sel« – und sei­ne 2011 im­mer­hin ab­ge­ge­be­ne Pro­gno­se, was die EU be­tref­fe, so ste­he ein Rück­bau an. Könn­te schnel­ler ge­hen, als ge­dacht: Mal se­hen, was der Ju­ni noch bringt...
    5) Der Kli­ma­wan­del
    6) Der Welt­han­del
    7) Der Osten (Russ­land, Ukrai­ne, Tür­kei, Sy­ri­en usw.)
    8) Der Sü­den (Ita­li­en, Spa­ni­en, Por­tu­gal?, Grie­chen­land, Afri­ka).

    Das ist ei­ne über­schau­ba­re Li­ste. Aber sie ent­hält Pro­ble­me, die wir bes­ser be­ar­bei­ten, be­vor sie uns ernst­haft aus dem Takt brin­gen.
    Ich mei­ne al­so, es sei wie­der so ähn­lich wie in den Sieb­zi­gern: Es ge­be ei­ne über­schau­ba­re Men­ge von ab­zu­ar­bei­ten­den The­men, da­zu ei­ne Öf­fent­lich­keit, die sich ih­rer nach und nach an­nimmt. Da­bei ent­ste­hen Tur­bu­len­zen, die al­les an­de­re als schön sind. Ich glau­be, das ist so­weit al­les nor­mal.

    Gau­land zum Bei­spiel: Ge­mes­sen an dem, was die BRD in den Sech­zi­gern und Sieb­zi­gern an Un­sinn zu ver­dau­en hat­te, scheint mir Gau­land kei­ne gro­ße Hür­de dar­zu­stel­len. Zu­mal ich der Über­zeu­gung bin, dass er ehr­lich ist, wenn er sagt: Er se­he sich als Mitt­ler ei­ner Stim­mung, die er in der Be­völ­ke­rung wahr­neh­me. Und die rich­tet sich ge­ra­de nicht ge­gen me­ri­to­kra­tisch ge­pol­te Pro­fi-Fuß­bal­ler, und ja: Bei sol­chen Leu­ten spielt die Haut­far­be kei­ne Rol­le. Auch da­mit liegt Gau­land al­ler Auf­re­gung zum Trotz rich­tig. Und er hat et­was für sich, das vie­le Lehn­ses­sel­theo­re­ti­ker eben nicht für sich re­kla­mie­ren kön­nen. Ich drücke das mal mit ei­ner klei­nen Ver­nei­gung in Rich­tung Mi­cha­el Rutsch­ky aus: Gau­land hat trotz fort­ge­schrit­te­nem Al­ter sei­nem of­fen­bar er­heb­li­chen »Er­fah­rungs­hun­ger« nach­ge­ge­ben und mischt nun tat­säch­lich mit.

    Theo­re­tisch wird man die mit Gau­land zu­sam­men­hän­gen­de Pro­ble­ma­tik nicht hin­rei­chend er­grün­den kön­nen. Da­her schrieb ja Goe­the den Faust, oder Tho­mas Mann den Dr. Faustus usw.

    Was aber ge­macht wer­den soll­te, ist, die in Re­de ste­hen­den Pro­ble­me prak­tisch an­zu­packen.

    Vor­ar­beit ge­lei­stet ha­ben die Ju­ri­stin Kir­sten Hei­sig und der weit­hin un­ter­schätz­te Heinz Busch­kow­sky, Thi­lo Sar­ra­zin (ich stim­me der kalten_ so­phie zu, dass sein letz­ter FAZ-on­line-Ar­ti­kel von die­ser Wo­che sehr gut ist), Faw­zia Zoua­ri, Ah­mad Man­sour, Ste­ve Col­lier, Ron Unz (ins­be­son­de­re sei­ne ein­schlä­gi­gen Stu­di­en über und die nach­fol­gen­de er­folg­rei­che po­li­ti­sche In­ter­ven­ti­on pro: Eng­lisch als Erst­spra­che für die His­pa­nics in Ka­li­for­ni­en – und die enorm se­gens­rei­chen Fol­gen die­ser bil­dungs­po­li­ti­schen Re­vol­te), Bassam Ti­bi, Ne­cla Kelek, Sey­ran Ates – und vie­le mehr – in den letz­ten Ta­gen ha­ben mich der Da­lai La­ma und Ro­bert Spae­mann po­si­tiv über­rascht. Ich soll­te wohl auch den FAZ-Blog­ger Don Al­phon­so nen­nen. Und Ca­mel Doud; und den Per­len­tau­cher. Und das Be­gleit­schrei­ben-Blog, war­um nicht.

    Ich wür­de al­so so sa­gen: Dass bis­her ver­nach­läs­sig­te The­men (s. o. 1 – 8) nun öf­fent­lich be­harkt wer­den, ist gut. Dass sie oft in schrä­ger Wei­se be­harkt wer­den, ist we­der ver­wun­der­lich noch per se be­sorg­nis­er­re­gend.
    Tho­mas Ass­heu­er hat in der ZEIT glau­bich vor­letz­te Wo­che ei­nen Ar­ti­kel über den Po­pu­lis­mus ge­schrie­ben, der über­wie­gend aus Mut­ma­ssun­gen be­steht. Al­so was da Schreck­li­ches kom­men kön­ne / wer­de. Das kann man, aber ich ma­che das nicht mit, so­lan­ge das Haupt­pro­blem vom Typ Gau­land oder von mir aus auch noch vom Typ Höcke ist: Ein we­nig ver­wackelt re­fe­rier­te So­zio­bio­lo­gie. So what. Und dass Höcke den tau­send­jäh­ri­gen deut­schen Dom in der Stadt Hal­le oder wo schätzt – das ist doch wun­der­bar.
    Po­si­tiv ge­wen­det: Hin­wei­se auf die Be­völ­ke­rungs­dy­na­mik in Schwarz-Afri­ka (= im »sub­sa­ha­ri­schen« Afri­ka...) und die dar­aus sich er­ge­ben­den Pro­ble­me sind er­laubt und müs­sen auf der sach­li­chen Ebe­ne be­ar­beit­bar sein. Der ka­tho­li­schen Kir­che soll­te man in die­sem Punkt ei­ne kom­plet­te Kehrt­wen­de ih­rer Ver­kün­di­gung ab­ver­lan­gen: Seid ver­nünf­tig u n d – meh­ret euch n i c h t .
    Was nicht geht, ist ein wei­ßer Ras­sis­mus der Art, wir sei­en die wür­di­ge­ren Men­schen. Die­sen Punkt hat Höcke aber wie­der­holt an­er­kannt. Wie ernst er das meint, muss eben jetzt kon­trol­liert wer­den, so­weit das geht, und so streng das geht.

    Was eben­falls geht, ist zu fra­gen, wel­che Men­schen man hier ha­ben will: Was die kön­nen sol­len und wie die ein­ge­stellt sein sol­len. Ent­spre­chen­de For­schungs­ar­bei­ten wie die von Hei­ner Rin­der­mann und Det­lev Rost zu igno­rie­ren oder gar zu skan­da­li­sie­ren ist ein Lu­xus, den wir uns auf kei­nen Fall lei­sten soll­ten.
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    Man wird un­ter­schei­den müs­sen zwi­schen Not­hil­fe und der Ge­wäh­rung des Auf­ent­halts­rech­tes auf un­be­stimm­te Zeit.
    Die Po­li­tik ist ge­fragt, das Pro­blem der Rück­füh­rung an­zu­packen und die Öf­fent­lich­keit ist ge­fragt, mit der Po­li­tik ei­nen Plan aus­zu­han­deln, was bis wann ge­schafft wer­den soll. Bo­do Hom­bach hat da­zu ei­nen gu­ten Ar­ti­kel auf sei­ner Web­sei­te (. http://www.bodo-hombach.de/2016/02/27/die-fluechtlingskrise-ein-hausgemachtes-missverstaendnis/). Der­zeit spricht man da­von, ca. sech­zig Pro­zent de­rer, die letz­tes Jahr ein­ge­reist sind, sei­en nicht asyl­be­rech­tigt: Die­se sech­zig Pro­zent soll­te ei­ne wa­che Öf­fent­lich­keit in den Blick neh­men und the­ma­ti­sie­ren. Zu­al­ler­erst wg. Fa­mi­li­en­nach­zug: Der soll­te aus­ge­setzt wer­den, bis die Si­tua­ti­on ad­mi­ni­stra­tiv we­nig­stens an­nä­hernd un­ter Kon­trol­le ist. Wenn das ein hal­bes Jahr dau­ern soll­te, wä­re das nicht schön, müss­te aber den­noch sein (NRA = No Re­a­sonable Al­ter­na­ti­ve).
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    Schäub­le lass’ ich weg.
    *
    Oh – Ta­ge wie ge­stern: man liest ja ei­ni­ges zu­sam­men und denkt und fühlt: Die größ­te Wir­kung hat­te ge­stern auf mich ein klei­ner Text in der Pa­pier-FAZ in der Ru­brik Le­ser­brie­fe; ein Brief ei­nes Va­ters, des­sen Kin­der auf dem Schul­weg er­presst und in ab­sto­ßen­der Wei­se be­droht wur­den; des­sen Haus nun von ei­nem pri­va­ten Wach­dienst rund um die Uhr be­schützt wird, weil die ju­gend­li­chen Tä­ter mit Mi­gra­ti­ons­hin­ter­grund di­rekt nach der er­ken­nungs­dienst­li­chen Be­hand­lung von der Po­li­zei wie­der auf frei­en Fuß ge­setzt wur­den und nun wei­ter, ger­ne nachts, Dro­hun­gen ab­son­dernd, um das Haus strei­fen; ein Haus, das, wie der Brief in der FAZ schließt, nun zum Ver­kauf steht, auch weil die Po­li­zei er­klärt hat, sie kön­ne lei­der nichts tun, so­lan­ge kei­ne gra­vie­ren­de­ren Din­ge ge­sche­hen.
    Ich möch­te da­zu noch ei­ne An­mer­kung ma­chen: Ich glau­be in der Tat, dass die Fa­mi­lie, die ihr Haus in Bad Go­des­berg zum Ver­kauf aus­ge­schrie­ben hat, sich in ei­ner – re­la­tiv – pri­vi­le­gier­ten La­ge be­fin­det: Weil sie eben aus ih­rer bis an­hin gut­bür­ger­li­chen Wohn­ge­gend weg kann.
    Be­trach­tet man vor dem Hin­ter­grund sol­cher pri­vi­le­gier­ten Ein­zel­nen die Ge­sell­schaft als Gan­zes, so ist klar, dass es so wie im Le­ser­brief ge­schil­dert nicht wei­ter­ge­hen darf. Man den­ke an die Mil­lio­nen, die eben nicht um­zie­hen könn­ten in so ei­ner Si­tua­ti­on.
    Und die­ses Fa­zit mag noch so po­pu­li­stisch an­mu­ten: Ich kann – als Staats­bür­ger und De­mo­krat und – ja, auch das noch: als Christ, nicht an­ders. Ich stim­me dem stein­al­ten ehe­ma­li­gen Papst-Be­ra­ter und Phi­lo­so­phen Ro­bert Spae­mann zu, der un­längst so sprach: Es heißt nicht lie­be al­le wie Dich selbst. Nein, da steht, lie­be Dei­nen Näch­sten wie Dich selbst, – und es sind nun ein­mal nicht al­le un­ser Näch­ster.
    Wenn man ein we­nig über das Wort Näch­ster nach­denkt, be­greift man kaum noch, wie die Kanz­le­rin den fal­schen Ge­dan­ken je hat fas­sen kön­nen, es sei­en auch al­le wan­de­rungs­wi­li­gen Ar­men die­ser Welt als Näch­ste zu be­trach­ten. Ein fal­scher Ge­dan­ke, den sie aber tat­säch­lich, zum Er­schrecken Spae­manns, äu­ßer­te.
    Ei­ne der ein­dring­lich­sten War­nun­gen Ador­nos be­stand dar­in, die Sä­ku­la­ri­sie­rung nicht auf die leich­te Schul­ter zu neh­men. Die Span­nung zwi­schen dem gren­zen­lo­sen Uni­ver­sa­lis­mus der Men­schen­rech­te und den lo­ka­len und da­mit end­li­chen Res­sour­cen un­se­rer Le­bens­welt ver­langt nach Gren­zen des Zu­zugs und zü­gi­gem, mas­sen­haf­ten Ab­zug der nicht An­spruchs­be­rech­tig­ten. Sonst rea­li­sie­ren wir nicht den Uni­ver­sa­lis­mus der Men­schen­rech­te, son­dern fal­len al­le­samt dem Uni­ver­sal-Dil­let­tan­tis­mus an­heim: Ei­ner of­fen­kun­dig feh­ler­haf­ten Fort­füh­rung un­se­rer be­sten Tra­di­tio­nen und ei­nem Prag­ma­tis­mus, des­sen deut­lich­stes Merk­mal dar­in be­steht, dass er nicht funk­tio­niert.

  24. Noch ein paar Be­mer­kun­gen (so­weit mög­lich ge­ord­net):

    • Ei­ne Al­ter­na­ti­ve wä­re den Be­griff »Po­pu­lis­mus« ein­mal fal­len zu las­sen und zu ana­ly­sie­ren wel­ches Vor­ge­hen und wel­ches po­li­ti­sche Ver­ständ­nis be­stimm­te Par­tei­en (Aus­wahl?) und Po­li­ti­ker (Ver­hal­ten in den Me­di­en) kenn­zeich­net (ab­ge­se­hen da­von, dass der Be­griff schwam­mig und wer­tend ist, er ist ei­ne Art Kampf­be­griff der po­li­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zung und mit­un­ter Teil des Phä­no­mens, das er selbst be­schreibt).
    • Ich glau­be, wir ha­ben, um Jo­seph Bran­cos Wor­te noch ein­mal auf­zu­grei­fen, ei­nen Kon­sens was die an­ti­plu­ra­li­sti­schen und an­tie­li­tä­ren Cha­rak­te­ri­sti­ka des Po­pu­lis­mus­be­griffs be­trifft und eben­falls ei­nen (mög­li­cher) Fol­gen im Fall ei­ner Al­lein­re­gie­rung oder ei­ner Ko­ali­ti­on mit gleich­ge­sinn­ten Par­tei­en: Es wird rasch au­to­kra­tisch bzw. dik­ta­to­risch (fa­schi­stisch ist mir in­halt­lich zu spe­zi­fisch, um es ver­wen­den zu wol­len). Dis­sens gibt es hin­sicht­lich der Fra­ge nach dem ei­nen, und nur ei­nen, Volks­wil­len: Ich se­he in der Aus­sa­ge, dass al­le FPÖ-Wäh­ler Na­zis sind eben­so ei­ne an­ti­plu­ra­li­sti­sche Ten­denz, nicht an­ders als in der Aus­sa­ge, dass das Volk die­se kor­rup­te, ver­lo­ge­ne Re­gie­rung nicht mehr will. Die Ni­vel­lie­rung der Dif­fe­ren­zen ist in­ner­halb der Grund­ge­samt­heit je­weils die­sel­be, der Un­ter­schied ist le­dig­lich, dass jen­seits der Grund­ge­samt­heit im er­sten Fall ein­deu­tig ei­ne Mehr­heit oder zu­min­dest ei­ne deut­li­che Grup­pe ne­ben den An­ge­spro­che­nen be­stehen bleibt, aber bei­de Aus­sa­gen tei­len in gut und bö­se, sie ver­tei­len mo­ra­li­sche An­sprü­che und Ka­te­go­rien und ge­ben Hand­lungs­an­wei­sun­gen (nur et­was, das man als Eli­te be­zeich­nen kann, fin­det sich nicht in bei­den Bei­spie­len; aber: War­um soll Po­pu­lis­mus nicht auch eli­ten­be­wah­rend sein kön­nen?). Da­ne­ben bleibt dann das von Gre­gor schon an­ge­spro­che­ne Pro­blem der Fra­ge nach dem Ver­tre­tungs­an­spruch: In ei­ner De­mo­kra­tie müs­sen Po­li­ti­ker Mehr­hei­ten (und da­mit Macht) or­ga­ni­sie­ren, d.h. sie (oder eben Par­tei­en) müs­sen ge­wählt wer­den. Wer ge­wählt wird, al­so ei­ne (ge­wis­se) Mehr­heit or­ga­ni­sie­ren kann, darf re­prä­sen­tie­ren (ver­tre­ten). Be­stimm­te Spiel­re­geln müs­sen ein­ge­hal­ten wer­den. Wenn denn für die Zu­schrei­bung des An­ti­plu­ra­lis­mus‘ die Re­kla­ma­ti­on ei­nes hun­dert­pro­zen­ti­gen Volks­wil­lens not­wen­dig ist, al­so die In­einsset­zung ei­ner be­stimm­ten Mei­nung mit der Ge­samt­heit des Volks, müss­te man das ei­gent­lich to­ta­li­tär nen­nen. Das tut Mül­ler dann auch nicht. Ich möch­te Jo­seph Bran­ko zu­stim­men: Mül­ler ver­hed­dert sich da (War­um ist die »ab­so­lu­te« Grö­ße der Grund­ge­samt­heit für das Vor­lie­gen von An­ti­plu­ra­lis­mus ent­schei­dend? Wor­an dann ei­gent­lich auch die De­fi­ni­ti­on der Eli­te hängt!). Viel­leicht muss man auch auf das Wort An­ti­plu­ra­lis­mus ver­zich­ten, es ist ja un­ge­fähr so scharf wie der Po­pu­lis­mus­be­griff selbst (Ab wann ist et­was an­ti­plu­ra­li­stisch und wie quan­ti­fi­ziert man das auch nur halb­wegs? Und: Das ge­setz­li­che Ver­bot, mit ei­nem Mo­ped nicht auf der Au­to­bahn fah­ren zu dür­fen, kann man auch an­ti­plu­ra­li­stisch nen­nen). Zu­dem ver­hin­dert die Fo­kus­sie­rung auf den Volks­wil­len, die Ana­ly­se des­sen, was ich oben op­por­tu­ni­sti­schen Po­pu­lis­mus ge­nannt ha­be. –- Phä­no­me­ne wie Ras­sis­mus und An­ti­se­mi­tis­mus las­sen prin­zi­pi­ell auch oh­ne den Re­gress auf ei­nen ein­heit­li­chen Volks­wil­len er­klä­ren, ein An­ti be­nö­tigt nur die Kon­struk­ti­on ei­ner Grup­pe, die man den an­de­ren ge­gen­über­stellt, das kann man auf ver­schie­de­ne We­ge, s.o., er­rei­chen.
    • Ei­ne Kri­se des Sy­stems re­prä­sen­ta­ti­ver De­mo­kra­tie lässt sich wie folgt be­schrei­ben (et­was ver­ein­facht): Tun die ge­wähl­ten Ver­tre­ter nicht das, wo­für sie ge­wählt wur­den (ent­täu­schen sie, usw.), dann wer­den bei der näch­sten Wahl an­de­re Ver­tre­ter ge­wählt oder zu­min­dest die Ge­wich­tun­gen ver­scho­ben; wie­der­holt sich die­ser Vor­gang ei­ni­ge Ma­le oh­ne dass nen­nens­wer­te Än­de­run­gen ein­tre­ten – wie auch im­mer man die de­fi­niert – ob­wohl viel­leicht so­gar ver­schie­de­ne Par­tei­en an der Macht wa­ren, dann ge­rät das re­prä­sen­ta­ti­ve Sy­stem in ei­ne Kri­se: Zu­ge­spitzt for­mu­liert des­halb, weil we­der der Wech­sel von Per­so­nal noch von Par­tei­en ei­ne Än­de­rung im Sin­ne ei­nes be­deu­ten­den Teils der Wäh­ler her­bei­ge­führt hat. Jetzt sind die Po­pu­li­sten am Zug: Sie tre­ten für ge­nau die­sen Wech­sel ein und sie ak­zen­tu­ie­ren ihn, sie setz­ten sich vom eta­blier­ten Sy­stem ab und grei­fen es ganz ge­zielt an; sie sind der Ta­bu­bruch selbst, das an­de­re, das ei­gent­lich al­le wol­len und her­bei­seh­nen. Wer das wan­ken­de, an­ge­grif­fe­ne Sy­stem nun apo­dik­tisch ver­tei­digt, wie das über­all ge­schieht, macht die Sa­che nur noch schlim­mer; ein Zy­ni­ker wür­de sa­gen: Macht wie­der Po­li­tik!
    • Zum Cha­ris­ma: Wenn man Jörg Hai­der mit Heinz-Chri­sti­an Stra­che ver­gleicht, ver­blasst m.E. der zwei­te­re. Hai­der hat­te si­cher­lich ei­ne Men­ge po­li­ti­sches Ta­lent, war der bes­se­re Rhe­to­ri­ker, der in­tel­lek­tu­el­le­re und der cha­ris­ma­ti­sche­re. Stra­ches Er­fol­ge kann ich mir nicht oh­ne die gro­ße Mit­hil­fe der öster­rei­chi­schen Lan­des- und Bun­des­re­gie­run­gen er­klä­ren (ich emp­fin­de Stra­che nicht als cha­ris­ma­tisch).
    • Mein Zwi­schen­fa­zit: Po­pu­lis­mus ist ei­ne anit­plu­ra­li­sti­sche (und an­tie­li­tä­re) Me­tho­de der schein­de­mo­kra­ti­schen Macht­er­grei­fung oder ‑er­hal­tung.
  25. Zu @Kalte_Sophie: Die The­se von der Schwer­ver­träg­lich­keit von Mas­sen­me­dia­li­tät u. Re­prä­sen­ta­ti­ver De­mo­kra­tie ist von mir. Sie er­gibt sich für mich aus mei­nem zen­tra­len Ein­wand ge­gen Mül­ler: Dass er das me­dia­le Feld, in dem der po­li­ti­sche Dis­kurs mit­or­ga­ni­siert und ge­führt wird, zu we­nig mit­denkt. Ich den­ke näm­lich nicht, dass das ein­fach ein Me­di­um ist, durch das Bot­schaf­ten durch­ge­hen, son­dern das sei­ne For­ma­tie­run­gen schon sehr stark be­stim­men, was die Bot­schaft sein kann. Der Im­per­stiv des En­ter­tain­ments wä­re hier an er­ster Stel­le zu nen­nen, aber auch die gro­ße so­zia­le Ho­mo­ge­ni­tät der Prot­ago­ni­sten, die zum Bei­spiel nicht-pas­sen­de Prot­ago­ni­sten fast nur als exo­ti­sches Vieh zur Schau stel­len kön­nen: von der Putz­frau über den Sa­la­fi­sten bis hin zum Ira­ker, der es ver­rück­ter­wei­se bis zum Prof ge­schafft hat. Usw.

    Dass jetzt, 30 Jah­re nach dem En­de des So­zia­li­sti­schen Blocks, auch in der Ehe von Ka­pi­ta­lis­mus u. Li­be­ra­ler, re­prä­sen­ta­ti­ver De­mo­kra­tie u. Dem da­zu­ge­hö­ri­gen Staats­ver­ständ­nis et­was zu En­de geht, glau­be ich auch.

  26. @ Die­ter Kief
    Ich fin­de ih­ren »Ka­ta­rakt« wirk­lich gut, wür­de ich fast ge­son­dert edi­tie­ren. Be­son­ders: Po­li­tik ist nicht schön; und es hat kei­nen Sinn, das zu be­kla­gen. Ich mei­ne eben­falls die ver­brei­te­te Nei­gung zu er­ken­nen, schad­haf­te Wirk­lich­keit mit Schön­heits-Vor­stel­lun­gen zu be­kämp­fen.
    @ me­te
    Ich kann mit ih­rem wei­chem Re­prä­sen­ta­ti­ons-Be­griff durch­aus et­was an­fan­gen. Es ist ein Ver­trau­ens­ver­hält­nis, dass Po­li­ti­ker nach Zie­len und In­ter­es­sen han­deln, die man selbst schätzt. Aber be­rech­tigt uns das schon, von ei­ner »re­prä­sen­ta­ti­ven De­mo­kra­tie« zu spre­chen. Of­fen­bar ist das nur ein de­skrip­ti­ver Be­griff, der jeg­li­che Par­ti­ku­la­ri­tät igno­riert und ge­wis­ser­ma­ßen nur die »Staats­idee« zu­sam­men­fasst.
    Die Ur­sa­che für die Ent­ste­hung des Po­pu­lis­mus dürf­te we­ni­ger ab­strakt sein. Sie schau­en da­her nach den Pro­gram­men, den struk­tu­rel­len Kom­pro­mis­sen (Frak­ti­ons­zwang) und den tech­no­kra­ti­schen Not­wen­dig­kei­ten, ge­gen die kei­ne Ideo­lo­gie der Welt an­kom­men wür­de.
    Ih­re Er­klä­rung: Ent­täu­schung, Frust bei den Wäh­lern... Das kann ei­gent­lich nicht sein, da der Po­pu­lis­mus sehr gut »un­ter­halb der Ebe­ne der Pro­gram­me und Zie­le« funk­tio­niert. Da­her wür­de ich die Wer­tig­kei­ten ins­ge­samt nicht mit »anti«-Vokabeln, son­dern mit Ver­gleichs­wor­ten wie »wild«, un­ge­schlacht’, pri­mi­tiv, etc. be­schrei­ben. Ori­en­tie­ren Sie sich nicht ein­sei­tig an den flot­ten (fe­schen) Funk­tio­nä­ren?! Was ist mit dem Kli­en­tel, und den zi­vi­li­sa­ti­ons­be­dingt ver­dräng­ten For­de­run­gen der ein­fa­chen Leu­te, nach ein­fa­cher Spra­che, nach pri­mi­ti­ver Re­ak­ti­on, nach ein­deu­ti­gen Vor­tei­len?!
    Le­se ich @Dieter Kief noch ein­mal, so be­schreibt er doch aus­führ­lich, wie schwer die De­mo­kra­tie und das po­li­ti­sche Han­deln ge­wor­den ist... Dar­aus schlie­ße ich mal et­was kühn: könn­te es nicht sein, dass der »pri­mi­ti­ve Wil­le zur Po­li­tik« die Her­aus­for­de­run­gen sei­ner Zeit nur des­halb igno­riert, weil es wich­ti­ger ist, Po­li­tik zu trei­ben, als ge­nau zu wis­sen, was man tut?!
    Hat die De­mo­kra­tie viel­leicht mehr als nur ein Pro­blem mit der Dumm­heit?!
    [Als Nietz­schea­ner will ich na­tür­lich auf das vi­ta­le In­ter­es­se an der Macht hin­aus, den Selbst­zweck, der auch re­prä­sen­ta­tiv er­füllt wer­den kann...]

  27. Fü­ge noch hin­zu, auch ge­gen Mül­ler: der Po­pu­lis­mus hat von An­fang an, al­so in Un­garn, Po­len, Frank­reich, Öster­reich und Deutsch­land (von mehr weiß ich nicht) ein Pro­blem mit den Me­di­en. Es kann doch nicht sein, dass in der Theo­rie nichts da­von auf­taucht. Das muss doch er­klärt wer­den.

  28. @die_kalte_Sophie Nr. 26
    dan­ke!

    @ d_k_S nr. 27: Mar­tin Wal­ser hat mal ge­sagt, so­lan­ge er re­gel­mä­ssig ins Ca­si­no ging, hat er ge­gen die Spiel­bank ge­spielt. Das ist die Kurz­fas­sung.

    Et­was län­ger, wür­de ich so sa­gen.
    Die Me­di­en sind Teil des Sy­stems – und der gro­ße Feld­zug geht na­tur­ge­mäß ge­gen das Sy­stem. Die Mu­ster sind ur­alt. Da Sie in Nr. 26 Nietz­sche er­wäh­nen, bräuch­te man ei­gent­lich fast nicht mehr wei­ter­re­den. Viel Feind, viel Ehr! Us and them. Die aus­ge­beu­te­ten Mas­sen ge­gen das Schwei­ne­sy­stem usw.
    Noch­mal, aber wie­der kurz: Die Apo­ka­lyp­ti­ker (Um­ber­to Ec­co) sind ag­gres­siv (cf. de Sa­de, Dar­win, Freud, – – Nietz­sche). (Full cir­cle).

  29. @die_kalte_Sophie
    Wenn es frü­her in Afri­ka ei­nen Putsch gab, war es (1) im­mer das Mi­li­tär und (2) wur­de im­mer so­fort ge­mel­det, dass man das Funk­haus Staats­sen­ders be­setzt und un­ter Kon­trol­le hat­te. In Süd­ame­ri­ka war das schwie­ri­ger, weil es dort Pri­vat­ra­dio­sen­der gab. Po­pu­li­sten ha­ben na­tür­lich nur da­hin­ge­hend ein »Pro­blem« mit den Me­di­en, weil sie sie gleich­schal­ten wol­len. Es sind die Me­di­en, die sie auf Li­nie brin­gen wol­len, die sie vor­her für ih­re Phra­sen brauch­ten, aber eben auch noch Wi­der­sprü­che hin­zu­neh­men hat­ten. Ber­lus­co­ni hat­te et­li­che Pri­vat­sen­der, aber eben nicht die halb­staat­li­che »RAI«; Po­lens star­ker Mann möch­te den öf­fent­lich-recht­li­chen Rund­funk nun in sei­ne Rich­tung um­bie­gen. Aber den­noch: Oh­ne die Me­di­en wä­re Po­pu­li­sten nicht dort, wo sie sind. Um ih­ren Sta­tus (= Wäh­ler­stim­men) zu er­hal­ten, müs­sen sie nun die Me­di­en ver­su­chen, zu be­herr­schen.

    Da­her sind, und da möch­te ich @metepsilonema wi­der­spre­chen, Po­pu­li­sten per se an­ti­plu­ra­li­stisch – und zwar um­so stär­ker, als ihr Po­pu­lis­mus ei­ne po­li­ti­sche Agen­da ver­folgt.

    Über Re­prä­sen­ta­ti­on in De­mo­kra­tien hat­ten wir vor ein paar Jah­ren hier dis­ku­tiert. Mei­ne The­se geht da­hin, dass auf Auf­kom­men der Po­pu­li­sten nicht nur aus der Kri­sen­form der Re­prä­sen­ta­ti­on kommt. Po­pu­li­sten be­set­zen ein­fach Po­li­tik­fel­der, die kon­tro­vers zu den Kon­sen­sen in an­de­ren Par­tei­en sind. Es gibt in die­sem Sin­ne ei­ne um­fas­sen­de, gro­ße Ko­ali­ti­on über wei­te Tei­le der po­li­ti­schen »Eli­ten«. Die­ser Kon­sens dürf­te rd. 70% der The­men aus­ma­chen – da­her muß man auf PKW-Maut und son­sti­gen Blöd­sinn aus­wei­chen, um über­haupt Un­ter­schie­de zu fin­den. Po­pu­li­sten neh­men sich nun mit Ver­bal­ra­di­ka­lis­mus die­se still­schwei­gen­den Kon­sen­se an.

    @Dieter Kief
    Vie­lem stim­me ich zu; an­de­rem nicht. Zum Bei­spiel die funk­tio­nie­ren­den In­si­tu­tio­nen. For­mal ha­ben Sie da Recht. Aber wird denn über­haupt noch Po­li­tik ge­macht, wird al­so agiert oder wird sie nur noch re­agiert und ver­wal­tet? Wa­ren nicht die Flücht­lings­strö­me 2015 schon Mo­na­te im vor­aus ab­zu­se­hen? Was hat man ge­macht? Die Dau­men ge­drückt, dass die Vor­her­sa­gen nicht ein­tref­fen? Oder er­in­nern Sie sich an die Grie­chen­land-Kri­se. Wer hat das Pro­blem of­fen­siv nach vor­ne ge­bracht – als der Staats­bank­rott droh­te? Es war der da­ma­li­ge grie­chi­sche Mi­ni­ster­prä­si­dent, der na­tür­lich so­fort Hil­fen be­kam (die in die­ser Form gar nicht im Ver­trags­werk vor­ge­se­hen wa­ren). Hät­te es funk­tio­nie­ren­de In­sti­tu­tio­nen (auf EU-ebe­ne oder eben im Fi­nanz­mi­ni­ste­ri­um in D) ge­ge­ben, wä­re das eher ent­deckt wor­den. Aber man woll­te es viel­leicht nicht ent­decken. Oder, in­nen­po­li­tisch: Wie kann man funk­tio­nie­ren­de In­sti­tu­tio­nen se­hen, wenn es Ge­heim­dien­ste in Deutsch­land gibt, die in die NSU-Mor­de ir­gend­wie ver­strickt sind? Das ist Her­um­stüm­pern, oder, hüb­scher for­mu­liert: »Fah­ren auf Sicht«. Je­der Au­to­fah­rer, der so »fah­ren« wür­de, wür­de so­fort au dem Ver­kehr ge­zo­gen.

    Ein an­de­res Bei­spiel ist TTIP. Zu­nächst wä­re ich ja durch­aus für ein Han­dels­ab­kom­men zwi­schen EU und USA. Pri­ma, soll kom­men. Aber war­um wird da­mit der­art um­ge­gan­gen? Man hat ja in­zwi­schen den Ein­druck, dass die Atom­bom­ben­codes der USA und die Ein­sicht in die TTIP-Do­ku­men­te ähn­li­chen Ge­heim­hal­tungs­sta­tus ha­ben.

    Po­pu­li­sten re­üs­sie­ren im­mer dann, wenn es brei­te, über­par­tei­li­che Kon­sen­se über wich­ti­ge Po­li­tik­fel­der so­wohl zwi­schen Re­gie­rung und Op­po­si­ti­on gibt, die war­um auch im­mer kei­ne Ent­spre­chung in der öf­fent­li­chen Mei­nungs­bil­dung (mehr) fin­den. (Am Bei­spiel Griechenland/Syriza zeigt sich et­was sehr in­ter­es­san­tes: An­ge­fan­gen, um der EU das Fürch­ten zu leh­ren und al­le Ver­trä­ge neu zu ver­han­deln, ent­wickel­te sich die Re­gie­rung Tsi­pras bin­nen we­ni­ger Mo­na­te zum hand­zah­men Schoss­hünd­chen. Der Po­pu­list hat­te al­so, wenn man sei­ne Aus­sa­gen mit sei­ner Po­li­tik maß, ver­sagt. Dar­auf­hin mach­te er den Schrö­der, ließ Neu­wah­len aus­ru­fen – und ge­wann!)

    Zu den Mas­sen­me­di­en viel­leicht spä­ter.

  30. @ Gre­gor Keu­sch­nig 29

    Ein we­nig all­ge­mein, ich gebs zu: Dass in der deut­schen Po­li­tik Din­ge schlecht lau­fen heißt nicht, dass al­les schlecht läuft, oder dass es im gro­ßen und gan­zen schlecht läuft.

    Ich ha­be die letz­ten Wo­chen ein we­nig ex­pe­ri­men­tiert, und mit ame­ri­ka­ni­schen Nerds (über­wie­gend IT-ler und Nat­wiss­ler) dis­ku­tiert. Was so­fort ins Au­ge springt: Sie ha­ben kei­nen Sinn für die Ab­grün­dig­keit un­se­res Da­seins und die Be­schränkt­heit un­se­re Er­kennt­nis­fä­hig­keit. Schließ­lich kön­nen wir auf den Mond flie­gen: Und da soll (jetzt fül­len Sie ir­gend­was ein: das Mi­gra­ti­ons­pro­blem, die End­la­ge­rung von Atom­müll, die ge­rech­te Ent­loh­nung: Ernst­haft ein Pro­blem sein?!). – Das ist zu­dem scheints ein gu­ter Bo­den für Verws­chö­rungs­theo­re­ti­ker.
    Ich plä­die­re st­tt­des­sen da­für, vor­sich­tig zu ur­tei­len und – jetzt wer­den sie wahr­schein­lich teil­wei­se lä­cheln (1) und mir et­vl. teil­wei­se (2) nicht mehr fol­gen wol­len: Wir ha­ben es ganz gut, weil wir gut ge­rü­stet sind, vor­sich­tig zu ur­tei­len.
    1) Was ar­bei­ten wir uns im­mer noch an Goe­the ab, und wel­ches Glück ist es, dass wir das kön­nen (cf. Pe­ter Hand­ke, Vor der Baum­schat­ten­wand nachts – Zei­chen und An­flü­ge von der Pe­ri­phe­rie 2007 – 2015).
    Ver­ste­hen soll­te man aber, dass Faust kei­ne Kas­per­le­fi­gur ist, son­dern in uns al­len sitzt und her­um­fuhr­werkt, so­bald wir über den al­ler­pri­va­te­sten Kreis hin­aus­schau­en und dann mit­re­den.
    2) Das Ge­werk aus Sy­stem und Le­bens­welt ei­ner­seits und Sy­stem und Sub­sy­ste­men an­de­rer­seits ist b a s a l.
    Sie ah­nen viel­leicht schon, was jetzt kommt, jetzt kommt die Kurz­fas­sung von 2) in Form ei­ner – En­zens­ber­ger-Pa­ra­phra­se: Al­le wa­ren wir der An­sicht, dass es weg muss, aber kei­ner wuß­te, was das über­haupt ist, das Sy­stem. Nie­mand von uns konn­te Grie­chisch.
    Das be­rührt na­tür­lich auch ein we­nig un­ser The­ma hier: Den Po­pu­lis­mus – ich ha­be oben dar­auf hin­ge­wie­sen.
    Am En­de ist es ei­ne Fra­ge der in­tel­lek­tu­el­len Dis­zi­plin – und der Red­lich­keit – in sum­ma: Der Af­fekt­kon­trol­le und der An­er­kennt­nis der ei­ge­nen Gren­zen im Hand­ge­men­ge des Dis­kur­ses.
    Nun ha­ben Sie das auch schon ge­merkt: Ich lie­be die es­say­isti­sche Tech­nik, durch Pro­blem­fel­der und Tra­di­ti­ons­be­stän­de quer durch­zu­lau­fen. Das ist die Schnell­post und das macht ja schon auch Spaß.
    Aber der­lei ist nur sinn­voll, wenn man hin­rei­chend ge­schmacks­si­cher ist, um sich je­der­zeit ein­zu­brem­sen, be­vor man Din­ge be­haup­tet, die nicht stand­hal­ten, oder in­dem man die eta­blier­ten Stan­dards re­spek­tiert – und sich emt auch manchml ei­ner hef­ti­gen Kri­tik stellt usw.
    Den­ken Sie von mir was Sie wol­len: aber in ein paar Hin­sich­ten bin ich ziem­lich hart­näckig: Luh­mann hat wei­ten­teils recht, und Ha­ber­mas hat wei­ten­teils recht. Man soll al­so un­ge­fähr je­den­falls die Ei­gen­lo­gik des je­weils in Re­de ste­hen­den Sub­sy­stems ver­ste­hen, be­vor man sich da­zu äu­ßert, schon gar be­vor man über In­ter­de­pen­den­zen von Sub­sy­ste­men und schließ­lich das Sy­stem sel­ber und end­lich das Hin- und Her von Sy­stem und Le­bens­welt spricht.
    Ei­nes Ih­rer Bei­spie­le: Grie­chen­land. Grie­chen­land ist ge­gen­über Deutsch­land oder Dä­ne­mark oder der Schweiz in Be­zug auf die Staats­ver­wal­tung z. B. rück­stän­dig. Das ist ein rie­si­ger Brocken. Ich bin kein Spe­zia­list, aber ich fol­ge den Spe­zia­li­sten (Rich­ter! : http://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/schuldenkrise-in-griechenland-chronik-des-desasters-13686169.html) – ich fol­ge al­so Rich­ter z. B. ger­ne, wenn er die­sen Punkt be­leuch­tet.
    Ich in­ter­es­sie­re mich auch da­für, wie die Grie­chen auf Hin­wei­se in die­ser Rich­tung re­agie­ren (nicht im­mer mit dem Ver­weis auf das Ha­ken­kreuz...).
    Oh­ne die­se bei­den Din­ge geht es nicht. Wer sich für der­lei nicht in­ter­es­siert, des­sen Ana­ly­sen sind in mei­nen Au­gen schwach, weil ein mo­der­ner Staat oh­ne funk­tio­nie­ren­de Ver­wal­tung ei­ne Uto­pie dar­stellt (nix ge­gen Uto­pien an sich, na­tür­lich...). An­ders ge­sagt: Weil er nicht funk­tio­nie­ren kann. Oder eben so funk­tio­niert, wie Grie­chen­land.

    Aber noch zu Deutsch­land: Wenn es nicht so gut funk­tio­nier­te, wie wür­de man dann er­klä­ren kön­nen, dass es für so­vie­le Men­schen welt­weit ein Sehn­suchts­land ist – ich glau­be die­se Sehn­süch­te h a b e n ein fun­da­men­tum in re.
    Gut, ich geb’ zu: Ich deu­te das al­les nur an. Aber aus lau­ter Angst, das Fal­sche zu sa­gen, gar nichts mehr zu sa­gen – das wä­re viel­leicht noch ein grö­ße­rer Feh­ler.
    Apro­pos:

    PS: Ich woh­ne ru­hig, aber es ist doch noch ru­hi­ger, näm­lich über­aus ru­hig ge­ra­de – emt wg. EM – und das ist Ihr Ver­dienst – al­so dass wir uns jetzt zur EM schrei­ben: passt wirk­lich gut (je ru­hi­ger es ist, de­sto lie­ber schrei­be ich).

  31. @Gregor
    Wenn ich An­ti­plu­ra­lis­mus als be­wuss­tes Nicht­an­er­ken­nen exi­stie­ren­der Viel­ge­stal­tig­keit de­fi­nie­re (und Po­pu­lis­mus u.a. als die po­li­ti­sche In­stru­men­ta­li­sie­rung die­ser Leug­nung), dann brau­che ich da­zu kei­nen ein­heit­li­chen Volks­wil­len po­stu­lie­ren, ich kann auch oh­ne dem­sel­ben an­ti­plu­ra­li­stisch sein (den Volks­wil­len brau­che ich nur dann, wenn ich Plu­ra­lis­mus mit Mei­nungs­plu­ra­lis­mus gleich­set­ze; Mül­ler ver­ste­he ich da­hin­ge­hend). Das mein­te ich.

  32. 2. ... und Pra­xis

    Für mich ist die in­ter­es­san­te­ste Fra­ge die des Pra­xis­ka­pi­tels. Wie Ver­hal­ten sich po­pu­li­sti­sche Par­tei­en, wenn sie in Ver­ant­wor­tung kom­men. Mül­ler meint, dass mit An­ti-Po­li­tik kein Staat zu ma­chen ist. Ent­we­der man wird ent­zau­bert oder ver­hält sich auch als Mehr­heit wie ei­ne ver­folg­te Min­der­heit. Stim­mig.

    Na­tür­lich fal­len da so­fort die links­po­pu­li­sti­schen Re­gie­run­gen ein, die die USA als Über­eli­te für al­les Bö­se ver­ant­wort­lich ma­chen. Das trifft si­cher häu­fig zu. Es muss aber auch die Fra­ge er­laubt sein, ob z.B. im Fal­le Ku­bas die­se Be­schrei­bung nicht ein­fach stimmt.

    Die Ver­ein­nah­mung des gan­zen Staa­tes, Mas­sen­kli­en­te­lis­mus, Un­ter­drückung der Zi­vil­ge­sell­schaft und und der Me­di­en sind laut Mül­ler die Kenn­zei­chen ei­ner Über­nah­me des Staa­tes durch po­pu­li­sti­sche Par­tei­en. Die Über­nah­me er­folgt nicht of­fen au­to­ri­tär, son­dern durch den selbst de­fi­nier­ten mo­ra­li­schen An­spruch un­ter dem Deck­man­tel der wei­ter für An­se­hen sor­gen­den De­mo­kra­tie, die er in dem Fal­le de­fekt nennt. Auch stim­mig.

    Aber Hopp­la. Was ist denn dann mit der USA. Nach der Wahl wer­den dort im Ge­gen­satz zu uns nicht nur die Po­li­ti­ker, son­dern die ge­sam­te Ad­mi­ni­stra­ti­on aus­ge­tauscht. Ist das in­sti­tu­tio­na­li­sier­ter Po­pu­lis­mus oder ein­fach das bes­se­re Sy­stem, weil der Mi­ni­ster nicht mit ir­gend­wel­chen da­her­ge­lau­fe­nen Be­am­ten der Vor­gän­ger­re­gie­rung Rei­bung er­zeugt?

    Zu dem The­ma ist mitt­ler­wei­le so viel ge­sagt, dass ich nur noch lo­se auf­zäh­le, was mich ge­stört hat.

    Ever­ything for my fri­ends, for my en­emies the law. Po­pu­lis­mus? Da­zu hat Bär­bel Bo­ley nach der Wen­de die hüb­sche Aus­sa­ge ge­prägt: »Wir woll­ten Ge­rech­tig­keit und be­ka­men den Rechts­staat«. Und dem ist auch Nichts hin­zu­zu­fü­gen. Der Rechts­staat, meist ver­tre­ten durch das Ver­fas­sungs­ge­richt, wird oh­ne nä­he­re Be­grün­dung als un­an­greif­bar dar­ge­stellt. Bis­her war je­de Kri­tik dar­an ver­pönt, aber es brö­kelt. Das hat et­was Re­li­gös­es, um (mei­ne Dia­gno­se) ei­ne Recht­fer­ti­gung zu um­ge­hen.

    Mül­ler rech­net uns vor, war­um Vik­tor Or­bán ei­gent­lich kei­ne Mehr­heit hat, um die Ver­fas­sung zu än­dern. Ist das bei uns an­ders? Und wür­den grund­sätz­lich im­mer die tat­säch­li­chen Pro­zent­zah­len an­ge­ge­ben, sä­he die Le­gi­ti­mie­rung ei­ner Re­gie­rung im­mer sehr dürf­tig aus. Mül­ler nennt die von Or­bán vor­aus­ge­setz­te Le­gi­ti­mie­rung atem­be­rau­bend. Ich fin­de z.B die ge­schäfts­mä­ßi­ge »Über­nah­me« der DDR oh­ne das im Grund­ge­setz an­ge­dach­te Pro­ze­de­re atem­be­rau­bend.

    Den schein­ba­ren Wi­der­spruch ei­ner po­pu­li­sti­schen Ver­fas­sung löst Mül­ler auf, in­dem er Ver­fas­sungs­än­de­run­gen sieht, die kon­sti­tu­tio­nell den zu schütz­ten­den Volks­wil­le dar­stel­len Ja, na­tür­lich. Ist es nicht das, was man ei­ne Ver­fas­sung nennt.

    Der Ver­such das Wir sind das Volk aus Leip­zig und vom Tah­r­ir-Platz zu re­la­ti­vie­ren, wirkt sehr be­müht. Er gibt Kre­dit für das heh­re An­sin­nen, aber letz­lich ist der An­spruch ge­nau­so ab­so­lut wie von SED, Dik­ta­tur oder Mus­lim­brü­dern.

    Eben­so ins Schwim­men kommt er, wenn er ver­sucht die Un­ter­drückung von NGOs durch po­pu­li­sti­sche Re­gie­run­gen zu dis­kre­di­tie­ren, da sie an den 100% na­gen. Wenn man ehr­lich ist, wer­den NGOs heu­te ver­wen­det, um Geld für ei­ge­ne PR in die ent­spre­chen­den Län­der zu pum­pen. Man muss gar nicht im­mer mit Ge­or­ge Sor­os rum­fuch­teln, dass gilt all­ge­mein. Bei uns sind dass dann ge­ra­de ak­tu­ell Di­tib und Mil­lî Görüs als ver­län­ger­ter Arm Er­do­gans. Wol­len wir auch nicht.

    Auch hier ein Fa­zit. Den dum­men Spruch vom Reichs­tag ent­fer­nen und durch Ever tried. Ever fai­led. No mat­ter. Try again. Fail again. Fail bet­ter er­set­zen.

  33. Aus Zeit­grün­den ha­be ich es bis­her nicht ge­schafft, al­le Kom­men­ta­re zu le­sen. An Mül­lers Buch hat mich so man­ches ent­täuscht. Die Gen­re­bezeich­nung »Es­say« scheint der Au­tor nur als Frei­brief zu ver­ste­hen, va­ge und un­in­spi­riert drauf­los zu schrei­ben, in ei­nem halb aka­de­mi­schen, halb jour­na­li­sti­schen Jar­gon. Ver­stört hat mich dann gleich in der An­fangs­pha­se der Lek­tü­re, daß Mül­ler de­zi­diert beim »Po­li­ti­schen«, al­so bei den Me­cha­nis­men der De­mo­kra­tie, bleibt und Be­zü­ge zu So­zio­lo­gi­schem, al­so zu der Le­bens­welt, wie wir sie ken­nen, gar nicht be­rück­sich­ti­gen will. Aber aus den Zu­stän­den und Ver­än­de­run­gen die­ser Welt mit ih­ren Bür­gern und Wäh­lern, ih­rer Mit­tel­klas­se und ih­ren So­zi­al­fäl­len und Eli­ten, ist doch das Phä­no­men des Po­pu­lis­mus, das man zu er­klä­ren ver­sucht, ent­stan­den.

    In den (bis­her ge­le­se­nen) Kom­men­ta­ren scheint mir die­ser Satz ei­nen Kern zu tref­fen: »Der El­len­bo­gen-In­di­vi­dua­lis­mus, der ih­nen bei­gebracht wur­de, be­ginnt sich ge­gen sie selbst zu rich­ten.« Sie, das sind die An­ge­hö­ri­gen der wohl­ha­ben­den Mit­tel­schicht. Die Angst ha­ben, daß ih­nen die Fel­le da­von­schwim­men, was ei­ni­gen ja schon pas­siert ist. Wo­bei die Jun­gen hin­zu­kom­men, die we­nig Aus­sicht ha­ben, je die­ses Ni­veau von Ein­kom­men und so­zia­ler Si­cher­heit zu er­rei­chen.

    Was die­sem Be­fund m. E. hin­zu­zu­fü­gen ist: Die neo­li­be­ra­le, öko­no­mi­sti­sche Ideo­lo­gie hat sich seit den acht­zi­ger Jah­ren in den Köp­fen fest­ge­setzt. Die po­pu­li­sti­schen Be­we­gun­gen ge­dei­hen in Ver­hält­nis­sen der all­ge­gen­wär­ti­gen Wer­bung, der Pu­blic Re­la­ti­ons, der Kon­di­tio­nie­rung durch die Mas­sen­me­di­en, der Auf­wei­chung der Un­ter­schie­den von Öf­fent­lich und Pri­vat, der Rhe­to­ri­sie­rung, des Er­folgs­zwangs, der Pop-In­du­strie.

    Ein Po­sting im On­line­fo­rum ei­ner Ta­ges­zei­tung hat mich zur Zeit der Bun­des­prä­si­den­ten­wahl in Öster­reich frap­piert: Der Mann (oder die Frau oder was auch im­mer) warf ei­nem Kan­di­da­ten vor, sich nicht nach dem aus­zu­rich­ten, was am mei­sten Zu­stim­mung ha­be. Nach die­ser Lo­gik müß­te der grü­ne Kan­di­dat für Steu­er­erleich­te­run­gen für Au­to­fah­rer plä­die­ren. Vom Wäh­ler ge­wählt wird, wer das sagt, was al­le sa­gen. Man wählt den Op­por­tu­ni­sten / den Po­pu­li­sten, weil er Op­por­tu­nist / Po­pu­list ist – und nicht we­gen der In­hal­te, die er ver­tritt. Auf die­se Art wird Kon­for­mi­tät ge­gen­über dem Ran­king selbst zum ent­schei­den­den Kri­te­ri­um. Zu­min­dest in Öster­reich, wo ich den Po­pu­lis­mus in den frü­hen acht­zi­ger Jah­ren ken­nen­ge­lernt ha­be, war und ist der Po­pu­lis­mus zu­tiefst op­por­tu­ni­stisch. Das hat da­zu bei­getra­gen, daß sich sei­ne Po­li­tik nicht be­währ­te, wenn er in Re­gie­rungs­ver­ant­wor­ung kam (auch auf re­gio­na­ler Ebe­ne). An­ders­wo, et­wa in Un­garn, schei­nen die Po­pu­li­sten die­sen me­tho­di­schen Op­por­tu­nis­mus ab­zu­strei­fen, so­bald sie Macht­po­si­tio­nen er­rei­chen. Das könn­te uns auch in Öster­reich be­vor­ste­hen. Die Fra­ge ist je­weils, wie an­ti­plu­ra­li­stisch die Po­pu­li­sten wirk­lich sind. Im Klar­text: Ei­ne strikt an­ti­plu­ra­li­sti­sche Po­li­tik ar­bei­tet am Über­gang zu ei­nem to­ta­li­tä­ren Sy­stem. Lei­der kann ich nicht be­ur­tei­len, ob das in Un­garn be­reits der Fall ist. Und die Fra­ge, wie plu­ra­li­sti­sche De­mo­kra­ten dem be­geg­nen sol­len, stellt sich dann viel ern­ster, als uns Mül­lers Es­say na­he­legt.

    Auf­grund per­sön­li­cher Er­fah­run­gen und Be­ob­ach­tun­gen fürch­te ich, daß man in West­eu­ro­pa dem Po­pu­lis­mus das Was­ser nur lang­fri­stig ab­gra­ben kann: durch kul­tu­rel­le und päd­ago­gi­sche Um­ori­en­tie­run­gen. Das ver­nünf­ti­ge Ar­gu­men­tie­ren, das Mül­ler und ei­ni­ge hier in die­sem Fo­rum be­schwö­ren, ist ja wun­der­bar, aber vie­le von de­nen, die die Schnau­ze voll ha­ben, und auch vie­le der po­pu­li­sti­schen Po­li­ti­ker, ar­gu­men­tie­ren ja über­haupt nicht, sie kön­nen und wol­len das nicht, es geht ih­nen nicht um den ver­nünf­ti­gen Dis­kurs. Po­li­ti­ker, und zwar nicht nur die als po­pu­li­stisch aus­ge­wie­se­nen, ar­gu­men­tie­ren doch längst nicht mehr, sie ver­wen­den rhe­to­ri­sche For­meln, die ih­nen Kom­mu­ni­ka­ti­on­pro­fis bei­brin­gen. Das paßt gut zum op­por­tu­ni­sti­schen Po­pu­lis­mus, ist aber Aus­druck ei­ner weit ver­brei­te­ten kul­tu­rel­len Ein­stel­lung.

    An die­ser Stel­le drängt sich dann doch wie­der die hi­sto­ri­sche Par­al­le­le auf. Wo Ar­gu­men­te kei­ne Ach­tung er­fah­ren, greift man eher zur Ge­walt. Die Ge­walt­be­reit­schaft ist in den letz­ten Jah­ren dra­ma­tisch ge­stie­gen. Ich mei­ne nicht nur ex­tre­mi­sti­sche, gar ter­ro­ri­sti­sche Ta­ten, son­dern auch die ver­ba­le Ge­walt, Haß­po­stings etc., ge­för­dert durch die Ano- und Pseud­ony­mi­täts­kul­tur des In­ter­nets und um­so be­un­ru­hi­gen­der, als sie of­fen­bar aus der ehe­mals schwei­gen­den, jetzt aber pseud­onym sich äu­ßern­den Mehr­heit kommt.

  34. @ Fe­der­mair 33

    1) was die An­ony­mi­tät an­geht – - ich­se­he so: Kann man an­onym po­sten, aber soll man dann be­son­ders zu­rück­hal­tend sein mit Ag­gres­si­on.
    Das wä­re ei­ne Norm, de­ren Ein­hal­tung mei­ner Mei­nung nach für ei­nen gu­ten blog spricht.Schlechte blogs / schlech­te Ge­sell­schaft soll man mei­den.
    Fänd’ ich gut, wen sich das durch­setzt. Tu’ ich auch was da­für.

    2) Dass un­se­re Ge­sell­schaft den Ego­is­mus för­dert ist nichts Neu­es – das ist der Ka­pi­ta­lis­mus – und Marx war ei­ner de­rer, die ge­sagt ha­ben, wie gut das ist. Aber auch Adam Smith usw.
    Das ge­nau ist ja die pro­te­stan­ti­sche Ar­beits­ethik und der Geist des Ka­pi­ta­lis­mus. Aber schon im­mer gibt es gleich­zei­tig die Er­wei­te­rung der ge­sell­schaft­li­chen Hand­lungs­mög­lich­kei­ten – die Di­ver­si­vi­zie­rung der Le­bens­sti­le (die Er­kun­dung des Sa­do-Ma­so­chis­mus im Fal­le We­bers...), die Frei­heit der Kunst, der Re­li­gi­ons­aus­übung usw.
    Auch die Kla­ge, dass das nicht so ein­fach ist, ist so alt wie der Ka­pi­ta­lis­mus sel­ber. Und sie ist nicht voll­kom­men falsch, aber sie hat ne­ben Ber­gen und Ber­gen von al­ten Au­to­rei­fen und hass­erfüll­ten Le­ser­brie­fen usw. eben auch Ber­ge und Ber­ge von Lö­sungs­vor­schlä­gen pro­vo­ziert: Wir fan­gen al­so nicht bei Null an – das ist üb­ri­gens auch in vie­len Kom­men­ta­ren hier auf dem blog zu se­hen.

  35. @ Gre­gor Keu­sch­nig 29 – 1) TTIP und 2) Grie­chen­land und EU

    1) Ich mei­ne, zwi­schen TTIP und Grie­chen­land sei ein Un­ter­schied.
    Mir passt TTIP auch nicht – aus dem glei­chen Grund wie Ih­nen: We­gen des Ge­heim­hal­tungs­ver­fah­rens. Das ist ein Kom­mu­ni­ka­ti­ons­pro­blem. In­halt­lich ha­be ich mich in TTIP nicht ein­ge­le­sen.
    2) Die grie­chi­sche Kri­se ist k e i n rei­nes Kom­mu­ni­ka­ti­ons­pro­blem. Es gibt er­heb­li­che Sach­pro­ble­me, die kurz ge­sagt mit der man­geln­den Rationalisierung/ Mo­der­ni­sie­rung des gan­zen Lan­des ein­schließ­lich sei­ner po­li­ti­schen In­sti­tu­tio­nen zu tun ha­ben.
    Bit­te, ich will da­mit nicht sa­gen, die Grie­chen müs­sen sich mo­der­ni­sie­ren. Ich will aber sa­gen: Wer auf die­sem Ge­biet hinkt, soll sich ent­we­der hel­fen las­sen, oder mit den Fol­gen le­ben. Das ist nicht mei­ne pri­va­te An­sicht, das ist ei­gent­lich gel­ten­des Recht auf­grund des Schul­den­über­nah­me­ver­bots im EU-Ver­trag.
    Wenn Ih­nen das hier zu aus­führ­lich ist, kön­nen Sie es gern lö­schen:

    D i e U n i o n haf­tet nicht für die Ver­bind­lich­kei­ten der Zen­tral­re­gie­run­gen, der re­gio­na­len oder lo­ka­len Ge­biets­kör­per­schaf­ten oder an­de­ren öf­fent­lich-recht­li­chen Kör­per­schaf­ten, son­sti­ger Ein­rich­tun­gen des öf­fent­li­chen Rechts oder öf­fent­li­cher Un­ter­neh­men von Mit­glied­staa­ten und tritt nicht für der­ar­ti­ge Ver­bind­lich­kei­ten ein; dies gilt un­be­scha­det der ge­gen­sei­ti­gen fi­nan­zi­el­len Ga­ran­tien für die ge­mein­sa­me Durch­füh­rung ei­nes be­stimm­ten Vor­ha­bens. E i n M i t g l i e d s t a a t haf­tet nicht für die Ver­bind­lich­kei­ten der Zen­tral­re­gie­run­gen, der re­gio­na­len oder lo­ka­len Ge­biets­kör­per­schaf­ten oder an­de­ren öf­fent­lich-recht­li­chen Kör­per­schaf­ten, son­sti­ger Ein­rich­tun­gen des öf­fent­li­chen Rechts oder öf­fent­li­cher Un­ter­neh­men ei­nes an­de­ren Mit­glied­staats und tritt nicht für der­ar­ti­ge Ver­bind­lich­kei­ten ein; dies gilt un­be­scha­det der ge­gen­sei­ti­gen fi­nan­zi­el­len Ga­ran­tien für die ge­mein­sa­me Durch­füh­rung ei­nes be­stimm­ten Vor­ha­bens.
    (Ar­ti­kel 125, Ab­satz 1 des Ver­trags über die Ar­beits­wei­se der Eu­ro­päi­schen Uni­on – mei­ne Herv., D. K.)

  36. @Leopold Fe­der­mair

    Die po­pu­li­sti­schen Be­we­gun­gen ge­dei­hen in [...] Pop-In­du­strie

    Ein tref­fen­der Be­fund. Die öf­fent­li­che Kom­mu­ni­ka­ti­on wur­de von Ex­per­ten ge­ka­pert, die sich dar­auf spe­zia­li­siert ha­ben, mensch­li­che Schwä­chen aus­zu­nut­zen. Da­durch hat man schnell ei­nen fa­den Ge­schmack auf der Zun­ge, wenn nur be­stimm­te Schlüs­sel­be­grif­fe fal­len. Ein Fest für den Po­pu­li­sten.

    ... vie­le von de­nen, die die Schnau­ze voll ha­ben, und auch vie­le der po­pu­li­sti­schen Po­li­ti­ker, ar­gu­men­tie­ren ja über­haupt nicht, sie kön­nen und wol­len das nicht,

    Viel­leicht wä­re es ge­nau­er, wol­len das nicht mehr, zu sa­gen. Op­por­tu­nist und Ge­duld passt nicht gut zu­sam­men. Da­durch wech­selt er die The­men, wie er ei­nen Tan­ker um die Kur­ve fah­ren wür­de. Erst das Steu­er stark ein­schla­gen und weil nicht so­fort et­was pas­siert, erst­mal wie­der in die an­de­re Rich­tung. Er­geb­nis ist zu­min­dest ein Schlin­ger­kurs. In Deutsch­land ist das ge­nau das Ver­hal­ten von Sig­mar Ga­bri­el, der nach­dem er ein neu­es The­ma ge­fun­den hat, ei­ne pa­the­ti­sche Re­de hält und wenn sich die Um­fra­ge­er­geb­nis­se nicht schnell än­dern, re­agiert er so­gar noch un­wil­lig, statt sich zu fra­gen, wo der Feh­ler lag. Das macht nicht un­be­dingt dis­kus­si­ons­freu­dig.

  37. Nennt mich spie­ßig, aber ich ha­be das Be­dürf­nis, ein we­nig Ord­nung zu schaf­fen. Er­lau­be mir da­her fol­gen­de Re­fle­xi­on der Bei­trä­ge:

    Die De­fi­ni­ti­on des Po­pu­lis­mus als an­ti-plu­ra­li­stisch (Mül­ler) wird wei­test­ge­hend gou­tiert. In­ner­halb ei­ner Öf­fent­lich­keit, die we­nig­stens als »teil­of­fen« für ver­schie­de­ne Mei­nun­gen und Po­li­ti­ken gel­ten kann, ist die Er­wei­te­rung der be­stehen­den Viel­falt um ei­ne an­ti-plu­ra­li­sti­sche au­to­ri­tär-dis­kur­si­ve Va­ri­an­te der Po­li­tik nur ein Schein-de­mo­kra­ti­scher Zu­ge­winn, d.h. es kann kei­nen neu­en »Spie­ler« ge­ben, der die Re­geln igno­riert.

    Mit die­ser spiel-theo­re­ti­schen Pro­vo­ka­ti­on kann man nicht kri­tisch ver­fah­ren, oh­ne die be­reits er­folg­ten »Re­gel-Beu­gun­gen« der sich bis da­to als »kon­form« selbst-dar­stel­len­den Teil­neh­mer zu the­ma­ti­sie­ren und auf ih­ren Ein­fluss zu prü­fen bzw. auch de­ren Re­ak­ti­ons­schwä­che ein­zu­krei­sen.

    Die Fra­ge, ob die stra­te­gisch ge­woll­ten Ab­wei­chun­gen vom Dis­kurs-Ide­al ei­ne De­ka­denz, ei­ne Mi­lieu-Ver­schlech­te­rung der Po­li­ti­schen Öf­fent­lich­keit be­wirkt hät­ten, und da­mit den un­ge­be­te­nen Falsch-Spie­ler wahr­schein­lich ge­macht ha­ben, kann nicht oh­ne ei­ne stark ver­tief­te De­mo­kra­tie-Theo­rie be­ant­wor­tet wer­den. J‑W-Mül­ler lei­stet da­für nur sehr be­dingt die Vor­ar­beit.
    Mo­ti­visch wer­den die Glo­ba­li­sie­rung, der po­li­ti­sche Wunsch nach ei­nem na­tio­na­len Rah­men und die Kri­se der Re­prä­sen­ta­ti­on als »Ber­mu­da-Drei­eck« für das Auf­kom­men des Po­pu­lis­mus be­trach­tet.

  38. Soll­te ei­ne Vier-Punk­te-Auf­zäh­lung wer­den, aber der Edi­tor hat mei­ne (ul) und (li) Tags igno­riert. Man er­kennt es an den Ab­sät­zen...

  39. @Dieter Kief
    Ich glau­be, ich ha­be mich miss­ver­ständ­lich aus­ge­drückt. Na­tür­lich ist TTIP nicht mit Grie­chen­land ver­gleich­bar. Und na­tür­lich ist die grie­chi­sche Eu­ro­kri­se ei­ne ve­ri­ta­ble fi­nanz­öko­no­mi­sche Ma­lai­se. Und noch ein­mal und: Ja, es war ein Ver­stoss ge­gen die »No-Bail-Out«-Regelung. All dies ist mir be­kannt. Mein Ge­dan­ke war da­hin­ge­hend, dass (1) die In­sti­tu­tio­nen, die im Fall von Grie­chen­land hät­ten auf die Pro­ble­me hin­wei­sen müs­sen (weil es doch Kon­ver­genz­kri­te­ri­en für den Eu­ro gab/gibt, die – Ach­tung Mo­de­wort – lau­fend »eva­lu­iert« wer­den) ver­sagt ha­ben müs­sen. Jetzt stel­le ich mei­ne küh­ne The­se auf: (1a) Sie ha­ben nicht ver­sagt, weil (1b) gar kein In­ter­es­se dar­an be­stand, die­se Volks­wirt­schaf­ten ei­ner Eva­lu­ie­rung zu un­ter­zie­hen. Wel­che Kon­se­quen­zen sieht man ei­gent­lich vor, wenn Ver­stö­sse dro­hen? Rich­tig: Buss­gel­der. Wenn ich al­so ei­nem, der plei­te ist, ein Buss­geld auf­drücke, wird der da­durch na­tür­lich noch mehr in die Plei­te ge­zo­gen. (Ich wer­de et­was volks­tüm­li­cher im Dis­kurs.) Das ist al­so völ­li­ger Blöd­sinn und das war je­dem klar, der bis fünf zäh­len kann. Tat­sa­che bleibt al­so nur, dass man es gar nicht wis­sen woll­te, wie es um Grie­chen­land, Zy­pern, Ita­li­en, Por­tu­gal usw. steht. Denn das hät­te Fol­gen für die Eu­ro­zo­ne nach sich zie­hen müs­sen. Und das woll­te man nicht, weil der Eu­ro näm­lich nie ein öko­no­mi­sches Pro­jekt war, son­dern ein po­li­ti­sches. Schei­tern ver­bo­ten! Als der da­ma­li­ge Bun­des­bank­prä­si­dent Pöhl nach den Maas­tricht-Ver­trä­gen Kohl frag­te, wie man denn den Eu­ro sta­bil ge­stal­ten woll­te, soll Kohl ge­sagt ha­ben: ‘Das ist Ihr Pro­blem’. – So ei­nen »schlan­ken Fuss« darf sich die Po­li­tik nicht ma­chen.

    Die Kom­mu­ni­ka­ti­on um das Pro­blem in Grie­chen­land wur­de von dem da­ma­li­gen grie­chi­schen MP sel­ber auf die Agen­da ge­setzt. Auch hier gab es dann zu­nächst die ab­wie­geln­den Stim­men. Grie­chen­land sei klein; die Pro­ble­me zu ver­nach­läs­si­gen. Bin­nen Wo­chen wur­de es im­mer dra­ma­ti­scher. Den Rest ken­nen Sie bes­ser als ich. Hier ha­ben al­so die In­sti­tu­tio­nen der Po­li­tik (und auch die Me­di­en) wie­der ver­sagt. Sie ha­ben aus po­pu­li­sti­schen Grün­den (!) ei­ne Ver­harm­lo­sung be­trie­ben, um das Kar­ten­haus Eu­ro­päi­schen Uni­on bzw. Eu­ro­raum nicht zum Ein­stür­zen zu brin­gen.

    Bei TTIP ver­sagt die Po­li­tik voll­kom­men. Ei­ner­seits pre­digt man über­all Trans­pa­renz, aber aus­ge­rech­net hier herrscht ei­ne Ge­heim­hal­tung wie bei Fort Knox. Ge­ra­de die­se Punk­te ver­stär­ken das Un­be­ha­gen ge­gen­über »de­nen da oben«. Und nur das woll­te ich da­mit in die Dis­kus­si­on ein­brin­gen.

    Und ja, es ist schön, dass man so wun­der­bar über Goe­the nach­den­ken kann. Oder, wie wir hier, in ei­nem wie ich fin­de ge­pfleg­ten Ton ein po­li­ti­sches The­ma be­leuch­ten kön­nen. Bei­des oh­ne, dass in un­se­re Woh­nun­gen ein­ge­bro­chen wird oder wir auf der Stra­sse be­fürch­ten müs­sen, er­schos­sen zu wer­den. Aber soll man wirk­lich das schlimmst­mög­li­che im­mer an­neh­men müs­sen, um sich sel­ber zu ver­ge­wis­sern, dass man es doch noch ganz gut ge­trof­fen hat? Na­tür­lich ist ein Hartz-IV-Be­zie­her in Deutsch­land oft ge­nug bes­ser ge­stellt als ein So­zi­al­hil­fe­emp­fän­ger in den USA oder Groß­bri­tan­ni­en. Aber was hilft ihm das, wenn er glaubt, nicht mehr am so­zia­len Le­ben teil­neh­men zu kön­nen und das schon, weil er sich das Buch für 15 Eu­ro ein­fach nicht lei­sten kann?

    @Leopold Fe­der­mair
    Ich zucke im­mer bei dem Wort »neo­li­be­ral« zu­sam­men, weil ich ge­lernt hat­te, dar­un­ter et­was an­de­res zu ver­ste­hen (bspw. Wal­ter Eucken). Aber egal, wir wis­sen, wie es ge­meint ist (und das soll ja Spra­che lei­sten).

    Und ich zuck­te zu­sam­men, als die Re­de vom »wohl­ha­ben­den Mit­tel­stand« war. »Wohl­ha­bend« in Be­zug auf »Mit­tel­stand« ar­ti­ku­liert für mich ei­nen ge­wis­sen Sta­tus­neid. Man darf nicht ver­ges­sen, dass in Deutsch­land die »so­zia­le Markt­wirt­schaft« das Ver­spre­chen des »Wohl­stands für Al­le« aus­gab. Das war in den 1950er Jah­ren deut­lich an­ders kon­no­tiert als heu­te. Die Ver­hei­ßung war aber: Du kannst es mit Dei­ner Ar­beit schaf­fen ei­nen ge­wis­sen Wohl­stand dau­er­haft (das ist wich­tig) zu er­rei­chen. Der zwei­te Punkt des Ver­spre­chens war, dass die­ser Wohl­stand stän­dig wächst. Das wur­de in­zwi­schen heim­lich »ein­kas­siert«, da es hier Gren­zen gibt (was ein Teil des Pro­blems ist, aber nur ein klei­ner Teil). Die Par­al­le­le zum »ame­ri­ka­ni­schen Ver­spre­chen« liegt auf der Hand. Der Un­ter­schied be­stand und be­steht dar­in, dass der Staat mehr als in den USA be­stimm­te so­zia­le Stan­dards ga­ran­tiert. Aus­ge­spro­chen wur­de die­ses Ver­spre­chen, als man sich in per­ma­nen­tem Wachs­tums­rausch be­fand; man konn­te sich ein­fach nicht vor­stel­len, dass ir­gend­wann ein­mal 5% oder 10% Ar­beits­lo­se ge­ben könn­te; Ar­beit war ge­nug da – und die Un­ter­neh­men wa­ren be­reit, die­se Ar­beit zu ho­no­rie­ren. Mit der Au­to­ma­ti­on, die in Deutsch­land be­reits En­de der 1960er Jah­re be­gann (und dann sprung­haft wuchs), wur­den die schlech­ter be­zahl­ten Ar­beits­plät­ze, die nur ge­rin­ge Qua­li­fi­ka­tio­nen er­for­der­ten, über­flüs­sig ge­macht. Die­ser Pro­zess be­kam durch die weit­ge­hen­de und fort­schrei­ten­de Di­gi­ta­li­sie­rung der In­du­strie ab En­de der 1990er Jah­re noch ein­mal ei­nen wei­te­ren Schub. We­nig­stens hat man den Feh­ler Groß­bri­tan­ni­ens und der USA nicht ge­macht, in dem man die Volks­wirt­schaf­ten de­indu­stria­li­siert hat­te. In­zwi­schen spre­chen Un­ter­neh­mens­be­ra­tun­gen von ei­nem ge­wal­ti­gen Stel­len­ab­bau in den Dienst­lei­stun­gen in den näch­sten Jahr­zehn­ten. Dass die Di­gi­ta­li­sie­rung gleich­zei­tig neue Ar­beits­plät­ze schafft, steht au­ßer Fra­ge. Aber sie wird mehr Stel­len ko­sten als schaf­fen.

    Dies ist der Hin­ter­grund für das Ero­die­ren der Mit­tel­schicht. De­ren »Wohl­stand« be­steht dar­in, dass sie sich Kon­sum­gü­ter lei­sten kann. Wich­tig ist aber, dass er er­ar­bei­tet wur­de, d. h. es gibt in der Re­gel kei­ne »Dy­na­stien«, die Reich­tü­mer wei­ter­ge­ge­ben und ver­erbt ha­ben. Mei­stens be­steht die Mit­tel­schicht aus ab­hän­gig Be­schäf­tig­ten; ein Teil ist selb­stän­dig, meist aber in nur sehr klei­nen Un­ter­neh­men. (Um ei­nen Au­gen­blick per­sön­lich zu wer­den: Ich zäh­le mich da­zu. Mein »Wohl­stand« ist er­ar­bei­tet, mei­ne Steu­ern ha­be ich be­zah­len [müs­sen], die So­zi­al­ver­si­che­rungs­bei­trä­ge ha­be ich be­zahlt – und ab Ok­to­ber än­dert sich mein Le­ben, aber das ist ein an­de­res The­ma.) Die­ser Mit­tel­stand hat – das hat­te ich schon in ei­nem an­de­ren Kom­men­tar ver­sucht zu er­klä­ren – ak­tu­ell kei­ne Mög­lich­keit mehr, sein Geld au­ßer­halb der ge­setz­li­chen Ren­ten­ver­si­che­rung zur Al­ters­vor­sor­ge an­zu­le­gen. Al­so wird das Geld mehr oder we­ni­ger voll­stän­dig kon­su­miert (was im Sin­ne der Wirt­schaft ist). Sub­ku­tan merkt man na­tür­lich, dass die Ren­te (falls sie über­haupt in der ak­tu­ell vor­her­ge­sag­ten Hö­he aus­ge­zahlt wird) nicht für die­se Form des Le­bens­stan­dards reicht. Und schon ent­steht ei­ne ge­wis­se Furcht.

    Gra­vie­ren­der ist dies bei Ar­beits­lo­sig­keit. Wer als An­ge­stell­ter (bis hin­ein in den Ab­tei­lungs­lei­ter-Be­reich) ei­ne 4 vor sei­nem ak­tu­el­len Le­bens­al­ter ste­hen hat und aus ir­gend­wel­chen (un­ver­schul­de­ten) Grün­den ar­beits­los wird, hat kaum Chan­cen auf dem bis­he­ri­gen Ni­veau ei­ne Be­schäf­ti­gung zu fin­den; es sei denn, er/sie kennt ir­gend je­man­den, der ei­nem dann an den üb­li­chen Be­wer­bungs­pro­zess vor­bei­steu­ert. Wer ei­ne Fa­mi­lie hat, ist bin­nen 12 oder 18 Mo­na­ten (je nach Le­bens­al­ter) prak­tisch auf So­zi­al­hil­fe­ni­veau – wenn er/sie »Pech« hat. Wenn man vor­her ei­nen Job be­kommt (jetzt kommt das Wort »Job« statt« »Ar­beits­platz« oder »Be­ruf«), ist man evtl. in der Zu­mu­tut­bar­keits­klau­sel ge­fan­gen, d. h. man ar­bei­tet für we­ni­ger Geld. Wird man da­nach wie­der ar­beits­los, fällt das Ar­beits­lo­sen­geld wie­der nied­ri­ger aus, usw.

    Zu den Hass­kom­men­ta­ren: Ich be­strei­te, dass Hass­kom­men­ta­re ei­ne »Er­fin­dung« des In­ter­nets sind. In mei­ner Ju­gend­zeit ha­be ich er­lebt, wie po­li­ti­siert es in der kon­ser­va­ti­ven Stadt, in der ich auf­wuchs, zu­ging. Es war die Zeit, als Wil­ly Brandt Bun­des­kanz­ler war und sich 1972 zur Wahl stell­te. Die Schmä­hun­gen in der Schu­le, auf der Stra­ße, in den Lä­den über Brandt wa­ren sehr be­droh­lich. »Brandt an die Wand« hieß es auch schon mal. Mei­ne Mut­ter wur­de in ei­nem Ge­schäft nicht mehr be­dient, weil sie den But­ton mit »Wil­ly wäh­len« an­ge­steckt hat­te. Das Netz macht den un­ter­schwel­lig stark vor­han­de­nen Hass nur deut­lich. Und es hat ei­ne Wei­le ge­dau­ert, bis man sich dies »trau­te«. Die­ser Punkt ist er­reicht, aber den Geist be­kommt man nicht mehr in die Fla­sche. Das Ver­sa­gen der Bil­dungs­po­li­tik der letz­ten Jahr­zehn­te mag zur Ver­stär­kung bei­tra­gen.

  40. @Joseph Bran­co
    Das Bei­spiel mit der DDR-Über­nah­me ist sehr gut. Es zeigt, wie man da­mals schon aus Furcht vor ei­nem un­lieb­sa­men Aus­gang die re­prä­sen­ta­tiv-po­li­ti­sche Va­ri­an­te zur Wie­der­ver­ei­ni­gung durch­zog. Und dies ob­wohl man sich doch ei­gent­lich si­cher sein konn­te, ei­ne ve­ri­ta­ble Mehr­heit zu er­hal­ten. Aber was, wenn die­se nur 60% oder noch we­ni­ger be­tra­gen hät­te?

    Al­so auch da­mals schon: De­mo­kra­tie ist toll – so­lan­ge ihr al­le denkt, was wir den­ken. – Pro­vo­ka­tiv ge­fragt: Wer ist ei­gent­lich an­ti­plu­ra­li­sti­scher? Der­je­ni­ge, der »di­rek­te De­mo­kra­tie« (wenn auch u. U. zu po­pu­li­sti­schen Zwecken!) ein­set­zen möch­te oder der­je­ni­ge, der sie ab­lehnt (weil ein »fal­sches« Er­geb­nis her­aus­kom­men könn­te)?

  41. Ei­ne Fra­ge jen­seits des Bu­ches, aber zum The­ma ha­be ich noch; ja viel­leicht ge­hört auch die­se Aus­spa­rung bei Mül­ler so­gar zur »spät­bür­ger­li­chen Blind­heit von De­mo­kra­tie-Ex­per­ten«, und wä­re da­mit ein Sym­ptom un­se­rer Zeit:
    Es war Udo di Fa­bio, der mich dar­auf hin­ge­wie­sen hat, dass es zwi­schen der li­be­ra­len De­mo­kra­tie und der Markt­wirt­schaft ei­nen in­ne­ren Zu­sam­men­hang gibt, der auch ih­re »Grenz­be­din­gung« dar­stellt.
    Es müs­sen ei­ne hin­rei­chen­de An­zahl von Men­schen da­von über­zeugt sein, dass es sinn­voll ist, an den Axio­men des Pri­vat­ei­gen­tums, wel­ches die Or­ga­ni­sa­ti­on der Wirt­schaft um­fasst, fest­zu­hal­ten. Wenn ei­ne nicht ge­nau be­zif­fer­ba­re Men­ge an Men­schen der Mei­nung ist dass dar­aus kei­ne per­sön­li­chen Vor­tei­le mehr er­wach­sen, kön­nen we­der die Rechts­ver­hält­nis­se noch die wirt­schaft­li­che Or­ga­ni­sa­ti­on auf­recht er­hal­ten wer­den.
    So­wohl @Branco als auch @Keuschnig ge­hen dar­auf ten­den­zi­ell ein. In Spa­ni­en darf man ge­spannt sein, was der « neue So­zia­lis­mus« sich für Plä­ne zu­recht legt, wenn er erst an der Macht ist. Was mich dar­an wun­dert, ist dass die Vi­ru­lenz des ech­ten an­ti-sy­ste­mi­schen So­zia­lis­mus so gut wie über­haupt kei­ne Be­sorg­nis aus­löst in Eu­ro­pa. Das lä­chelt man weg.
    Und was mich eben­falls wun­dert, ist dass der Po­pu­lis­mus so gut wie frei von so­zia­li­sti­schen Mo­ti­ven ist. Soll­te man die­se bei­den »Be­ob­ach­tun­gen« nicht zu­sam­men­fas­send als ei­ne über­grei­fen­de po­li­ti­sche »Nai­vi­tät« in­ter­pre­tie­ren, die da­hin­ge­hend lau­tet: in Eu­ro­pa und ÜBERHAUPT kann uns gar nichts mehr vom Kurs ab­brin­gen au­ßer ein paar au­to­ri­tä­re Stink­stie­fel...

  42. die_kalte_Sophie

    Man muss ja nicht gleich Pri­vat­ei­gen­tum in Fra­ge stel­len. Wir ha­ben ge­ra­de durch die Fi­nanz­kri­se ei­ne gi­gan­ti­sche Um­ver­tei­lung hin­ter uns, die von Leu­ten be­trie­ben wur­de, die mit Geld Geld ver­die­nen. Die Re­al­wirt­schaft spielt da kaum noch ei­ne Rol­le. Bör­sen­kur­se sind heu­te fast aus­schließ­lich von den Zen­tral­ban­ken ge­trie­ben. Wenn man sich an die put­zi­gen Re­den aus den 70er und 80er Jah­ren er­in­nert, fra­ge ich mich manch­mal schon wie es so­weit kom­men konn­te, dass Re­spekt und Wür­de kaum noch ei­ne Rol­le spie­len, die Con­tro­ler Ef­fi­zi­enz als nicht in Fra­ge zu stel­len­den Sach­zwang dar­stel­len konn­ten. Ein Ver­sa­gen von Po­li­tik, Kir­chen etc. hat den Acker be­rei­tet, auf dem jetzt all­ge­gen­wär­tig Un­gu­tes wächst. Wie gross der Hass auf das Estab­lish­ment wer­den kann, se­hen wir ge­ra­de in den USA. Das war jetzt hof­fent­lich nicht zu so­zia­li­stisch.

    Wer noch nicht ge­nug hat, kann sich Mül­ler auch mal im O‑Ton im Ra­dio an­hö­ren. Zu­sätz­lich ist das The­ma Po­pu­lis­mus näch­sten Sonn­tag The­ma im Phi­lo­so­phi­schen Ra­dio im WDR5.

  43. @die_kalte_Sophie
    Den Links­po­pu­lis­mus be­ach­tet man der­zeit kaum, weil man sich ins­ge­heim an Grie­chen­land ori­en­tiert. Dort ist Sy­ri­za wie ein Ti­ger ge­star­tet und als Bett­vor­le­ger ge­lan­det. Wie wei­land die Schrö­der-SPD den gal­li­gen La­fon­taine los­wur­de, in dem er die Brocken hin­warf, so hat sich Tsi­pras Va­rou­fa­kis ent­le­digt. Da­mit war der Mar­ken­kern von Sy­ri­za ent­fernt wor­den. Seit­dem macht man brav die Au­steri­täts­po­li­tik wei­ter. Ähn­li­ches er­war­tet (hofft) man auch dann, wenn Po­de­mos in Spa­ni­en ge­win­nen soll­te.

    @Joseph Bran­co
    Mül­lers Buch trifft den Nerv der Mas­sen­me­di­en aus zwei Grün­den: (1.) Er iden­ti­fi­ziert Po­pu­lis­mus als na­tio­na­li­stisch (auch wenn er ver­ein­zelt ein­mal von links kommt). Das ist Main­stream. Und (2.) er lie­fert klei­ne Häpp­chen, die nicht be­son­ders über­for­dern. Viel­leicht soll­te man die Ma­cher vom Phi­lo­so­phi­schen Ra­dio mal auf die Kom­men­ta­re hier hin­wei­sen...

  44. Nach der gu­ten Zu­sam­men­fas­sung der kal­ten So­phie in Kom­men­tar #38, bin ich zu sa­gen ge­neigt, dass es letzt­lich (doch) an den Wäh­lern liegt (und nur an ih­nen), ihr Ur­teil zu fäl­len und ei­ne ge­ge­be­nen­falls schein­de­mo­kra­ti­schen Be­we­gung ent­spre­chend ein­zu­schät­zen. Kein po­li­ti­sches Sy­stem kann sich vor ei­ner Täu­schung schüt­zen und nie­mand weiß vor­her, was nach­her pas­sie­ren wird. Man kann Phä­no­me­ne, wie den Po­pu­lis­mus, ana­ly­sie­ren und ein­zu­gren­zen ver­su­chen, dann be­nen­nen, aber mehr ist in ei­nem Sy­stem, das nach der po­li­ti­schen Ver­nunft des Ein­zel­nen fragt, nicht zu­läs­sig, wenn man sei­ne Gren­ze nicht über­schrei­ten möch­te. — Und noch ein Wort zum »So­zia­lis­mus«: Man müss­te das ein­mal pro­gram­ma­tisch ana­ly­sie­ren (das wä­re ei­gent­lich ein in­ter­es­san­ter Fol­ge­bei­trag), aber ge­fühlt mei­ne ich, dass die FPÖ sehr wohl ei­ne Art So­zia­lis­mus (»für den klei­nen Mann«) zu­min­dest rhe­to­risch ver­tritt, al­ler­dings in­ner­halb der na­tio­na­len Gren­zen.

    @Leopold Fer­de­r­mair, #33 Ich glau­be nach wie vor, dass das Phä­no­men Po­pu­lis­mus et­was mit der Art zu tun hat, wie Po­li­tik heu­te ver­kauft wird (et­was an­de­res ist das Phra­sen­ge­wer­fe ja nicht; und nie­mand in der Po­li­tik scheint zu be­mer­ken wie vie­le die­se Art des Spre­chens und Nicht­ant­wor­tens satt ha­ben); und mit dem all­ge­mei­nen Zu­stand der Par­tei­en. Die­je­ni­gen, die die deut­sche Po­li­tik bes­ser ken­nen als ich, mö­gen mich kor­ri­gie­ren, aber ich be­haup­te, dass ei­nen Aus­sa­ge wie »Wir wer­den das schon schaf­fen« von ei­nem der wich­tig­sten Po­li­ti­ker ei­nes Lan­des zu ei­nem der drän­gend­sten Pro­ble­me, doch nur mit Ab­wehr und Wi­der­wil­len gou­tiert wer­den kann. Das ist doch die Ver­höh­nung ei­nes je­den Bür­gers! Ein kla­rer, ver­bind­li­cher Ab­riss des­sen, was die Bun­des­re­gie­rung in An­be­tracht der La­ge zu tun ge­denkt und wie man auf ei­ne all­fäl­li­ge Ver­schlech­te­rung oder Ver­bes­se­rung re­agie­ren möch­te, hät­te ei­ne ganz an­de­re Wir­kung ge­habt. Und wenn kei­ner mehr Po­li­tik macht und sich mit Un­ter­neh­mens­jar­gon aus der Af­fä­re zieht, lau­fen die Leu­te lo­gi­scher Wei­se zu de­nen, die das am be­sten kön­nen (zu­dem kann man es den an­de­ren dort auch noch heim­zah­len). Nicht weil die Men­schen den un­ver­nünf­ti­gen Dis­kurs mö­gen lau­fen sie weg, son­dern weil die Un­ver­nunft über­all zu fin­den ist (wenn zum zehn­ten Mal be­teu­ert wird, dass man die ei­ge­ne Po­li­tik bloß bes­ser kom­mu­ni­zie­ren muss, dann ist die lo­gi­sche Fol­ge des Wäh­lers, dass nur mehr die Ab­wahl Ein­sicht brin­gen wird). [Die Dar­stel­lung ist na­tür­lich ein­sei­tig, da kom­men noch an­de­re Aspek­te hin­zu.]

  45. @metepsilonema
    Die Aus­sa­ge von Mer­kel war: »Wir schaf­fen das!« Die­se Be­schwich­ti­gung hat­te ei­nen Vor­läu­fer im Jahr 2008. Da tra­ten plötz­lich an ei­nem Sonn­tag die Bun­des­kanz­le­rin und der da­ma­li­ge Fi­nanz­mi­ni­ster Stein­brück vor die Ka­me­ras und ga­ran­tier­ten den »Spare­rin­nen und Spa­rern« ih­re Spar­ein­la­gen. Da­mit soll­te ein an­geb­lich dro­hen­der Run auf die Bank­schal­ter am näch­sten Tag ent­ge­gen­ge­wirkt wer­den. Es gab Ge­rüch­te, dass auch deut­sche Ban­ken in der da­mals auf dem Hö­he­punkt be­find­li­che Fi­nanz­kri­se stär­ker in­vol­viert sei­en als ge­dacht. Die­se »Ga­ran­tie« war na­tür­lich Un­sinn, denn rein rech­ne­risch wä­re es gar nicht mög­lich ge­we­sen, dass der Staat die ge­sam­ten Spar­ein­la­gen ab­si­chert. Zu­dem geht je­de Bank zu je­der Zeit (ob Kri­se oder nicht) plei­te, wenn al­le Spar­ein­la­gen per so­fort ab­ge­holt wür­den. Aber es war – wie Strö­be­le im Vi­deo sagt – ei­ne po­li­ti­sche Ga­ran­tie, oh­ne recht­li­che Wir­kung. Ähn­li­ches soll­te jetzt in der Flücht­lings­fra­ge eben­falls aus­ge­drückt wer­den.

  46. @ me­te und die Fra­ge, ob
    die FPÖ ei­ne Art So­zia­lis­mus (»für den klei­nen Mann«) zu­min­dest rhe­to­risch ver­tritt, al­ler­dings in­ner­halb der na­tio­na­len Gren­zen...
    Das ist auch ein Lieb­lings-The­ma von mir, denn als West-Deut­scher ha­be ich die So­zi­al-De­mo­kra­tie nur durch ih­re Auf­stei­ger ken­nen ge­lernt, al­so üb­li­cher wei­se Leh­rer, Be­am­te und Rechts­an­wäl­te. So­wohl vom Ha­bi­tus als auch von den po­li­ti­schen Zie­len war für mich im­mer ein »He­ros« des ge­ho­be­nen nicht-tech­ni­schen Dien­stes er­kenn­bar, der hö­he­re An­ge­stell­te mit den schma­len Hän­den.
    Pro­to­ty­pisch passt das sehr gut zum Ver­schwin­den der Ar­beit, und al­les schien mir bis zur Jahr­hun­dert­wen­de ei­gent­lich ganz gut ei­ne all­ge­mei­ne Ent­wick­lung der Le­bens­welt (als Schnitt­men­ge al­ler) ab­zu­bil­den.
    Erst durch den Rechts­po­pu­lis­mus und sei­ne (wahr­lich be­acht­li­che Zu­stim­mung in der Ar­bei­ter­schaft) bin ich dar­auf ge­sto­ßen, dass mit Kli­en­tel und »Re­prä­sen­ta­ti­on« ja auch Er­fah­rung, Spra­che und Prio­ri­tä­ten ge­meint sind. Und da nimmt es nicht Wun­der, dass ei­ne rech­te Par­tei eben­so wie ei­ne Lin­ke in der La­ge ist, sich in die­sem (wert­frei:) Mi­lieu zu ver­an­kern.
    [Viel­leicht ist der »bö­se Na­tio­na­lis­mus« ja auch nur ein Ab­len­kungs-Ma­nö­ver der Mit­tel­schicht-Auf­stei­ger von ei­nem al­ler­dings ge­wal­ti­gen Ver­sa­gen, der er­folg­rei­chen Ver­drän­gung der ei­ge­nen Her­kunft?! Ich spe­ku­lie­re nur...]

  47. @die_kalte_Sophie
    Mül­ler wür­de auf die Fra­ge, ob die FPÖ ei­ne Art So­zia­lis­mus (»für den klei­nen Mann«) zu­min­dest rhe­to­risch ver­tritt, al­ler­dings in­ner­halb der na­tio­na­len Gren­zen… auf das Wort »rhe­to­risch« in me­tep­si­lo­n­e­mas Kom­men­tar ver­wei­sen. Sei­ne The­se ist ja, dass die Be­für­wor­tung de Par­ti­zi­pa­ti­on des Bür­gers per Volks­ent­schei­den o. ä. tat­säch­lich nur Rhe­to­rik sei:

    »Po­pu­li­sten in­ter­es­sie­ren sich gar nicht für die Par­ti­zi­pa­ti­on der Bür­ger an sich; ih­re Kri­tik gilt nicht dem Prin­zip der po­li­ti­schen Re­prä­sen­ta­ti­on als sol­chem … son­dern den am­tie­ren­den Re­prä­sen­tan­ten, wel­che die In­ter­es­sen des Vol­kes an­geb­lich gar nicht ver­tre­ten.« (S. 44/45)

    Die FPÖ als »So­zia­li­sten« für den »klei­nen Mann« mit na­tio­na­ler Aus­prä­gung – das wä­re sehr ähn­lich dem, wie die NSDAP in den 1930er Jah­ren in Deutsch­land re­üs­sier­te. Man er­in­ne­re sich an das sehr kon­tro­vers dis­ku­tier­te Buch von Götz Aly über »Hit­lers Volks­staat«. Im Vor­feld hat­te er da­zu in der SZ ge­schrie­ben: »Hit­ler re­gier­te nach dem Prin­zip „Ich bin das Volk“ und er zeich­ne­te da­mit die po­li­tisch-men­ta­len Kon­tu­ren des spä­te­ren So­zi­al­staats Bun­des­re­pu­blik vor.«

    Po­pu­li­sten müs­sen den »klei­nen Mann« an­spre­chen, da sie das de­mo­kra­ti­sche Prin­zip als Le­gi­ti­ma­ti­on be­nö­ti­gen. Not­falls ge­rie­ren sie sich sel­ber als »klein«.

  48. Ja, das ge­nau der Punkt. Die In­ter­pre­ta­ti­on (das ist ei­ne Grau­zo­ne, wie wir wis­sen) geht mit At­tri­bu­ten wie »rhe­to­risch« vor. Das ist die zen­tra­le An­nah­me. Nichts ge­gen @mete oder Mül­ler, das ist ja ei­ne all­ge­mei­ne Ver­un­si­che­rung. »Rhe­to­risch« heißt »fin­giert«. Ge­plant. Hin­ter­sin­nig. Da­hin­ter kann nur ei­ne Täu­schungs­ab­sicht stecken. Im­pli­ziert:
    Das hat ja schon mal ganz gut funk­tio­niert, wenn auch mit ka­ta­stro­pha­len Fol­gen.
    Ich bin der Mei­nung, es ist kei­ne Täu­schung, we­der bei den Be­ob­ach­tern, noch in der Ab­sicht bei den Ak­teu­ren. Oder an­ders ge­sagt: der »po­li­ti­sche Wahn« ist echt, aber nicht bös­ar­tig. Es sind tat­säch­lich die­sel­ben Mu­ster und Mo­ti­ve wie in den Drei­ßi­ger Jah­ren, was schockiert, aber nicht un­be­dingt zu der An­nah­me be­rech­tigt, man wis­se schon, wie die Sa­che wei­ter­geht. Es ist ei­ne struk­tu­rel­le Neu­auf­la­ge vor ei­nem voll­kom­men neu­en ge­sell­schaft­li­chen Hin­ter­grund.
    Ich den­ke, man kann nur die Mi­lieu-Hy­po­the­se, die ich for­mu­liert ha­be, oder die »Machttechnik«-Hypothese für Deu­tun­gen, Er­klä­run­gen und Emp­feh­lun­gen her­an­zie­hen. Denn »Mi­lieu« be­sagt, der Ver­tre­tungs­an­spruch ist ideo­lo­gisch ernst ge­meint, »Macht­tech­nik« be­sagt, man hat sich was in der Ge­schich­te ab­ge­guckt. Dass hier Be­grif­fe wie »Volk« fal­len, die leicht aus­zu­he­beln sind, soll­te uns doch nicht von der ei­gent­li­chen Fra­ge ab­len­ken: geht die Macht von oben aus, von den An­füh­rern, den Funk­tio­nä­ren, oder kommt die Macht von un­ten... Ei­ne de­leu­zia­ni­sche Fra­ge!

  49. @die_kalte_sophie: Ich würd’s fo­caul­tia­ni­sche ver­su­chen zu ver­ste­hen: Macht ent­steht an al­ler­lei Or­ten. Mir ist auch die Tren­nung in oben und un­ten bzw. Eli­te und die Re­gier­ten zu ein­fach.

  50. Ich ha­be ein we­nig be­fürch­tet, dass das As­so­zia­tio­nen an die 30iger Jah­re wecken wür­de (ich bin kein gro­ßer Freund der all­zu rasch ge­führ­ten hi­sto­ri­schen Par­al­le­len, weil ei­ne Ana­ly­tik des Ge­gen­wär­ti­gen ei­gent­lich zu­nächst ein­mal ge­nü­gen müss­te; da­nach frei­lich kann der hi­sto­ri­sche Ver­gleich sehr in­ter­es­sant und auf­schluss­reich sein). — Ich schrieb »ge­fühlt« und »rhe­to­risch« vor­al­lem des­we­gen, weil ich mir die Pro­gram­ma­tik der FPÖ nicht ge­nau­er an­ge­se­hen ha­be (kom­mu­ni­ziert wird das, zwei­fel­los). Fai­rer­wei­se muss man da­zu sa­gen, dass es auch auf der po­li­tisch Lin­ken na­tio­na­le Be­we­gun­gen gibt (wenn­gleich sel­te­ner).

    Was mich zu dem Punkt bringt, dass man die Po­pu­li­sten im Sin­ne des an­ti­plu­ra­li­sti­schen Ele­ments mit Si­cher­heit erst dann er­kennt, wenn sie al­lei­ne an der Macht sind. Vor­her kann man das nur ver­mu­ten, bzw. aus dem Ge­spro­che­nen oder Ge­schrie­be­nen de­stil­lie­ren.

    Mül­ler hat dem Na­tio­nal­so­zia­lis­mus auch po­pu­li­sti­sche Ele­men­te zu­ge­spro­chen.

    Ich ha­be mir auch schon über­legt (bei Er­doğan, et­wa), in­wie­weit Po­pu­li­sten wie Schau­spie­ler auf­tre­ten, al­so fast schon dem­ago­gisch ver­stellt agie­ren, oder tat­säch­lich all das glau­ben, was sie von sich ge­ben, bzw. tun.

  51. Ich ha­be mir auch schon über­legt (bei Er­doğan, et­wa), in­wie­weit Po­pu­li­sten wie Schau­spie­ler auf­tre­ten, al­so fast schon dem­ago­gisch ver­stellt agie­ren, oder tat­säch­lich all das glau­ben, was sie von sich ge­ben, bzw. tun.

    Ist das nicht die Ar­beits­platz­be­schrei­bung ei­nes Po­li­ti­kers? Und das mei­ne ich nicht po­le­misch. Er greift aus den hun­der­ten von Pro­ble­men zwei, drei her­aus, schnei­det sie mund­ge­recht und ser­viert mit dem der Kli­en­tel an­ge­pass­ten Ge­sicht. Mer­kel vor der Ka­me­ra und Mer­kel im Ka­bi­nett sind wahr­schein­lich zwei grund­ver­schie­de­ne Men­schen.

    Und Göb­bels ei­nen So­zia­li­sten oder Po­pu­li­sten zu nen­nen, wür­de mir schwer fal­len. Dem­ago­ge hat Gre­gor Keu­sch­nig ihm oben zu­ge­schrie­ben und der kommt in je­dem Ge­wand.

    Dok­tor D

    Mir ist auch die Tren­nung in oben und un­ten bzw. Eli­te und die Re­gier­ten zu ein­fach.
    Zu Fou­caults Zei­ten, ja. Aber heu­te auch noch? Ich er­zähl­te oben mei­ne klei­ne Fahr­rad­ge­schich­te. Ver­wer­fun­gen er­zeu­gen mal hier oder da mal ei­nen Wir­bel, aber sta­tisch se­he ich heu­te tat­säch­lich die hap­py few.

  52. @die_kalte_sophie
    Ich glau­be, dass das Schau­en auf Mi­lieus ein we­nig ver­al­tet ist. Gibt es denn noch den »Ar­bei­ter«? (Und wenn ja wo?) Wor­an be­misst man »Mit­tel­schicht« (am Ein­kom­men, das ist klar – aber wo sind die Gren­zen?) Mi­lieus sind flie­ssend ge­wor­den und mit ih­nen die Wahl­ent­schei­dun­gen. Ent­schei­dend ist we­ni­ger der so­zio­lo­gi­sche Be­griff, son­dern wie sich der Ein­zel­ne fühlt. Ich ken­ne sehr wohl Leu­te mit sechs­stel­li­gen Ein­kom­men die sich als be­nach­tei­ligt emp­fin­den und ih­re Steu­er­last als un­ver­schämt. Und ich ken­ne Leu­te mit ei­nem deut­lich ge­rin­ge­ren Ein­kom­men, die zu­frie­den sind.

    »Oben« und »Un­ten« kann man si­cher­lich so­zio­lo­gisch de­fi­nie­ren, aber dar­auf komtm es nicht an. Es geht dar­um, wer von den Po­pu­li­sten an­ge­spro­chen wird. Po­pu­li­sten, die er­folg­reich sein wol­len, müs­sen ein Ge­fühl beim po­ten­ti­el­len Wäh­ler er­zeu­gen, dass sie zu ei­ner Klas­se oder Schicht ge­hö­ren, die von der jet­zi­gen Po­li­tik be­wusst be­nach­tei­ligt wird. So­dann spielt sich der Po­pu­list als Ret­ter auf.

    Es gibt ja ein Pa­ra­do­xon: Ei­ner­seits wol­len vie­le Bür­ger mehr Mit­be­stim­mung, plä­die­ren für di­rek­te De­mo­kra­tie. An­de­rer­seits: Wenn ein Ent­scheid in ih­rer Stadt an­steht, ten­diert die Wahl­be­tei­li­gung bei 20% oder 25% (meist un­ter­halb ei­nes Quo­rums). Gibt man ih­nen auf kom­mu­na­ler Ebe­ne die Mög­lich­keit, Stim­men zu Ku­mu­lie­ren oder zu Pa­na­schie­ren, dann ge­hen die mei­sten doch hin und wäh­len ein­fach die Li­ste (ver­än­dern al­so nichts). Will sa­gen: Es gibt ein Miss­ver­hält­nis zwi­schen dem po­li­ti­schen Wunsch der Par­ti­zi­pa­ti­on und dem, was man da­für tun soll. Und da re­de ich noch gar nicht von der Mög­lich­keit, sich sel­ber in ei­ner Par­tei zu en­ga­gie­ren...

    Ein biss­chen ist es eben so, dass man sich sehr ger­ne raus­hält – um dann um so hef­ti­ger ge­gen die »oben« zu wet­tern.

    @metepsilonema
    Ich ha­be die FPÖ nicht mit der NSDAP ver­gli­chen. Das wä­re auch tö­richt. Ich glau­be auch nicht, dass es be­reits Vor­aus­set­zun­gen sind wie in den 1930er Jah­ren. Das war ei­ne ganz an­de­re po­li­ti­sche Si­tua­ti­on (man sehe/höre hier und hier).

    Laut Mül­ler nei­gen Po­pu­li­sten in der Re­gie­rung da­zu, sich dau­er­haft Macht zu ver­schaf­fen. Das Wort »Dik­ta­tur« ver­mei­det er, aber ge­nau dar­auf läuft es hin­aus. In Un­garn, Po­len, Tür­kei und auch Ve­ne­zue­la (Cha­vez-Nach­fol­ge) wird dies im­mer deut­li­cher. Ziel soll­te es al­so, sol­che Par­tei­en nicht fe­der­füh­rend in Re­gie­run­gen zu brin­gen.

    Wo­bei die Tür­kei ein Son­der­fall ist. Er­doğan galt lan­ge als mo­de­rat; er re­for­mier­te die Tür­kei vor al­lem öko­no­misch (es ent­stand ei­ne brei­te­re Mit­tel­schicht). Mit ihm wur­den 2005 die Bei­tritts­ver­hand­lun­gen zur EU auf­ge­nom­men. Wer sich da­mals ge­gen ei­ne Auf­nah­me der Tür­kei aus­sprach, galt min­de­stens als du­bi­os. Ir­gend­wann wur­de er dann im­mer to­ta­li­tä­rer. Tat­säch­lich zeigt Er­doğan dik­ta­to­ri­sche Zü­ge. Ob man da­durch bes­sert, in dem man ihn mit Schmä­hun­gen be­deckt oder bil­lig­mu­ti­ge Ar­me­ni­en-Re­so­lu­tio­nen auf­setzt, sei da­hin­ge­stellt.

  53. @ Dok­tor D et alt. Mir war klar, dass die Fra­ge nach den »Aus­gangs­punk­ten« der Macht na­iv rü­ber­kom­men wür­de, aber we­nig­stens der »Dok­tor« hat mich ver­stan­den. In der Tat kann der post-foucault’sche Macht­be­griff kein Zen­trum und kei­ne Mit­te mehr ver­or­ten. Trotz­dem möch­te ich noch ein­mal dar­auf ein­ge­hen, dass es sich beim Po­pu­lis­mus mMn we­der um Ver­füh­rung noch um Schau­spie­le­rei han­delt. Wenn man das Künst­li­che be­to­nen möch­te: ein »po­li­ti­sches Kon­strukt«, wel­ches ei­nen ein­fa­chen nied­rig­schwel­li­gen Zu­gang zum po­li­ti­schen Feld er­laubt.
    Ich ge­he von mir aus: wenn ich (was der Fall ist) nicht mehr sa­gen kann, wie die Ban­ken­ge­set­ze zum Vor­teil der Volks­wirt­schaft ver­än­dert wer­den kön­nen, wie das En­er­gie-Ein­spei­sungs­ge­setz hin­sicht­lich der staat­li­chen Preis-Ga­ran­tien mo­di­fi­ziert, oder das Erb­schafts­steu­er­ge­setz an­ge­legt sein kann, oh­ne die Sub­stanz der mit­tel­stän­di­schen Un­ter­neh­men zu ge­fähr­den, etc. etc. Dann kann ICH an die­sen Po­li­tik-Ent­schei­dun­gen nicht teil­neh­men.
    Da gibt es ei­ni­ges, was ich nicht ver­ste­he.
    Wie sieht es un­ten aus?!
    Klar...
    Viel­leicht war des­halb der Mi­lieu-Be­griff auch ir­re­füh­rend. Es geht schon um das so­zio­lo­gi­sche Pro­fil aber auch die gei­sti­gen Mög­lich­kei­ten sei­ner Be­woh­ner. Die Grund-Er­fah­rung in ei­ner spät­mo­der­nen De­mo­kra­tie scheint mir doch die schwie­ri­ge bis ten­den­zi­ell schei­tern­de Teil­nah­me an po­li­ti­schen Pro­zes­sen zu sein, al­so ei­ne in­tel­lek­tu­ell und kom­mu­ni­ka­tiv be­ding­te »Ent-Po­li­ti­sie­rung«. Ver­steht man die­se Wort­wahl?! Da kann nie­mand was für, auch nicht die Par­tei­en.
    Dies ge­setzt, fü­ge ich nur zwei Aspek­te zu­sam­men: ein­mal den von mir oben schon be­schrie­be­nen »Wil­len zur Po­li­tik«, al­so das vi­ta­le In­ter­es­se dar­an teil­zu­neh­men, und dann ein Er­eig­nis von au­ßen, ein sehr ein­fa­ches Er­eig­nis, das gleich­wohl po­li­tisch auf­ge­fasst wer­den kann, –die an­hal­ten­de Ein­wan­de­rung von Mus­li­men aus dem ara­bi­schen Kul­tur­raum, die »mo­no­kul­tu­rel­le Er­wei­te­rung« der au­to­ch­to­nen Be­völ­ke­rung.
    Was wird pas­sie­ren?!
    Nun wir wis­sen es be­reits...
    Aber wä­ren wir schlau ge­nug ge­we­sen, es vor­her zu se­hen?!
    Gib der Be­völ­ke­rung ein »ein­fa­ches The­ma« und Du hast ver­lo­ren, als tech­no­kra­ti­scher Ex­per­te für Frau­en-Gleich­stel­lung oder En­er­gie-Po­li­tik.
    Die Be­din­gung für die Ent­ste­hung ei­ner po­pu­li­sti­schen Par­tei ist ein »ein­fa­ches The­ma«, das trotz­dem von po­li­ti­scher und vi­ta­ler Be­deu­tung ist. Das hät­te auch Pro­sti­tu­ti­on sein kön­nen, aber es sind die Ein­wan­de­rer.

  54. @die_kalte_Sophie
    Je kom­ple­xer po­li­ti­sche Ent­schei­dun­gen da­her­kom­men, de­sto schwie­ri­ger wird es ja, die­se zu tref­fen. Das ist tat­säch­lich ein Pro­blem. Ei­ne »Mei­nung« zu ei­nem The­ma kann ich in ei­ner Mi­nu­te ha­ben. Die­se Form der »Mei­nung« ist aber im­mer stark ver­ein­fa­chend. In sol­chen Ver­ein­fa­chun­gen be­we­gen sich die gän­gi­gen so­ge­nann­ten Po­lit-Talk­shows wie »An­ne Will« oder »May­brit Ill­ner«. Wer hier ans »Ein­ge­mach­te« geht, wird bin­nen 20 Se­kun­den un­ter­bro­chen. Tat­säch­lich trau­en sich vie­le po­li­ti­sche Be­ob­ach­ter eher zu den Nah­ost-Kon­flikt zu lö­sen, als ei­ne kom­mu­nal­po­li­ti­sche Ent­schei­dung über ei­ne Um­ge­hungs­stra­ße zu tref­fen. Des­halb will je­der Au­ßen­mi­ni­ster wer­den – aber kaum noch je­mand Bür­ger­mei­ster (okay, das war jetzt po­le­misch).

    Po­pu­li­sten leug­nen Kom­ple­xi­tät und agie­ren in Schlag­wor­ten und Emo­tio­nen. Da­bei fal­len Fak­ten schon mal ger­ne un­ter den Tisch. Schwie­ri­ge Sach­ver­hal­te wer­den da­durch auch ent­kräf­tet, dass man be­stimm­te Grund­an­nah­men (po­li­ti­sche Kon­sen­se) schlicht­weg in Zwei­fel zieht. Wer bei­spiels­wei­se kei­ne Zu­wan­de­rung wünscht, braucht sich um die In­te­gra­ti­ons­ge­setz­ge­bung nicht mehr zu küm­mern. Und wenn man glaubt, dem Kli­ma­wan­del nichts ent­ge­gen­set­zen zu kön­nen, dann sind Maß­nah­men für Strom­tras­sen, die die Wind­ener­gie vom Nor­den in den Sü­den brin­gen, nicht mehr not­wen­dig. So funk­tio­niert Kom­ple­xi­täts­re­du­zie­rung auch.

    Po­pu­lis­mus ist eben nicht, wie Mül­ler das sug­ge­riert, ei­ne Art von po­li­ti­scher Rich­tung. Po­pu­lis­mus ist vor al­lem (und zu­nächst) ei­ne Tech­nik, mit­tels rhe­to­ri­scher und me­dia­ler Ver­ein­fa­chun­gen den je­weils vor­herr­schen­den po­li­ti­schen Ge­fühls­la­gen po­ten­ti­el­ler Wäh­ler op­por­tu­ni­stisch an­zu­pas­sen. Der ideo­lo­gi­sche Über­bau, die »Mis­si­on«, kommt meist spä­ter. Zu­erst ist al­so, um es sa­lopp zu for­mu­lie­ren, Trump. Spä­ter wird es dann Le Pen.

  55. @ Gre­gor, sehr gut, die Ab­stu­fung von Trump ge­gen­über Le Pen! Wie macht Trump ei­gent­lich »Po­pu­lis­mus« oh­ne The­ma?! Of­fen­bar rei­chen die Sim­pli­fi­zie­run­gen in al­len Po­li­tik-Fel­dern. Nach mei­nem Aus­sa­gen wä­re er so was wie ein free­lan­cer im Ge­schäft... Mein Mo­dell ist na­tür­lich auf Deutsch­land, Öster­reich und Frank­reich zu­ge­schnit­ten, wo das The­ma Ein­wan­de­rung oder das The­ma Währung/Europäische Ver­trä­ge schon vor­liegt.
    Zu­stim­mung wei­ter­hin: Mül­ler sug­ge­riert ei­ne Rich­tung, ei­nen dif­fu­sen Wil­len. Ob­wohl man in Eu­ro­pa sehr gut die The­men er­ken­nen kann. Das ist schon sehr merk­wür­dig. Als ob man in Eu­ro­pa be­reit wä­re, über die ver­deck­te Ein­wan­de­rung und die ver­zwick­ten In­ter­de­pen­den­zen des Wäh­rungs­raums zu spre­chen! Wenn nur nicht die­se au­to­ri­tä­re chau­vi­ni­sti­sche At­ti­tu­de wä­re... Dar­über gibt es kei­nen »Ge­sprächs­be­darf«, sa­ge ich mal in be­stem mer­ke­lia­ni­schem Neu­sprech.

  56. @die_kalte_Sophie
    Na­ja, The­men hat Trump schon; zur Not schafft er wel­che. Er will die USA zu al­ter Stär­ke zu­rück­brin­gen – was im­mer das be­deu­tet. Und flüch­tet sich in den Iso­la­tio­nis­mus. Das kommt an, weil die Ame­ri­ka­ner die Na­se voll ha­ben von ih­rer Po­li­zi­sten­rol­le. Er ist ja so­gar ge­gen die NATO. So dumm muss man erst ein­mal sein, denn die NATO si­chert den USA ja den po­li­ti­schen Ein­fluss auf Eu­ro­pa. Er ist ge­gen mus­li­mi­sche und me­xi­ka­ni­sche Ein­wan­de­rung und be­dient hier ein dif­fu­ses Ge­fühl. Das ist üb­ri­gens sehr ge­fähr­lich, weil die USA na­tür­lich ei­ne Ein­wan­de­rungs­ge­sell­schaft ist. Wer er ge­gen ein­zel­ne Grup­pen hetzt, dann könn­ten sich auch die be­trof­fen füh­len, die der Grup­pe ent­stam­men aber längst in­te­griert und as­si­mi­liert sind. Und er ist ge­gen »die da oben«. Das ist kaum zu schla­gen.

  57. re: Trump: Ge­gen »Die da oben« und »Wa­shing­ton« zu kämp­fen, ist in den USA spä­te­stens seit dem Se­zes­si­ons­krieg ei­nes der zen­tra­len The­men, über das sich die Na­ti­on über ihr ei­ge­nes Selbst­ver­ständ­nis strei­tet. Wenn nicht das zen­tra­le. Und seit der Sou­thern Stra­tegy heißt das schlicht und er­grei­fend auch, dass man ras­si­stisch, an­ti-se­mi­tisch und ho­mo­phob zu­min­dest dog-whist­led, wenn nicht of­fen so kom­mu­ni­ziert. Da­mit hat ja auch das San­ders-Camp zu kämp­fen (ge­habt) – er­staun­lich vie­le Leu­te, die sich als pro­gres­siv oder li­berl ver­ste­hen, sind da ganz häu­fig in selt­sa­me rhe­to­risch-se­man­ti­sche Re­gio­nen weg­ge­rutscht.

    Po­pu­lis­mus als Macht­tech­nik von @gregor keu­sch­nig – das kommt ziem­lich dem nah, was ich mir aus un­se­rer Dis­kus­si­on hier er­schlos­sen ha­be.

    Zi­tat @die_kalte_sophie:
    »Die Grund-Er­fah­rung in ei­ner spät­mo­der­nen De­mo­kra­tie scheint mir doch die schwie­ri­ge bis ten­den­zi­ell schei­tern­de Teil­nah­me an po­li­ti­schen Pro­zes­sen zu sein, al­so ei­ne in­tel­lek­tu­ell und kom­mu­ni­ka­tiv be­ding­te »Ent-Po­li­ti­sie­rung«.« – Das er­scheint mir ei­ne sehr ge­naue Be­schrei­bung der Er­fah­rung zu sein, gleich­zei­tig ha­be ich den Ein­druck, dass die­se Er­fah­rung aus kom­plett un­rea­li­sti­schen An­sprü­chen der Be­völ­ke­rung an den po­li­ti­schen Pro­zess be­steht. Wie hier schon mehr­fach be­schrie­ben, ist der eben lang­sam, zäh, oh­ne ob­jek­ti­ves, weil ab­so­lut rich­ti­ges Er­geb­nis, ein lan­ger Aus­hand­lungs­pro­zess etc. – und das war schon im­mer so, selbst auf der Ago­ra. Volks­be­fra­gun­gen etc. ver­decken das im Grun­de, weil da auch so ein In­stant Gra­ti­fi­ca­ti­on-Charme her­um­weht, und ma­chen die Sa­che, näm­lich das grund­sätz­li­che Miss­ver­ständ­nis des po­li­ti­schen Pro­zes­ses, nur schlim­mer. Da­bei sind die Mög­lich­kei­ten, sich heu­te in DE am po­li­ti­schen Pro­zess prak­tisch ode auch nur kom­mu­ni­ka­tiv zu be­tei­li­gen, un­glaub­lich groß – das schei­nen nur die mei­sten da­mit zu ver­wech­seln, dass ihr Wil­le ge­sche­he. Wo­her die­ses Miss­ver­ständ­nis kommt, ist mir nicht so wirk­lich deut­lich. War­um Men­schen in Frank­reich, den Front Na­tio­nal un­ter­stüt­zen, ist mir kla­rer als hier die AfD etc.: In FR ist es tat­säch­lich schwie­rig für Men­schen, die nicht aus den 5 bis 10 Edel-Hoch­schu­len kom­men, auch nur auf Re­gio­nal-Ebe­ne in ir­gend­wie in­ter­es­san­te Po­si­tio­nen zu kom­men, und der FN er­öff­net da tat­säch­lich Chan­cen. Aber in DE ist man ja qua­si ratz­fatz in der Kom­mu­nal­po­li­tik, wenn man sich nur ein biss­chen auf die Hin­ter­bei­ne stellt.

  58. Das er­scheint mir ei­ne sehr ge­naue Be­schrei­bung der Er­fah­rung zu sein, gleich­zei­tig ha­be ich den Ein­druck, dass die­se Er­fah­rung aus kom­plett un­rea­li­sti­schen An­sprü­chen der Be­völ­ke­rung an den po­li­ti­schen Pro­zess be­steht.

    Das gilt für die ge­nann­te Um­ge­hungs­stra­ße (durch EU ei­gent­li­che auch schon nicht mehr), auch für die Im­plan­ta­ti­ons­dia­gno­stik (so­lan­ge das noch nicht als Busi­ness glo­ba­li­siert ist), aber, ich wie­der­ho­le mich, bei den ganz dicken Bret­tern weiß der Ab­ge­ord­ne­te heu­te nicht mehr wor­über er ab­stimmt, er hat über das ab­zu­stim­men­de The­ma viel­leicht ein biss­chen auf dem Flur dis­ku­tiert, aber nicht im Ple­num, dann kommt Kau­der etc. hält ei­ne dra­ma­ti­sche Re­de im Aus­schuss, war­um so oder so ab­zu­stim­men ist und al­le hal­ten sich dar­an, weil man den gan­zen Kä­se, den man kurz vor der Ab­stim­mung in eng­li­scher Spra­che er­hal­ten hat so­wie­so nicht mehr le­sen kann und weil man in der näch­sten Le­gis­la­tur doch dies oder das wer­den möch­te.

    Da wird nicht nur der Wäh­ler ent­mün­digt, der Ab­ge­ord­ne­te da­zu. Da­mit ist nicht nur die re­prä­sen­ta­ti­ve De­mo­kra­tie er­le­digt, die Ge­wal­ten­tei­lung ist de fac­to auf­ge­ho­ben. Wer letzt­lich die Ent­schei­dung fällt ist voll­kom­men un­klar. Ich hat­te z.B. »mei­nen« Ab­ge­ord­ne­ten kon­tak­tiert, wie sein Ab­stim­mungs­ver­hal­ten ge­gen­über CETA sei­ne wird, wenn die pri­va­ten Schieds­ge­rich­te wei­ter Be­stand­teil sind. Er hat­te mir aus­drück­lich ge­sagt, dass die SPD-Frak­ti­on nie­mals zu­stim­men wird. Jetzt gibt es wohl EU-on­ly und der Bun­des­tag wird zur Quatsch­bu­de. Und es gibt kei­ne de­mo­kra­ti­sche Al­ter­na­ti­ve, die man wäh­len könn­te.

    Das schafft den Raum für Po­pu­li­sten. In Deutsch­land ha­ben wir in den letz­ten Jah­ren doch mehr­fach ge­se­hen, wie hung­rig die Wäh­ler dar­auf sind je­man­den wäh­len zu kön­nen, der wie auch im­mer nicht zu die­sem schmut­zi­gen Ge­schäft ge­hört. Erst hat­ten die Grü­nen plötz­lich aben­teu­er­li­che Zu­stim­mungs­ra­ten, dann wur­den al­le Pi­ra­ten ge­wählt, die nicht bei drei auf den Bäu­men wa­ren und jetzt ist es halt AfD. Wenn De­mo­kra­tie kei­ne Al­ter­na­ti­ven bie­tet, ist ho­he Zeit für Rat­ten­fän­ger. Dann den Wäh­ler als un­ter­kom­plex zu be­schimp­fen, emp­fin­de ich als Hohn.

  59. Al­so, beim @Doktor muss ich noch mal nach­ha­ken. Ich glau­be nicht, dass es ein Miss­ver­ständ­nis in der Be­völ­ke­rung dar­über gibt, wel­che An­stren­gung für ei­ne fun­dier­te Teil­nah­me an ei­ner po­li­ti­schen Ent­schei­dung nö­tig ist. Ich glau­be im Ge­gen­teil, dass die De­mo­kra­tie per­ma­nent »mit ih­rem gu­tem Ruf« kämpft, näm­lich dass es ei­ne Mög­lich­keit oder Chan­ce für je­den gibt, an die­sen Pro­zes­sen teil­zu­neh­men. Das ist schlicht nicht der Fall.
    Gut ver­gleich­bar mit dem ame­ri­ka­ni­schen Ver­fas­sungs-Grund­satz des »pur­su­it of ha­pi­ness«. Hält kei­ner nä­he­ren Be­trach­tung stand.
    Ein wei­te­rer Ver­gleich, zu Be­ginn der Zeit­rech­nung im Mit­tel­meer­raum war das ent­schei­den­de re­li­giö­se The­ma: was geht es wei­ter nach dem Tod für die ein­fa­chen Leu­te. Dass der Pha­rao und der Kai­ser ewig le­ben, war klar. Dar­auf konn­te das Chri­sten­tum die be­ste Ant­wort ge­ben, und hat so den Wett­be­werb der An­ge­bo­te für sich ent­schie­den.
    Ist es ge­wagt, wenn ich den Po­pu­lis­mus auch als ei­ne Zei­ten­wen­de in die­sem Sin­ne in­ter­pre­tie­re?! Wie geht es wei­ter mit der Po­li­tik für die ein­fa­chen Leu­te?!
    *
    Sehr stich­hal­tig fin­de ich eu­re Aus­füh­run­gen zum Po­lit-Tech­ni­ker »Trump«. Ich glau­be, da­mit hät­te auch Mül­ler ei­nen bes­se­ren ana­ly­ti­schen An­satz fin­den kön­nen, weil sich bei Trump die Roh­form ab­zeich­net. Ich wen­de mich nur ge­gen die Ab­schlei­fung des so­zi­al­psy­cho­lo­gi­schen Mo­tivs »ge­gen die da oben« zum Dau­er­the­ma. Das ist eben kein The­ma. Das ge­hört zur Tech­nik, zur po­li­ti­schen Mo­ti­va­ti­on, bzw. stellt das we­sent­li­che iden­ti­fi­ka­to­ri­sche An­ge­bot dar.

  60. @Joseph Bran­co: Aber ge­ra­de CETA und TTIPP sind doch Bei­spie­le, die zei­gen, dass au­ßer­par­la­men­ta­ri­sche Mo­bi­li­sie­run­gen, der Zu­sam­men­schluss vie­ler in­ter­na­tio­na­ler In­itia­ti­ven tat­säch­lich was bringt. Die bei­den sind im­mer noch nicht durch, es wur­de deut­lich mehr Trans­pa­renz her­ge­stellt als ur­sprüng­lich ge­wollt – und im Bun­des­tag wird der Ver­trag zur Ab­stim­mung ge­stellt wer­den müs­sen: http://www.wiwo.de/politik/europa/freihandelsabkommen-ceta-bundesregierung-stellt-sich-quer/13727484.html
    Schon der Dis­sens zwi­schen Bu­Reg und EU-Kom­mis­son ist schon ein Er­folg der Leu­te, die sich da­ge­gen en­ga­giert ha­ben.
    Auch bei Ih­nen ist mir die­ser Re­flex un­ver­ständ­lich, schon den ganz nor­ma­len Gang der Po­li­tik als schmut­zi­ges Ge­schäft zu de­nun­zie­ren – bei gleich­zei­ti­ger Fo­kus­sie­rung auf die »Quatsch­bu­de« Par­la­ment. Na­tür­lich sind Par­la­men­ta­ri­er ver­schie­de­nen Lo­gi­ken der Mei­nungs- und Wil­lens­bil­dung aus­ge­setzt, ge­ra­de in ei­ner pri­mär über Par­tei­en or­ga­ni­sier­ten De­mo­kra­tie wie in DE. Par­tei-Lo­gik ge­hört da eben da­zu und ist nicht il­le­ge­tim. Ge­ra­de in­ner­halb gro­ßer Frak­tio­nen gibt’s ja ein brei­tes Mei­nungs­spek­trum – das Frak­ti­ons­chefs da so ein­fach »durch­re­gie­ren« hal­te ich, auch auf der Ba­sis von Kon­tak­ten mit Par­la­men­ta­rie­rIn­nen, für ei­nen My­thos.

    Ich bin seit ein paar Jah­ren auf kom­mu­na­ler und re­gio­na­ler Ebe­ne po­li­tisch en­ga­giert – nicht über ei­ne Par­tei, son­dern über Ver­ei­ne, Bür­ger­initia­ti­ven (v.a. Stutt­gart 21) und die ev. Kir­che. Das hat mei­ne Ein­schät­zung und mei­ne Wert­schät­zung der Ar­beit von Po­li­ti­ke­rIn­nen ge­gen­über ziem­lich ver­än­dert – auch ge­gen­über de­nen, die ich ak­tiv be­kämpft ha­be oder noch be­kämp­fe. Man be­kommt ei­nen sehr viel rea­li­sti­sche­res Bild da­von, was Po­li­tik und Po­li­ti­kern über­haupt kön­nen und was nicht – manch­mal auch ein rea­li­sti­sche­res als die­se selbst. Me­di­en und Po­li­tik selbst ar­bei­ten ja un­er­müd­lich dar­an, dass wir die Macht der Po­li­tik über- und die Un­ge­si­cher­heit und Un­re­gel­bar­keit des Stands der Din­ge so­wie un­se­re ei­ge­nes Ver­mö­gen un­ter­schätzt. Vie­le Po­pu­li­sten sind ja auch schwer ent­täuscht, wie we­nig Macht sie ha­ben, wenn sie an der Macht sind – selbst wenn sie den Staat dann be­herzt in Rich­tung ge­lenk­te De­mo­kra­tie, Au­to­ri­ta­ris­mus oder ech­te Dik­ta­tur ent­wickeln.

  61. @Doktor D
    Na­ja, ich ken­ne nicht US-Wahl­kämp­fe seit den Se­zes­si­ons­krie­gen, aber es mag da durch­aus auch an­de­re The­men ge­ge­ben ha­ben. Car­ter ge­rier­te sich 1976 als Re­for­mer oh­ne die gro­ße rhe­to­ri­sche Keu­le zu schwin­gen. 1980 ge­wann Rea­gan mit sei­ner an­ti-eta­ti­sti­schen Wirt­schafts­dok­trin. Auch Clin­ton the­ma­ti­sier­te 1992 die Wirt­schafts­po­li­tik und woll­te – ver­ein­facht – mehr Wohl­stand er­rei­chen. Und Oba­mas Wahl­kampf war ge­wiss kein An­ti-Estab­lish­ment-Ding. Es war so ziem­lich das Ge­gen­teil von dem Wahl­kampf, den Trump jetzt macht.

    @Doktor D
    Das ist ge­nau mei­ne The­se: Die dick­sten »Bret­ter« in der Po­li­tik wer­den auf kom­mu­na­ler und re­gio­na­ler Ebe­ne ge­bohrt. Es ist eben ein ve­ri­ta­bler Un­ter­schied, ob ich ei­ne Um­ge­hungs­stra­ße, ei­ne Strom­tras­se oder ei­ne Müll­de­po­nie in Stadt­teil A oder Stadt­teil B bau­en las­sen möch­te. In je­dem Fall tre­te ich näm­lich Leu­ten auf die Fü­sse, die ich lie­be oder has­se – aber eben oft ge­nug ken­ne. Bei der Zu­wei­sung von Flücht­lin­gen be­son­ders im Herbst und Win­ter wur­den die Land­rä­te und Bür­ger­mei­ster vor Pro­ble­men ge­stellt, die be­wäl­tigt wer­den muss­ten. Da ha­be ich je­den Re­spekt vor, weil die­se Po­li­ti­ker vor Ort oft den Quatsch aus­zu­ba­den ha­ben, den ih­nen an­de­re (auch oft ge­nug Par­tei­freun­de) ein­brocken.

    Vie­le Po­pu­li­sten sind ja auch schwer ent­täuscht, wie we­nig Macht sie ha­ben, wenn sie an der Macht sind – selbst wenn sie den Staat dann be­herzt in Rich­tung ge­lenk­te De­mo­kra­tie, Au­to­ri­ta­ris­mus oder ech­te Dik­ta­tur ent­wickeln.
    Das ist ein sehr in­ter­es­san­ter Punkt, weil sich Po­pu­li­sten eben nicht für die Po­li­tik »vor Ort« in­ter­es­sie­ren (we­nig­stens nicht pri­mär), son­dern eher den »gro­ßen« Fra­gen wid­men. Man kann dass dar­an se­hen, dass Re­prä­sen­tan­ten po­pu­li­sti­scher Par­tei­en auf kom­mu­na­ler, re­gio­na­ler oder lan­des­po­li­ti­scher Ebe­ne sehr oft schei­tern (beim FN ist das wohl jetzt im­mer mehr sicht­bar). Ent­we­der fehlt ih­nen die Pro­blem­lö­sungs­kom­pe­tenz oder sie zer­strei­ten sich mit ih­ren »Kol­le­gen«.

  62. @Joseph Bran­co
    Nicht der Wäh­ler ist »un­ter­kom­plex«, son­dern das An­ge­bot, dass man ihm un­ter­brei­tet. Das ge­schieht be­wusst. Und ist nicht auf po­pu­li­sti­sche In­ter­pre­ten be­schränkt.

    Die AfD spricht ei­ne an­de­re Kli­en­tel an als bei­spiels­wei­se die »Pi­ra­ten«. Das war im klas­si­schen Sin­ne ei­ne Pro­test­par­tei. Sie hät­ten re­üs­sie­ren kön­nen, wenn sie ein The­ma ge­habt hät­ten, das die Be­völ­ke­rung mit­ge­ris­sen hät­te wie wei­land die Grü­nen, die zwei­glei­sig fuh­ren: Atom­ener­gie und mi­li­tä­ri­sche Auf­rü­stung. Es muss­ten bei­de The­men sein; ei­nes hät­te nicht aus­ge­reicht. Auch hier war üb­ri­gens sehr viel Po­pu­lis­mus im Spiel; das nann­te man da­mals nur noch nicht so (man nann­te es »Pa­nik­ma­che«).

    Die SPD hat­te lan­ge den Feh­ler ge­macht, die Grü­nen zu un­ter­schät­zen und dann wa­ren die­se Wäh­ler prak­tisch auf im­mer ver­lo­ren. Ähn­li­ches könn­te der Uni­on mit der AfD dro­hen, die auch min­de­stens zwei The­men mit Dau­er­bren­ner­cha­rak­ter hat: Flüchtlinge/Integration/Islam und EU/Euro. 2017 ent­schei­det sich, wo­hin die Rei­se geht. Wenn es der Re­gie­rung ge­lingt, die­sen The­men die po­pu­li­sti­sche Bri­sanz zu neh­men, be­kommt die AfD viel­leicht 7% oder 8% (und ist dann 2021 weg aus dem Bun­des­tag). Wird ei­nes der The­men – oder gar bei­de – wie­der vi­ru­lent, dann droht der GAU.

  63. Ich glau­be, da ha­ben Sie mich miss­ver­stan­den. Ich hat­te nicht ge­schrie­ben, dass das nor­ma­le Rin­gen um Lö­sun­gen ein »schmut­zi­ges Ge­schäft« ist, das ist ori­gi­nä­re De­mo­kra­tie, von mir auch mit har­ten Ban­da­gen. »Schmut­zi­ges Ge­schäft« ist zu ver­ber­gen, dass die Me­cha­nis­men der De­mo­kra­tie eben aus­ge­he­belt sind, was ich glau­be ich deut­lich ge­macht ha­be.

    Und Quatsch­bu­de ist hier nicht der de­nun­zia­to­ri­sche Be­griff der Wei­ma­rer Re­pu­blik, son­dern das Aus­he­beln des Bun­des­ta­ges als Ort der De­bat­te oder bes­ser Dis­kus­si­on. Ich hat­te letz­tes Jahr das Buch von Klaus-Pe­ter Willsch, zu­ge­ge­ben ein et­was un­an­ge­neh­mer Typ, über die Rol­le des Haus­halts­aus­schus­ses wäh­rend der Grie­chen­land­kri­se ge­le­sen. Auch wenn Willsch et­was weh­lei­dig und ei­tel ist, al­lein der prüf­ba­re Ab­lauf ent­spricht ge­nau dem was ich ge­schrie­ben hat­te.

    Be­züg­lich TTIP/CETA sieht es mo­men­tan eher so aus, dass auf EU-Ebe­ne ent­schie­den wird, ob es sich um ein ge­misch­tes Ab­kom­men han­delt oder nicht. Da­mit wä­re der Bun­des­tag au­ßen vor. Wer die ge­sam­te Ent­wick­lung von den Se­at­tle-Ri­ots, über Do­ha bis TTIP ver­folgt hat, kann ei­gent­lich aus mei­ner Sicht nur zu dem Schluss kom­men, dass nicht de­mo­kra­ti­sche Kräf­te mas­siv ver­su­chen un­de­mo­kra­ti­sche Ver­fah­ren durch­zu­set­zen. Al­lei­ne der Durch­hal­te­wil­le soll­te zei­gen, dass es um et­was Bahn­bre­chen­des geht. Falls dies oh­ne Bun­des­tag pas­sie­ren soll­te, was mög­lich ist, wä­re die Ver­fas­sung le­gal aus­ge­he­belt (Das wir ei­ne ve­ri­ta­ble Ver­fas­sungs­kri­se ha­ben, wird auch nicht im­mer ge­se­hen. Das Ver­hält­nis zwi­schen Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt und Eu­GH ist völ­lig un­ge­klärt).

  64. Die dick­sten »Bret­ter« in der Po­li­tik wer­den auf kom­mu­na­ler und re­gio­na­ler Ebe­ne ge­bohrt.

    Ob es die dick­sten Bret­ter sind, wür­de ich be­zwei­feln. Aber müh­sam und wie Sie schon schrei­ben durch die grö­ße­re Nä­he auch von an­de­rer Qua­li­tät ist das schon. Da ha­ben mich die ame­ri­ka­ni­schen Town­hall­mee­tings im­mer sehr fas­zi­niert. Da kann wirk­lich je­der er­schei­nen und sei­ne Mei­nung sa­gen. Ge­leb­te De­mo­kra­tie. Und Po­pu­li­s­ti­ten wer­den dort ver­mut­lich viel schnel­ler de­cou­vriert.

    Wenn mei­ne Be­fürch­tun­gen ge­gen­über den (pri­va­ten) Schied­ge­rich­ten und der (käuf­li­chen) Wis­sen­schafts­ba­sie­rung von TTIP auch nur an­nä­hernd wahr sind, ist dies in sei­nen Aus­wir­kun­gen ein enorm dickes Brett.

  65. @Gregor et al#53
    Von der Macht fern­hal­ten oder sie in Ko­ali­tio­nen ein­he­gen. Aber um das zu er­rei­chen müss­te man die Ur­sa­chen ih­rer Er­fol­ge frei­le­gen. Im­mer­hin ha­ben wir, glau­be ich, ei­nen weit­ge­hen­den Kon­sens »den Po­pu­lis­mus« als Me­tho­de oder Tech­nik auf­zu­fas­sen. Wenn die kal­te So­phie mit der Über­le­gung hin­sicht­lich des Aus­schlus­ses auf Grund der Kom­ple­xi­tät schon ein­zel­ner po­li­ti­scher The­men, recht hat, dann wer­den wir den Po­pu­lis­mus kaum mehr weg­be­kom­men, ganz im Ge­gen­teil, wir wer­den froh sein müs­sen, wenn er nicht wei­ter zu nimmt (po­pu­li­stisch wäh­len, könn­te man dann als ei­ne Art Ab­wehr­hal­tung deu­ten, al­ler­dings wä­re das dann wie­der ei­ne Er­klä­rung die ähn­lich sim­pel, wie die der Mo­der­ni­sie­rung­ver­lie­rer oder die der Ab­stiegs­äng­ste wä­re, sie­he auch Jo­seph Bran­co, oben; ich bin kein Freund die­ser Ein­fa­ch­er­klä­run­gen). — Viel­leicht soll­ten wir uns noch ein­mal der Er­folgs­ge­schich­te (den Er­folgs­ur­sa­chen) die­ser Me­tho­de zu­wen­den?

    @Joseph Bran­co #52
    Ich glau­be Mül­ler kommt um die­se Zu­schrei­bung in­ner­halb sei­ner Lo­gik nicht her­um (Volks­wil­le), aber er re­du­ziert den Na­tio­nal­so­zia­lis­mus nicht dar­auf (wes­halb ich »auch« schrieb).

    Viel­leicht bin ich zu na­iv, aber ich hof­fe, dass nicht je­der Po­li­ti­ker, das als sei­ne Ar­beits­platz­be­schrei­bung ver­steht.

    Und zu #59: Und es gibt auch ge­nü­gend Bei­spie­le wie »un­folg­sa­me« Ab­ge­ord­ne­te be­han­delt wer­den (vom nicht mehr aus­ge­stellt wer­den, bis zu ver­ba­len An­grif­fen).

    @Doktor D
    Wir­kun­gen bei CETA kann ich kei­ne gro­ßen er­ken­nen: Es wur­de nach­ge­bes­sert und steht, es wird viel­leicht so­gar noch vor­zei­tig als nicht ge­misch­tes Ab­kom­men in Kraft tre­ten.

  66. @Josef Bran­co: Dan­ke für die Klä­rung! Ich hab’ wirk­lich am Bei­trag vor­bei ver­stan­den :D, weil ich mich von den Buz­zwords ha­be ins Bocks­horn ja­gen las­sen.

    Zu­min­dest die di­rekt ge­wähl­ten CDU-Ab­ge­ord­ne­ten in Ba­Wü sind sehr mäch­tig und von oben un­ab­hän­gig von oben – die Re­de vom peit­schen­schwin­gen­den Kau­der kommt mir des­we­gen we­nig glaub­wür­dig vor. Und ei­nen ri­si­ko­lo­sen Macht­kampf, und das wä­re es ja, wenn die sich zur Dis­si­denz sti­li­sie­ren­den Ab­ge­ord­ne­ten Ernst ge­macht hät­ten, gibt es halt nicht. Da muss man sei­nen ge­pu­der­ten Po­po halt auch aufs Spiel set­zen.

    Re: CETA und TTIPP – dass das Me­cha­nis­men zur Aus­h­ölung der De­mo­kra­tie sind, da­von braucht mich kei­ner zu über­zeu­gen. Das wür­de ich auch der EU im jet­zi­gen Zu­stand vor­wer­fen: auch mit auf­ge­motz­tem Par­la­ment ist das ein Tech­no­kra­tie-Mon­ster, dem al­le Köp­fe ab­ge­schla­gen ge­hö­ren. Mal ge­spannt, wie es nach der Brexit-Ab­stim­mung wei­ter geht.

    Mül­lers The­se, der Po­pu­lis­mus sei der Schat­ten der re­prä­sen­ta­ti­ven De­mo­kra­tie, stim­me ich zu. Und in Gro­Ko-Zei­ten wird der eben be­son­ders groß, zu­min­dest in DE. Ob das, was in USA, post-kom­mu­ni­sti­schen Staa­ten und in Süd­ame­ri­ka pas­siert, nicht was an­de­res ist (al­so je­weils et­was an­ders), glau­be ich al­ler­dings auch. Des­we­gen fin­de ich den Be­griff Po­pu­lis­mus als ein Art selbst­stän­di­ge Ideo­lo­gie zu ver­ste­hen falsch (wie wohl die mei­sten hier).

  67. Über die mo­der­ne Ver­zwer­gungs­krän­kung, un­de­mo­kra­ti­sche For­men von EU-Le­gi­ti­mi­tät, den pro­mi­nent an­ge­dach­ten EU- Rück­bau und die welt­wei­te Kon­kur­renz -
    – bzw: Den ma­te­ri­el­len Un­ter­bau des Po­pu­lis­mus

    Im Prin­zip zu­stim­mend @ Doc­tor D Nr. 61
    Das un­ver­meid­li­che Kom­ple­xi­täts­ni­veau mo­der­ner Ge­sell­schaf­ten ver­zwergt uns a l l e .
    Die­ses Fak­tum stel­le ich ne­ben Freuds drei gro­ße Krän­kun­gen als die all­fäl­li­ge Nr. 4 – und nen­ne sie die mo­der­ne Zw­er­gen­krän­kung.
    Da­zu kommt, dass wir nach auf­ge­klär­ter Dik­ti­on die täg­li­che Un­ge­wiss­heit aus­hal­ten müs­sen, wie das von uns so ca. wahr­ge­nom­me­ne Pro­blem­bün­del sich mor­gen wohl dar­stellt – i. e wo der näch­ste Em­pör­te in die Men­ge feu­ert, die näch­ste Mut­ter ih­re Kin­der aus dem Fen­ster wirft, die näch­ste Ne­ga­tiv­zins­mel­dung aus dem Äther quillt usw., usf. Die enig­ma­ti­sche For­mu­lie­rung hier lau­tet: Ge­gen­über der Zu­kunft sind wir not­wen­di­ger­wei­se pro­vin­zi­ell (ja, Ha­ber­mas).
    Das kann man sich so­zu­sa­gen oh­ne ir­gend­wel­che be­sänf­ti­gen­den Schutz­tech­ni­ken bzw. Ab­stands­hal­ter di­rekt und un­ge­bremst ge­ben – oder man kann sich in Rich­tung rich­ti­ger Ge­las­sen­heit (cf. Hein­rich Seu­se) ori­en­tie­ren.
    Vor­der­hand ist je­de Hal­tung gleich gut – in Wirk­lich­keit wird wohl so man­che Hy­ste­rie ge­ra­de dar­aus re­sul­tie­ren, dass, um es mög­lichst ein­fach aus­zu­drücken, die Ge­duld eben nicht ein­ge­übt wird, son­dern: Die Gier und die Un­ge­duld.
    Mül­ler hat im­mer­hin in der Hin­sicht recht, dass er sagt, die et­was thy­mot­ei­sche­ren Ar­ten Po­li­tik zu be­trei­ben be­inhal­ten struk­tu­rell die Ge­fahr, die Über­trei­bung her­vor­zu­brin­gen.

    Ich mei­ne da­ge­gen, es sei frucht­ba­rer, nach (struk­tu­rel­len) Grün­den im po­li­ti­schen Pro­zess Aus­schau zu hal­ten, die für Em­pö­rung sor­gen.
    Da se­he sich auf der Ebe­ne der EU: Dass sich ein Riss/ Spalt auf­tut zwi­schen ad­mi­ni­stra­ti­ver Macht­aus­übung und de­mo­kra­ti­scher Le­gi­ti­ma­ti­on. Das geht so­weit, dass auf EU Ebe­ne über ir­gend­wel­che re­gu­la­ti­ven Um­we­ge ein­fa­ches Recht plötz­lich »Ver­fas­sungs­rang« (Grimm) ge­nießt.
    Das ist gut für die Macht des EU-Par­la­ments und der Kom­mis­si­on, aber schlecht für das Ner­ven­ko­stüm so man­chen Eu­ro­pä­ers. Wer se­hen möch­te, sieht – lei­der – : Die Pa­ra­noia ist re­al, in Brüs­sel und Straß­burg wer­den ent­schei­den­de Din­ge be­schlos­sen oh­ne de­mo­kra­ti­sche Le­gi­ti­ma­ti­on, die dann auf Län­der­ebe­ne de­mo­kra­tisch le­gi­ti­mier­te Ver­fah­ren ge­gen­stands­los ma­chen.
    Das ist per se mi­se­ra­bel – mag der Wil­le da­hin­ter noch so nett und eu­ro­pä­isch ge­polt sein.
    (Der obi­ge Ab­schnitt be­zieht sich auf ei­nen ein­wand­frei­en Ar­ti­kel Chri­sti­an Gey­ers über ei­nen Vor­trag des ex-Ver­fas­sungs­rich­ters Die­ter Grimm in der Ka­tho­li­schen Aka­de­mie Ber­lin: s. FAZ-Feuil­le­ton vom letz­ten Sams­tag).
    Ein­schub: Wer den ak­tu­el­len Spie­gel an­schaut, der ei­gent­lich ein idea­ler Ort wä­re, der­lei zu be­ar­bei­ten, fin­det – nichts. Spoo­ky Tooth! – Statt­des­sen der mitt­ler­wei­le viel­leicht fünf­te grö­sse­re Bei­trag, der ei­ner ro­si­gen Zu­kunft ge­wid­met ist, mit eu­ro­pa­weit bes­ser auf­ge­stell­tem und na­tür­lich viel tie­fer ge­staf­fel­tem So­zi­al­staat, so­wie ein ge­füh­li­ges »bit­te wei­ter so« im Hin­blick auf GB. Das sind die Raum­schif­fe Ham­burg und Brüs­sel und Ber­lin im For­ma­ti­ons­flug. Das wird auch für den Spie­gel un­ge­müt­lich wei­ter­ge­hen. »Hel­lo, this is your cap­tain spea­kin’ – we are go­ing to at­tend a crash landing« / Lau­rie Anderson/ Big Sci­ence.

    Zu­rück in gei­stig pro­duk­ti­ve­re Ge­fil­de:
    Ge­stern, eben­falls Pa­pier-FAZ, schreibt Hu­bert Vé­dri­ne, So­zia­list und Ex-Au­ssen­mi­ni­ster Frank­reichs von 1997–2002, auf ei­ner gut ge­füll­ten Sei­te über die Kri­se der EU.

    Ich mei­ne fol­gen­des Mu­ster zeich­ne sich ab: Die EU ten­diert zu Über­kom­ple­xi­tät und gleich­zei­tig / d a h e r sub­op­ti­ma­ler de­mo­kra­ti­scher Le­gi­ti­ma­ti­on.
    Wen ha­ben wir auf der Be­für­wor­ter-Sei­te die­ser The­se: Im­mer­hin Chri­sti­an Gey­er, der Grimm zu­stim­mend re­fe­riert, da­zu Die­ter Grimm, und schließ­lich Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger (cf. o. cit. ? 43 (er ist wie so oft der Igel...) – und seit ge­stern weiß ich, dass auch Hu­bert Vé­dri­ne da­zu­rech­net. Man ver­zei­he mir die­sen Schlen­ker. Vé­dri­ne kommt zu den näm­li­chen Schlüs­sen wie En­zens­ber­ger, wenn auch fünf Jah­re spä­ter und – sie tref­fen sich in ei­ner kon­kre­ten For­de­rung: Rück­bau der EU!
    Vé­dri­ne hat so­gar ei­nen Vor­schlag in pet­to, das prak­tisch um­zu­set­zen: Man macht ein EU-Mo­ra­to­ri­um, in wel­chem gar nichts mehr ent­schie­den wird und nutzt die Zeit, sich auf das We­sent­li­che zu be­sin­nen. Die­ses Kon­den­sat (viel we­ni­ger als bis­her!) wird in ei­nen »KURZEN TEXT« (Herv. D. K. ) ge­gos­sen und eu­ro­pa­weit zur Ab­stim­mung ge­stellt. Fer­tig!
    Sol­len die Bri­ten ma­chen, was sie wol­len: Wir ha­ben ei­ne Idee, wie es mit der EU wei­ter­ge­hen kann. Ir­gend­so­was wä­re schön!
    Aber un­ab­hän­gig da­von, was aus dem Vé­dri­ne/E­nens­ber­ger-Vor­schlag wird: Die von Grimm mo­nier­te bü­ro­kra­tisch er­zeug­te Le­gi­ti­mi­tät von nach­ma­li­gem Ver­fas­sungs­rang (!) soll­te un­be­dingt be­en­det wer­den. Ne­ben­bei: Die schwei­ze­ri­schen Watch­dogs vom Schla­ge ei­nes Tho­mas Hür­li­mann oder Ro­ger Köp­pel an­ge­sichts ih­rer dies­be­züg­li­chen Kri­tik als ten­den­zi­ell de­mo­kra­tie­feind­li­che Fin­ster­män­ner zu ent­lar­ven, re­sul­tiert in lau­ter Pyr­rhus-Sie­gen.

    Der un­sicht­ba­re Ele­fant – bzw. die Welt­wirt­schaft

    Bleibt noch der un­sicht­ba­re Ele­fant: Es geht mit der Wirt­schaft im Eu­ro­raum auch des­we­gen ab­wärts, weil die welt­wei­te Kon­kur­renz zu­nimmt. An­ge­sichts die­ser Tat­sa­che gibt es kei­ne eu­ro­päi­sche Lö­sung der Art: Wir ver­tei­len ein­fach den nord­eu­ro­päi­schen Reich­tum bes­ser: Das wä­re un­ge­recht und oben­drein nicht pro­spek­tiv. Es soll­te schon so sein, dass Eu­ro­pa als gan­zes sich der glo­ba­len wirt­schaft­li­chen Kon­kur­renz stellt.
    Das Im­po­san­te­ste, was ich in die­ser Hin­sicht in den let­zen Jah­ren ge­se­hen ha­be – ich bin halt ein Au­gen­mensch, sind wirk­lich Vi­deo­auf­nah­men, bzw. Fo­tos. Das Vi­deo hab­bich mal ir­gend­wo im In­ter­net ge­se­hen – lei­der find’ ichs nicht mehr: Man schaut aus ei­nem Hub­schrau­ber, der mein’ ich an der süd­west­li­chen Flan­ke von Seo­ul vor­bei­fliegt – so ca. 10 Mi­nu­ten lang, oh­ne Kom­men­tar. Man sieht das und glaubt sei­nen ei­ge­nen Au­gen nicht! Und al­les prak­tisch na­gel­neu- ei­ne Ket­te der fun­kelnd­sten und funk­tio­nal­sten denk­ba­ren In­fra­struk­tur von viel­leicht 40 Ki­lo­me­tern oh­ne nen­nens­wer­te Lücke.
    Das an­de­re sind die Auf­nah­men der chi­ne­si­schen Fa­brik­welt von Ed Bur­tyn­ski (http://www.edwardburtynsky.com/).
    Thi­lo Sar­ra­zin lie­fert die Da­ten zu die­sem Welt-Kon­kur­renz-Aspekt in zwei Bei­trä­gen für die FAZ. Der ei­ne ist der­zeit noch on­line, die_kalte_Sophie und ich ha­ben be­reits dar­auf hin­ge­wie­sen, und han­delt – vom Po­pu­lis­mus und sei­nem so­zu­sa­gen ma­te­ri­el­len Un­ter­bau; der an­de­re han­delt von der Zu­kunft der EU.
    http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/gastbeitrag-betrachtungen-zur-populismus-debatte-14250991.html
    Und das hier ist Sar­ra­zin zu EU und Schen­gen:
    http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/f‑a-z-exklusiv-sarrazin-europa-wie-wir-es-kennen-wird-zerbrechen-14108703.html
    An­mer­kung: Auch Sar­ra­zin for­dert wie Vé­dri­ne ein Mo­ra­to­ri­um – es pas­siert zu viel auf ein­mal! Die Mas­se der zu steu­ern­den Pro­ble­me nimmt über­hand.
    Wer ei­nen Ein­blick in die wirt­schaft­li­che La­ge Ita­li­ens ha­ben will und nach ei­ner Ant­wort auf die Fra­ge sucht, was das mit der EU und dem EWS zu tun hat – und wie­viel da­von – um­bau- wo nicht gleich rück­bau­wür­dig wä­re: Hier ist der Sinn-Nach­fol­ger Cle­mens Fuest: http://mediathek.cesifo-group.de/iptv/player/macros/cesifo/mediathek?content=6715847&idx=1&category=2489745443

  68. @Dieter Kief
    Schö­ne Idee, das mit dem Mo­ra­to­ri­um bzw. dem Kon­den­sat des nur not­dürf­tig­sten Han­delns. Aber ist es nicht so, dass die Pro­ble­me nicht vor der Haus­tü­re ste­hen­blei­ben, nur weil man ih­nen sagt, sie sol­len ei­nem erst ein­mal in Ru­he las­sen? Wie schnell wach­sen sich in­nen­po­li­ti­sche Kri­sen wie bspw. ak­tu­ell in Frank­reich zu EU-Kri­sen aus? Wann ist Ita­li­en »dran«? Und wie geht es mit Grie­chen­land wei­ter?

    Und von mir aus ein JA hier­zu: Sol­len die Bri­ten ma­chen, was sie wol­len: Wir ha­ben ei­ne Idee, wie es mit der EU wei­ter­ge­hen kann. Aber wie soll man das ma­chen, wenn man die mor­sche Bau­stel­le EU erst ein­mal mit ei­ner Pla­ne über­zie­hen möch­te?

    Ich stim­me Ih­nen ja im Be­fund zu: Es ist zu­viel zu tun – aber ge­nau das woll­te man ja. Ei­ne po­li­ti­sche Uni­on MIT ein­heit­li­cher Wäh­rung MIT al­len Län­dern Ost­eu­ro­pas, die NA­TO-fä­hig sind MIT den Per­spek­ti­ven für die Tür­kei, usw. Der Brexit wä­re vor al­lem ei­nes: ein Image-Ver­lust.

    Und mit der Brexit-Fra­ge wird auch Ca­me­rons Po­pu­lis­mus zur Ab­stim­mung ge­stellt: ‘Wir, die Bri­ten, dro­hen da­mit raus­zu­ge­hen und si­chern uns wei­te­re Pri­vi­le­gi­en der an­de­ren’ – da­mit geht er dann in den Wahl­kampf zum Re­fe­ren­dum. Wenn das kein Po­pu­lis­mus ist...

    Und wie »stellt« sich denn Eu­ro­pa der »wirt­schaft­li­chen Kon­kur­renz«? In­dem man Bruch­bu­den baut wie in Chi­na? Dort platzt die Im­mo­bi­li­en­bla­se ge­ra­de. In­dem man In­du­strie­stan­dards senkt? Was macht den »Mehr­wert« eu­ro­päi­scher Pro­duk­te aus?

    Sar­ra­zin als Em­pi­ri­ker rech­net al­les in Zah­len aus. Aber was, wenn sich Pro­duk­te gar nicht im Wett­be­werb be­fin­den wol­len? Ein Bei­spiel, das mir ein­fällt: Es gibt den Haus­halts­ge­rä­te­her­stel­ler Mie­le. Al­le, die ich ken­ne, glau­ben, dass Mie­le lang­le­bi­ge und sehr gu­te Pro­duk­te her­stellt (ich auch). Aber die mei­sten de­rer, die mir das sa­gen, kau­fen die­se nicht (ob­wohl es bei ih­nen kei­ne pri­mär fi­nan­zi­el­le Fra­ge ist). Sie neh­men lie­ber die Ma­schi­ne, die nur die Hälf­te ko­stet (und viel­leicht nur 5 Jah­re hält und nicht 15). Die Rech­nung funk­tio­niert bei ih­nen ist, ob­wohl sie sich dar­über klar sind. Das ge­spar­te Geld ver­wen­den sie für Smart­phones oder ei­nen Fern­se­her. Was soll Mie­le nun tun: Ih­re Qua­li­tät run­ter­schrau­ben ‑und da­mit den Preis? Oder auf die hap­py few bau­en, die rech­nen kön­nen?

    Es ist ein Feh­ler, Volks­wirt­schaf­ten al­lei­ne un­ter Wett­be­werbs­be­din­gun­gen zu sub­su­mie­ren. Man kann das schon in der EU se­hen. Hier war man stolz dar­auf, dass es Wett­be­werb in­ner­halb der EU gibt (Un­ter­neh­mens­steu­ern, Löh­ne). Das ist ein gro­ßer Irr­tum. Es gin­ge dar­um, die Be­din­gun­gen an­zu­glei­chen.

    Sar­ra­zin mut­masst, dass Po­pu­lis­mus blüht, weil das Wirt­schafts­wachs­tum schwach ist. Das ist – mit Ver­laub – blü­hen­der Un­sinn. Das Wirt­schafts­wachs­tum ist ei­ne ab­strak­te Zahl, die we­nig über die je­wei­li­gen Bran­chen aus­sagt. Die­se Zahl in­ter­es­siert die Leu­te nicht. Sie wol­len wis­sen, ob ihr Ar­beits­platz si­cher ist, wie hoch die näch­ste Ge­halts­er­hö­hung aus­fällt oder ob der Zeit­ver­trag ver­län­gert wird. Sie wol­len wis­sen, wie sie der Al­ters­ar­mut ent­ge­gen­steu­ern kön­nen, wenn 10jährige Bun­des­an­lei­hen seit heu­te ne­ga­tiv ver­zinst (!) wer­den und sie bei Ban­ken 0,3% Fest­geld be­kom­men. Vul­go: Die Mit­tel­schicht fürch­tet sich vor dem, was kommt. Sie ahnt, dass ih­re be­ste Zeit vor­bei ist.

  69. weil ich mich von den Buz­zwords ha­be ins Bocks­horn ja­gen las­sen

    Ja, stimmt. War nicht so cle­ver von mir.

  70. @ Jo­seph Bran­co: Von mir auch nicht.

    @Dieter Kief: Se­hen Sie den Süd­ko­rea als Vor­bild?

    Ich den­ke, Gre­gor Keu­sch­nig hat recht, re­gie­ren nach volks­wirt­schaft­li­chen Kenn­zah­len ist eher mit­ver­ur­sa­cher der Wut als ein Lö­sungs­an­satz. Zu­mal das auch ein Ver­such der Ent­po­li­ti­sie­rung sein kann: Ein­füh­rung von Pseu­do­ob­jek­ti­vi­tät, an die sich dann je­mand wie Sar­ra­zin Klam­mern kann, dem ja of­fe­ne po­li­ti­sche Si­tua­tio­nen und Dis­kus­sio­nen tief zu­wi­der sind – wie nicht we­ni­gen der Leu­te, die sich noch mit dem längst dys­funk­tio­nal ge­wor­de­nen Be­griff Bür­ger­tum, Mit­te oder Mit­tel­schicht ti­tu­lie­ren.
    Ei­ni­ges an Po­pu­lis­mus in DE scheint mir auch ei­ne Kri­se der Selbst­be­schrei­bung der han­deln­den Per­so­nen und Struk­tu­ren zu sein. Lei­der spricht Mül­ler da sehr we­nig drü­ber.

  71. »Es ist, als wür­de der Ver­lust von so­zia­ler Iden­ti­tät die­se Ob­ses­si­on her­vor­brin­gen, die nach ag­gres­si­ver Iden­ti­fi­zie­rung ver­langt.« Die­sen Satz le­se ich ge­ra­de in ei­nem In­ter­view mit Fran­co Berar­di. (http://derstandard.at/2000038946340/Franco-Berardi-Die-Kultur-ist-das-Ziel-dieses-Krieges) Ich glau­be daß ge­nau hier auch die Wur­zel des neue­ren Po­pu­lis­mus liegt. En­zens­ber­ger hat schon da­mals, in der Ent­ste­hungs­zeit, von Aus­sich­ten auf den Bür­ger­krieg ge­spro­chen. Schlech­te Zei­ten für Dis­kur­se. Nichts von sol­chen Zu­sam­men­hän­gen bei Mül­ler, da­für bräuch­te man ein biß­chen den­ke­ri­schen Mut.

  72. @Leopold Fe­der­mair
    Ich fin­de es im­mer wie­der er­staun­lich, wie Men­schen an­de­re Men­schen, die sie über­haupt nicht ken­nen, und de­ren Ta­ten bin­nen 24 oder 48 Stun­den »ana­ly­sie­ren« kön­nen. Berar­di weiß schein­bar schon al­les von dem Or­lan­do-At­ten­tä­ter. Da­bei sind die Er­mitt­lun­gen noch in vol­lem Gan­ge. Er er­zählt von den ar­men, zu­kunfts­lo­sen jun­gen Män­nern, die sich dem IS an­ge­schlos­sen ha­ben. Das ist aber nur ein Teil der Wahr­heit, falls es über­haupt die Wahr­heit ist. Vie­le At­ten­tä­ter hat­ten Schul­ab­schlüs­se (teil­wei­se an Uni­ver­si­tä­ten), ent­stamm­ten gu­ten Fa­mi­li­en­ver­hält­nis­sen; wa­ren an­geb­lich so­gar gut in­te­griert. Ei­ne Stu­die aus den USA hat­te 2006 her­aus­ge­fun­den, dass von 400 Al­Qai­da-An­hän­gern 63% ei­nen Ober­schul­ab­schluss auf­wie­sen, aus der Ober- oder Mit­tel­klas­se stamm­ten (zi­tiert nach En­zens­ber­ger SM [s. u.], 46). Aber Berar­di muss sei­ne vul­gär­mar­xi­sti­schen Deu­tungs­mu­ster über al­les stül­pen, spricht auch von der »Er­nied­ri­gung der wei­ßen Ar­bei­ter­klas­se«. Dem­nach müss­te Eu­ro­pa ein schreck­li­cher Ort sein. Und na­tür­lich kommt auch Hit­ler vor, der »sei­ne Macht auf dem Elend der deut­schen Ar­bei­ter er­rich­tet« ha­be. Das ist der Wis­sens­stand der 1950er Jah­re. Tat­säch­lich sieht es et­was an­ders aus, wie man hier nach­le­sen kann:

    »1930 wa­ren un­ter den Wäh­lern der NSDAP Selb­stän­di­ge, Bau­ern, Rent­ner und Pen­sio­nä­re über­durch­schnitt­lich häu­fig ver­tre­ten. Da­ge­gen ga­ben die drei Mil­lio­nen Ar­beits­lo­sen ih­re Stim­men eher der KPD. Bei der Wahl im Ju­li 1932 stimm­ten für die NSDAP:

    • rund 34 Pro­zent der Wahl­be­rech­tig­ten in Ge­mein­den mit we­ni­ger als 5000 Ein­woh­nern. In Groß­städ­ten mit über 100 000 Ein­woh­nern wa­ren es nur 28 Pro­zent;
    • und je­der vier­te Ar­bei­ter, fast je­der fünf­te An­ge­stell­te und Be­am­te, je­de drit­te Haus­frau, 39 Pro­zent der Selb­stän­di­gen und Mit­hel­fen­den und fast je­der zwei­te Be­rufs­lo­se (Rent­ner, Pen­sio­nä­re, Stu­den­ten mit ei­ge­nem Haus­halt);
    • je­der ach­te ar­beits­lo­se Ar­bei­ter, gut je­der vier­te ar­beits­lo­se An­ge­stell­te.

    Den­ke­ri­schen Mut ent­decke ich bei Berar­di kei­nen. Nur Holz­schnit­te.

    In­ter­es­sant ist je­doch der Hin­weis auf den »Bür­ger­krieg«, der im In­ter­view 3 x fällt. Das ist ei­ne The­se von En­zens­ber­ger, der das 1993 in ei­nem Es­say for­mu­liert hat­te. Er spricht von ei­nem »mo­le­ku­la­ren« Bür­ger­krieg. Die aus­ge­spro­che­nen Vi­sio­nen sind in den letz­ten 20 Jah­ren nicht di­rekt ein­ge­trof­fen, aber es ent­wickelt sich da­hin. Ein Bei­spiel:

    »Was dem Bür­ger­krieg der Ge­gen­wart ei­ne neue, un­heim­li­che Qua­li­tät ver­leiht, ist die Tat­sa­che, dass er oh­ne je­den Ein­satz ge­führt wird, dass es buch­stäb­lich um nichts geht. Da­mit wird er zum Re­tro­vi­rus des Po­li­ti­schen. So­lan­ge wir den­ken kön­nen, wur­de Po­li­tik als ei­ne Aus­ein­an­der­set­zung be­trach­tet, bei der es um In­ter­es­sen ging, und daß heißt durch­aus nicht nur, um Macht und ma­te­ri­el­le Res­sour­cen, son­dern auch um Zu­kunfts­chan­cen, al­so um Wün­sche, Pro­jek­te und Ideen. [...] Wo da­ge­gen we­der dem ei­ge­nen Le­ben noch dem an­de­ren ir­gend­ein Wert bei­gemes­sen wird, ist das nicht mehr mög­lich, und je­des po­li­ti­sche Den­ken, von Ari­sto­te­les und Ma­chia­vell bis Marx und We­ber, wird aus den An­geln ge­ho­ben. In ei­ner Welt, durch die le­ben­de Bom­ben ir­ren, bleibt nur ei­ne ne­ga­ti­ve Uto­pie üb­rig – der Hob­bes­sche Ur­my­thos vom Kampf al­ler ge­gen al­le.« Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger »Aus­sich­ten auf den Bür­ger­krieg«, Suhr­kamp, 5. Auf­la­ge 1994, S. 35/36

    Auch En­zens­ber­ger spricht von der Not­wen­dig­keit in ei­ner Ge­sell­schaft An­er­ken­nung zu fin­den und sieht hier ein Mo­tiv. Aber wenn es da­nach ge­hen wür­de, müss­te man in Grie­chen­land und Spa­ni­en – hier le­ben et­li­che sehr gut aus­ge­bil­de­te Ju­gend­li­che oh­ne Aus­sicht auf ei­nen ad­äqua­ten Be­ruf – vor lau­ter Selbst­mord­at­ten­tä­tern nicht mehr auf die Stra­ße ge­hen kön­nen. Es muss al­so auch noch an­de­re Grün­de ge­ben, war­um ei­ne sol­che Ra­di­ka­li­sie­rung Platz greift. Ei­ni­ge Jah­re spä­ter wird En­zens­ber­ger im »Schreckens Män­ner – Ver­such über den ra­di­ka­len Ver­lie­rer« deut­li­cher:

    »Un­ab­hän­gig von ih­rer öko­no­mi­schen La­ge sind die ent­wur­zel­ten Mi­gran­ten aus dem ara­bi­schen Raum durch die un­mit­tel­ba­re Kon­fron­ta­ti­on mit der west­li­chen Zi­vi­li­sa­ti­on ei­nem dau­er­haf­ten Kul­tur­schock aus­ge­setzt. Das gilt be­son­ders für die männ­li­chen Aus­wan­de­rer. Der schein­ba­re Über­fluss an Wa­ren, Mei­nun­gen, öko­no­mi­schen und se­xu­el­len Op­tio­nen führt zum ‚dou­ble bind’ von At­trak­ti­on und Ab­leh­nung, und die fort­wäh­ren­de Er­in­ne­rung an den Rück­stand der ei­ge­nen Zi­vi­li­sa­ti­on wird un­er­träg­lich.« Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger »Schreckens Män­ner – Ver­such über den ra­di­ka­len Ver­lie­rer« (SM), Suhr­kamp, 1. Aufl. 2006, S. 47

    Dar­aus folgt für En­zens­ber­ger:

    »Je­den Mo­ment kann er ex­plo­die­ren. Dar­in be­steht die ein­zi­ge Lö­sung sei­nes Pro­blems, die er sich vor­stel­len kann: die Stei­ge­rung des Übels, un­ter dem er leidet…Um ihn zu krän­ken, ge­nügt ein Blick oder ein Witz…Die ab­fäl­li­ge Be­mer­kung ei­nes Vor­ge­setz­ten ge­nügt, und der Mann steigt auf ei­nen Turm und zielt auf al­les, was sich vor dem Su­per­markt be­wegt, nicht ob­wohl, son­dern weil das Mas­sa­ker sein ei­ge­nes En­de be­schleu­ni­gen wird.« SM 11

    Be­son­ders in »Schreckens Män­ner« agiert En­zens­ber­ger mit star­ken Ver­ein­fa­chun­gen. Er po­stu­liert, dass aus dem ara­bi­schen Raum »in den letz­ten vier­hun­dert Jah­ren […] kei­ne nen­nens­wer­te Er­fin­dung her­vor­ge­bracht wur­de. Bü­cher sei­en dort prak­tisch un­be­kannt (au­ßer der Ko­ran); nur 0.8% der Welt­buch­pro­duk­ti­on wür­den in der ara­bi­schen Welt ge­druckt. Er spricht von dem »Nie­der­gang« ei­ner Zi­vi­li­sa­ti­on. Die­se de­spek­tier­li­chen Äu­ße­run­gen hat­ten da­mals da­zu ge­führt, dass ich das Buch ab­lehn­te. Der Selbst­mord­at­ten­tä­ter als »ra­di­ka­ler Ver­lie­rer« ist mir auch heu­te noch zu stark ver­ein­fa­chend. Ei­ni­ges hat sich für mich aber als durch­aus rich­tig her­aus­ge­stellt.

    Für mich im­mer noch das Stan­dard­werk im Sa­chen Ter­ro­ris­mus: Loui­se Ri­chard­son »Was Ter­ro­ri­sten wol­len«.

    Mül­lers Glau­be an die funk­tio­nie­ren­den de­mo­kra­ti­schen In­sti­tu­tio­nen ist der­art stark, dass bei ihm der Ge­dan­ke an ei­nen »mo­le­ku­la­ren Bür­ger­krieg« gar nicht kom­men kann. Das ist viel­leicht der Un­ter­schied zwi­schen ei­nem Wis­sen­schaft­ler und ei­nem Es­say­isten.

  73. Da wir schon im free flow der Ideen sind, noch ei­ne Fra­ge an al­le:
    Die Kom­ple­xi­täts- resp. Ver­zwer­gungs-Hy­po­the­se fin­det brei­te Zu­stim­mung. Seht ihr auch wie ich ei­ne ekla­tan­te Pa­ra­do­xie zwi­schen den »lo­ka­len Be­din­gun­gen« des po­li­ti­schen Sub­jekts und den »glo­ba­len Her­aus­for­de­run­gen«?!
    Die Pa­ra­do­xie wird näm­lich üb­li­cher­wei­se in die Prag­ma­tik ver­län­gert, nach dem Mot­to, man soll­te, aber kann nicht eben viel aus­rich­ten.
    Liegt die Pa­ra­do­xie (nach ei­ni­gen Jah­ren Er­fah­rung mit der Glo­ba­li­tät) aber nicht viel­mehr in dem, was ich »po­li­ti­sche Zu­stän­dig­keit« nen­nen wür­de. Ist »Eu­ro­pa« nicht schon zwei Num­mern zu groß, be­son­ders mit Rück­sicht auf die hin­läng­lich be­schrie­be­nen »dicken Bret­ter vor Ort« und sei­ne an­geb­li­che De­mo­kra­tie-Kom­pa­ti­bi­li­tät?! –Ich bin je­den­falls ernst­haft der Mei­nung, wir (re­prä­sen­ta­tiv?!) müs­sen uns in ei­nem po­li­ti­schen Dis­po­si­tiv (...mir fällt kein an­de­res Wort ein) po­si­tio­nie­ren, agie­ren, be­wäh­ren, das durch und durch FEHL-DIMENSIONIERT ist, schon be­vor wir ka­pie­ren, worum’s geht.
    Pla­ka­tiv: Kann De­mo­kra­tie »Welt re­gie­ren«?!

  74. Wenn man ein we­nig Ah­nung hat von den in­zwi­schen jahr­zehn­te­lan­gen Ent­wick­lun­gen in den Pa­ri­ser Ban­lieues hat, we­ni­ger bei Hand­ke un­ten im Sü­den als im Nor­den (Flug­rei­sen­de aus Rois­sy müs­sen da durch), dann weiß man, was Berar­di meint. Aka­de­mi­ker? Nein. Viel­leicht ab und zu ein Schmal­spur­aka­de­mi­ker, heut­zu­ta­ge geht ja je­der ein paar Se­me­ster an ei­ne Uni (was auch mit den so­zi­al­öko­no­mi­schen Ent­wick­lun­gen zu tun hat: Unis als Park­plät­ze für Arbeitsuchende/Arbeitslose). Ich er­in­ne­re mich wei­ters an ein In­ter­view, weiß nicht mehr wo, mit zwei aus dem Irak stam­men­den jun­gen IS-Kämp­fern. Aka­de­mi­ker oder so? Nein und nein. De­pra­vier­te Leu­te, die gar nicht recht wuß­ten, wo sie da über­haupt hin­zo­gen, in wel­chen Krieg – ja und ja.

    Ich weiß nicht recht war­um, aber ich ver­bin­de die­sen Dis­kus­si­ons­strang mit Ih­ren Be­mer­kun­gen, lie­ber Gre­gor, über die deut­sche Mit­tel­schicht. Nach mei­nen Be­ob­ach­tun­gen sind wei­te Be­völ­ke­rungs­schich­ten im ei­gent­li­chen Sinn wohl­ha­bend ge­wor­den, in der spä­ten Nach­kriegs­zeit (in Ja­pan, wo ich le­be, noch »är­ger«, fast un­er­träg­lich). Karl-Mar­kus Gauß hat kurz vor der österr. Bun­des­prä­si­dent­schafts­wahl in der FAZ ei­nen Ar­ti­kel ge­schrie­ben (für den er im Fo­rum be­fle­gelt wur­de), wo er be­haup­te­te, in Öster­reich ge­he es den mei­sten Leu­ten oh­ne­hin so gut wie nie. Das stimmt mei­nes Er­ach­tens auch, der an­ge­stamm­ten Mit­tel­schicht geht es öko­no­misch sehr, sehr gut (in an­de­ren, nicht­öko­no­mi­schen Hin­sich­ten zweif­le ich). Dumm war Gau­ßens Be­mer­kung nur in­so­fern, daß die­se Leu­te, und zwar durch­aus be­rech­tigt, Angst ha­ben kön­nen, daß ih­nen all das Er­ar­bei­te­te oder Er­ses­se­ne ziem­lich rasch ab­han­den kom­men kann. Oder daß sie kei­ne or­dent­li­chen Pen­sio­nen be­kom­men wer­den (wie ich das in Ar­gen­ti­ni­en mas­sen­haft er­lebt ha­be, das ist dort be­reits Ge­schich­te und Ge­gen­wart). Ge­nau die­se Be­fürch­tung, die­se Ge­füh­le sind ein Grund für die­se Leu­te, Po­pu­li­sten zu wäh­len.

    En­zens­ber­ger: Doch, er hat den Fin­ger an den Puls der Zeit ge­legt, das war im­mer wie­der ei­ne sei­ner Stär­ken. Biß­chen op­por­tu­ni­stisch manch­mal, zeit­gei­stig, aber gut....

  75. @die_kalte_Sophie
    Bin ge­ra­de »im Flow«, al­so ant­wor­te ich mal so­fort.

    Der Aus­druck der »dicken Bret­ter«, den ich für die Lo­kal­po­li­tik ver­wen­det hat­te, war miss­ver­ständ­lich. Ich mein­te: Lo­kal­po­li­ti­ker »vor Ort« müs­sen Ent­schei­dun­gen, die sie un­ter Um­stän­den gar nicht ge­trof­fen ha­ben, aus­füh­ren. Sie sind oft ge­nug die »Ge­hil­fen« der Lan­des- oder auch Bun­des­po­li­tik. Hin­zu kom­men die lo­ka­len Ent­schei­dun­gen, mit de­nen sie oft ge­nug im­mer ei­ner Grup­pe auf die Fü­ße tre­ten müs­sen (Um­ge­hungs­stra­ße bspw.). Sie ha­ben schein­bar Macht, sind aber eben auch sehr stark in po­li­ti­sche Pro­zes­se ein­ge­bun­den. Das In­ter­es­san­te ist, dass es den Re­gie­rungs­chefs in­zwi­schen auch so geht. Das ist ei­ne Aus­wir­kung der Glo­ba­li­sie­rung. Man ist nur noch schein-aut­ark. Wenn es nicht die EU ist, die als über­ge­ord­ne­te In­stanz für un­po­pu­lä­re Ent­schei­dun­gen her­hal­ten muss, dann ist es »der Markt«. Das ist das Pa­ra­dox, dass man im­mer we­ni­ger Macht hat (was dann auch die Po­pu­li­sten mer­ken).

    Den gor­di­schen Kno­ten Rich­tung öko­no­mi­scher Fremd­be­stim­mung der Po­li­tik könn­te die­se zwar durch­schla­gen, aber es gibt of­fen­sicht­lich zu vie­le »über­ge­ord­ne­te« In­ter­es­sen bei den po­li­ti­schen Ent­schei­dungs­trä­gern sel­ber. Man könn­te es »Angst vor der ei­ge­nen Cou­ra­ge« nen­nen, aber es ist am En­de eben im­mer die Rück­sicht auf die ei­ge­ne Volks­wirt­schaft, die bspw. die USA und Groß­bri­tan­ni­en von ei­ner welt­weit bes­se­ren Re­gu­lie­rung der Fi­nanz­märk­te ab­hält. Aber oh­ne die­se »Play­er« ist das sinn­los.

    Po­li­tik ist al­so nicht so macht­los, wie sie tut. Sie scheut nur nur die Kon­se­quen­zen vor grund­le­gen­den Än­de­run­gen. Ein klei­nes Bei­spiel: Mehr­mals ha­ben Re­gie­run­gen ver­sucht, die ge­ring­fü­gi­gen Be­schäf­ti­gungs­ver­hält­nis­se (in Deutsch­land: 450 Eu­ro-Jobs) ab­zu­schaf­fen, um die­se Tä­tig­kei­ten dem so­ge­nann­ten er­sten Ar­beits­markt zu­zu­füh­ren, der die vol­len So­zi­al­ver­si­che­rungs­bei­trä­ge ab­führt. Wer meh­re­re Jah­re die­se »Jobs« aus­führt, wird am En­de des Ar­beits­le­bens nur mi­ni­ma­le Ren­ten­an­sprü­che (Min­dest­ren­te) gel­tend ma­chen kön­nen. Die­se an sich sinn­vol­le Idee der Ab­schaf­fung wur­de stets ganz schnell wie­der zu­rück­ge­nom­men. Zu groß war der Druck aus der Wirt­schaft, für die sol­che Be­schäf­ti­gun­gen na­tür­lich ide­al sind. Das Er­geb­nis war dann da­hin­ge­hend, dass man in den 80er und 90er Jah­ren die Be­trä­ge im­mer mehr er­höht hat. Und tat­säch­lich zahlt der Ar­beit­ge­ber ei­nen ge­rin­gen, pau­scha­len Bei­trag zur Kran­ken- und Ren­ten­ver­si­che­rung, aber da­mit kann man na­tür­lich für die spä­te­re Ren­te nichts »an­sam­meln«. Das Bei­spiel ist da­hin­ge­hend in­ter­es­sant, weil we­der der EU noch der »Welt­markt« oder »die An­le­ger« für die Wei­ter­füh­rung die­ses Un­sinns ver­ant­wort­lich sind. Mit viel Ge­duld lie­ßen sich Li­sten von sinn­vol­len Re­for­men er­stel­len, mit der die Po­li­tik sich wie­der neue Hand­lungs­spiel­räu­me er­schlie­ßen wür­de – und dies oh­ne gro­ße Ver­wer­fun­gen was die Pro­duk­ti­vi­tät an­geht (s. Min­dest­lohn, der jah­re­lang mit die­sem Ar­gu­ment blockiert wur­de).

    Die Eu­ro­päi­sche Uni­on hal­te ich mit den ak­tu­el­len In­sti­tu­tio­nen für nicht re­gier­bar. Das hat nicht nur mit dem so oft be­schwo­re­nen de­mo­kra­ti­schen De­fi­zit zu tun. Ob mit Groß­bri­tan­ni­en oder oh­ne wird man sich ir­gend­wann ver­stän­di­gen müs­sen, ob man ei­nen Bun­des­staat möch­te (dann muss al­les neu or­ga­ni­siert wer­den) oder ei­nen Staa­ten­bund mit viel­leicht ge­mein­sa­mer Wirt­schafts­po­li­tik. Es gibt auch noch die bri­ti­sche Va­ri­an­te: ei­nen of­fe­nen Markt oh­ne wei­te­re Ver­pflich­tun­gen (au­ßer de­nen, die Sub­ven­tio­nen zu kas­sie­ren).

    Wie auch im­mer. Ich glau­be, die EU muss re­agie­ren.

  76. »Ich bin je­den­falls ernst­haft der Mei­nung, wir (re­prä­sen­ta­tiv?!) müs­sen uns in ei­nem po­li­ti­schen Dis­po­si­tiv (…mir fällt kein an­de­res Wort ein) po­si­tio­nie­ren, agie­ren, be­wäh­ren, das durch und durch FEHL-DIMENSIONIERT ist, schon be­vor wir ka­pie­ren, worum’s geht.« (von @_die_kalte_sophie)
    So se­he ich das auch – und ich schlie­ße dar­aus, dass die »Lö­sung« sein wird, dass in ab­seh­ba­rer Zu­kunft die na­tür­li­chen Res­sour­cen, die die sich selbst ge­gen­sei­tig be­schleu­ni­gen­den und schmach­matt-set­zen­den in­ter- und trans­na­tio­na­len Groß­struk­tu­ren (und da­mit mei­ne ich auch den glo­ba­li­sier­ten Ka­pi­ta­lis­mus wie wir ihn ken­nen) brau­chen, um sich zu re­pro­du­zie­ren, so aus­ge­beu­tet sind, dass vie­le der Struk­tu­ren da­von ra­send schnell und da­mit un­kon­trol­lier­bar zu­sam­men­bre­chen wer­den. Und dann wird ir­gend­was neu­es an­fan­gen zu ent­ste­hen.

  77. @ die_kalte_sophie Nr. 75 – Kann die Welt de­mo­kra­tisch re­giert wer­den? Nur un­ter Ap­pli­ka­ti­on des je­weils an­ge­mes­se­nen Ab­strak­ti­ons­ni­veaus ‑an­ders ge­sagt: Je mehr es um die Welt als gan­ze geht, de­sto dün­ner wird die Luft. – Ei­gent­lich: De­sto mehr ist – von Mil­li­ar­den – - vir­tu­el­le Zu­stim­mung ge­fragt; bzw. an­ders­rum: Ein über­aus re­flek­tier­ter und dis­zi­pli­nier­ter Sprach­ge­brauch un­ver­zicht­bar. Cf. I Kant – Zum ewi­gen Frie­den – und die Fol­gen

    @ Dok­tor D Nr. 72 @ Gre­gor Keu­sch­nig Nr. 69 @ Leo­pold Fe­der­mair Nr. 76

    Ein we­nig spon­tan

    @ Gre­gor Keu­sch­nig, Nr. 69
    Vor 12 Wo­chen neu­en Staub­sauger ge­kauft – »Mie­le si­lent, chry­stal white« – of cour­se. Guess you li­ke that!

    Es läuft dar­auf hin­aus zu sa­gen: Das Le­ben ist kein Po­ny­hof, ich gebs zu: Aber man kann die ko­rea­ni­sche Kon­kur­renz z. B. nicht weg­bea­men. Das ist die Grund­la­ge der al­ler­mei­sten po­li­ti­schen Dis­kur­se – sa­gen wir im Rah­men der Re­al­po­li­tik. Ich sa­ge nicht, es soll kei­ne an­de­ren (uto­pi­schen) Dis­kur­se ge­ben. Aber der Re­al­po­li­tik-Dis­kurs und die par­la­men­ta­ri­sche Pra­xis in der EU ar­bei­ten so­zu­sa­gen un­ter den Be­din­gun­gen sol­cher Kon­kur­renz. Und die Kon­su­men­ten kau­fen eben die ko­rea­ni­schen (und tai­wa­ne­si­schen usw. ...) Pro­duk­te.

    Ein von Ih­nen nicht be­merk­ter Licht­blick: Zy­pern hat die gro­ße Kri­se ganz gut be­stan­den -
    – Rich­ter (cf. wei­ter oben – mein Grie­chen­land-link) hat das ganz rich­tig vor­aus­ge­sagt – hier am See ha­ben, als er die­se Pro­phe­zei­ung mach­te, ei­gent­lich al­le ge­gen ihn gewette(r)t, mit de­nen ich sprach.

    Ach ja: Ich hab’ jahr­zehn­te­lang von ein paar hun­dert Mark im Mo­nat ge­lebt. Aber halt un­ter BRD-Be­din­gun­gen – or­dent­li­che me­di­zi­ni­sche Ver­sor­gung, frei­er Zu­gang zur Bil­dung, prak­tisch Gra­tis-Ein­tritt in Mu­se­en usw. usw. usw., ei­ne Sze­ne, die mich trug – das ging ganz flott da­hin. Bü­cher z. B. wur­den aus­ge­lie­hen, spar­te man die Re­ga­le. Kla­mot­ten ha­ben nix ge­ko­stet. Ein par Mark hie und da. Ein­mal in Ost­ber­lin ein paar Le­der­san­da­len – die Ver­käu­fe­rin­nen ha­ben nicht schlecht ge­staunt; die San­da­len für prak­tisch kein Geld wa­ren ok.
    Was sich im Mo­ment zu­spitzt, ist ei­ne Kon­kur­renz in­ner­halb der bür­ger­li­chen Schicht um die schö­nen Plät­ze. (Leo­pold Fe­der­mai­er Nr. 76) Vom Zahn­arzt auf­wärts kau­fen al­le Woh­nun­gen in be­ster La­ge, al­les was ir­gend­wie schön ist oder schön liegt oder auch nur er­träg­lich aus­sieht und pas­sa­bel liegt, und die­se Leu­te drän­gen in Scha­ren hier­her; hier am See wol­len Sie als Buch­änd­ler z. b. nicht mehr auf Woh­nungs­su­che ge­hen. Da ist der h a l b e Mo­nats­lohn weg für ei­ne Ein­zim­mer­woh­nung, wenn auch warm und mit Müll und Strom. In den Ge­nos­sen­schafts­woh­nun­gen ist es noch ein we­nig bes­ser, da reicht das dann für 1 1/2 oder zwei Zim­mer. In­ter­es­sant, dass et­li­che von de­nen noch im­mer auf Die Lin­ke ein­ge­schwo­ren sind. Mal se­hen wie lan­ge noch.

    Mie­le ist na­tür­lich im Wett­be­werb. Auch Jo­ker, Tri­gema und Bir­ken­stock. VW usw. Schaeff­ler, Stihl – ok ich bin ja schon still, – nix geht oh­ne – Wett­be­werb. Aber der Ku­chen ins­ge­samt wird durch die welt­wei­te Kon­kur­renz klei­ner, bzw. här­ter um­kämpft. Ich emp­feh­le an die­ser Stel­le noch ein­mal den Blick auf die Bil­der Bur­tynskis – und ge­be noch 1 Zu­satz­in­fo: 70% der welt­weit ver­kauf­ten Kaf­fee­ma­schi­nen kom­men der­zeit aus ei­ner ein­zi­gen der von Bur­tyn­ski fo­to­gra­fier­ten Fa­bri­ken im chi­ne­si­schen Shen­zen. Das war ein­mal ein ganz bun­ter Markt und je­de Men­ge Ar­beits­plät­ze in Eu­ro­pa hin­gen dar­an. Aber die­ser Mas­sen­markt ist weg, und kehrt so bald nicht wie­der. Der­weil wan­dert die Tex­til­in­du­strie von Chi­na ab nach Viet­nam usw.
    Das al­les (und noch viel mehr..) sieht Sar­ra­zin rich­tig. Es ent­ste­hen die­se ge­mei­nen De­fi­zi­te – Grie­chen­land hat­ten wir ja schon: aber emt ooch Ita­ly: Was Fuest (s. o.) da er­zählt ist schon ernst – Ita­li­en steu­ert auf ei­nen die Öko­no­men fas­zi­nie­ren­den Ne­ga­tiv­re­kord zu: 15 Jah­re mit 0 % Pro­duk­ti­vi­täts­stei­ge­rung – und das bei an­hal­ten­dem tech­ni­schen Fort­schritt.
    IFo-Chef Fuest sagt, das ha­be es nicht nur im ent­wickel­ten Eu­ro­pa, son­dern in der ge­sam­ten OECD noch nie ge­ge­ben seit sie der­lei Mes­sun­gen durch­füh­ren, al­so seit min­de­sten vier­zig Jah­ren. Und das sind die rea­len Fol­gen der zu­neh­men­den welt­wei­ten Kon­kur­renz. Au­ßer­dem sind die ita­lie­ni­schen Au­ßen­stän­de in den letz­ten acht Jah­ren von 22 auf 280 Mrd. (ca.) ge­stie­gen. Das kann so nicht wei­ter­ge­hen. Die Zu­stän­de sin­daa oh­ne­hin schon de­sa­strös. Wir be­zu­schus­sen der­zeit ita­lie­ni­sche und grie­chi­sche Staats­haus­hal­te. Die Fa­mi­lie La­fon­taine ist der An­sicht, das ha­be sei­ne Rich­tig­keit wg. Ex­port­über­schüs­sen. Aber die Fa­mi­lie La­fon­taine ist in die­sen Din­gen ruck-zuck von ho­her Fle­xi­bi­li­tät. Ob Herr Ga­bri­el das be­greift – sei­ne Wäh­ler wür­den es ihm ganz si­cher ho­no­rie­ren – aber so­lan­ge er den Acker nicht be­stellt, ern­tet dort die AfD; Frau We­igel und Herr Meu­then ver­ste­hen die Zu­sam­men­hän­ge oh­ne mit der Wim­per zu zucken. Die Talk­show-Gast­ge­be­rin­nen wer­den sie noch ei­ne Wei­le ver­bel­len. Aber das Pu­bli­kum sieht lang­sam, was vor sich geht, weil die Sa­che über die von Ih­nen (und von mir wei­ter oben) er­wähn­ten Bun­des­an­lei­hen, aber auch über so hand­fe­ste Din­ge wie die zu­neh­men­den Fi­li­al­schlie­ßun­gen der Spar­kas­sen und Ge­nos­sen­schafts­ban­ken, und die ero­die­ren­den Spar­zin­sen, die ent­wer­te­ten Le­bens­ver­si­che­run­gen usw. sehr kon­kret wer­den.
    Der ein­zi­ge ech­te Trost: Al­les, was wir der­zeit er­le­ben, ist weit über den Wer­ten der fünf­zi­ger und sech­zi­ger Jah­re – über­all – mit Aus­nah­me eben des 1) Wachs­tums – al­so des Ge­fühls, dass es auf­wärts geht: das ist de­fi­ni­tiv weg und – 2) der Net­to-Ren­di­te der Spa­rer.

    Ins­ge­samt glaub ich, dass Sar­ra­zin ein ver­flixt ak­ku­ra­ter Be­richt­erstat­ter ist. Und er war ak­ti­ver So­zi­al­de­mo­krat – er ist tat­säch­lich po­li­tisch be­schla­gen von der Pfalz über das Rhein­land bis nach Ber­lin, vom Mit­tel­ständ­ler bis zum Dax-Kon­zern und zum Lan­des­haus­halt, von den Zwän­gen und Hand­lungs­spiel­räu­men der Mi­ni­ste­ri­al­bü­ro­kra­tie bis hin zur Bun­des­bank und der EZB. Im neu­en Buch hab­bich nur 1 ekla­tan­ten Feh­ler ge­se­hen: Und der ist mir jetzt ku­rio­ser­wei­se nicht prä­sent, müss­te ich noch­mal gucken, he­he.
    Aber das gro­ße Bild find’ ich stimmt, ja mehr noch: Es ist so gut ge­zeich­net wie von kei­nem ver­gleich­ba­ren Schrei­ber sonst.
    Auch im Hin­blick auf die EU: Er durch­schaut in der Tat die­se gro­ße und ziem­lich sinn­los Geld ver­bren­nen­de Um­ver­tei­lungs­ma­schi­ne na­mens EWS und er sah v o r a u s , dass das EU-Ver­bot der Schul­den­über­nah­me nicht funk­tio­nie­ren wür­de. Da­mals hieß es bei den we­ni­gen, die die­se Pro­gno­se im­mer­hin be­ach­te­ten, Sar­ra­zin ma­le schwarz. Das geht nun nicht mehr. Das irr­ste Ar­gu­ment in die­ser neu­en La­ge, das ich bis­her ge­gen Sar­ra­zin ge­hört ha­be, lau­te­te so: Das Auf­kom­men der Po­pu­li­sten sei ihm, Thi­lo Sar­ra­zin und sei­ner höchst­per­sön­li­chen dem­ago­gi­schen Schwarz­ma­le­rei ge­schul­det. Mir fällt grad nicht mehr ein, wer’s ge­sagt hat, aber im Zwei­fel wird es schon so ei­ne Tiptop – Fern­seh­ex­per­tin ge­we­sen sein, viel­leicht so­gar mit Mi­gra­ti­ons­hin­ter­grund – war­um nicht!
    Ich weiß nicht, ich glau­be Schäub­le sieht die La­ge auch un­ge­fähr rich­tig (Aus­set­zer aus­ge­nom­men), aber er hat noch die­se Kriegs­fol­gen­dis­kus­si­on im Nacken und denkt wohl an­dau­ernd: Was, wenn wir statt Wirt­schafts­dif­fe­ren­zen aus­zu­tra­gen ech­te Schlach­ten schlü­gen: Das wä­re na­tür­lich viel schlim­mer. Stimmt. Au­ßer­dem glaubt er glau­bich an das Durch­wur­steln. Das könn­te ei­ne Täu­schung sein.
    Ren­zi ist auf die Ab­zock­erschie­ne ein­ge­bo­gen. Ziel: Wenn die Schul­den die kri­ti­sche Gren­ze er­reicht ha­ben, sol­len sie ge­kappt wer­den – wie im Fal­le Grie­chen­lands.
    Was mich wun­dert – was mich enorm wun­dert, ist, wie ru­hig sich Slo­we­ni­en, Slo­wa­ki­en (heißt jetzt so, oder?), Tsche­chi­en, Lett­land usw. in die­ser Si­tua­ti­on ver­hal­ten.
    Die Fin­nen sind so­viel ich ver­ste­he raus, weil sie der EU ei­ne ma­te­ria­le Ab­si­che­rung all ih­rer Ga­ran­tien ab­ge­trotzt ha­ben. Schlau! Die Nie­der­lan­de be­geh­ren ge­le­gent­lich ge­gen den Brüss­ler Main­stream auf – wie die Po­len.
    Was Hol­lan­de denkt, wer­den am En­de viel­leicht nicht ein­mal die fran­zö­si­schen Hi­sto­ri­ker zu sa­gen wis­sen. Ir­schend­wie schwebt der ein­fach durch die Sze­ne wie wei­land das Schwein an der Lei­ne über dem Kraft­werk. Er wippt so selbst­ver­sun­ken in den Vi­de­os mit dem Mo­tor­rol­ler. Ei­nen Schuß hat er noch, aber selbst den viel­leicht nur, wenn die ak­tu­el­len Streiks nicht die EM stran­gu­lie­ren.

  78. @ Die­ter. Ja, auf Ita­li­en soll­te man acht­ge­ben. Der Ein­la­gen­si­che­rungs-Fond steht die­ser Ta­ge wie­der auf der EU-Agen­da, Ita­li­en ist ganz scharf drauf. Da kann man dem @ Dok­tor nur bei­pflich­ten, sieht aus als ob die Ita­lie­ner im End­spiel wä­ren, das schließ­lich al­le ver­lie­ren wer­den.
    *
    Wenn ich un­se­re Run­de noch ein­mal breit aus­le­gen darf: die Er­mu­ti­gung von JW­Mül­ler (Ab­schnitt 3), al­le Bür­ger­li­chen mö­gen sich sach­lich aber un­na­iv mit den fehl-eti­ket­tier­ten Ver­tre­tungs­an­sprü­chen der »Po­pu­li­sten«, in Deutsch­land und an­ders­wo, aus­ein­an­der­set­zen, fin­det hier in die­sem Fo­rum kei­ne Zu­stim­mung, weil sie doch ei­ne star­ke Fil­te­rung (Stich­wort: Ko­rea, Mie­le, Min­dest­lohn) für Pu­bli­zi­sten und Aka­de­mi­ker oh­ne be­fri­ste­ten Ver­trag vor­aus­setzt?!
    An­ders ge­sagt, ist ein Ab­se­hen von der Öko­no­mie in ei­nem Teil-Be­reich der Po­li­ti­schen Theo­rie im­mer da­zu an­ge­tan, ei­ne Ver­en­gung der Bür­ger­li­chen Zu­mu­tung, die schon mal als »glo­ba­le Zu­stän­dig­keit« auf­leuch­tet, ide­al­ty­pisch und pro­to­ty­pisch er­schei­nen zu las­sen. Ist das Ab­se­hen von der Öko­no­mie nicht das zen­tra­le An­lie­gen des bür­ger­li­chen Li­be­ra­lis­mus, dem man Mül­ler frag­los zu­ord­nen muss, eben ge­nau weil die Un­kon­trol­lier­bar­keit der Wirt­schaft mit­samt ih­ren exi­sten­zi­el­len Fol­gen nicht wirk­lich zum »Sy­stem« passt?!
    Ich stel­le mir die­se Fra­ge im­mer und im­mer wie­der: war­um ist der Li­be­ra­lis­mus so über­zeu­gend mit sei­nem ar­ro­gan­ten Welt­aus­schnitt...

  79. @Leopold Fe­der­mair, #76 @die kal­te So­phie #81
    Mül­lers Aus­gangs­punkt und Her­an­ge­hens­wei­se ist po­li­tisch bzw. de­mo­kra­tie­theo­re­tisch; ei­ne so­zio­lo­gi­sche (öko­no­mi­sche) Ana­ly­se strebt er nir­gend­wo ex­pli­zit an. Um das Phä­no­men zu fas­sen, muss man das auch nicht; um es zu er­klä­ren schon, aber ich den­ke, dass es ihm dar­um ei­gent­lich nicht geht (man kann die­se Grenz­zie­hung be­män­geln, aber vor­wer­fen ei­gent­lich nicht, weil das nicht sein An­spruch ist).

    @die kal­te So­phie, #75
    Ich bin mir nicht si­cher, ob ich die Sa­che mit dem Dis­po­si­tiv rich­tig ver­ste­he: Das wä­re in der Kon­se­quenz als Schritt weg von den über­staat­li­chen Ge­bil­den zu ver­ste­hen?

  80. Ist »Eu­ro­pa« nicht schon zwei Num­mern zu groß
    Sub­si­dia­ri­tät ist der Zau­ber, der nicht im­mer funk­tio­nie­ren will, aber per Idee ska­lier­bar bis ganz oben ist. In den USA war der Bund lan­ge nur für we­ni­ge na­tio­na­le Auf­ga­ben wie Ver­tei­di­gung wich­tig, der Rest pas­sier­te in den Staa­ten. Seit dem WWII hat sich die Re­gie­rung im­mer mehr Auf­ga­ben ge­an­gelt und Wa­shing­ton wur­de im­mer wich­ti­ger. Viel­leicht zwangs­läu­fig, auch wenn die an­de­re Idee bes­ser ist? Bei uns kön­nen die Län­der jetzt nur noch im­mer sku­ri­le­ren Wahl­kampf mit Schu­le und Po­li­zei ma­chen.

  81. @metepsilonema Nr. 82

    Ich mei­ne, die Fra­gen, die Mül­ler auf­wirft: Sach­zwang­po­li­tik und Po­pu­lis­mus (= Fra­gen nach der Iden­ti­tät und dem Ei­gent­li­chen (dem Volk an sich)) ei­ner­seits vs. ver­han­del­ba­re po­li­ti­sche und staats­po­li­ti­sche (=in­sti­tu­tio­nel­le) Fra­gen ist so­weit ok, wird aber im­mer erst im Streit­fall wirk­lich in­ter­es­sant.
    Auch dass er den Po­pu­li­sten zu­schreibt, sie sei­en not­wen­di­ger­wei­se ge­gen die EU ein­ge­stellt, ist zu­nächst noch nicht sehr hilf­reich – und an sich auch nicht sehr be­deut­sam:
    In fact, tech­no­cra­cy and po­pu­lism rein­force each other: li­be­ral eli­tes be­co­me ever mo­re di­strustful of de­mo­cra­cy; il­li­be­ral peo­p­le seek to de­fy them. In­stead, po­li­ti­ci­ans need to ack­now­ledge that the­re are al­ter­na­ti­ves, ju­sti­fy the one they have cho­sen as best they can and ar­gue that ul­ti­m­ate­ly po­li­tics is about issues and in­sti­tu­ti­ons – not about pu­re iden­ti­ty, as po­pu­lists in­sist. (Mül­ler im Guar­di­an)
    Dass Po­lit-Tech­no­kra­ten und Po­pu­li­sten sich ge­gen­sei­tig schach­matt set­zen soll vor­kom­men. Aber die Er­ör­te­rung die­ses und an­de­rer ein­schlä­gi­ger Span­nungs­fel­der stellt kein im en­ge­ren Sin­ne po­lit-theo­re­ti­sches, son­dern ein po­lit-prak­ti­sches Pro­blem dar. Das wird viel­leicht deut­lich, wenn man sich an­schaut, wer wen zu­recht als Po­pu­li­sten be­zeich­net.
    Im Kern wird man un­ter­schei­den müs­sen, ob über die ar­ti­ku­lier­ten Po­si­tio­nen oder über die Mo­ti­ve der Ak­teu­re ge­spro­chen wird. -
    – Klar kann man die SVP (Blo­cher-Par­tei) als eli­ten-kri­tisch und selbst­be­wußt schwei­ze­risch oder eben EU-kri­tisch und po­pu­li­stisch ein­schät­zen. Ich ha­be oben (Nr. 80) ei­nen Punkt an­ge­führt, wo mitt­ler­wei­le auch ab­so­lut un­ver­däch­ti­ge Leu­te wie Ex-Ver­fas­sungs­rich­ter Grimm und FAZ-Feuil­le­to­nist Gey­er das glei­che sa­gen, was die SVP-Leu­te schon hun­dert­fach ge­sagt ha­ben. Nur dass ge­gen Grimm und Gey­er kei­ner die Keu­le schwingt. Zu sa­gen, dass sich die EU via Eu­GH Le­gi­ti­mi­tät er­schleicht (!) hat mit dem Po­pu­li­sten-Mu­ster prak­tisch nur noch de­skrip­tiv zu tun und ist via FAZ vom Sams­tag in den ak­zep­tier­ten Main­stream ein­ge­rückt.
    Was Mül­ler jetzt noch ein­wen­den könn­te wä­re: Ja, aber Gey­er und Grimm mei­nen ih­re Kri­tik ernst, wäh­rend Blo­cher et. al. die näm­li­che Kri­tik nur aus ei­nem – ver­dor­be­nen, zer­set­zen­den, EU-feind­li­chen usw. Geist her­aus ge­äu­ßert ha­ben.

    Tat­säch­lich wird ar­gu­men­ta­tiv schon seit Jah­ren so ver­fah­ren, mit der Fol­ge, dass sich pri­ma vi­sta ein­wand­freie In­tel­lek­tu­el­le wie Tho­mas Hür­li­mann, den ich in die­sem Zu­sam­men­hang eben­falls (wenn auch mit Ab­sicht...) zi­tiert ha­be, sich prak­tisch über Nacht zum ten­den­zi­el­len Volks­feind her­ab­ge­wür­digt sa­hen: Mit­ge­gan­gen, mit­ge­han­gen.

    Ich glau­be bei He­gel steht ir­gend­wo, dass in solch ei­ner Si­tua­ti­on der näch­ste ar­gu­men­ta­ti­ve Schritt so aus­sieht: Pahh, man ver­ste­he die gan­ze Auf­re­gung nicht: Im Grun­de ha­be man, was er da be­haup­te, schon im­mer ge­sagt: Nun zier er sich nicht so!

    Noch tie­fer ins Herz der Cau­sa ein­drin­gend stellt man fest, dass es bei na­tio­na­len Po­li­ti­ken so­wie­so ein iden­ti­tä­res Mo­ment gibt: Wir Schwei­zer! – Er­klärt man je­de Per­son, die sich auf sol­cher­lei be­ruft zum Po­pu­li­sten, wird man si­cher rei­che Beu­te ma­chen – aber auch an vie­len Wäh­le­rin­nen und Wäh­lern vor­bei­re­den.

    Die SPD macht das in D‑Land mit lang­sam schon er­staun­li­cher Nai­vi­tät und stu­pen­der Kon­se­quenz: Sie sen­det bis an­hin prin­zi­pi­ell an der Deutsch­land­fah­ne und an hei­mi­schen In­ter­es­sen vor­bei. Im Zwei­fel für die Grie­chen!
    So ist die SPD stets auf der si­che­ren Sei­te, wenn Herr Mül­ler und sei­nes­glei­chen über­prü­fen kom­men, ob auch wirk­lich kei­ne iden­ti­tä­ren (= re­gres­si­ven, = ir­ra­tio­na­len, =an­ti-in­ter­na­tio­na­li­sti­schen, = un­so­li­da­ri­schen, = ge­schichts­ver­ges­se­nen) Po­si­tio­nen aus­zu­ma­chen sind. Po­si­tio­nen mit­hin, wie Sig­mar Ga­bri­els Va­ter sie ein­ge­nom­men ha­ben wür­de in ak­tu­el­len De­bat­ten, wenn er denn noch leb­te: Das ist ein Kri­te­ri­um, das in die­ser Mül­ler-Not, so will ich die mal nen­nen, von Sig­mar Ga­bri­el treu­her­zig er­füllt wird: Das und das ist na­zi­stisch, weil mein Va­ter, der bis zu sei­nem letz­ten Atem­zug ein Na­zi war, ge­nau­so ge­re­det ha­ben könn­te...).

    Der­lei geht. Aber die Leu­te lan­gen sich zwi­schen­durch an den Kopf und ma­chen in der Wahl­ka­bi­ne ei­nen rie­sen Bo­gen um die fehl­ge­wickel­te SPD und ih­ren sich im­mer wie­der in the­ra­peu­ti­schen (oder witt­gen­stei­nisch: pri­va­ten) Dis­kur­sen ver­stricken­den Vor­sit­zen­den. Ich habs in Ba-Wü kom­men se­hen; und hier im Blog auch dar­über ge­schrie­ben, und hab mich, wenn auch lei­se, so doch un­miss­ver­ständ­lich, nun ja: ei­gent­lich un­miss­ver­ständ­lich – – schrift­lich an die SPD ge­wandt, aber ich ha­be kei­ne Ant­wort be­kom­men; und ich war den­noch über­rascht an­ge­sichts der Schär­fe, mit der die Wäh­le­rIn­nen in Ba-Wü Schmid und Fried­rich, an den ich ge­schrie­ben hat­te, ver­schmäht ha­ben. Und oh ja, ich ken­ne auch AfD-Wäh­le­rin­nen. Und nein: Kei­ne ein­zi­ge von de­nen, die ich per­sön­lich ken­ne, sind iden­ti­tär, oder pro-Na­zi. Und ja: Wie wei­ter oben schon an­ge­spro­chen: Die (eli­ten­ge­steu­er­te) Geld­um­ver­tei­lung­ma­schi­ne ESM z. B. ist der ei­nen oder dem an­de­ren von ih­nen so­gar un­sym­pa­thi­scher als mir.
    Noch ei­ne all­ge­mei­ne Fest­stel­lung zum Po­lit-Dis­kurs: Es ist voll­kom­men nor­mal, dass Wäh­le­rin­nen nicht al­les, was wahl­re­le­vant ist, dis­kur­siv auf­zu­lö­sen ver­mö­gen, und sich statt­des­sen in ho­hem Mas­se auf ih­re In­tui­ti­on ver­las­sen. Sie rie­chen den Bra­ten aber – und auch das ver­schafft Ori­en­tie­rung in un­über­sicht­li­chem Ter­rain.

  82. @metepsilonema
    Ge­nau so wirk­te Mül­lers Buch auf mich: ab­ge­ho­ben (von so­zia­len Rea­li­tä­ten), auf die De­mo­kra­tie­spie­le fi­xiert. Strecken­wei­se nicht ein­mal po­li­to­lo­gisch, eher jour­na­li­stisch, be­müht locker, wie ge­wis­se Leit­ar­ti­kel. Ich er­war­te mir schon Er­klä­rungs­ver­su­che von Suhr­kamp-Bü­chern.
    @Gregor
    H. M. En­zens­ber­ger über­zeich­net man­ches im Schreckens-Buch, aber von ei­nem Nie­der­gang der Kul­tur im ara­bi­schen Raum zu spre­chen, scheint mir nicht ganz ver­fehlt. Bü­cher kom­men we­ni­ge von dort. Aber na­tür­lich muß man die Be­völ­ke­run­gen und ih­re Sor­gen ernst neh­men. Isla­mo­pho­be Po­pu­li­sten tun so, al­so könn­te man ei­ne gan­ze Welt­re­li­gio­nen mit ih­ren ‑zig Mil­lio­nen An­hän­gern ein­fach auf die Müll­hal­de der Ge­schich­te kip­pen. Ge­nau die­se Ver­ein­fa­chungs­ten­denz be­to­nen Sie im­mer wie­der, Gre­gor K., und zu­recht. Sim­pli­fi­zie­ren heißt aber, ge­gen Kul­tur und Den­ken an sich vor­zu­ge­hen. Dar­in liegt m. E. die gro­ße Ge­fahr der ge­gen­wär­ti­gen Si­tua­ti­on, wo dann Kom­mu­ni­ka­ti­on oft beim be­sten Wil­len nicht mehr mög­lich ist (Ha­ber­mas’ schö­nes, aber blau­äu­gi­ges Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mo­dell!).
    Der IS haßt und zer­stört Kul­tur­gü­ter ganz of­fen. Aber gleich­zei­tig gibt es im We­sten ei­ne kul­tu­rel­le Ero­si­on, die Gad­gets und Junk-Kon­sum und di­gi­tal-vir­tu­el­len Er­satz her­vor­bringt, wo­zu manch ein De­pra­vier­ter das von En­zens­ber­ger an­ge­führ­te Dou­ble-Bind-Ver­hält­nis hat.

  83. @Leopold Fe­der­mair
    Vie­le At­ten­tä­ter des 11. Sep­tem­ber wa­ren kei­ne De­pra­vier­ten, son­dern Men­schen mit gu­ter Bil­dung und Aus­bil­dung (hier, hier, hier, hier und hier). Die Glei­chung »Arm = Ter­ro­rist« trifft schlicht­weg nicht zu. An­dern­falls müss­ten in Spa­ni­en, Grie­chen­land aber auch Frank­reich lau­fend Bom­ben ex­plo­die­ren. Ge­ra­de dar­um ist En­zens­ber­gers The­se der »ra­di­ka­len Ver­lie­rer« in die­ser Dik­ti­on falsch (in vie­lem, was er schreibt, liegt er den­noch rich­tig).

    Die The­se, dass Bil­dung vor Dumm­heit schützt, ist ei­ne Le­gen­de; ei­ne Mi­schung aus bil­dungs­bür­ger­li­chem Wunsch­den­ken und So­zi­al­ar­bei­ter-Jar­gon. Man fin­det sie heu­te vor al­lem bei Lin­ken. Die ar­beits­lo­sen Hoch­schul­ab­sol­ven­ten in Eu­ro­pa trö­stet ihr Bil­dungs­grad kaum. Gu­te Bil­dung ist heu­te längst kein Selbst­läu­fer mehr. In Frank­reich »zäh­len« üb­ri­gens be­son­ders die Bil­dungs­ab­schlüs­sen an be­stimm­ten Eli­te­uni­ver­si­tä­ten. Dann lau­fen die Dräh­te hin zu den gu­ten Po­sten in Po­li­tik und Wirt­schaft fast au­to­ma­tisch heiß.

    Tat­sa­che ist, dass der po­li­ti­sche Is­lam ei­ne gro­ße Ge­fahr für die »west­li­chen« Ge­sell­schaf­ten dar­stellt. Er bie­tet näm­lich nicht nur Kon­sum und Wa­ren­fe­ti­schis­mus, son­dern lie­fert ei­nen spi­ri­tu­el­len Über­bau (so per­vers er auch am En­de sein mag). Das ist das, was weit­ge­hend un­ter­schätzt wird. Wenn er sich – wie der IS – auch noch an­ti­ko­lo­nia­li­stisch gibt (Sy­kes-Pi­cot; Zer­stö­rung der di­ver­sen Welt­kul­tur­er­be), dann ent­steht die­se ge­fähr­li­che Mi­schung aus re­li­giö­sem Wahn und po­li­ti­scher Agi­ta­ti­on. Das ist ähn­lich dem, was es in Eu­ro­pa seit den Kreuz­zü­gen gab und erst – nach vie­len Krie­gen – im West­fä­li­schen Frie­den 1648 en­de­te. Von da an sä­ku­la­ri­sier­ten sich die Ge­sell­schaf­ten, was aber die Schrecken des 20. Jahr­hun­derts nicht ver­hin­der­te.

    Es ist ein Man­ko, dass Mül­ler die Mo­ti­va­tio­nen der Po­pu­lis­mus-An­hän­ger nicht un­ter­sucht bzw. mit ei­nem Fe­der­strich die so­zio­lo­gi­schen Be­fun­de weg­wischt. Ich glau­be ja, dass er hier rich­tig liegt, aber es reicht eben nicht und ist in­tel­lek­tu­ell sehr schwach. Auch in ei­nem Es­say soll­te man Be­grün­dun­gen ein­bau­en.

    @Joseph Bran­co
    Es tut mir leid, aber mit »Sub­si­dia­ri­tät« kann ich in Be­zug auf die EU rein gar nichts an­fan­gen. Es gibt stän­dig neue In­itia­ti­ven ir­gend­wel­cher EU-Kom­mis­sa­re und/oder Gre­mi­en, die ge­nau die­ses Prin­zip ad ab­sur­dum füh­ren. So will man jetzt da­für sor­gen, dass es ei­ne Art Quo­te für eu­ro­päi­sche Fil­me bei Se­ri­en­an­bie­tern gibt. Auch das »Ge­o­blocking« soll auf­ge­ho­ben wer­den – ver­mut­lich mit der Kon­se­quenz, dass ei­ne li­taui­sche Fir­ma auch dem­nächst nach Por­tu­gal lie­fern muss, ob­wohl sie das viel­leicht gar nicht möch­te. Das al­les für den Fe­tisch des »frei­en Mark­tes«, den man na­tür­lich auf der an­de­ren Sei­te mit di­ver­sen Sub­ven­tio­nen und Bei­hil­fen un­ter­läuft.

    (Ich sa­ge nicht, dass die­se Mass­nah­men nicht je­de für sich ih­re Be­rech­ti­gung ha­ben. Aber sie ver­mit­teln nach au­ßen ein Ge­fühl der Dop­pel­zün­gig­keit. Ei­ner­seits gibt es ei­nen »frei­en Markt«, an­de­rer­seits wird dort stän­dig mit Vor­schrif­ten ein­ge­grif­fen, die ihn re­gu­lie­ren – al­ler­dings nicht der­ge­stalt, dass sich für den Ver­brau­cher hier­aus ein Mehr­wert er­gibt.)

    Und an­ders her­um: Wenn man in Deutsch­land die Zu­stän­dig­keit der Bun­des­län­der in Be­zug auf Po­li­zei und Schu­le ab den Bund de­le­gie­ren wür­de, wä­ren die Mi­ni­ster­prä­si­den­ten mit ih­ren Lan­des­ka­bi­net­ten prak­tisch macht­los. Ih­re ein­zi­ge Funk­ti­on be­stün­de dann dar­in über den Bun­des­rat Ein­fluss auf die Bun­des­po­li­tik zu neh­men (als Kon­troll­in­stru­ment). Der »Wett­be­werb« der Bun­des­län­der um das so­zu­sa­gen be­ste Schul­sy­stem ist al­ler­dings ein Wahn­sinn und zeigt, wie ver­bo­gen die­ser Kon­kur­renz­ge­dan­ke in­zwi­schen ist. Nie­mand zieht von Bre­men nach Bay­ern, weil sei­ne Kin­der dort viel­leicht ein bes­se­res Ab­itur ma­chen.

    @Dieter Kief
    Im Kern wird man un­ter­schei­den müs­sen, ob über die ar­ti­ku­lier­ten Po­si­tio­nen oder über die Mo­ti­ve der Ak­teu­re ge­spro­chen wird.

    Dass er das nicht trennt, ist ei­nes der Pro­ble­me des Bu­ches. Aber man kann über die »ar­ti­ku­lier­ten Po­si­tio­nen« ir­gend­wann nicht mehr spre­chen, oh­ne sei­ne ei­ge­ne Mei­nung ein­flie­ßen zu las­sen. Wenn man Pro-EU ein­ge­stellt ist, wird ei­nem je­de EU-kri­ti­sche Po­si­ti­on am En­de »po­pu­li­stisch« vor­kom­men und sie als sol­che be­nen­nen. Auf dem Hö­he­punkt des Will­kom­mens­kul­tur-Be­kennt­nis­ses galt es schon als »po­pu­li­stisch«, wenn man auf es­sen­ti­el­le Be­din­gun­gen des Zu­sam­men­le­bens nur hin­ge­wie­sen hat.

    Der wah­re po­li­ti­sche »Mei­ster« zeigt sich dar­in, Po­pu­lis­mus im­mer dann ein­zu­set­zen, wenn ihm sei­ne Wäh­ler­schaft um die Oh­ren fliegt. Ich hat­te oben Ro­land Koch er­wähnt, der im hes­si­schen Wahl­kampf 1999 ge­gen die dop­pel­te Staats­bür­ger­schaft zog und so­gar Un­ter­schrif­ten­ak­tio­nen ver­an­stal­te­te. Zwar ge­wann er die Wahl (ent­ge­gen den da­ma­li­gen Pro­gno­sen), aber eben nicht der­art stark (CDU und FDP leg­ten nur rd. 2% zu, aber Rot-Grün ver­lor knapp 3%-Punkte – das ge­nüg­te.) Als Koch im Land­tags­wahl­kampf 2008 wie­der auf das The­ma Aus­län­der und Aus­län­der­kri­mi­na­li­tät setz­te, über­spann­te er den Bo­gen, als er die Straf­mün­dig­keit auch für Zehn­jäh­ri­ge for­der­te. Die »Bild«-Zeitung ent­zog ihm die Un­ter­stüt­zung und er ver­lor 12%-Punkte ge­gen­über 2004. Koch hat­te den Bo­gen über­spannt; sein Ge­spür für das »Mög­li­che« hat­te ihn ver­las­sen.

    In­ter­es­sant wird sein, ob See­ho­fer mit sei­ner Po­li­tik der Op­po­si­ti­on in der Re­gie­rung in Bay­ern re­üs­sie­ren wird. Es ging und geht See­ho­fer kaum um ei­ne tat­säch­li­che Lö­sung der Flücht­lings­pro­ble­ma­tik (auch hier hat­te die kom­mu­nal­po­li­ti­sche Ba­sis – eben­falls weit­ge­hend CSU ge­prägt – die tat­säch­li­che Ar­beit vor Ort zu lei­sten). Sein gan­zes Han­deln dient der Ab­schot­tung ge­gen­über der AfD in Bay­ern. Dort sind 2017 Wah­len. Der­zeit scheint dies zu funk­tio­nie­ren; in Bay­ern liegt die AfD zwi­schen 8% und 10%, al­so deut­lich un­ter dem Trend im Bund. Aber bis zur Wahl ist es noch lan­ge. Und ir­gend­wann wird das Spiel See­ho­fers lä­cher­lich. Er ris­kiert da­mit näm­lich mehr, als er er­hält. Es ist näm­lich schlicht­weg un­vor­stell­bar, dass die CSU sich im Bun­des­tag aut­ark von der CDU ver­hält. In­di­rekt baut See­ho­fer wo­mög­lich auf ei­ne 10%-AfD (und auf die Rück­kehr der FDP, die er ja ei­gent­lich hasst), weil dann die Mehr­heits­ver­hält­nis­se der­art sind, dass die CSU wie­der »ge­braucht« wird. Ak­tu­ell ist sie für die Mehr­heit der Gro­Ko schlicht­weg ent­behr­lich.

    Zu Sar­ra­zin sag ich jetzt mal nichts. Ich ha­be drei sei­ner Bü­cher hier be­spro­chen. Das Eu­ro-Buch hat mich maß­los ent­täuscht. Das dann fol­gen­de war ganz schwach und das letz­te hat mich dann nicht mehr in­ter­es­siert.

  84. En­zens­ber­ger hat scheint’s wirk­lich ei­nen Tref­fer ge­lan­det. Da­bei ist der Kas­san­dra-Job gar nicht so leicht, wie man denkt.
    Aber zu @Dieter: Im Kern wird man un­ter­schei­den müs­sen, ob über die ar­ti­ku­lier­ten Po­si­tio­nen oder über die Mo­ti­ve der Ak­teu­re ge­spro­chen wird. – Be­son­ders rich­tig. Ei­ne Ent­schei­dung auf der Me­ta-Ebe­ne, die Mül­ler of­fe­riert, ist kei­ne we­sent­li­che po­li­ti­sche Tat. Der Es­say geht zu­letzt in Leit­ar­ti­kel­’ri­sche Ge­sten über, wo sich ab­strak­te Ar­gu­men­te mit po­li­ti­schen Vor­lie­ben ver­bin­den. Lin­ker Po­pu­lis­mus?! Na­ja, klar. Sind wir nicht so.
    Die Kri­tik von Die­ter Grimm, Fuest oder Sar­ra­zin kommt we­sent­lich ernst­haf­ter da­her. Sie scheint (so­weit ich nach­voll­zie­hen kann) be­grün­det. Es ist ei­ne Kri­tik in der Sa­che, wäh­rend man Mül­ler wohl eher ei­ne Kri­tik »auf der META-EBENE« zu­bil­li­gen muss. Ei­ne Kri­tik, die üb­ri­gens in je­der Talk­show schief geht. Es wird im­mer wie­der ver­sucht, es sind nur läp­pi­sche Vor­hal­tun­gen, die ver­puf­fen.
    Nennt mich na­iv, aber für mich war es schon ei­ne ein­dring­li­che Er­fah­rung, dass »Män­ner und Frau­en« mit ehr­furchts­ge­bie­ten­den Sach­ver­stand kei­nen Ein­fluss auf die we­sent­li­chen Ent­schei­dun­gen un­se­rer Ta­ge aus­üben konn­ten, al­so we­der die noch ich.
    Das passt dann doch eher zu @Gregor und der »Im­ma­nenz der Macht«, bei den Funk­tio­nä­ren, bei den as­si­stie­ren­den (eben nicht re­prä­sen­tie­ren­den) Eli­ten. Ich blei­be da­bei: dem un­auf­find­ba­ren Volk ist das Wurscht. Ein Gut­teil wird die Idee, dass (Fou­cault zu va­ri­ie­ren) noch hef­ti­ger, um­so kla­rer und di­rek­ter re­giert wer­den muss, gar nicht mal so schlecht fin­den. Wir ha­ben es al­so mit ei­nem Macht-Ge­bil­de zu tun, wo im­mer deut­li­cher zwei Pha­sen er­schei­nen, die wil­de kom­mu­ni­ka­ti­ve Pha­se des Wil­lens, und die tech­no­kra­tisch re­gu­lier­te und be­schnit­te­ne Pha­se der In­sti­tu­tio­nen.
    Ach ja, @mete. Die Fehl­di­men­sio­nie­rung des Po­li­ti­schen Fel­des scheint mir in der Tat die Kon­se­quenz zu be­inhal­ten, De­mo­kra­tien nicht auf je­de be­lie­bi­ge Grö­ße auf­zu­bla­sen und auf über­staat­li­che Ge­bil­de zu ver­zich­ten. Das ist mein per­sön­li­cher Pro­vin­zia­lis­mus, da steh ich auch da­zu. Nicht Ha­ber­mas: ge­gen­über der Zu­kunft sind wir not­wen­di­ger­wei­se pro­vin­zi­ell, son­dern ter­ri­to­ri­al: Ge­gen­über dem Pla­ne­ten Er­de und sei­ner Zu­kunft sind wir not­wen­di­ger­wei­se pro­vin­zi­ell.

  85. @die_kalte-Sophie
    Leu­te wie En­zens­ber­ger schöp­fen ih­ren (Kassandra-)Ruhm dar­aus, dass man ih­re Irr­tü­mer »ver­gisst«. Es be­gann mit sei­nem Es­say über die »Gro­ße Wan­de­rung« 1992. Der Ver­lag fasst die vier Tex­te jetzt noch ein­mal zu­sam­men. Ih­re Ge­schmei­dig­keit ist sehr groß. Man liest den Bür­ger­krieg-Text, jauchzt auf vor Zu­stim­mung und ver­gisst ganz schnell die Pas­sa­gen der wa­bern­den Un­ge­nau­ig­kei­ten. Sprach­lich ist das aber wun­der­bar.

    Ich glau­be, dass die Ohn­macht der Po­li­tik (das Ein­ge­ständ­nis, pro­vin­zi­ell zu sein?) ei­ne selbst­er­fül­len­de Pro­phe­zei­ung ist. Hier­in liegt üb­ri­gens auch der Spreng­stoff für Po­pu­li­sten. Sie ge­ben das Ge­fühl an po­li­ti­scher Ge­stal­tung zu­rück (da­her sind sie auch für Ple­bis­zi­te). Sie ge­ben, pa­the­tisch aus­ge­drückt, ein Ver­spre­chen. Da­her ist das Ge­re­de um »Post­de­mo­kra­tie« – so rich­tig es als Be­fund sein mag – kon­tra­pro­duk­tiv.

    Auch so ein Punkt, den Mül­ler weg­wischt: Dass De­mo­kra­tien per se ei­nen Hang zum Po­pu­lis­mus ha­ben. Sonst wä­re sie kei­ne. Die Fra­ge ist nur nach den »Checks and Ba­lan­ces« um die »Ty­ran­nei der Mehr­heit« (To­que­ville) zu ver­hin­dern. So­fort ist man in den In­sti­tu­tio­nen ge­fan­gen. Hier kennt sich Mül­ler aus, hier führt er sich wohl. Aber die In­sti­tu­tio­nen sind – ich wie­der­ho­le mich da – fast nur noch Po­li­tik­verver­wal­ter. Dies wie­der­um hat mit Gro­ßen Ko­ali­tio­nen zu tun. Ein Teu­fels­kreis. Po­pu­li­sten ver­spre­chen den Aus­bruch dar­aus. Hier­in liegt ihr Fas­zi­no­sum.

  86. Ich ha­be ei­nen Kom­men­tar von @_die_kalte_Sophie über­se­hen, auf den ich aber gern noch ant­wor­ten wür­de: Ih­re Skep­sis ge­gen­über den Teil­nah­me­mög­lich­kei­ten der Be­völ­ke­rung.
    Grund­sätz­lich glau­be ich auch, dass die De­mo­kra­tie, vor al­lem die re­prä­sen­ta­ti­ve De­mo­kra­tie, qua­si als »Ideo­lo­gie« mehr De­mo­kra­tie und Teil­nah­me ver­spricht, als sie de fac­to in ei­nem sehr gro­ßen, so­zio-kul­tu­rell ex­trem di­ver­sen Wahl­volk lei­sten kann. Ganz be­son­ders dann, wenn sie wie in der he­ge­mo­nia­len li­be­ra­len De­mo­kra­tie-Theo­rie des We­stens stark an den Bür­ger als selbst­stän­di­ges, frei­es und ra­tio­nal han­deln­des We­sen ge­knüpft ist – und die­se re­gu­la­ti­ve Idee vom Bür­ger mit dem rea­len Bür­ger und des­sen Ei­gen­in­ter­es­sen ver­wech­selt oder ten­den­zi­ell in eins ge­setzt wer­den (auch von die­sem selbst und auch in gro­ßen Tei­len ganz un­ver­meid­lich). Des­we­gen er­scheint mir in vie­len Fäl­len die Kri­tik an NIMBY- & St. Flo­ri­an-Bür­gern auch am ei­gent­li­chen Pro­blem vor­bei: Wenn Leu­te be­strei­ten, dass ih­re Nach­bar­schaft der be­ste Platz für ei­ne Flücht­lings­un­ter­kunft ist, ist das erst­mal ihr Recht – und übt auf Ver­wal­tung und Po­li­tik den ent­spre­chen­den Druck aus, sich zu er­klä­ren und ggfs. ein biss­chen mehr Auf­wand in die Lö­sung zu stecken.
    Das Pro­blem se­he ich eher wo an­ders:
    1. Geht ein Ver­fah­ren (auch mit ei­ner Volks­be­fra­gung oder ei­nem Volks­be­geh­ren) dann ge­gen die ei­ge­nen In­ter­es­sen & Hal­tun­gen aus, sind sehr vie­le Be­tei­lig­te schnell mit dem La­bel »Un­de­mo­kra­tisch! Wir wur­den ver­arscht!« da­bei. Nein, man hat ei­ne po­li­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung ver­lo­ren – und das kann so­gar da­zu füh­ren, dass wie zB. bei S21 ab­seh­bar, das kom­plet­te Ver­kehrs­netz ei­ner Lan­des­haupt­stadt und evtl. auch die je­wei­li­gen Stadt- und Lan­des­haus­hal­te zu­sam­men­bre­chen wer­den – aber das än­dert nichts dar­an, dass das ein nach den in DE gel­ten­den Re­geln und An­nah­men de­mo­kra­ti­sches Ver­fah­ren war. Sol­che po­li­ti­schen Nie­der­la­gen ein­zu­stecken, scheint aber für Men­schen, die sich vor al­lem aus wie auch im­mer ge­ar­te­ter exi­sten­zi­el­ler Be­trof­fen­heit in sol­chen Ver­fah­ren en­ga­gie­ren, sehr schwer zu fal­len. (Aus ei­ge­ner Er­fah­rung weiß ich auch, war­um das so schwer ist.) Das »Man dif­fa­miert mich und nimmt mir das Recht auf freie Re­de!« von Sar­ra­zin, Slo­ter­di­jk etc., wenn ih­ren stei­len The­sen eben­so mas­si­ve Kri­tik ent­ge­gen­ge­setzt wird, rech­ne ich im Grun­de auch zu die­sen Re­ak­ti­ons­mu­stern.
    Das scheint mir aber auch da­mit zu tun zu ha­ben, dass vie­le Men­schen in un­se­rer Ge­sell­schaft we­nig Er­fah­rung mit de­mo­kra­ti­schen Pro­zes­sen zu ha­ben schei­nen; und oft auch er­staun­lich we­nig Wis­sen über die qua­si »ver­fah­rens­tech­ni­sche« Sei­te dar­an. (In den Bun­des­län­dern, die ein­mal die DDR ge­bil­det ha­ben, ist das noch of­fen­sicht­li­cher als im al­ten We­sten.)
    Das zeigt sich nun auch schon an­satz­wei­se bei den Land­tags­wah­len: Weil die ei­ge­ne Par­tei nicht den er­war­te­ten Tri­umph ein­ge­fah­ren hat, stellt man z.B. bei der AfD ein­fach mal in den Raum, in den Wahl­lo­ka­len wä­re be­tro­gen wor­den. Gleich­zei­tig schafft es ge­ra­de die AfD nicht, über­haupt Wahl­hel­fer zu re­kru­tie­ren.
    2. Um an ‘un­se­ren’ po­li­ti­schen Pro­zes­sen teil­zu­neh­men – und of­fen­sicht­lich gilt das auch schon für den ver­gleichs­wei­se simp­len Akt des Wäh­lens (vgl. auch Gre­gor Keu­sch­nigs Dar­stel­lung zur Unfähigkeit/willigkeit zum Ku­mu­lie­ren & Pa­na­schie­ren) – braucht es wohl ei­nen Ha­bi­tus so­wie dis­kur­si­ve und in­tel­lek­tu­el­le Fä­hig­kei­ten, die das Pro­dukt lan­ger Übung / Er­zie­hung / Er­fah­rung und nicht ein­fach DA sind. Und na­tür­lich Zeit bzw. die Be­reit­schaft, sein Zeit­bud­get auf das po­li­ti­sche En­ga­ge­ment aus­zu­rich­ten.
    Die Glät­te und Ge­schmei­dig­keit vie­ler Po­li­ti­ker, das Funk­tio­närs- und Ma­na­ger­haf­te, das ich als Vor­wurf ei­nes ge­wis­sen Eli­tis­mus auch hier aus ei­ni­gen Bei­trä­ge her­aus­le­se, lässt sich auch als be­son­ders star­ke Aus­prä­gung die­ses »de­mo­kra­ti­schen« Ha­bi­tus zu se­hen: So bleibt man auch bei star­ken in­halt­li­chen Dif­fe­ren­zen über­haupt hand­lungs­fä­hig, wenn man sich auf et­was ei­ni­gen muss oder im­mer wie­der mit­ein­an­der zu tun be­kommt. So­bald sich so et­was sehr stark ent­wickelt und ver­brei­tet, wird es na­tür­lich schwer für an­ders so­zia­li­sier­te und ha­bi­tua­li­sier­te Per­so­nen, sich an die­sen Pro­zes­sen zu be­tei­li­gen – zu­mal sich dann auch schnell Ha­bi­tus-Al­li­an­zen auf­bau­en, die in­halt­li­che Dif­fe­ren­zen über­schrei­ben (an so et­was la­bo­riert si­cher­lich die SPD). Pro­ble­ma­tisch ist auch, wenn sich die ha­bi­tu­ell Pri­vi­le­gier­ten nicht klar ma­chen, wie aus­schlie­ßend ihr Ha­bi­tus wir­ken (kann) oder die­sen so­gar of­fen­siv als Aus­schlie­ßungs- und Ver­drän­gungs­me­cha­nis­mus ein­set­zen.
    Die Un­wil­lig­keit, sich mit dem Spiel­re­geln ernst­haft zu be­fas­sen, oder die ei­ge­ne Un­fä­hig­keit, sich erst mal auf Dif­fe­ren­zen oder die Mög­lich­keit des Schei­terns ein­zu­las­sen, ist aber für mich kein Ein­wand ge­gen mei­ne Ein­schät­zung, dass ge­ra­de heu­te die de­mo­kra­ti­schen & po­li­ti­schen Teil­nah­me­mög­lich­kei­ten in DE sehr groß sind – und ja auch von vie­len ge­nutzt wer­den, wie man ja im En­ga­ge­ment für Ge­flüch­te­te, in zig Bür­ger­initia­ti­ven und ei­gent­lich so­gar im Auf­bau der AfD se­hen kann. Dass vie­le Pro­ble­me po­li­tisch be­ar­bei­tet wer­den müs­sen, aber ver­mut­lich po­li­tisch un­lös­bar sind – steht auf ei­nem an­de­ren Blatt und hat mei­nes Er­ach­tens mit den Mög­lich­kei­ten der Teil­ha­be we­nig zu tun (eher mit der Mo­ti­va­ti­on).

  87. @ Dok­tor D. Wun­der­schön, dass Sie hier für die Funk­tio­nä­re Par­tei er­grei­fen. Ich zi­tie­re gleich noch mal ein High­light:
    So­bald sich so et­was [der Ha­bi­tus] sehr stark ent­wickelt und ver­brei­tet, wird es na­tür­lich schwer für an­ders so­zia­li­sier­te und ha­bi­tua­li­sier­te Per­so­nen, sich an die­sen Pro­zes­sen zu be­tei­li­gen – zu­mal sich dann auch schnell Ha­bi­tus-Al­li­an­zen auf­bau­en, die in­halt­li­che Dif­fe­ren­zen über­schrei­ben (an so et­was la­bo­riert si­cher­lich die SPD).
    Ich un­ter­strei­che den Be­griff »Ha­bi­tus-Al­li­anz«, und über­haupt al­les. Ein Voll­tref­fer! De­mo­kra­tie wird in ge­nau den Ver­fah­ren ge­lernt, an de­nen die mei­sten nicht teil­ha­ben. Klei­nes per­for­ma­ti­ves Pa­ra­do­xon.
    Ge­gen oder für den Eli­ta­ris­mus möch­te ich mich nicht aus­spre­chen. Aber im­grun­de ver­steh’ ich die Po­pu­li­sten, wie über­haupt de­ren pri­mi­ti­ver An­satz »be­mer­kens­wert gut von al­len ver­stan­den wird«. Ich ha­be schon oben die Un­ter­schei­dung zwi­schen »re­prä­sen­ta­ti­ven Eli­ten« und den Ko-Ex­zel­len­zen, sei­en sie Ver­fas­sungs­rich­ter oder Schrift­stel­ler ge­zo­gen. Die­se Un­ter­schei­dung er­scheint mir we­sent­lich. Das kann man be­wer­ten wie man möch­te, me­lan­cho­lisch (»Die Leucht­tür­me der Mensch­heit sen­den sich ge­gen­sei­tig ih­re Bot­schaf­ten zu...«) oder kri­tisch (»An der Re­gie­rung sind im­mer nur Leu­te aus der zwei­ten Rei­he be­tei­ligt...«).
    Üb­ri­gens ha­be ich Mül­ler nach die­ser Un­ter­schei­dung be­fragt, er trifft sie nicht. Und das geht mir, pro­le­ta­risch ge­sagt, schon auf den Sen­kel. Ein Hauch von »Eli­te« auch bei Mül­ler?! Na so was.

  88. @Gregor #86

    Für die mei­sten At­ten­tä­ter von Pa­ris im No­vem­ber 2015 und vor­her bei Char­lie Héb­do tref­fen die Ver­mu­tun­gen von Berar­di und En­zens­ber­ger zu. Jun­ge Män­ner aus Pariser/Brüsseler Vor­städ­ten mit we­nig Per­spek­ti­ve, Mi­gra­ti­ons­hin­ter­grund, oft klei­ne­re De­lik­te in der frü­he­ren Bio­gra­phie. Na­tür­lich brauch­te ein At­ten­tat wie das vom Sep­tem­ber 2001 in New York auch Tech­ni­ker und Lo­gi­sti­ker, sonst wä­re es nicht durch­führ­bar ge­we­sen. Ter­ro­ri­sti­sche Grup­pen ha­ben be­stimm­te Struk­tu­ren in ih­rem In­ne­ren, Ar­beits­tei­lung etc.

    Daß al­le De­pra­vier­ten Ter­ro­ri­sten wer­den, hat nie­mand be­haup­tet.
    Es hat auch nie­mand be­haup­tet, daß al­le gut Ge­bil­de­ten Ter­ro­ri­sten wer­den.

    Es ist schon klar, daß Bil­dung an sich vor gar nichts schützt. Äu­ße­run­gen in die­sem Zu­sam­men­hang be­zie­hen sich auf die ge­gen­wär­ti­ge so­zia­le Si­tua­ti­on. Daß schlecht Ge­bil­de­te häu­fi­ger po­pu­li­sti­sche Par­tei­en wäh­len, wur­de in den letz­ten Jah­ren oft und an ganz ver­schie­de­nen Or­ten deut­lich. Ich er­fah­re das auch, ganz kon­kret, jen­seits bzw. dies­seits der Sta­ti­sti­ken, aus mei­nem en­ge­ren Ver­wand­ten- und Be­kann­ten­kreis in Öster­reich, vie­le von ih­nen sind in päd­ago­gi­schen Be­ru­fen und ha­ben täg­lich mit den jun­gen Ge­ne­ra­tio­nen Um­gang. Bei nied­ri­ge­rem Bil­dungs­ni­veau ist die Af­fi­ni­tät zu Po­pu­lis­mus, Ste­reo­ty­pen, Sim­pli­fi­zie­run­gen un­ver­kenn­bar; bei hö­he­rer Bil­dung eher zu Grü­nen (die so­ge­nann­ten Alt­par­tei­en schau­en un­ter den Jun­gen ganz alt aus).

    Eben­falls die Si­tua­ti­on in ih­rer Ge­samt­heit be­trifft die Be­ob­ach­tung, daß Bil­dungs­po­li­tik in un­se­ren Brei­ten seit vie­len Jah­ren ori­en­tie­rungs­los ist und/oder nicht greift. Mei­ner Mei­nung hat das schwer­wie­gen­de Fol­gen und wird noch mehr ha­ben.

    Ich glau­be nicht, daß es un­be­dingt not­wen­dig ist, ganz ge­naue In­fos zu ha­ben, um Mo­ti­va­tio­nen ei­nes At­ten­tä­ters wie dem von Or­lan­do ei­ni­ger­ma­ßen zu ver­ste­hen (man muß ja nicht gleich ein Buch schrei­ben). Es kam bald her­aus, daß die­ser Ma­teen mög­li­cher­wei­se sel­ber schwul war und im sel­ben Klub, wo er dann wü­te­te, Al­ko­hol trank, was mit der stren­gen In­ter­pre­ta­ti­on des Ko­rans nicht ver­ein­bar ist. Al­so wohl auch et­was von Selbst­haß. Was auf En­zens­ber­gers Schreckens­män­ner-Er­klä­rungs­li­nie liegt.

    Ich er­in­ne­re mich, daß ich schon in den acht­zi­ger Jah­ren in Pa­ris in der Ara­ber­knei­pe, die ich da­mals fre­quen­tier­te, öf­ters auf jun­ge Ma­ghre­bins stieß, die mir zer­knirscht er­klär­ten, daß sie ei­gent­lich kei­nen Al­ko­hol trin­ken soll­ten. Und es trotz­dem ta­ten, manch­mal mit Freu­den. Si­cher sind nicht al­le spä­ter, als die Ideo­lo­gi­sie­rung be­gann, Ter­ro­ri­sten ge­wor­den.

  89. @die_kalte_Sophie
    Wolf Die­ter Narr, Pro­fes­sor eme­ri­tus der FU Ber­lin, sprach (zu­nächst im Zu­sam­men­hang mit Stu­den­ten­un­ru­hen En­de der 1960er Jah­re) von ei­nem »re­prä­sen­ta­ti­ven Ab­so­lu­tis­mus«. Die­ser zeigt sich ganz schön in den Po­lit-Talk­shows und ge­ra­de, als ich das schrei­be, se­he ich im Fern­se­hen den fran­zö­si­schen MP Valls, wie er fran­zö­si­schen Po­li­zi­sten steht und ih­nen ver­si­chert, dass sie von der brei­ten Be­völ­ke­rung ge­schätzt wer­den. Sie schau­en al­le sehr ge­ra­de­aus. Lei­der zeigt man nicht, wie er sich in sei­nen ge­pan­zer­ten Wa­gen setzt und die Po­li­zi­sten dann wei­ter zu ir­gend­wel­chen Ein­sät­zen ge­hen.

    Ob man das nun »de­mo­kra­ti­schen Ha­bi­tus« oder »re­prä­sen­ta­ti­ven Ab­so­lu­tis­mus« nennt, ist ei­gent­lich egal. Das Si­gnal ist da. Und es wird ver­stärkt, wenn sich die Po­li­tik wie­der vor­nimmt »mit den Men­schen« zu re­den. Was dann bei An­ne Will per De­kret ge­schieht. Wäh­rend­des­sen be­kommt der Land­rat mit­ge­teilt, dass er mor­gen 1.000 Flücht­lin­ge be­kommt und das al­les zu or­ga­ni­sie­ren hat. In Ost­deutsch­land feh­len schon län­ger Kan­di­da­ten für kom­mu­na­le Äm­ter. Könn­te Grün­de ha­ben.

    @Leopold Fe­der­mair
    Die Selbst­haß-The­se beim Or­lan­do-At­ten­tä­ter ist jetzt Trumpf. als Be­leg gilt u. a. ein Sel­fie. Na­ja. Vor­her hat es ge­hei­ssen, er hät­te sich dem IS an­ge­schlos­sen oder sich zu ihm be­kannt. All dies ist ei­gent­lich gleich­gül­tig, spielt aber im Dis­kurs in den USA ei­ne wich­ti­ge Rol­le. Wenn näm­lich der Mann FBI-»bekannt« war und nicht ent­spre­chend über­wacht wur­de, fällt die­ses Ver­säum­nis der po­li­ti­schen Ver­ant­wor­tungs­dra­ma­tur­gie ge­mäss auf Oba­ma zu­rück. Trump hat­te das schon so­fort ent­spre­chend in­stru­men­ta­li­siert. Das wä­re eben auch fa­tal für Clin­ton bei der näch­sten Wahl ge­we­sen. Ei­ne Selbst­haß-The­se, al­so ei­ne Art Af­fekt­tat, »spricht« die Be­hör­den nun eher »frei« von Ver­säum­nis­sen.

    Dass die Bil­dungs­po­li­tik nicht funk­tio­niert, mag sein. Ich möch­te nur ein­mal wis­sen, was es heißt, wenn man sagt, dass sie nicht »greift«. (In Deutsch­land wur­de seit den 1970er Jah­ren die Ab­itur­quo­te suk­zes­si­ve er­höht [auch durch Ab­sen­ken der Stan­dards]; es stu­die­ren der­zeit so vie­le wie nie zu­vor. Aber was hat das mit »Bil­dung« zu tun?)

  90. Es ist selt­sam, aber die­ser Typ hat mich an Ot­to Wei­nin­ger er­in­nert, den jun­gen jü­di­schen An­ti­se­mi­ten, der in ei­nem der Wie­ner Beet­ho­ven­häu­ser Selbst­mord be­ging. 1903 glaub ich wars.

  91. Zur Bil­dungs­fra­ge: Um 1960 lag die Ab­itu­ri­en­ten­quo­te in Deutsch­land bei ca. 5 Pro­zent. Heu­te liegt sie in den mei­sten eu­ro­päi­schen Län­dern ir­gend­wo um die 50 Pro­zent. Es ist doch son­nen­klar, daß das aka­de­mi­sche Ni­veau kei­nen Ver­gleich aus­hal­ten kann mit dem sei­ner­zei­ti­gen. Muß es auch nicht. Stu­diert zu ha­ben, be­deu­tet heu­te nicht viel, Ab­itur zu ha­ben rein gar nix, au­ßer daß man den üb­li­chen Weg (von »Bil­dung« oder was auch im­mer) durch­lau­fen hat. Manch ein Ab­itu­ri­ent ist heu­te ein hal­ber An­alpha­bet. All die­sen – teils von ihr selbst be­wirk­ten – Ver­schie­bun­gen hat die Po­li­tik nicht aus­rei­chend Rech­nung ge­tra­gen.

  92. Da Mül­ler im Prin­zip pro Funk­tio­när­se­li­te ist, zu­min­dest sei­ne Ar­gu­men­ta­ti­on da­hin ten­diert, lässt sich ja ziem­lich di­rekt aus sei­nen Ar­gu­men­ten für die die re­prä­sen­ta­ti­ve De­mo­kra­tie ab­lei­ten. Es braucht eben Re­prä­sen­tan­ten – und des­we­gen wird so ei­ne De­mo­kra­tie auch ein Pro­blem mit Po­pu­lis­mus ha­ben, denn er ist so ei­ne Art funk­tio­nel­ler Schat­ten. Das fasst er ja zum Schluß auf S. 134f. auch ent­spre­chend zu­sam­men.

  93. Gre­gor Keu­sch­nig
    Sub­si­dia­ri­tät ist ei­gent­lich nur ei­ne ver­nünf­ti­ge, ja eig­net­lich un­ab­ding­ba­re For­de­rung. Soll­te ein Ko­met die Er­de be­dro­hen, wird der Ko­so­vo kein Welt­raum­pro­jekt auf­le­gen. Die Um­ge­hungs­stra­ße von Prišti­na wird eher nicht bei der UNO ver­han­delt. Ich hat­te die bei­den Bei­spie­le ja als Fehl­ent­wick­lung ge­ge­ben. Mei­ne Fra­ge ist, ob man die Ein­hal­tung der Zu­stän­dig­kei­ten kon­sti­tu­tiv ma­ni­fe­stie­ren kann oder ob es sy­stem­im­ma­nent ist, dass sich die Macht über kurz oder lang zen­tra­li­siert.

  94. Ein biss­chen hat es mich ge­wun­dert, dass bis­her kaum das The­ma TV-De­bat­ten mit Po­pu­li­sten im Wahl­kampf auf­ge­kom­men ist. Mit der Wei­ge­rung deut­scher Po­li­ti­ker mit der AfD im Fern­se­hen auf­zu­tre­ten und mit der ob­sku­ren De­bat­te zwi­schen Hofer/Van der Bel­len lag doch ge­nug Po­ten­zi­al vor.

    Ich war mir un­eins, ob die Wei­ge­rung in Ord­nung war. Wahr­schein­lich ist es ab­hän­gig vom For­mat der Sen­dung, ob es sinn­voll ist. Un­mo­de­rier­te De­bat­ten kön­nen wir jetzt auch em­pi­risch be­legt aus­schlie­ßen. Sen­dun­gen, in de­nen nur Sprech­bla­sen (Sie ha­ben jetzt 15 Se­kun­den Zeit zu ant­wor­ten) ab­ge­son­dert wer­den, wür­de ich als Kan­di­dat ge­gen Po­pu­li­sten auch ab­leh­nen. Ver­mut­lich ist es we­der mög­lich, noch bei den Alt­par­tei­en durch­setz­bar, tat­säch­lich the­men­ori­en­tier­te Run­den durch­zu­füh­ren, in de­nen be­last­ba­re Aus­sa­gen er­for­der­lich sind. Da die we­nig­sten bei Phoe­nix Bun­des­tags­de­bat­ten ver­fol­gen, über­lässt man dann Zei­tun­gen das Feld, proud­ly pre­sent by Holtz­brin­ck, Mur­doch oder so.

  95. Aber AfD Ver­tre­te­rIn­nen wa­ren / sind doch fe­stes In­ven­tar der Ard / Zdf-Talk­shows, zu­sam­men mit Po­li­ti­ke­rin­nen der an­de­ren Par­tei­en. Und die Idee, in Talk­shows the­men­ori­en­tiert ir­gend­et­was se­ri­ös dis­ku­tie­ren zu kön­nen .... ganz mein Hu­mor, wie man in an­de­ren Tei­len des Net­zes zu schrei­ben pflegt.

  96. Talk­shows the­men­ori­en­tiert ir­gend­et­was se­ri­ös dis­ku­tie­ren zu kön­nen

    Nicht Talk­shows, TV-De­bat­ten vor Wah­len. Un­kon­zen­triert?

  97. Die Or­lan­do-The­ma­tik ist, so wie sie der­zeit ver­han­delt wird, mit hei­ßer Na­del ge­näht – sie kann nicht an­ders ge­näht sein.

    Und nein @ Leo­pold Fe­der­mair Nr. 91 – En­zens­ber­ger macht die Gleich­set­zung von so­zia­lem Stand und Ge­walt­tat der Art: Die de­pra­vier­ten Ban­lieu-Be­woh­ner, was bleibt ih­nen an­ders üb­rig als zu bom­ben, aus­drück­lich nicht mit. – Auch Gre­gor Keu­sch­nig hat in die­ser Hin­sicht recht – cf. Nr. 86.

    (Was man der­zeit sa­gen kann ist, dass bei den pu­bli­zi­sti­schen Schnell­schüs­sen in Rich­tung Or­lan­do er­heb­li­che dis­kur­si­ve Kol­la­te­ral­schä­den ent­ste­hen. Ge­stern bin ich auf fol­gen­des Ku­rio­sum auf­merk­sam ge­wor­den: https://newrepublic.com/article/134270/hypermasculine-violence-omar-mateen-brock-turner.)

    Aber wie ge­sagt: Ich glau­be nicht an die ad hoc Ana­ly­se sol­cher Phä­no­me­ne.

    @ Doc­tor D Nr. 89und die_kalte_sopie Nr. 90- wg. Re­prä­sen­tan­ten: Hö: Auch sie be­fin­den sich auf en­zens­ber­ger­schem Ge­biet: Näm­lich dem des Es­says »Er­bar­men mit den Po­li­ti­kern«, wenn ich recht se­he -
    – und zu­dem auf dem Slo­ter­di­jks wg. Zy­ni­scher Ver­nunft.
    Leu­te, die sich in den Par­la­men­ten und Par­tei­en en­ga­gie­ren, soll­te man sei­ne Ach­tung zol­len. So­viel Bür­ger­sinn wä­re schön. Und ja:@ Leo­pold Fe­der­mair Nr. 91 u 94 wg. Bil­dung: Die Fra­ge ist schon wich­tig, wo man den Bür­ger­sinn al­len­falls lernt.
    Das schö­ne dar­an ist: Man kann ihn ei­gent­lich über­all ler­nen!
    Und auch da wie­der: Viel lie­ber als ei­ne all­ge­mei­ne Kla­ge über den Nie­der­gang der Bil­dung und das Ab­schmel­zen der ent­spre­chen­den Stan­dards sind mir per­sön­lich die gu­ten Prak­ti­ken, al­so die Fäl­le, wo jun­ge Leu­te den Bür­ger­sinn tat­säch­lich ler­nen.

    All das kor­re­liert frei­lich, ich ha­be be­reits dar­auf hin­ge­wie­sen, mit der Zw­er­gen­krän­kung: Man ist, wenn man sich für die po­si­ti­ven Bei­spie­le in­ter­es­siert – und viel­leicht so­gar da­für ein­setzt (Dr. D !) schnell in der Angst be­fan­gen, die Er­fol­ge sei­en, ge­mes­sen an den Auf­ga­ben, ei­ne zu ver­nach­läs­si­gen­de Grö­ße.
    Um das noch 1 mal fort­zu­spin­nen: Der­lei An­fech­tun­gen sind nicht auf die leich­te Schul­ter zu neh­men, aber eben auch un­um­gäng­lich: Sie ge­hö­ren zur Si­gna­tur un­se­res Zeit­al­ters.

    @ Gre­gor Keu­sch­nig Nr. 86 wg. Sar­ra­zin

    Ich bin ja noch mei­nen Sar­ra­zi-Feh­ler schul­dig. Mer­ke aber, ich bin da ein we­nig blockiert. Einst­wei­len mal so­viel:
    Al­so wenn man Ed­mund Bur­ke folgt, näm­lich sei­ner Re­gel: Das Wahl­volk sei stets wie ein Kind zu be­han­deln – und Kin­der dür­fe man un­ter kei­nen Um­stän­den brüs­kie­ren, dann sind Sar­ra­zins Aus­sa­gen über das In­te­gra­ti­ons­hin­der­nis Is­lam ei­ne Ka­ta­stro­phe.

    Das lass’ ich mal so ste­hen, sa­ge da­zu aber noch: Ro­ther­ham – wo es die­se in die Hun­der­te ge­hen­den Fäl­le von kind­li­chem Miß­brauch in der is­la­mi­schen Com­mu­ni­ty gab, oh­ne dass das La­bour-Estab­lish­ment auch nur ei­nen Fin­ger rühr­te – über Jah­re hin – ob­wohl es Hin­wei­se die Men­ge ge­ge­ben hat­te – - und durch­aus im Bur­ke­schen Geist.
    Und dann nen­ne ich noch die Dä­nen als ein Volk, das of­fen­bar ei­ne an­de­re Stra­te­gie ge­wählt hat. Näm­lich die pro­blem­be­haf­te­ten Mus­li­me nicht wei­ter an­zu­spre­chen als sol­che, und statt­des­sen da­für zu sor­gen, dass kei­ne mehr ins Land kom­men. Ähn­lich Ja­pan und – Ko­rea – und neu­er­dings Frank­reich.

    Just for the re­cord: Es könn­te von ei­nem Miß­ver­ständ­nis zeu­gen, die Theo­rie des Kom­mu­ni­ka­ti­ven Han­delns für blau­äu­gig zu hal­ten. Was die An­wen­dung oder den Ein­fluß der Theo­rie be­trifft oder de­ren prak­ti­sche Aus­wir­kun­gen – dar­über läßt sich im­mer strei­ten. Aber das wä­re et­was an­de­res als von Ih­nen be­haup­tet, mein’ ich.

  98. TV-De­bat­ten sind für mich Talk­shows. Das Me­di­um macht aus et­was, was viel­leicht live oh­ne Über­tra­gung in die wei­te Welt und Mo­de­ra­to­rIn­nen, die auf Pro­porz etc. pp. ach­ten müs­sen, ei­ne in­ter­es­san­te Sa­che sein könn­te, ei­ne Talk­show. Wirk­lich in­ter­es­sant könn­te da­ge­gen das For­mat sein, das Sie nach der van­der­Bel­len / Ho­fer-Pre­mie­re schon be­er­digt ha­ben: die Kon­tra­hen­ten un­be­treut auf­ein­an­der los­zu­las­sen, mind. 2 Stun­den lang. Am be­sten län­ger. Wahr­schein­lich müss­te es ein Ober­gren­ze an Teil­neh­mern ge­ben, viel­leicht aber auch nicht. Müss­te man mal aus­pro­bie­ren. Qua­si ei­ne TV-De­bat­te im Gei­ste Schlin­gen­siefs oder wie bei Thi­lo Jungs Jung un Na­iv – to­tal wildstyle und un­ge­script­ed. Schon al­lein um zu se­hen, wer sich das zu­traut.

  99. In Talk­shows kann man plau­dern, wenn man aber in TV-De­bat­ten vor Wah­len Sub­stan­zi­el­les sagt, kann man spä­ter dar­auf fest­ge­na­gelt wer­den. Das ist gänz­lich et­was an­de­res. Und nach der De­bat­te im öster­rei­chi­schen Fern­se­hen ha­be ich nie­man­den ge­hört, der nicht pein­lich be­rührt war. Schli­en­gen­sief ist bes­ser für Wag­ner. Aber das weiß ich nicht ge­nau. Po­li­tik auf dem Ni­veau ist ge­fähr­lich.

  100. - ah mei­ne 101 u. ist lei­der miss­ver­ständ­lich – so ists rich­tig:

    @ Leo­pold Fe­der­mair Nr. 86

    Just for the re­cord: Es könn­te von ei­nem Miß­ver­ständ­nis zeu­gen, die Theo­rie des Kom­mu­ni­ka­ti­ven Han­delns für blau­äu­gig zu hal­ten. Was die An­wen­dung oder den Ein­fluß der Theo­rie be­trifft oder de­ren prak­ti­sche Aus­wir­kun­gen – dar­über läßt sich im­mer strei­ten. Aber das wä­re et­was an­de­res als von Ih­nen be­haup­tet, mein‘ ich.

  101. re: Zw­er­gen­krän­kung: In­ter­es­san­ter­wei­se ha­be ich, ob­wohl mein Wie­der-Ein­stieg ins po­li­ti­sche En­ga­ge­ment aus­ge­rech­net die An­ti-S21-Kam­pa­gne war, die ja bei der Volks­be­fra­gung ver­lo­ren hat, als »Er­mäch­ti­gung« er­lebt – und das ist als Ge­fühl nicht ab­ge­klun­gen, son­dern hat da­zu ge­führt, dass ich mich nun auch auf an­de­ren Ge­bie­ten po­li­tisch oder im po­li­ti­schen Vor­feld (wie die Pro­fis ger­ne zu so je­man­dem wie mir sa­gen :) en­ga­gie­re. Wor­an das liegt, ist mir im­mer noch nicht so recht klar. Aber ei­ne Rol­le spielt si­cher, dass sich The­men­fel­der, in de­nen ich mich en­ga­gie­re, aus ei­ner un­dif­fe­ren­zier­ten »Ich bin mit der Ge­samt­si­tua­ti­on unzufrieden!«-Haltung ver­wan­deln und man an­fängt, ein­zel­ne Be­rei­che und Pro­blem­fel­der wahr­zu­neh­men und schaut, wie und wo man da ei­nen He­bel in die Hand be­kommt oder be­kom­men kann. Mit wem man Al­li­an­zen schmie­den kann etc. Und dass man tat­säch­lich was hin­be­kommt – zum Bei­spiel die Volks­ab­stim­mung über­haupt hin­zu­krie­gen oder auch nur das un­glaub­lich an­ge­piss­te Ge­sicht von Mer­kel bei ih­rem gro­ßen Auf­tritt zum Wahl­kampf in Stutt­gart so­wie mit­ver­ant­wort­lich für die Ab­wahl des wirk­lich wi­der­wär­ti­gen Map­pus zu sein – das hat mich sehr be­stärkt wei­ter zu ma­chen.

    In­ter­es­sant ist auch, wie Pro­fis und Par­tei­en auf ei­nen re­agie­ren: Man wird na­tür­lich so­fort auf Mit­glied­schaft an­ge­spro­chen (von al­len Par­tei­en!) – was ich auch als Do­me­sti­zie­rungs­ver­such wer­te. Denn man be­kommt zwar sehr oft von Po­li­ti­kern ge­sagt, wie toll sie mein / un­ser bür­ger­schaft­li­ches En­ga­ge­ment fin­den, mit was sie aber eher schlecht um­ge­hen zu kön­nen schei­nen, sind selbst­or­ga­ni­sier­te Struk­tu­ren, die we­nig von der Po­li­tik selbst wol­len – ein biss­chen Geld, aber vor al­lem Hand­lungs­räu­me. Und al­lein die­se Fä­hig­keit, da­mit ab und an mal das Busi­ness as Usu­al zu ir­ri­tie­ren, emp­fin­de ich als ech­ten Wert. Und mach wei­ter.

  102. @Doktor D und @Joseph Bran­co
    Die TV-De­bat­ten, die Jo­seph Bran­co meint, sind – min­de­stens in der Theo­rie – sach­be­zo­ge­ne Dis­kus­si­ons­sen­dun­gen. Der in­ter­es­san­te Punkt ist, wie wir seit Rhein­land-Pfalz wis­sen, wer dar­an teil­neh­men darf. Ist die Ein­la­dung ge­mäss dem Er­geb­nis der ent­spre­chen­den Wahl da­vor oder gilt die ak­tu­el­le Um­fra­ge? Das ist et­was fun­da­men­tal an­de­res als die Ein­la­dun­gen von An­ne Will, Plas­berg, Maisch­ber­ger oder wie sie auch hei­ßen. Die­se Sen­dun­gen ha­ben so­viel mit Po­li­tik zu tun wie die Tour de France mit Sport.

    Die Fra­ge ist nun, ob sol­che »De­bat­ten« mit den je­wei­li­gen Spit­zen­kan­di­da­ten ei­nen Sinn ma­chen, wenn dort am En­de viel­leicht sechs Po­li­ti­ker ne­ben zwei Jour­na­li­sten sit­zen die drei The­men­kom­ple­xe durch­he­cheln und ins­ge­samt 90 oder max. 120 Mi­nu­ten Zeit ha­ben. Dann blei­ben je­dem Po­li­ti­ker ins­ge­samt viel­leicht 5 oder 6 Mi­nu­ten – so­fern man nicht auf­ein­an­der ein­geht. Der in­for­ma­to­ri­sche Wert sol­cher Ver­an­stal­tun­gen ten­diert gen Null.

    Mit zwei Kan­di­da­ten wie Merkel/Steinbrück 2013 war es ähn­lich, nur dass es vier(?) Fra­gen­de gab. Wor­auf hat man sich kon­zen­triert? Schland­ket­te Mer­kel, PKW-Maut, Raab-Out­fit.

    Mein Vor­schlag für Land­tags­wahl-De­bat­ten: Je­der Kan­di­dat trägt 5 Mi­nu­ten die Schwer­punk­te des Wahl­pro­gramms vor. Da­nach gibt es 10 Mi­nu­ten Fra­gen. Al­les hin­ter­ein­an­der; oh­ne Dis­kus­sio­nen un­ter­ein­an­der. Am En­de ei­ne Bi­lanz durch Jour­na­li­sten – Ge­gen­über­stel­lung von Po­si­tio­nen, Gemeinsamkeiten/Unterschiede.

    .-.-.-.-.

    Noch ein­mal @Doktor D: Vie­len Dank für den Ein­blick. Wirk­lich in­ter­es­sant.

  103. @ Doc­tor D Nr. 105

    Na­ja, den an­de­ren kanns egal sein, aber ich bin auch Ba-Wü und für mich ist das ein wirk­li­cher Wohl­fühl-Fak­tor, dass in der Vil­la Reit­zen­stein nicht Ste­fan Map­pus sitzt, son­dern der ge­läu­ter­te ehe­ma­li­ge Welt­re­vo­lu­tio­när Wil­fried Kret­sch­mann.
    Oh­ne Jockel Fi­scher und sei­ne Spür­na­se und sei­ne ent­schie­de­ne För­de­rung des Po­lit-Ta­lents Kret­sch­mann wä­re das frei­lich ganz an­ders ge­kom­men.
    Cum gra­no sa­lis – so ähn­li­che Er­fah­run­gen wie Sie ha­be ich auch ge­macht. Heu­te gibt es ge­mein­de­psych­ia­tri­sche Zen­tren in je­der Stadt – aber das für Jahr­zehn­te er­ste ge­mein­de­psych­ia­tri­sche Zen­trum in Deutsch­land gab es nur ein­mal – in Hei­del­berg in der Bru­nenn­gas­se – und was war das für ei­ne un­ge­wöhn­li­che Ko­ali­ti­on von Ak­ti­vi­sten! – Wer, so­viel ich mich er­in­ne­re, nicht da­bei war, das wa­ren die Mit­glie­der der Par­tei­en, die da­mals so­zu­sa­gen pro­gram­ma­tisch an­tizwer­gisch ein­ge­stellt wa­ren, näm­lich auf Welt­re­vo­lu­ti­on ge­polt: KPD/AO, KPD/ ML, KBW, NRF, DKP, IV. In­ter­na­tio­na­le usw. usf. Und es wa­ren ko­mi­scher­wei­se schnell Kon­tak­te ge­knüpft so­wohl zu of­fi­zi­el­len ame­ri­ka­ni­schen Or­ga­ni­sa­tio­nen (Eu­ro­pean Head­quar­ter of the Ame­ri­can Forces – die ha­ben ko­ope­riert wg. Dro­gen-Pro­ble­ma­tik, und zu pro­te­stan­ti­schen In­sti­tu­tio­nen).
    Ir­gend­wann dann auch zum ei­gent­lich stock­re­ak­tio­nä­ren SPD-OB Zun­del. Ir­gend­wann hat den sei­ne stock­re­ak­tio­nä­re Hal­tung ein­fach nicht mehr ge­hin­dert, mit der Free Cli­nic kon­struk­ti­ve Din­ge ab­zu­ma­chen – die dann auch prompt um­ge­setzt wur­den.

    Und noch ein Fall von ter­re­stri­schem Zwer­gen-Pa­ra­dox

    An­de­res Bei­spiel war das AKW Phil­ipps­burg, das in den Sieb­zi­gern für 50 Mil­lio­nen Mark neue Tech­nik be­kam – we­gen ei­ner Grup­pe von Pro­test­lern, zu de­ren Pe­ri­phe­rie auch ich ge­hör­te, und die man sich al­les in al­lem ge­nom­men hin­fäl­li­ger nicht vor­stel­len kann: Es wim­mel­te nur so von Ver­sa­gern jeg­li­cher Cou­leur, an­ge­fan­gen vom Mut­ter­söhn­chen mit der Zahn­lücke und dem Mund­ge­ruch über in­tel­lek­tu­ell un­zu­rech­nungs­fä­hi­ge an­ar­chi­sti­sche Gärt­ner­ge­sel­len (nein, ich er­fin­de nix! – ich war mit de­nen be­freun­det, es wa­ren an­ar­chi­sti­sche Hand­wer­ker – ich glau­be Kon­stan­tin Wecker wä­re heu­te ihr größ­ter Fan...), bis hin zum Jun­kie, der mit dem gro­ßen Ci­tro­en-Kom­bi vor­fuhr und im­mer min­dest­nes zwei drei Freun­din­nen da­bei hat­te, bis zum schlich­ten Freak und dann aber doch: Dem ei­nen oder an­de­ren »Re­vo­lu­tio­när«.
    Auch da: In­sti­tu­tio­nel­le Po­li­tik nur ver­tre­ten durch ein paar So­zi­al­de­mo­kra­ten und ein paar ge­werk­schafts­ori­en­tier­te lin­ke (=»fort­schritt­li­che«) Nat-Wiss­ler von den um­lie­gen­den Unis, die al­ler­dings ei­ne gro­ße Hil­fe wa­ren. Nun gut: Die Grü­nen gab es erst in sta­tu na­s­cen­di – eben­falls in der Free Cli­nic hau­send – u. a. den le­gen­dä­ren Un­ter­grund­ver­le­ger Wer­ner Pi­per (»Die grü­ne Kraft«), der aber da­mals in er­ster Li­nie Kna­st­ar­beit mach­te...). Oh Gott, oh Gott

    @ Gre­gor Keu­sch­nig Nr. 106

    sol­che Dtail in­ters­sie­ren mich ei­gent­lich we­nig, aber ich kann und will nicht aus­schlie­ßen, dass ei­ni­ges an ih­nen hängt. Ihr kon­kre­ter Vor­schlag wä­re mir zu ste­ril.

  104. @Joseph Bran­co, Die­ter Kief, Gre­gor, die kal­te So­phie#83, #84, #86, #87
    Man kann Po­pu­lis­mus de­chif­frie­ren oh­ne sich um Mo­ti­ve zu küm­mern, ja oh­ne sie zu ken­nen: Ein Po­pu­list ar­gu­men­tiert nicht und er muss wir­ken, denn er agiert po­pu­li­stisch, weil er jetzt et­was er­rei­chen will (er muss der Wir­kung we­gen über­zeich­nen und ver­lässt des­halb – nicht nur des­halb – den Weg ei­ner strin­gen­ten Ar­gu­men­ta­ti­on). Man muss wohl fest­stel­len, dass Mül­ler da schei­tert. In­so­fern aber ist die Un­ter­schei­dung für den Bür­ger in der Pra­xis ei­gent­lich gar nicht so schwie­rig (man muss nur über­le­gen wie die Be­grün­dung ei­ner Aus­sa­ge aus­sieht und ob sie plau­si­bel ist; ihr Stil ist zu­min­dest ein Hin­weis). — In der Pra­xis der Wahl kann man auch tak­tisch bzw. stra­te­gisch wäh­len, wenn man das möch­te.

    Dass die per­so­nel­len und mo­ra­li­schen Auf­la­dun­gen lei­der auch Ideen des­avou­ie­ren ha­be ich bei ei­ner Be­kann­ten be­ob­ach­tet: Es wur­de nicht mehr zwi­schen Idee und Per­son ge­trennt (in dem Fall die ei­ner fö­de­ra­len EU und dem Prä­si­dent­schafts­kan­di­da­ten Ho­fer, der sie ver­trat, al­ler­dings oh­ne ir­gend­wann ge­nau zu sa­gen, was er ei­gent­lich da­mit ge­meint hat).

    @Leopold Fe­der­mair, #85
    Ich ha­be mir dem Ti­tel des Buchs fol­gend ei­gent­lich kei­ne so­zio­lo­gi­sche Ana­ly­se er­war­tet (und Sie ha­ben recht, mich hat der locke­re Stil auch über­rascht). Selbst­ver­ständ­lich wä­re sie in­ter­es­sant, aber: Wenn dann müss­te sie, nicht nur, aber vor al­lem bei die­sem heik­len The­ma, em­pi­risch fun­diert sein; das wird al­ler­dings rasch auf­wän­dig und im Er­geb­nis ten­den­zi­ell un­ein­deu­tig sein (al­so mit vie­len Ein­schrän­kun­gen ver­bun­den). — Ich ken­ne En­zen­ber­gers Buch nicht, aber so wie die Zi­ta­te auf mich wir­ken, ist das bes­se­re Spe­ku­la­ti­on (das ist in Ord­nung und in­ter­es­sant, aber was ich wis­sen will, ist nicht nur wel­che Lo­gi­ken theo­re­tisch mög­lich sind, son­dern ob sie zu­tref­fen, al­so Er­klä­rungs­wert be­sit­zen).

  105. @Doktor D, #89
    Ein gu­ter Punkt, den­noch: Po­li­ti­ker soll­ten doch zu­min­dest wis­sen was sie zu wem sa­gen, wenn ich das ein­mal sa­lopp for­mu­lie­re (Viel­leicht ist mei­ne Er­war­tungs­hal­tung un­rea­li­stisch, aber ei­ne Ver­hand­lung, ei­ne Fern­seh­dis­kus­si­on, ein öf­fent­li­cher Auf­tritt, ein In­ter­view, etc., sind doch ver­schie­de­ne Din­ge, ver­schie­de­ne Si­tua­tio­nen in de­nen man sich au­to­ma­tisch an­ders ver­hält [und eben: an­ders spricht]; ich ver­mu­te da schon auch noch an­de­re Ur­sa­chen wie Po­li­tik­be­ra­tung, Re­de­tech­ni­ken,...).

  106. @metepsilonema: Ja klar sind das Un­ter­schie­de. »Der ist ja in Wirk­lich­keit voll nett und rich­tig ge­scheit.« ge­hört si­cher­lich zu den häu­fig­sten Aus­sa­gen, die ich von Leu­ten ge­hört ha­be, die ei­nen Po­li­ti­ker mal im di­rek­ten Ge­spräch er­lebt ha­ben, nicht me­di­al ver­mit­telt. Des­we­gen hal­te ich ei­ne zu gro­ße Dis­so­nanz zwi­schen Wahl­kampf­rhe­to­rik und an­schlie­ßen­dem Ko­ali­ti­on für ge­fähr­lich. Das schürt das Miss­trau­en, zu­mal ei­ne ge­wis­se Kon­si­stenz im Auf­tritt im Prin­zip das ein­zi­ge ist, nach dem Wäh­len­de Po­li­ti­ke­rIn­nen be­ur­tei­len kön­nen.
    Und ge­ra­de weil man als Po­li­ti­ker in DE ab Lan­des­li­ste rhe­to­risch und ver­hal­tens­tech­nisch durch­ge­schult wird (Ha­bi­tus-Fein­schliff qua­si), hal­te ich die Idee, der ja auch vie­le Jour­na­li­sten an­hän­gen, in In­ter­views & Talk­shows & TV-De­bat­ten ir­gend­was in­for­ma­ti­ves her­aus­zu­be­kom­men für ei­ne weit­ge­hen­de Über­schät­zung des For­mats selbst. Das ist struk­tu­rell auf Sound­bytes & Per­so­na­li­ty Show aus­ge­legt, nicht auf De­bat­te, zu­mal die Mo­de­ra­to­ren ih­re ei­ge­ne Agen­da ha­ben (müs­sen), den Most ou­tra­ge­ous Sound­bytes zu pro­vo­zie­ren, denn sie dann in die so­zia­len Me­di­en bla­sen kön­nen. Des­we­gen lie­ben die Quatsch­Shows so die AfD: da ha­ben sich Arsch und Ei­mer ge­fun­den. Ich bin mitt­ler­wei­le da­von über­zeugt, dass die mei­sten po­li­ti­schen TV-For­ma­te Po­li­tik sy­ste­ma­tisch ver­stel­len u. Teil des Pro­blems sind. Apo­theo­sen der Blöd­ma­schi­ne.
    Sach­li­cher Jou­na­lis­mus hie­ße mE., an den Sa­chen selbst ar­bei­ten, nicht an den Per­sön­lich­kei­ten.

  107. @Doktor D
    Ich bin mitt­ler­wei­le da­von über­zeugt, dass die mei­sten po­li­ti­schen TV-For­ma­te Po­li­tik sy­ste­ma­tisch ver­stel­len u. Teil des Pro­blems sind.
    Das se­he ich ge­nau so. Die durch­ge­hen­de Per­so­na­li­sie­rung von Sach­pro­ble­men ge­hört wohl zur jour­na­li­sti­schen Kern­aus­bil­dung. Da­mit wer­den zwei Flie­gen mit ei­ner Klap­pe ge­schla­gen: Zum ei­nen lie­fert dies wun­der­ba­re, knap­pe Schlag­zei­len. Und zum an­de­ren ent­la­stet es den Jour­na­li­sten von Sach­kennt­nis. Es ist ja auch un­mög­lich, dass Plas­berg oder Will oder wer auch im­mer zu all den je­weils ver­han­del­ten The­men de­tail­lier­te Kennt­nis­se ha­ben. Da­her gibt es Re­dak­tio­nen, die ih­nen auf Kärt­chen die Fra­gen und wo­mög­lich ein paar Stich­wor­te no­tie­ren. Wenn dann – durch Zu­fall – die Dis­kus­si­on »droht«, sich zu sehr der Sa­che zu­zu­wen­den, wird eben ab­ge­bü­gelt. Für Po­li­ti­ker sind sol­che Sen­dun­gen ei­ne wun­der­ba­re Büh­ne der Selbst­dar­stel­lung. Sie wis­sen, dass, wenn sie Un­sinn re­den, in der Re­gel nie­mand ad hoc in der La­ge ist, Ge­gen­be­wei­se auf­zu­füh­ren.

    Neue Par­tei­en wie die AfD sind in der Tat ein Se­gen für sol­che »For­ma­te«. Wenn ein AfD-Ver­tre­ter ir­gend­wo ein­ge­la­den ist, bei­ßen sich die an­de­ren Gä­ste an ihm fest. Da braucht man dann erst recht kei­ner­lei Ar­gu­men­te mehr. Es reicht der Em­pö­rungs­ge­stus.

    Wenn man so will sind die­se Po­lit-Talk­shows Po­pu­lis­mus­be­schleu­ni­ger. Und das gilt in bei­de Rich­tun­gen. Aber dass das Fern­se­hen per se ei­ne »Blöd­ma­schi­ne« ist, be­strei­te ich. Nicht das Fern­se­hen ist blöd, son­dern die­je­ni­gen, die es in die­ser Form tri­via­li­sie­ren.

  108. Quatsch­Shows als Po­pu­lis­mus­be­schleu­ni­ger – ge­nau! Sehr tref­fen­de For­mu­lie­rung. Ob das Fern­se­hen an sich nicht ei­ne Blöd­ma­schi­ne ist, dar­über bin ich mit mir un­eins. Man kann mit Be­wegt­bild un­glaub­lich groß­ar­ti­ge Sa­chen ma­chen, die ei­nem beim An­schau­en klü­ger ma­chen (Klu­ge, Farocki, die v. Do­ku­men­tar­fil­me­rIn­nen u. Re­por­ta­gen), aber mir scheint die Ver­füh­rungs­kraft des Me­di­ums mit Kra­wall & an­de­ren Schau­wer­ten das Den­ken zu ver­blö­den für die mei­sten Ma­cher zu groß zu sein. Vor al­lem im Po­li­tik­jour­na­lis­mus.
    Ich schaue fast nie Fern­se­hen, nur noch aus der Me­dia­thek. Fuß­ball­groß­ereig­nis­se sind dann mei­ne Ge­le­gen­heit, mal wie­der Nach­rich­ten zu schau­en. Ei­ne Zu­mu­tung, auf die man als Pro­gramm­ver­ant­wort­li­che aber wohl stolz ist. Di­to Talk­shows. Die­se Aus­sa­gen der Ver­ant­wort­li­chen las­sen mich stark dar­an zwei­feln, dass sie ei­nen Be­griff von den Mög­lich­kei­ten ih­res Me­di­ums ha­ben (wol­len).

  109. Zur Po­li­tik-Ver­mitt­lung: Die AfD ist span­nend im Mo­ment, kei­ne Fra­ge. Ich mei­ne, so­gar die Talk-Show pro­fi­tie­ren von dem sus­pen­se: Ist das ein gut ge­tarn­ter Na­zi oder nur ein cho­le­ri­scher Neo-con?! –So weit ich das be­ur­tei­len kann, denn ich mei­de die For­ma­te, und stecke höch­stens 5min mei­ne Na­se rein.
    Wie ist eu­re Ein­schät­zung für das Po­ten­zi­al des Rechts-Po­pu­lis­mus in Deutsch­land?! Auch bei Mül­ler fin­det sich kei­ne Ein­las­sung auf die ver­zö­ger­te Ent­wick­lung der AfD, ge­gen­über Hol­land oder Frank­reich glatt um 30 Jah­re. Ei­ne Un­gleich­zei­tig­keit, die ir­rele­vant ist, weil man oh­ne­hin nur For­ma­lia be­spricht?! Al­les hat sei­ne Zeit, und die zeit­li­chen Um­stän­de sind so­gar die Vor­aus­set­zun­gen für Ge­schich­te.
    Ei­ne selt­sa­me Ent­ste­hungs­ge­schich­te, die aus Deutsch­lands Osten ge­speist wird, der Hoff­nung auf ein Kol­lek­tiv, wel­ches kei­ne west­li­che Ge­sell­schaft mehr auf­weist... Oh­ne Nach­schau­en: wo­her weiß ich, dass JW­Mül­ler in West­deutsch­land »ha­bi­tua­li­siert« wur­de?!
    Mir ist nicht nur die zeit­li­che Ver­zö­ge­rung in Deutsch­land auf­ge­fal­len, ich bil­li­ge der AfD auch we­ni­ger Po­ten­zi­al zu. 15%... Es sei denn, die Kon­ser­va­ti­ven zer­le­gen sich end­gül­tig, und die Über­läu­fer char­tern die Par­tei. Aber bei ei­ner Ko­ha­bi­ta­ti­on wird wohl nicht mehr dar­aus. Vor dem Hin­ter­grund die­ser Pro­gno­se wä­re zu klä­ren: war­um ist das Po­ten­zi­al der Rechts­po­pu­li­sten in fast al­len Eu­ro­päi­schen Ver­gleichs­län­dern dop­pelt so hoch?!

  110. @Doktor D
    Die Mög­lich­kei­ten des Me­di­ums wer­den nicht aus­ge­schöpft, weil sich ins­be­son­de­re das öf­fent­lich-recht­li­che Fern­se­hen un­ter ei­nem im­mensen Le­gi­ti­ma­ti­ons­druck be­fin­det bzw. dies glaubt. Dies ist nicht zu­letzt der Dis­kus­si­on um die »Zwangs­ab­ga­be« ge­schul­det. Wich­ti­ge und in­ter­es­san­te Sen­dun­gen wer­den ent­we­der in die Ni­schen­ka­nä­le (3sat, Ar­te) oder zu nacht­schla­fen­der Zeit ge­sen­det. Es gibt kei­ne Ri­si­ko­be­reit­schaft mehr ge­gen be­stimm­te tri­via­le For­ma­te bspw. von Pri­vat­sen­dern et­was An­spruchs­vol­les zu set­zen, wenn es am näch­sten Tag heißt, der Markt­an­teil sei nur bei 5% ge­we­sen. Pas­siert das 2–3 x kom­men die Kri­ti­ker mit dem Eli­ta­ris­mus-Vor­wurf da­her.

    (Klu­ge fin­det mit sei­nem dctp auf RTL und Sat.1 statt.)

    @die_kalte_Sophie
    Mül­ler schreibt von 10% bis 15% für po­pu­li­sti­sche Par­tei­en, die »im­mer drin« sei­en, so zi­tiert er (oh­ne die­se Quel­len zu nen­nen). In der Em­pö­rung über die AfD wird leicht ver­ges­sen, dass bei­spiels­wei­se die Re­pu­bli­ka­ner 1992 in Ba­den-Würt­tem­berg 10,9% er­hiel­ten (kein Bun­des­land, in dem De­pra­vier­te le­ben). Die ei­gent­li­che Über­ra­schung war dann, dass sie 1996 noch ein­mal 9,1% schaff­ten. Erst 2001 flo­gen sie raus (4,4%). Die Re­pu­bli­ka­ner wa­ren (sind?) stär­ker rechts­ra­di­kal ein­ge­stellt als gro­ße Tei­le der AfD.

    Bis­her hat­ten sich DVU- und NPD-Frak­tio­nen in Bun­des­län­dern im­mer ir­gend­wann sel­ber zer­legt. Ich ken­ne Leu­te, die 2013 die Lucke-AfD bei der Bun­des­tags­wahl ge­wählt hat­ten, weil dort für sie eh­ren­wer­te Kan­di­da­ten wa­ren. Die­se sind jetzt er­schüt­tert über die Pe­try-AfD. Gleich­zei­tig dürf­te die AfD be­son­ders in den Land­ta­gen die NPD-Stim­men auf­neh­men, aber eben auch vie­le Nicht­wäh­ler wie­der mo­ti­vie­ren.

    Die ak­tu­el­len 15% in den Vor­her­sa­gen hal­te ich nur für ei­ne Mo­ment­auf­nah­me (wie es bei ei­nem An­schlag in D aus­se­hen wür­de, weiß ich al­ler­dings nicht). Die Ge­fahr be­steht, dass ins­be­son­de­re die CDU ei­nen ge­wis­sen An­teil an die AfD ver­lie­ren wird (wenn denn et­li­che kon­ser­va­ti­ve CDU-Wäh­ler nicht gleich zu Hau­se blei­ben).

    Dass in Deutsch­land rechts­po­pu­li­sti­sche Par­tei­en we­ni­ger Stim­men be­kom­men als in an­de­ren eu­ro­päi­schen Län­dern hat mit der Ge­schich­te zu tun. Da­mit ist auch er­klärt, war­um Links­po­pu­lis­mus im­mer noch als fort­schritt­lich gilt.

  111. Gut, wenn man kol­lek­tiv den Fa­schis­mus und den So­zia­lis­mus schon aus­pro­biert hat, lässt na­tür­lich auch der Drang ir­gend­wo nach. Die un­be­leg­ten Zah­len sind mir auch auf­ge­fal­len, ich fürch­te, es han­delt sich um um­stands­lo­se Über­tra­gun­gen aus den »Rechts­extre­mis­mus-For­schun­gen«. Des­halb bes­ser un­be­legt. Aber ich kom­me zu der­sel­ben Schät­zung, eben wie Sie sag­ten: ge­schicht­li­che Er­fah­rung.
    Was mir aus der For­schung noch fehlt: al­le Rechts­po­pu­li­sten schei­nen sich auf die zwei-The­men-Si­tua­ti­on in Eu­ro­pa ein­ge­stellt zu ha­ben, Eu­ro­päi­sche Ver­trä­ge und Mi­gra­ti­on, nur bei der AfD sieht es so aus, als wä­re die Ein­wan­de­rer-Fra­ge ei­ne Spät­ge­burt, die sich aus ak­tu­el­len Be­zü­gen speist. Darf man ver­mu­ten, dass das The­ma lan­ge schon la­tent vor­han­den war?! Bei­de The­men bie­ten die Kom­ple­xi­täts­re­du­zie­rung mit der For­de­rung nach na­tio­na­ler Sou­ve­rä­ni­tät ge­ra­de­wegs an. Und bei­de The­men schei­nen auch un­ge­eig­net (so mei­ne Ein­schät­zung) für in­te­gra­ti­ve und plu­ra­li­sti­sche Ver­fah­ren, weil sie sehr stark In­ter­es­sen-do­mi­niert sind. Es gab ja schon die iro­ni­schen Ver­glei­che von @Dieter, in der Be­schrei­bung von Ga­bri­el, der Pro­to­typ des spät­mo­der­nen All­round-Po­li­ti­kers, der sich im­mer wie­der prü­fen las­sen muss, ob er wirk­lich kein »Ei­gen­in­ter­es­se« mehr im Blut hat.
    Wollt ihr die dto-dta­le In­ter­es­sen-Ver­tre­tung oh­ne Selbst­be­zug?!
    [Man hört Hin­ter­grund­lärm, Rau­schen, to­sen­der Ap­plaus vom Band...]
    Das Ge­gen­teil ei­nes Na­zis: ein Mensch, der zwi­schen al­len In­ter­es­sen-An­sprü­chen ver­mit­teln kann, so­lan­ge sie nicht NATIONAL kon­no­tiert sind. Dop­pel­te Ex­klu­si­on, we­der Ver­tre­tung noch Ver­mitt­lung.

    Ist die Wah­rung na­tio­na­ler In­ter­es­sen dem Po­pu­lis­mus nicht förm­lich in die Kin­der­schu­he ge­scho­ben wor­den, als po­li­ti­scher Rest, als pu­den­dum?!

  112. Der in­for­ma­to­ri­sche Wert sol­cher Ver­an­stal­tun­gen ten­diert gen Null.

    Mei­ne Fra­ge war, ja, an wel­cher Stel­le Po­li­tik denn dann ei­ner brei­te­ren Mas­se ver­mit­telt wer­den kann. Aus dem Oh­ren­ses­sel zu ru­fen, Fern­se­hen ist blöd, ist zu ein­fach, da es wei­ter­hin das Haupt­me­di­um ist. Über­lässt man dann die Po­li­tik­ver­mitt­lung Sprin­ger, Fun­ke-Grup­pe und Holtz­brin­ck? Das kann es doch nicht sein. De­mo­kra­tie­ab­ga­be war ein ziem­lich pro­vo­kan­ter Be­griff, aber oh­ne ei­ne Al­ter­na­ti­ve ge­nannt zu ha­ben, bleibt die schnö­de Kri­tik am öf­fent­lich recht­li­chen Rund­funk wohl­feil. Ich le­se selbst lie­ber und schaue kaum Fern­se­hen, aber ich se­he auch täg­lich, dass ich kein Maß­stab bin.

  113. @Joseph Bran­co
    In den Kom­men­tar­spal­ten so­zia­ler Netz­wer­ke oder von On­line­fo­ren wer­den fern­seh­kri­ti­sche Bei­trä­ge fast im­mer von de­nen zu­erst kom­men­tiert, die das Be­kennt­nis ab­le­gen, schon seit X Jah­ren kei­nen Fern­se­her mehr zu be­sit­zen (was streng ge­nom­men nicht be­deu­tet, dass sie kei­ne Fern­seh­sen­dun­gen schau­en). Fern­seh­bas­hing ist schlicht­weg »in«. Aber das Me­di­um bzw. die Ver­ant­wort­li­chen ha­ben ein ge­rüt­telt Maß An­teil dar­an. Der Bil­dungs- und Kul­tur­auf­trag hängt längst ver­gilbt in der Rum­pel­kam­mer der In­ten­dan­zen und Re­dak­teu­re. Was zählt sind Zah­len und Schlag­zei­len. Al­les muss ein­fach und ein­gän­gig sein. Das ESM-Sy­stem ist aber schwie­rig dar­zu­stel­len. Die Un­ter­schie­de zwi­schen Flücht­ling, Asyl­su­chen­den und Ein­wan­de­rer sind frap­pie­rend. Stu­di­en müs­sen in Gän­ze ge­le­sen wer­den, nicht nur die Pres­se­mit­tei­lun­gen hier­zu. Dies al­les fin­det kaum Be­rück­sich­ti­gung und man fragt sich: War­um?

    Po­li­tik kann nur da­hin­ge­hend noch ver­mit­telt wer­den, dass man sich fach­lich da­mit aus­ein­an­der­setzt. Da­für müs­sen aber Jour­na­li­sten ent­we­der zu­rück­tre­ten (weil sie im­mer den ein­fa­che­ren Weg ge­hen) oder, bes­ser, sich in Sach­the­men ein­ar­bei­ten. Da­bei ist es auch not­wen­dig, die ei­ge­ne Mei­nung so weit wie mög­lich hin­ten an zu stel­len.

  114. Das ist al­les rich­tig. Aber Ih­re Kri­tik ist nicht be­son­ders kon­struk­tiv. Wolf­gang Her­les, auch nicht so ganz mein Fall, be­schreibt deut­lich, dass bei Ent­schei­dern nur noch die Quo­ten zäh­len. Aber wer kri­ti­siert, soll­te auch mach­ba­reAl­ter­na­ti­ven nen­nen. Die ha­be ich bis­her nicht ge­hört.

  115. @Joseph Bran­co
    Wo steht ge­schrie­ben, dass Kri­tik zwin­gend kon­struk­tiv sein muss? Muss ein Li­te­ra­tur­kri­ti­ker bes­ser schei­ben kön­nen? Ist es si­cher, dass wir, weil wir hier so fi­li­gran das Po­pu­lis­mus-Buch von Mül­ler kri­ti­sie­ren, ein bes­se­res Buch dar­über ge­schrie­ben hät­ten? Was wä­re die Kon­se­quenz aus ei­nem »nein«? Les­sing hat mal sinn­ge­mäss ge­sagt, dass ich kein Koch sein muss um fest­zu­stel­len, dass die Sup­pe ver­sal­zen ist.

    Vor­schlä­ge gibt es zu­hauf: Bes­se­re Sen­de­zei­ten für Fea­tures, Do­ku­men­tar­be­rich­te und Kul­tur. Raus aus den Ni­schen­sen­dern – rein ins Haupt­pro­gramm. War­um nicht den Sport auf »einsfe­sti­val« oder sonst­wo statt im Win­ter zehn Stun­den Bi­ath­lon, Bob- und Ro­del und Ski al­pin in der ARD? War­um über­all nur noch Kri­mis? Frei­tags Abends in den Drit­ten Pro­gram­men: Pro­mi-Talk­shows, in der im­mer die glei­chen im­mer den glei­chen im­mer de glei­chen Fra­gen stel­len. Was ist aus »III nach 9« ge­wor­den. Small­talk für Pro­mi­fe­ti­schi­sten.

    In den An­stal­ten sit­zen Tau­sen­de sehr gut be­zahl­ter Re­dak­teu­re und Ent­schei­der, die ei­gent­lich ge­nau wis­sen, was sie ma­chen müss­ten. Und da soll ich Vor­schlä­ge ma­chen?

    Und jetzt bin ich auf Ih­re mach­ba­ren Al­ter­na­ti­ven ge­spannt...

  116. Kri­tik soll­te dann kon­struk­tiv sein, wenn es um die Ba­sis des Zu­sam­men­le­bens geht. Und ge­ra­de weil ich kei­ne Al­ter­na­ti­ve ken­ne, hat­te ich den Punkt an­ge­sto­ßen. Es hät­te mich tat­säch­lich in­ter­es­siert, ob je­mand sich ei­nen Weg vor­stel­len kann, der das La­men­to ge­gen ver­mit­tel­te Fak­ten tauscht. Wenn man sagt, das hat doch eh kei­nen Sinn, ver­än­dert das den An­spruch an die Po­li­tik schon.

  117. @Joseph Bran­co
    Hier hat­te ich ei­nen klei­nen Ver­such ge­macht. Mein Vor­schlag für Land­tags­wahl-De­bat­ten: Je­der Kan­di­dat trägt 5 Mi­nu­ten die Schwer­punk­te des Wahl­pro­gramms vor. Da­nach gibt es 10 Mi­nu­ten Fra­gen. Al­les hin­ter­ein­an­der; oh­ne Dis­kus­sio­nen un­ter­ein­an­der. Am En­de ei­ne Bi­lanz durch Jour­na­li­sten – Ge­gen­über­stel­lung von Po­si­tio­nen, Gemeinsamkeiten/Unterschiede.

    Ken­nen Sie die Sen­dung »Pro und Con­tra« noch? Das For­mat wird teil­wei­se wie­der­be­lebt: Ei­ne Art Ge­richts­ver­hand­lung über ein The­ma – mit An­wäl­ten, Ex­per­ten, Plä­doy­ers. Ab­stim­mun­gen im Pu­bli­kum gab es vor­her – und nach­her. So­was lief in den 70ern – glau­be ich – um 20.15 Uhr oder 21.00 Uhr. Ne­ben­ef­fekt: Rhe­to­ri­sche Schu­lung .

  118. @Joseph Bran­co, #97
    Ich bin im Grund­satz bei Ih­nen: Was auf ei­ner nied­ri­ge­ren Ebe­ne ge­nau­so gut (oder bes­ser) wie (als) auf ei­ner hö­he­ren er­le­digt wer­den kann, soll dort er­le­digt wer­den. Tech­no­kra­tie und Bü­ro­kra­tie ten­die­ren wohl zu ei­ner zen­tra­li­sti­schen Lö­sung (da­zu kommt dann die Re­de von der Schwä­che der Na­tio­nal­staa­ten). Al­ler­dings darf man nicht über­se­hen, dass Macht­po­si­tio­nen auf den un­te­ren Ebe­nen mit den hö­he­ren in Kon­flik­te ge­ra­ten kön­nen, schon rein aus Ei­gen­in­ter­es­se her­aus (in Öster­reich kön­nen wir ein Lied da­von sin­gen; der Wie­ner Bür­ger­mei­ster et­wa setzt ei­ne vom Bund be­schlos­se­ne Pen­si­ons­re­form für Be­am­te nicht um, weil er, wie er ganz un­ver­blümt fest­stellt, ja auch Wahl­kampf in Wien füh­ren müs­se; das kann es dann auch nicht sein). — Das Sy­stem muss aus­ge­feilt und durch­dacht sein.

    Zu den me­dia­len For­ma­ten: Im ORF gibt es die so­ge­nann­te Pres­se­stun­de; dort wird ein Po­li­ti­ker oder ei­ne an­de­re Per­son öf­fent­li­chen In­ter­es­ses von ei­nem ORF-Jour­na­li­sten und ei­nem Kol­le­gen ei­nes Print­me­di­ums be­fragt; ich ver­lin­ke ein ak­tu­el­les Bei­spiel mit dem schei­den­den Rech­nungs­hof­prä­si­den­ten Mo­ser. Die Kon­stel­la­ti­on ist trocken und re­du­ziert, wenn al­le Be­tei­lig­ten wol­len (sie selbst und ihr Wol­len ist ent­schei­dend), dann kann man dort si­cher be­last­ba­re Aus­sa­gen ge­win­nen und De­tails her­aus­ar­bei­ten (Dau­er: Et­wa ei­ne Stun­de.)

    Weil die un­mo­de­rier­te Dis­kus­si­on zwi­schen Ho­fer und van der Bel­len sol­che Wel­len ge­schla­gen hat: Es gab be­reits vor ei­ni­ger Zeit ei­nen Re­ak­ti­vie­rungs­ver­such, der bes­ser glück­te, die so­ge­nann­te gro­ße Kon­fron­ta­ti­on der Klei­nen (ein Bei­spiel dort, die an­de­ren bei­den fin­det man über die Lei­ste rechts.). Ich ha­be es mir jetzt nicht wie­der an­ge­se­hen, aber es war auf je­den Fall bes­ser als das jüng­ste Ex­pe­ri­ment. Wer den Klas­si­ker (das Vor­bild) nicht kennt, dort (ich hat­te das ir­gend­wann schon ein­mal ver­linkt).

  119. Noch zum Me­di­um Fern­se­hen: Sel­bi­ges be­schäf­tigt zwei Sin­ne, sich auf ei­nen Film zu kon­zen­trie­ren ist ein­fach, das funk­tio­niert qua­si von selbst, mit dem Ne­ben­ef­fekt, dass man rasch pas­siv da­hin däm­mert (wie oft er­zählt mir je­mand, er sei vor dem Fern­se­hen ein­ge­schla­fen). Das ist m.E. das ei­ne Grund­übel: Das gro­ße (und viel­fach schlech­te) An­ge­bot ver­lei­tet zu­dem zur Pas­si­vi­tät; das an­de­re ist, dass ful­mi­nan­te Op­tik und eben­sol­che Klang­qua­li­tät (»Heim­ki­no«) Äu­ßer­lich­keit för­dert. Wie weit das auf ei­ne Er­war­tungs­hal­tung sei­tens der Kon­su­men­ten trifft, sei da­hin­ge­stellt (je­den­falls mag ein an­stren­gen­der Ar­beits­all­tag zu ei­ner sol­chen Art der Ent­span­nung ein­la­den). Dar­aus er­gibt sich, dass fin­di­ge Köp­fe die­ses Me­di­um zur Selbst­dar­stel­lung und zum »Ver­kauf« (zur Be­wer­bung) wo­von auch im­mer nut­zen kön­nen und wei­ter, dass das Fern­se­hens im­mer dort schwach ist, wo sei­ne Mit­tel (Op­tik) im Über­schuss vor­han­den sind; es blen­det dann bloß. Die mei­sten po­li­ti­sche Sen­dun­gen brau­chen kein Fern­se­hen, das Ra­dio und die Kon­zen­tra­ti­on auf das ge­spro­che­ne Wort ge­nü­gen voll­auf (erst bei ei­ner sehr gro­ßen Run­de wird man das Fern­se­hen vor­zie­hen, weil man dann bes­ser fol­gen kann). Und ich glau­be auch, dass man im Re­gel­fall ei­nem Ra­dio­bei­trag bes­ser zu­hört (und zu­hö­ren muss), als ei­ner ver­gleich­ba­ren Sen­dung im Fern­se­hen, ein­fach weil die Bin­dung durch un­ser vi­su­el­les Sy­stem weg­fällt (wir sind »Au­gen­tie­re«).

  120. Gre­gor Keu­sch­nig

    Jetzt wo Sie es sa­gen, ja das war ein tol­les For­mat. Ich glau­be, dass ich dort tat­säch­lich ge­lernt ha­be, dass nicht al­les ein­fa­che Lö­sun­gen hat. Man wird nur dar­auf ver­zich­ten müs­sen, Spit­zen­per­so­nal zu in­vol­vie­ren. Schlecht für die Quo­te, aber gut für das Ver­fah­ren.

    me­tep­si­lo­n­e­ma

    Das Rin­gen um die gu­te Lö­sung, stört mich gar nicht so sehr. Auch eher un­schö­ne Kom­pro­mis­se wer­den sich nicht ver­mei­den las­sen. Hier hilft noch­mal der Blick in die USA. Das ame­ri­ka­ni­sche Ver­fah­ren zwi­schen Kon­gress, Se­nat und Prä­si­dent scheint für uns un­end­lich müh­sam, war aber auch sehr sta­bil. Erst durch die zer­stö­re­ri­sche Blocka­de­hal­tung der Te­a­par­ty, da sind wir wie­der bei den Po­pu­li­sten, ge­riet das Sy­stem ins Wan­ken. Nur, es muss auch tat­säch­lich zwi­schen den In­ter­es­sen­grup­pen ge­run­gen wer­den, oh­ne zu viel Hin­ter­zim­mer und Al­ter­na­tiv­lo­sig­keit.

    Ei­ne Stun­de für ei­nen Ver­wal­tungs­men­schen ist tat­säch­lich viel. Ich hat­te ge­hört, das The­ma ist in Öster­reich ge­ra­de vi­ru­lent (man ent­schul­di­ge mei­ne Un­kennt­nis)?

    Auch den Ver­weis auf das Ra­dio fin­de ich zu­tref­fend., kann mir aber kaum vor­stel­len, dass man grö­ße­re An­tei­le der Be­völ­ke­rung da­von über­zeu­gen kann. Der Markt­an­teil des Deutsch­land­fun­kes, der In­for­ma­ti­ons­ka­nal des öf­fent­lich recht­li­chen Run­fun­kes in Deutsch­land, hat ei­nen Markt­an­teil um 1%.

  121. @Joseph Bran­co, #125
    Das Rin­gen stört mich auch nicht, ich glau­be nur, dass ein fö­de­ra­les Sy­stem sehr gut durch­dacht sein muss und »ir­gend­ei­nes« nicht rei­chen wird (Ich weiß nicht, kann ein prä­si­dia­les Sy­stem Vor­bild für po­li­ti­sche Or­ga­ni­sa­ti­on der EU sein?)

    Vi­ru­lent war in Öster­reich ge­ra­de die Kür der Nach­fol­ge­rin; die ÖVP hat durch tak­ti­sches Agie­ren ih­re Kan­di­da­tin durch­ge­bracht und den Ko­ali­ti­ons­part­ner dü­piert (der muss­te zäh­ne­knir­schend zu­stim­men, um den Ko­ali­ti­ons­pakt nicht zu bre­chen). — Tat­säch­lich sind das all­tags­po­li­ti­sche Spie­ler­einen; man soll­te sich eher um die Pro­ble­me des Lan­des küm­mern (zur Zeit sieht der so­ge­nann­te »new deal« wie al­ter Wein in neu­en Schläu­chen aus).

    In Öster­reich ist das ähn­lich, auch wenn ich aus dem Steg­reif kei­ne Zah­len nen­nen kann; die größ­te Reich­wei­te hat der Sen­der Ö3, der mit dem Be­griff »In­fo­tain­ment« noch freund­lich be­schrie­ben ist.

  122. @Joseph Bran­co und @metepsilonema
    Das Ra­dio hat ja längst ei­nen ganz an­de­ren Stel­len­wert er­hal­ten. Als »Mas­sen­me­di­um« ist es nur noch da­hin­ge­hend zu be­zeich­nen, dass es als Mu­sik­be­rie­se­lungs­ma­schi­ne dient. An­hand des Ra­dio­sen­ders WDR2 kann ich das sehr gut aus­ma­chen. In mei­ner Kind­heit und Ju­gend gab es dort Ma­ga­zin-Sen­dun­gen, die im Wech­sel mit Mu­sik Wort­bei­trä­ge zu ak­tu­el­len po­li­ti­schen und kul­tu­rel­len The­men lie­fer­ten. Die dau­er­ten auch schon mal fünf oder sechs oder viel­leicht auch mal zehn Mi­nu­ten. Zu­nächst gab es im West­deut­schen Rund­funk drei Ra­dio­pro­gram­me. WDR1 wur­de zu­sam­men mit dem NDR pro­du­ziert. Es gab Hör­spie­le, Fea­tures aber auch Un­ter­hal­tung. WDR2 galt als In­for­ma­ti­ons­sen­der mit zu­meist po­pu­lä­rer Mu­sik. WDR3 war »Kul­tur«: klas­si­sche Mu­sik, Opern, Hoch­kul­tur. Ir­gend­wann ka­men dann noch WDR4 und WDR5 da­zu. Der In­fo­sen­der ist jetzt WDR5. WDR2 macht nur noch Du­del­funk mit ganz kur­zen Bei­trä­gen. Er ist von den lo­ka­len Pri­vat­sen­dern kaum noch zu un­ter­schei­den. WDR1 ist längst vom NDR ge­trennt und heißt jetzt »1Live« – Pop­mu­sik bis zum Ab­win­ken (ak­tu­el­ler als in WDR2). WDR4 bringt Schla­ger­mu­sik. WDR3 im­mer noch Klas­sik, aber da gab/gibt es Be­stre­bun­gen, dies auf­zu­wei­chen. Im­mer wenn das Wort »Pro­gramm­re­form« er­tön­te be­deu­te dies ein Zu­rück­fah­ren des an­spruchs­vol­len Pro­gramms zu Gun­sten mas­sen­taug­li­cher »For­ma­te«.

    Ähn­li­ches gibt es von al­len Lan­des­rund­funk­an­stal­ten der ARD. Kein Mensch fragt, ob der BR, WDR oder SWR die­se An­zahl von Ra­dio­sen­dern braucht, die sich fast nur da­durch un­ter­schei­den, dass sie ei­ne an­de­re Mu­sik spie­len. Die In­fo­ka­nä­le sind üb­ri­gens nicht bes­ser. Neu­lich hör­te ich mal ei­nen sol­chen Sen­der im Au­to: Er brach­te al­le 15 oder 30 Mi­nu­ten die mehr oder we­ni­ger glei­chen Ein­spie­ler-Bei­trä­ge. DLF und Deutsch­land­ra­dio Kul­tur sind die Aus­nah­men; das, was ich Ni­schen­sen­der nen­nen wür­de.

    Ich be­haup­te, dass ei­nem durch den Du­del­funk das ge­naue Zu­hö­ren ein Stück weit ab­trai­niert wur­de; es ist ein­fach nicht mehr not­wen­dig. Mein Ra­dio­kon­sum be­schränkt sich in­zwi­schen auf das Abon­nie­ren von Pod­casts, die dann je nach In­ter­es­se her­un­ter­la­de und bei Ge­le­gen­heit hö­re. Der Ge­winn ist enorm; die Dis­kus­si­ons­en­dun­gen, die bspw. auf SWR2 an­ge­bo­ten wer­den, ha­ben fast im­mer Sub­stanz. Der Drang der Dis­ku­tan­ten zur Selbst­in­sze­nie­rung ist im Ra­dio prak­tisch kaum ge­ge­ben. Und auch das Wis­sen, dass die Sen­dung nur von ein paar Tau­send Leu­ten ge­hört wird (die sich dann aber wirk­lich für das The­ma in­ter­es­sie­ren) dürf­te zur Ver­sach­li­chung bei­tra­gen. Das Fern­se­hen »ver­dirbt« in die­ser Hin­sicht.

  123. Wg. Funk u Fern­se­hen

    Ich gucke schon Talk­shows. Oft mit Ge­winn.
    Das hier im­mer wie­der auf­schei­nen­de Kri­tie­ri­um, dass dort nicht ar­gu­men­tiert wer­de, son­dern nur vor­ge­stanz­te State­ments ab­ge­lie­fert oder ein­ge­üb­te PR-Stunts voll­zo­gen wür­den, trifft ei­nen Aspekt, aber nicht die Sa­che in ih­rer Gän­ze.
    So pau­schal vor­ge­bracht, ist die Kri­tik glau­bich auch nicht sehr pro­duk­tiv.
    Des­halb: Die Wahr­heit ist im­mer kon­kret: Wo wer­den wel­che In­hal­te gut ver­han­delt? Und wel­che In­hal­te wer­den nicht ver­han­delt – und war­um.
    Die Idee, man kön­ne die Gren­ze nicht schüt­zen war für mich ein per­fek­tes Bei­spiel. Der Fort­schritt (ja, der Fort­schritt) ist ge­ring, aber ich glau­be es gibt ei­nen Fort­schritt in die­ser De­bat­te: Da­hin­ge­hend, dass die an­fangs er­ho­be­ne pau­scha­len Un­mög­lich­keits­er­klä­run­gen nach und nach ver­schwun­den sind.
    Wie im­mer heut­zu­ta­ge: Das mag ei­nem ir­rele­vant, ba­nal, mar­gi­nal er­schei­nen, das mag ei­nen an­mu­ten wie die völ­li­ge quan­ti­té né­glia­ble usw. – als voll­kom­men ei­tel: Aber doch, aber doch: Die­se Be­we­gung in­ner­halb des Fern­seh­dis­kur­ses hat statt­ge­fun­den.

    SWR 2 Fo­rum hö­re ich auch gel­gent­lich.

    Der be­ste Ra­dio­sen­der hier im Sü­den: DRS II

    Schwer ab­ge­baut hat das lan­ge sehr gu­te Bay­ern II Kul­tur­jour­nal (So 18.00 Uhr). Es hängt auch an Per­so­nen: Pe­ter Hamm war of­fen­bar nicht zu er­set­zen.

  124. @Doktor D
    Dan­ke für den Link. Ich ha­be den Text über­flo­gen; das, was er über den Po­pu­lis­mus schreibt, steht ja prak­tisch al­les im Buch. An­son­sten ist ei­ne Mi­schung aus EG/EW­G/EU-Hi­sto­rie und Plä­doy­er für den Ver­bleib der Bri­ten in der EU.

    Bei sol­chen Sät­zen stol­pe­re ich dann:
    In London’s ey­es, the EU no­ti­on that ‘deepe­ning’ and ‘en­lar­ging’ could be ac­com­plished at the sa­me time was ob­vious­ly an il­lu­si­on: en­lar­ge­ment would be at the ex­pen­se of fur­ther in­te­gra­ti­on.

    Wie­so be­schränkt er das auf »London’s ey­es«? Bis weit in den 1990er Jah­ren galt in Frank­reich »Ver­tie­fung vor Er­wei­te­rung«. Ich kann mich dun­kel dar­an er­in­nern, dass das auch lan­ge die Po­si­ti­on bspw. von Fi­scher war. Dann kam sei­ne Re­de 2000, die er als »Pri­vat­mann« ge­hal­ten ha­ben woll­te, in der er die Er­wei­te­rung nicht zu­letzt auch als öko­no­mi­sche Chan­ce für Deutsch­lands Ex­port­in­du­strie an­ge­se­hen hat.

    Tricky fin­de ich Mül­lers Be­grün­dung ge­gen den Vor­wurf des al­les berrschen­den EU-Mon­sters (En­zens­ber­ger) in Brüs­sel:
    Brussels has very li­mi­t­ed le­gal me­ans of in­ter­vening to safe­guard de­mo­cra­cy and the ru­le of law in mem­ber sta­tes, though the­se are ‘va­lues’ which, ac­cor­ding to the Lis­bon Trea­ty, all EU count­ries have to re­spect.

    Die Bei­spie­le sind Po­len und Un­garn – hier muss die EU prak­tisch zu­se­hen, wie de­mo­kra­ti­sche Stan­dards ein­ge­schränkt wer­den. Es ist ge­fähr­lich, dies in­di­rekt pro-EU zu kon­no­tie­ren.

    Das Droh­sze­na­rio, dass er dann ent­wirft (Aus­ein­an­der­fal­len des UK [and es­pe­ci­al­ly a for­mer UK], weil Schott­land neu ab­stim­men möch­te und dann auch noch Se­zes­sio­nen in Bel­gi­en, Spa­ni­en und Ita­li­en her­auf­be­schwört) – und dann die Fest­stel­lung, dass Deutsch­land noch stär­ker in Eu­ro­pa wür­de: ist das nicht auch schon ver­dammt po­pu­li­stisch? (Kein Vor­wurf an JWM!)

    Über den Brexit lie­ße sich vie­les sa­gen. Ich glau­be, dass es nicht da­zu kom­men wird. Ehr­lich ge­sagt, wä­re es mir aber egal.

  125. Ar­min Nas­sehi zum Po­pu­lis­mus http://www.welt.de/debatte/kommentare/article156108787/Die-sogenannte-Mitte-ist-ein-unlogischer-Ort.html

    Nas­sehi ver­sucht sich dem Phä­no­men Po­pu­lisms funk­tio­nal zu nä­hern.

    Zum BREXIT:
    Ich muss ge­ste­hen, dass mich schon in­ter­es­sie­ren wür­de, wie die EU mit ei­ner sol­chen »Er­schüt­te­rung der Macht« um­ge­hen wür­de. Aber wenn man Mül­ler Ana­ly­se aus dem LRB zu­stimmt, ist sie ja im Mo­ment schon fast voll­kom­men dys­funk­tio­nal. Aber nach dem Mord an Jo Cox ge­he ich da­von aus, dass Re­main ge­win­nen wird. Aber das Re­fe­ren­dum scheint ein gu­tes Bei­spiel da­für zu sein, wie we­nig Re­fe­ren­da da­zu tau­gen, De­mo­kra­tien zu sta­bi­li­sie­ren.

  126. @Doktor D
    Aber das Re­fe­ren­dum scheint ein gu­tes Bei­spiel da­für zu sein, wie we­nig Re­fe­ren­da da­zu tau­gen, De­mo­kra­tien zu sta­bi­li­sie­ren.
    Das ver­ste­he ich nicht. Wie­so ist denn plötz­lich die bri­ti­sche De­mo­kra­tie in­sta­bil ge­wor­den, nur weil es ein Re­fe­ren­dum über den EU-Aus­tritt gibt? Ist die Schweiz ein in­sta­bi­les Land we­gen ih­rer »di­rek­ten De­mo­kra­tie«? Ha­ben die in Nor­we­gen zwei Mal ab­ge­hal­te­nen (und ge­schei­ter­ten) Re­fe­ren­den zum EG- bzw. EU-Bei­tritt (1972 und 1994) das Land in de­mo­kra­ti­sche Tur­bu­len­zen ge­stürzt? Oder sind Re­fe­ren­da im­mer nur dann gut, wenn sie am En­de das »rich­ti­ge« Er­geb­nis auf­zei­gen?

    Aus die­ser Hal­tung strömt für mich ein selt­sa­mer po­li­ti­scher »Alternativlos«-Paternalismus, der am En­de zur zu faul ist, ver­nünf­tig auf­be­rei­te­te Ar­gu­men­te für die (ver­meint­lich) rich­ti­ge Sa­che zu fin­den und ent­spre­chend an den Mann, an die Frau zu brin­gen. Ge­stern zu Be­ginn ei­nes Phoe­nix-Ge­sprächs mit Ti­mo­thy Gar­ton Ash wur­de die­ser ge­fragt (ab 05:25): »Was ha­ben wir [die EU] denn ei­gent­lich von Eng­land?« (Er ver­wen­de­te un­glück­li­cher­wei­se »Eng­land«). Die Ant­wort von TGA war be­zeich­nend: Ver­dutz­tes Ge­sicht, Wie­der­ho­lung der Fra­ge und dann: »Glau­ben wir [sic!], die Fra­ge ist not­wen­dig?« Es war für ihn un­wür­dig, die­se Fra­ge auch nur zu­zu­las­sen; ent­spre­chend fällt auch die Ant­wort aus. Re­fe­ren­den könn­ten, wenn in ih­nen klug de­bat­tiert wird, sol­che lie­fern.

  127. Mül­ler ist lang­sam Eh­re ge­tan.

    Die Gar­ton Ash Be­ob­ach­tung ist in­ter­es­sant.

    Die be­tag­te Da­me, die hier am See den Eng­lish Book­shop führt, ist von nix so be­wegt wie vom Tod von Jo Cox. Tief be­wegt. »Zu viel Emo­tio­nen« sag­te sie mir heu­te Nach­mit­tag (cf. Ed­mund Burke....Nr. ?? – weiß nicht mehr).

    Ich blicke auf die bis­he­ri­ge De­bat­te zu­rück: Oh­ne Reue. Ich z. B. fo­to­gra­fie­re und ha­be, wenn ich mor­gens im er­sten Licht meist im Wald un­ter­wegs war, wie­der­holt den ei­nen oder an­de­ren Satz von hier als fer­nes Echo im Kopf ge­habt – das ist nach mei­ner Er­fah­rung sehr viel.
    – Vie­le Grü­ße an al­le! Und vie­len Dank an Gre­gor Keu­sch­nig! Sie ha­ben hier et­was, das mich an ei­nen Sa­lon den­ken ließ – - na­ja, auch das im Wald

  128. @gregor keu­sch­nig:
    Um die Volks­be­fra­gung über­haupt in die We­ge lei­ten zu kön­nen, muss­te das Par­la­ment ei­ni­ge Klimm­zü­ge ma­chen – denn das Kon­zept passt über­haupt nicht zum son­sti­gen in­sti­tu­tio­nel­len Auf­bau in UK. In div. eng­li­schen Me­di­en häu­fen sich die Stim­men, die das – vor al­lem auch we­gen der Ver­ro­hung im po­li­ti­schen Dis­kurs, die man als wich­tig­stes Er­geb­nis der gan­zen Übung an­sieht – für ei­ne ab­so­lu­te Schnapps­idee hal­ten, zu­mal in UK schon re­la­tiv lang ei­ne BREXIT-Par­tei wäh­len kann, die UKIP.
    In der Schweiz sind Volks­be­fra­gun­gen ganz an­ders in­sti­tu­tio­nell ein­ge­bun­den – auch weil die Re­gie­rung selbst auf dem Pro­porz- und Kon­sens­prin­zip be­ruht. Da ist die Gro­Ko ja ge­wis­ser­ma­ßen der Nor­mal­zu­stand, den man mit dem Volks­be­geh­ren in Per­ma­nenz aus­ba­lan­ciert. Und ne Men­ge Schwei­zer hal­ten das mitt­ler­wei­le selbst für gar nicht so bril­lant.
    Mehr di­rek­te De­mo­kra­tie in der Form von Volks­be­geh­ren und ‑be­fra­gun­gen wird ja auch in DE ger­ne als Mit­tel ge­gen die Ent­frem­dung zwi­schen Wahl­volk und Po­li­ti­kern ge­se­hen. Ich hal­te das für blau­äu­gig und so­gar kon­tra­pro­duk­tiv: So zu tun, als kön­ne man schwie­ri­ge Fra­gen inkl. ih­ren Fol­gen per ein­ma­li­gen Volks­be­geh­ren klä­ren und dann müs­se man das Er­geb­nis halt ein­fach um­set­zen – das pro­vo­ziert ja ge­ra­de­zu die Des­il­lu­sio­nie­rung und Ent­täu­schung, wenn’s dann halt doch viel kom­pli­zier­ter wird, und dis­kre­di­tiert und des­avou­iert den de­mo­kra­ti­schen Pro­zess noch ein biss­chen mehr. Ge­ra­de weil ich da­für bin, dass viel mehr Din­ge von den Leu­ten selbst ent­schie­den wer­den soll­ten, ste­he ich Volks­be­geh­ren und Ver­wand­tem eher kri­tisch ge­gen­über. Wenn, muss es so lau­fen wie in der Schweiz, wo Volks­be­geh­ren auf al­len Ebe­nen an­ge­sto­ßen wer­den kön­nen, dass Pro­ze­de­re gut de­fi­niert ist und die­ser Ad-Hoc-Sta­tus, mal als Po­li­ti­ker ei­nes ein­zu­be­ru­fen, wenn’s ei­nem ge­ra­de passt, un­mög­lich ist.

  129. @Dieter Kief
    Dan­ke für Ih­re Be­tei­li­gung und die auf­mun­tern­den Wor­te. Der Sa­lon ist na­tür­lich nur so gut wie die Gä­ste dar­in.

    @Doktor D
    Das Ar­gu­ment, dass die Schweiz das ge­wohnt ist, kann ja nicht da­für ver­wen­det wer­den, dass die an­de­ren für im­mer und ewig zu doof da­für sein sol­len. Ja, die Schweiz ist ei­ne Kon­kor­danz-De­mo­kra­tie, aber eben weil die Par­tei­en al­le sehr auf ein Mit­ein­an­der aus­ge­rich­tet sind, wer­den eben strit­ti­ge Fra­gen di­rekt ab­ge­stimmt. Dass das von ei­ni­gen in­zwi­schen kri­tisch ge­se­hen wird, ist auch lo­gisch; zu­meist sind es die­je­ni­gen, die un­ter­le­gen wa­ren.

    Rich­tig ist, dass man in je­dem Fall auf kom­mu­na­ler Ebe­ne da­mit an­fan­gen soll­te, was ja auch vie­ler­orts schon ge­schieht. In Düs­sel­dorf gab es in den 2000er-Jah­ren ei­ni­ge Ent­schei­dun­gen, über die ab­ge­stimmt wur­de. Oft­mals er­reich­te man nicht ein­mal die Min­dest­be­tei­li­gung. Mein Ein­druck geht da­hin – ich wie­der­ho­le mich da – dass die mei­sten eher über Kriegs­ein­sät­ze, den ESM oder über den Bun­des­prä­si­den­ten ab­stim­men wol­len (al­les Punk­te, bei de­nen ich kei­ne Mög­lich­kei­ten für ei­ne ir­gend­wie ge­ar­te­te Bür­ger­be­tei­li­gung se­he) als über ei­ne Um­ge­hungs­stra­sse oder die Fra­ge, ob ein Ge­bäu­de­kom­plex ab­ge­ris­sen oder sa­niert wer­den soll.

    (Ich ge­ste­he, dass ich 1989/1990 ei­ner Re­ge­lung des Bei­tritts der DDR nach Art. 146 [neue Ver­fas­sung] skep­tisch ge­gen­über stand und den be­strit­te­nen Weg Nach Art 23 bes­ser fand. Aber viel­leicht re­sul­tier­te hier­aus auch die Mär vom »An­schluss«.)

    Die Ver­fas­sungs­pro­ble­me im Noch-Ver­ei­nig­ten Kö­nig­reich (Mül­ler) spie­len ja jetzt kei­ne Rol­le mehr. Ca­me­ron hat das durch­ge­setzt – ein rein po­pu­li­sti­scher Akt, denn vor­her hat­te er ei­ni­ge Kon­zes­sio­nen von Brüs­sel ab­ge­trotzt und woll­te sich als Held zei­gen. Die­se wa­ren wohl nicht ge­nug, denn sei­ne Rech­nung droht nicht auf­zu­ge­hen. Er ist kein Pro-EU-Mann, aber je­mand, der aus op­por­tu­ni­sti­schen Grün­den für ei­nen Ver­bleib ist.

    Auch der ver­ro­hen­de po­li­ti­sche Dis­kurs kann kein se­riö­ses Ar­gu­ment ge­gen sol­che Ab­stim­mun­gen sein. An­son­sten müss­te man in D auch OB-Wah­len ab­schaf­fen (Re­ker-At­ten­tat; hier gab es üb­ri­gens kei­nen ver­roh­ten Dis­kurs). Ha­ber­mas sel­ber plä­diert ja für die Le­gi­ti­ma­ti­on der EU durch den Wäh­ler, aber das ist na­tür­lich et­was an­de­res als ei­ne Brexit- oder Frexit- oder De­xit-Ab­stim­mung.

    Die Vor­be­hal­te ge­gen ple­bis­zi­tä­re Ele­men­te speist sich aus der Furcht der Re­prä­sen­tan­ten, dass ih­re po­li­ti­sche Ge­stal­tungs­kraft an­ge­ta­stet wer­den könn­te. Ge­nau dies schwingt bei Mül­ler ja auch mit.

  130. @ Dok­tor & Gre­gor. Das Prin­zip der Ba­sis­de­mo­kra­tie hat in Eu­ro­pa nicht ge­fruch­tet. Bei Ver­fas­sun­gen und Staats­ver­trä­gen er­hofft man sich doch im­mer ei­ne »deut­li­che Mehr­heit«, und da­mit ist noch nicht ein­mal ge­sagt, zu wel­cher Sei­te hin.
    Ich glau­be, es ist ein Feh­ler, die nach­hal­ti­gen Um­brü­che, die man frü­her Re­vo­lu­tio­nen ver­dank­te, nun mit Re­fe­ren­den re­gu­lie­ren zu wol­len. Al­len­falls re­pro­du­ziert man doch die »Ka­ter­stim­mung« von da­mals. Und sie­he, es wa­ren we­der da­mals noch heu­te al­le da­für.
    Apro­pos, da­für. Be­ob­ach­tung beim Brexit: die so­zio-kon­struk­ti­vi­sti­sche Op­ti­on hat ei­gent­lich im­mer den An­schein des Pro­gres­si­ven, wäh­rend ein »Nein«, ei­ne Ab­wehr im­mer dumm und zer­stö­re­risch er­scheint. Psy­cho­lo­gie. Nein und Ab­wehr sind dumm.
    *
    Die Zei­chen in­ner­halb der EU ste­hen auf Rück­bau. Ob­wohl wir schon am En­de der Le­se­run­de sind, noch die Fra­ge: gibt es Vi­sio­nen in der Run­de, wie man die In­sti­tu­tio­nen ver­än­dern könn­te, dass sie SOWOHL Prin­zi­pi­en der Ge­wal­ten­tei­lung ALS auch dem Wunsch nach ei­ner Stär­kung der na­tio­na­len Ver­fü­gungs­ge­walt ent­spre­chen. –Oder ist das die »fal­sche Syn­the­se«, die ich mit der Be­schrän­kung auf die Ge­wal­ten­tei­lung ab­fra­ge?! Gibt es im­mer noch die Habermas’sche Vor­stel­lung, dass der Wäh­ler die Le­gi­ti­ma­ti­on für die EU schaf­fen könn­te, wo­bei Le­gi­ti­ma­ti­on bei Ha­ber­mas ja nicht we­ni­ger als ein Ein­ver­neh­men von po­li­ti­schen Prot­ago­ni­sten und »Mul­ti­tu­de« be­deu­tet?!
    Die­se Fra­gen ha­be ich selbst noch nicht be­ant­wor­ten kön­nen, weil ich mit dem Grund­ge­dan­ken ei­ner »de­mo­kra­ti­schen Be­set­zung der EU« (un­ge­schickt for­mu­liert, ich weiß) auf­ge­wach­sen bin. Und ich fin­de mich doch zu­neh­mend in ei­nem nietz­schea­ni­schen Uni­ver­sum der Kräf­te und der Il­lu­sio­nen wie­der.
    Au­ßer Die­ter: Wer setzt noch de­mo­kra­ti­sche Hoff­nun­gen in die EU, in der Um­fäng­lich­keit der Be­deu­tung des Be­griffs »De­mo­kra­tie«?!

  131. @die_kalte_Sophie
    Das Prin­zip der Ba­sis­de­mo­kra­tie hat in Eu­ro­pa nicht ge­fruch­tet.
    Im Prin­zip könn­te man auch an­ders her­um ar­gu­men­tie­ren: Das Prin­zip der re­prä­sen­ta­ti­ven De­mo­kra­tie hat da­hin­ge­hend nicht funk­tio­niert, dass es po­pu­li­sti­sche Be­we­gun­gen und Par­tei­en nach oben spült. Das Re­sul­tat wä­re dann, dass man De­mo­kra­tie per se ab­schafft bzw. nur noch auf am En­de be­lang­lo­se Wahl­ak­te re­du­ziert, wie dies m. E. im­mer dann droht, wenn in­zwi­schen schon Drei­er­ko­ali­tio­nen her­hal­ten müs­sen, um mehr­heits­fä­hi­ge Re­gie­run­gen zu bil­den.

    Der Ge­dan­ke der »Ka­ter­stim­mung« ist nicht un­in­ter­es­sant. Ich ha­be ge­ra­de ge­le­sen, dass ir­gend­wel­che Brexit-Men­schen die ak­tu­el­le Ab­stim­mung nur als Zwi­schen­ab­stim­mung be­trach­ten. Da­nach soll dann Ca­me­ron (oder wer auch im­mer) noch­mal neu ver­han­deln. Das ist na­tür­lich ein ab­sur­des Spiel, aber es er­mög­licht ei­ni­gen Brexit-Phan­ta­sten zu sug­ge­rie­ren, dass der Schritt nicht end­gül­tig ist. So wird de­mo­kra­ti­sche Par­ti­zi­pa­ti­on zur Spiel­wie­se. Dies er­zeugt am En­de mehr Po­li­tik­ver­dros­sen­heit.

    Ne­ben dem Pro­blem der Ge­wal­ten­tei­lung (die ja nie ganz funk­tio­nie­ren kann) gibt es vor al­lem das Pro­blem der Re­prä­sen­ta­ti­on (noch ein­mal ver­wei­se ich auf die­sen Th­read hier, der sechs Jah­re alt ist). Mül­ler spricht die­se Pro­ble­me an, die de­mo­kra­tie­theo­re­tisch sind, aber doch nicht un­wich­tig: Ist der/die ge­wähl­te Ab­ge­ord­ne­te sa­lopp for­mu­liert ei­ne Art Ab­stim­mungs­ma­schi­ne für die je­wei­li­gen Wäh­ler oder ist er/sie ih­rem Ge­wis­sen ver­ant­wort­lich.

    Zur EU kann ich kei­ne Pro­gno­se ab­ge­ben. Im­pe­ri­en bzw. im­pe­ri­en­ähn­li­che Ge­bil­de kön­nen Rück­bau schwer ver­kraf­ten, schon aus Image­grün­den nicht. Tat­säch­lich droht na­tür­lich ei­ne Art »Do­mi­no-Ef­fekt«.

  132. Dan­ke für den Th­read, das be­stä­tigt mei­ne An­fangs-Ver­mu­tung, dass De­mo­kra­tien ver­schie­de­ne In­ter­pre­ta­tio­nen er­fah­ren. Es ist schon oh­ne ge­naue­re Ana­ly­sen (die sehr nö­tig sind) na­he­lie­gend, dass es kei­nen ein­hel­li­gen »Eu­ro­päi­schen Typ« gibt. Die Un­ter­schie­de zwi­schen Deutsch­land und den U.S.A. sind viel­leicht am größ­ten, wenn man im We­sten bleibt.
    Wie se­hen Sie die hi­sto­ri­sche Kau­sa­li­tät, ist Eu­ro­pa auch ein biss­chen über die »Ho­mo­ge­ni­täts-Hy­po­the­se« ge­stol­pert, d.h. ging man mit der Aus­sicht auf ei­ne »im­mer en­ge­re Ver­flech­tung« der Eu­ro­päi­schen Na­tio­nen nicht von ei­ner Gleich­ar­tig­keit der De­mo­kra­tie-In­ter­pre­ta­ti­on im struk­tu­rel­len Sin­ne aus, die nur noch in­sti­tu­tio­nell ver­bun­den wer­den müss­ten?!
    Ich will nicht sa­gen, Eu­ro­pa sei über sei­nen kon­struk­ti­vi­sti­schen Op­ti­mis­mus ge­stol­pert, aber ist es nicht merk­wür­dig, dass wir erst nach 20 Jah­ren und mas­si­ven Ent­frem­dun­gen ge­nau­er hin­schau­en?! Ich kom­me mir je­den­falls glei­cher­ma­ßen in­kom­pe­tent wie ver­spä­tet vor. Ich kom­me zu spät zum Un­fall­ort und stel­le fest, dass ich als Arzt sehr schlecht aus­ge­bil­det wur­de... Den­noch kann man mit gründ­li­chen Ana­ly­sen auch ei­ne Lö­sungs­stra­te­gie für Eu­ro­pa er­ar­bei­ten. Auch hin­sicht­lich der mut­maß­li­chen Dif­fe­ren­zen zwi­schen den De­mo­kra­tien ist ei­ne na­tio­na­le Ver­an­ke­rung ver­mut­lich ziel­füh­rend, oder?!

  133. @die_kalte_Sophie
    Ih­re Ent­frem­dungs­theo­rie tei­le ich. Der Fall der Ber­li­ner Mau­er in den 1990er Jah­ren hat­te ei­ne ge­wis­se Eu­pho­rie aus­ge­löst. Es gab den Ein­druck, dass die Eu­ro­pä­er und da­mit auch das west­li­che De­mo­kra­tie­mo­dell ho­mo­gen und nun all­über­all ak­zep­tiert sei­en. Un­ter­schie­de wur­den (und wer­den) weg­dis­ku­tiert; wer das Wort »Men­ta­li­tät« oder »Kul­tur« ver­wen­det, war und ist Pa­ria. Al­le wol­len ei­ne »bun­te Ge­sell­schaft«, aber bit­te in ei­ner Far­be.

    Die Er­nüch­te­rung in Deutsch­land in Sa­chen EU ma­che ich an zwei Da­ten fest. Zum ei­nen die Im­ple­men­tie­rung des Eu­ro. Das an­de­re Da­tum ist die Grie­chen­land-Kri­se. Der Eu­ro war mit be­stimm­ten (un­halt­ba­ren) Ver­spre­chen ein­ge­führt wor­den. Ver­schwie­gen wur­de, dass er ein po­li­ti­sches Mo­dell war und ist, aber kein wirt­schaft­li­ches. So­lan­ge die Sa­che »funk­tio­nier­te« ar­ti­ku­lier­te sich kein Un­be­ha­gen. Erst als mit der Grie­chen­land­kri­se das No-Bail-Out bin­nen Ta­gen Ma­ku­la­tur war, kam die al­te Skep­sis wie­der her­vor. Ein ge­rüt­telt An­teil an die­ser EU-Ver­dros­sen­heit hat Mer­kel, die mit ih­rem »Schei­tert der Eu­ro, schei­tert Eu­ro­pa« und ähn­li­chem Um­fug die Rei­hen schlie­ßen woll­te.

    Die Feh­ler in­ner­halb der EU wur­den En­de der 1990er Jah­re ge­macht. Den Ost­eu­ro­pä­ern wur­den Bei­tritts­per­spek­ti­ven er­öff­net, die man schnell er­füll­te. Auch hier gilt: Po­li­tisch wa­ren die Er­wei­te­run­gen sinn­voll. Aber für das Ge­bil­de der EU war es zu schnell. Als man das er­kann­te, war es zu spät. Leu­te wie Fi­scher kö­der­ten die Be­völ­ke­rung mit den öko­no­mi­schen Vor­tei­len für Deutsch­lands Ex­port­in­du­strie. Das kann man so se­hen; an­de­re se­hen das durch­aus nüch­ter­ner. Er und vie­le an­de­re hat­ten vor­her »Ver­tie­fung vor Er­wei­te­rung« ge­ru­fen. Ein­mal in der Re­gie­rung muss­te nicht nur er fest­stel­len, dass die Wei­chen längst ge­stellt wa­ren. Es gab kein Zu­rück mehr. Gip­fel­punkt des Wahn­sinns wa­ren die durch­ge­wun­ke­nen Bei­trit­te Ru­mä­ni­ens und Bul­ga­ri­ens. Und wenn in der Tür­kei nicht Er­do­gan durch­ge­dreht wä­re, stün­de sie auch schon mit an­dert­halb Bei­nen in der EU.

    Von da her war die EU ein »Eli­ten­pro­jekt«. Man­che ga­ben sich nicht mit Fuß­no­ten in spä­te­ren Ge­schichts­bü­chern zu­frie­den. Es soll­ten Ka­pi­tel sein. Noch ein­mal: So­lan­ge dies ei­ne ge­wis­se Sta­bi­li­tät sug­ge­rier­te, war man nicht da­ge­gen. Auf Fei­ern zur EU-Ju­bi­lä­en ho­ben die mei­sten Be­frag­ten her­aus, dass man frei rei­sen kön­ne. In den Nach­rich­ten­sen­dun­gen gab es auch »Er­folgs­mel­dun­gen« über die EU-In­sti­tu­tio­nen, et­wa wenn die Roa­ming-Ge­büh­ren bei Han­dys ge­senkt wur­den.

    Auf Dau­er reicht das nicht. Und ein Ver­fas­sungs­pa­trio­tis­mus kommt ja noch nicht ein­mal für das Grund­ge­setz auf – wie denn für ei­ne voll­kom­men ab­strak­te EU? Und kann man ei­ne In­sti­tu­ti­on Ernst neh­men, die sich noch nicht ein­mal auf ei­nen ge­mein­sa­men Sitz für ihr Par­la­ment ver­stän­di­gen kann son­dern statt­des­sen im­mer zwi­schen zwei Or­ten hin- und her­pen­delt?

    Nie­mand der am­tie­ren­den Po­li­ti­ker will der- oder die­je­ni­ge sein, die für ei­nen Rück­bau oder ein Mo­ra­to­ri­um ver­ant­wort­lich zeich­nen. In­so­fern wird man, nach­dem GB ver­mut­lich mit 52% für den Ver­bleib ge­stimmt hat, ein­fach busi­ness as usu­al ma­chen.

  134. Nach­trag wg. Kom­ple­xi­täts-Stö­rung / Ver­zwer­gungs-Krän­kung

    ( – ei­ni­gen hier wird ei­ni­ges nicht un­be­kannt vor­kom­men , wenn auch ein we­nig ver­huscht (nicht strin­gent durch­dacht))

    Heu­te auf spon – Fran­ces­co Giamm­ar­co in­ter­viewt die in Lipp­stadt tä­ti­ge fo­ren­si­sche Psych­ia­te­rin Nahl­ah Sai­meh – im Prin­zip wg. En­zens­ber­gers »mo­le­ku­la­rem Bür­ger­krieg***« (ak­tu­ell Jo Cox et. al.) und – - Kom­ple­xi­täts-Stö­rung (fast ex­pli­zit) cf. hier auf dem Blog Nr. 68 et. al.

    Ich füh­re das nicht aus – man kann es aber leicht se­hen: Sai­meh ist nah dran, trifft aber ei­ni­ge Be­zü­ge nicht ge­nau – wie auch der In­ter­view­er Giamm­ar­co.
    Aber den­noch (und des­we­gen...) – -

    Sai­meh: Die­se po­le­mi­sche und stark emo­tio­na­le De­bat­ten­form führt ja zu ei­ner Pri­mi­ti­vie­rung des Den­kens. Man zieht sich nur noch auf Schwarz-Weiß-Po­si­tio­nen zu­rück und tut so, als ob nur ei­ne ein­zi­ge Per­spek­ti­ve und An­sicht die voll­stän­dig rich­ti­ge sei. Es ent­steht ein Wir-ge­gen-die-Ge­fühl. Ge­nau die­se Me­cha­nis­men aber fin­det man auch bei Ra­di­ka­li­sie­rungs­pro­zes­sen. Men­schen könn­ten sich so ani­miert füh­len, Ge­walt aus­zu­üben, weil sie die ge­sell­schaft­li­che Äch­tung nicht mehr fürch­ten. Sie kön­nen sich dann auf die Zu­stim­mung zu­min­dest ei­nes Teils der Be­völ­ke­rung ver­las­sen.

    SPIEGEL ONLINE: Je kom­ple­xer die Ver­hält­nis­se, um­so grö­ßer das Be­dürf­nis nach Ra­di­ka­li­tät?

    Sai­meh: Na­tür­lich, denn al­les be­dingt stets sein Ge­gen­teil. Die Welt ist un­ge­heu­er kom­plex ge­wor­den, und durch die welt­wei­te Ver­füg­bar­keit von In­for­ma­tio­nen ha­ben wir an die­ser Kom­ple­xi­tät teil, über­schau­en die Din­ge aber nicht mehr und kön­nen vie­len Pro­ble­men selbst nicht ein­fach ab­hel­fen. Und je nach­dem, wie mei­ne ei­ge­ne Le­bens­si­tua­ti­on ist, füh­le ich mich viel­leicht als Op­fer die­ser Kom­ple­xi­tät. Das macht so an­fäl­lig für Ra­di­ka­li­sie­rung oder Ver­schwö­rungs­theo­rien. Ra­di­ka­li­sie­rung re­du­ziert Kom­ple­xi­tät. Je ra­di­ka­ler ein An­satz, de­sto mehr ver­meint­li­che Sta­bi­li­tät und Ge­wiss­heit ver­leiht er. Aber de fac­to ver­schwin­den dif­fe­ren­zier­te Lö­sungs­an­sät­ze. So, als ob Sie für je­de Ope­ra­ti­on nur ein ein­zi­ges In­stru­ment ha­ben. Der Be­griff »Lü­gen­pres­se« zeigt ganz an­schau­lich so ein sen­si­tiv-pa­ra­no­ides Denk­mu­ster. Es wird ver­mit­telt, dass den Bür­gern die ei­gent­li­che Wahr­heit durch das Zu­sam­men­wir­ken ir­gend­wel­cher Ver­schwö­rungs­zir­kel vor­ent­hal­ten wird. Dem muss man ent­ge­gen­wir­ken. Po­le­mik ist aber nicht hilf­reich, von kei­ner Sei­te.

    ***Noch gibt es in den In­du­strie­län­dern ei­ne Mehr­heit von Zi­vi­li­sten. Un­se­re Bür­ger­krie­ge ha­ben bis­her nicht die Mas­sen er­grif­fen, sie sind mo­le­ku­lar.

  135. @Dieter Kief
    Mir sind die­se Dia­gno­sen wie »die Welt ist un­ge­heu­er kom­plex ge­wor­den« ein biss­chen zu ein­fach. Er­in­nert ja fast an »frü­her war al­les bes­ser«. Kom­plex war die Welt im­mer; ih­re He­te­ro­ge­ni­tät ist nur sicht­ba­rer ge­wor­den. Und auch die all­seits be­klag­te Ver­ro­hung der De­bat­ten­kul­tur be­kommt durch das In­ter­net ei­ne Prä­senz, die es eben frü­her nicht gab. Hier hat­te ich schon mal auf ei­ge­ne Er­leb­nis­se An­fang der 1970er Jah­re hin­ge­wie­sen. Auch da­mals war das Kli­ma rauh und ver­let­zend. Und man er­in­ne­re sich an 1990 und die At­ten­ta­te auf Schäub­le und La­fon­taine. Ir­re gibt es im­mer wie­der; die Fra­ge ist nur, in­wie­fern man ih­nen durch über­bor­den­de Auf­merk­sam­keit auch noch ei­ne Büh­ne gibt (Brei­vik) und da­mit als Ver­stär­ker wirkt.

    Per­sön­lich glau­be ich, dass es zu sel­ten ge­schieht, dass po­li­ti­sche Dif­fe­ren­zen in De­bat­ten über­führt wer­den. Das ist mei­ne Kri­tik nicht zu­letzt an den Me­di­en. Nicht die Dif­fe­ren­zen er­zeu­gen den be­kla­gens­wer­ten Zu­stand der Über-Po­la­ri­sie­rung, son­dern die feh­len­de Be­reit­schaft zur sach­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung. Das ist, wie Fe­der­mair rich­tig fol­gert, auch ei­ne Sa­che der Bil­dung, aber nicht nur.

    Und wenn Jour­na­li­sten in schö­ner Re­gel­mä­ssig­keit be­strei­ten, dass es ei­ne ob­jek­ti­ve Be­richt­erstat­tung ge­ben kann, möch­te man ei­gent­lich schon auf­hö­ren. Da­bei geht es ja nicht um ei­ne im La­bor er­zeug­te Ob­jek­ti­vi­tät, son­dern um das Be­mü­hen, Fak­ten von Mei­nun­gen zu tren­nen bzw. zu be­nen­nen. Was die Leu­te zu den »Lügenpresse«-Vorwürfen bringt, ist das Emp­fin­den von be­vor­mun­de­tem Mei­nungs­jour­na­lis­mus (sie­he Köln 31.12., aber das ist nur ein Bei­spiel), der sich die »Wahr­hei­ten« zu­recht­biegt. Die­ses Den­ken ra­di­ka­li­siert sich dann na­tür­lich im­mer mehr, je mehr sol­cher Sa­chen »auf­ge­deckt« wer­den.

  136. 1 spon­ta­ne Ant­wort – ich stim­me Ih­nen zu – aber ich ge­wich­te Ihr »nur« an­ders: Ich mei­ne in der Tat, dass dar­an sehr viel hängt, das ei­nen Un­ter­schied macht – und nach ei­ge­nen Ant­wor­ten ver­langt. Kurz ge­sagt: man muss die Din­ge, die öf­fent­lich ver­han­delt wer­den, in ei­ner fass­li­chen Form dar­bie­ten. Falls nicht, geht das schief (cf. Vé­dri­ne, – - nicht all­er­gisch wer­den, bit­te – En­zens­ber­ger, – Grimm, di Fa­bio, Hür­li­mann...).

    Oh je Bil­dung – ich ha­be im Lauf der Zeit fast al­le un­ter­rich­tet – und nicht, weil ich das für sinn­los an­sah. Al­so vom ADHS-ge­plag­ten Ke­vin aus der Un­ter­schicht bis zu Pro­fes­so­ren­töch­tern (Töch­ter mei­ner Pro­fes­so­ren so­gar, das ist ir­gend­wie spe­zi­ell), vom Mi­gran­ten, der n u r auf die Frau­en in der Abend­schul­klas­se schau­te, und fra­gen Sie lie­ber nicht wo­hin, bis zum Knast­bru­der, der an­deu­te­te, er wis­se mitt­ler­wei­le ganz ge­nau, wo ich woh­ne und...

    Ich ko­che ge­ra­de – und hat­te wie­der ei­nes die­ser Be­gleit­schrei­ben-Echos im Kopf – wes­halb ich zwi­schen­drin hier­her bin... – ein we­nig ver­rückt schon auch...

  137. @Doktor D
    In Öster­reich gab es 1994 ei­ne Volks­ab­stim­mung zum Bei­tritt zur (da­ma­li­gen) EG; 66,6% der Wahl­be­rech­tig­ten stimm­ten mit »ja«. Ich kann an der Ent­schei­dung ei­ne Volks­ab­stim­mung ab­zu­hal­ten (auch im Nach­hin­ein) nichts Schlech­tes er­ken­nen. Na­tür­lich wa­ren das an­de­re Zei­ten, aber ein Ent­scheid durch Re­prä­sen­tan­ten ist in ei­ner re­prä­sen­ta­ti­ven De­mo­kra­tie ein an­de­rer als ei­ner durch al­le Bür­ger. Man kann das als Zu­ge­ständ­nis an die Fun­da­men­ta­li­tät ei­ner Ent­schei­dung le­sen (und das war der Bei­tritt zur EG [EU] ge­wiss). — Ab­stim­mun­gen kön­nen im­mer, ob sie nun von Re­prä­sen­tan­ten oder al­len Bür­gern ge­trof­fen wer­den, weit­ge­hend auf In­kom­pe­tenz fu­ßen; ich glau­be aber, dass man­che Ent­schei­dung – das kann durch­aus na­tio­nen­spe­zi­fisch sein – ein Zu­rück­tre­ten der Re­prä­sen­tan­ten ver­lan­gen (die all­ge­mei­ne Wehr­pflicht, wie un­längst ge­sche­hen, oder die Neu­tra­li­tät wür­den in Öster­reich nicht oh­ne ei­ne zu­min­dest als ver­bind­lich an­ge­se­he­ne Volks­be­fra­gung ab­ge­schafft wer­den).

    @Gregor
    Das Ge­wis­sen ist ei­ne un­de­mo­kra­ti­sche An­ge­le­gen­heit. Ein Ent­scheid der dar­auf fußt, hat in Aus­nah­me­si­tua­tio­nen sei­nen Platz, an­son­sten aber soll­ten Ent­schei­dun­gen durch Ar­gu­men­te be­grün­det wer­den (nur so kann ein Ab­ge­ord­ne­ter sei­ne Ver­ant­wort­lich­keit ge­gen­über dem Wäh­ler auch be­grün­den).

    @die kal­te So­phie
    Eu­ro­pa war hi­sto­risch ge­se­hen nie ei­ne Ein­heit; die­se in so kur­zer Zeit auf zu­min­dest ei­ni­gen Ge­bie­ten vor­an­trei­ben zu wol­len, er­scheint mir ab­surd (Eu­ro­pa und die EU sind ja nicht das­sel­be). Mir ist auch un­klar auf wel­cher Ba­sis das ge­lin­gen soll; es gibt kei­nen Grün­dungs­my­thos oder et­was ähn­li­ches auf dass man sich be­ru­fen könn­te, et­was das al­le – so­zu­sa­gen – fes­selt (oder be­gei­stert). Eu­ro­pa ist für mich ein geo­gra­phi­scher Be­griff, vor al­lem aber ei­ne kul­tu­rel­le Chif­fre, die mich vor gro­ße Schwie­rig­kei­ten stellt, wenn ich sie zu le­sen ver­su­che. Trotz­dem: Ein un­end­li­cher kul­tu­rel­ler Reich­tum, der aus der eu­ro­päi­schen Ge­gen­wart und Ver­gan­gen­heit quillt. Die Öko­no­mie da­ge­gen für die wir Eu­ro­pa heu­te brau­chen, wenn ich den Wor­ten un­se­rer Po­li­ti­ker fol­ge, ver­mag doch am En­de eher die Kräf­te der Ab­wehr, als die der Zu­nei­gung zu mo­bi­li­sie­ren; und ja, ein eu­ro­päi­scher Ver­fas­sungs­pa­trio­tis­mus ist noch il­lu­so­ri­scher als ein na­tio­na­ler (Car­lo Stren­ger führt dort ein eher we­nig be­ach­te­tes Ar­gu­ment an, dass ei­ner eu­ro­päi­schen Ei­ni­gung vor al­lem die sprach­li­che Viel­falt ent­ge­gen stün­de; spinnt man das wei­ter, könn­te die eu­ro­päi­sche Viel­falt im All­ge­mei­nen für ein fö­de­ra­li­sti­sches Pro­jekt spre­chen).

  138. [Weil oben, #131, das In­ter­view mit Nas­sehi er­wähnt wur­de: Man möch­te sein in­tel­lek­tua­li­sier­tes Dampf­plau­dern ge­ra­de­wegs auf den von ihm pro­pa­gier­ten Funk­tio­na­lis­mus, der na­tür­lich oh­ne Kau­sa­li­tät aus­kommt, zu­rück­füh­ren.]

  139. @Dieter Kief
    »In ei­ner fass­li­chen Form an­bie­ten« – ein­ver­stan­den. Aber eben der­art, dass nicht schon vor­her die je­wei­li­ge Mei­nung des/der Jour­na­li­sten al­les über­la­gert. Und »fass­lich« kann man auch die The­sen von Vé­dri­ne, En­zens­ber­ger, Grimm, et.al. ein­brin­gen. Da­von hö­re und se­he ich aber im Mas­sen­me­di­um Fern­se­hen nichts.

    @metepsilonema
    Ob das Ge­wis­sen un­de­mo­kra­tisch ist, bleibt die Fra­ge. Mül­ler wen­det sich be­wusst ge­gen das im­pe­ra­ti­ve Man­dat. Wo­bei es hier auch meh­re­re In­ter­pre­ta­ti­ons­mög­lich­kei­ten gibt. Zum ei­nen kann ein im­pe­ra­ti­ves Man­dat sich den­je­ni­gen ver­pflich­tet füh­len, die den Re­prä­sen­tan­ten ge­wählt ha­ben. In Deutsch­land reicht für ein Bun­des­tags­di­rekt­man­dat die ein­fa­che Mehr­heit der Erst­stim­men in ei­nem Wahl­kreis. Das kön­nen auch schon mal nur 35% sein. Sind es nun die­se 35%, die ein Ab­stimm­ver­hal­ten ei­nes Re­prä­sen­tan­ten be­stim­men soll­ten? Oder muss er auch die­je­ni­gen be­rück­sich­ti­gen, die ihn nicht ge­wählt ha­ben? Der Kon­flikt ist dop­pelt: Zum ei­nen müss­te prak­tisch ein stän­di­ger Aus­tausch des Ge­wähl­ten mit sei­nen Wäh­lern statt­fin­den (die ja auf­grund der ge­hei­men Wahl gar nicht be­kannt sind). Zum an­de­ren müss­te er auch die In­ter­es­sen der­je­ni­gen mit be­rück­sich­ti­gen, die ihn nicht ge­wählt ha­ben (min­de­stens dann, wenn es um re­gio­na­le Fra­gen geht, die ver­han­delt wer­den). An­de­rer­seits ist er aber kei­ne Ab­stim­mungs­ma­schi­ne, der ein­fach ei­ner Frak­ti­ons- oder Par­tei­li­nie fol­gen muss. Dann könn­te man das Par­la­ment we­sent­lich klei­ner ma­chen. Es bleibt al­so nur die Ge­wis­sens­ent­schei­dung, die un­ab­hän­gig von Vor­ga­ben Drit­ter (Par­tei, Frak­ti­on, aber auch Wäh­lern) so­zu­sa­gen mit sich sel­ber aus­ge­han­delt wird. Das aber wie­der­um ent­fernt ihn un­ter Um­stän­den vom Re­prä­sen­ta­ti­ons­ge­dan­ken.

    Zum Grün­dungs­my­thos der EU: Ei­nen sol­chen gibt es nur ex ne­ga­tivo: Nie mehr Krieg in Eu­ro­pa. Für die Grün­dungs­vä­ter (es wa­ren ja nur Män­ner) war dies das Wich­tig­ste. Heut­zu­ta­ge mu­tet ei­ne Dro­hung mit Krieg zwi­schen eu­ro­päi­schen Staa­ten ab­surd an.

    Der Text von Stren­ger ist in­ter­es­sant. Aber ein My­thos kann nicht so­zu­sa­gen in die Welt ge­setzt oder ge­schaf­fen wer­den. Er ent­steht, teil­wei­se über Jahr­hun­der­te. Und ist auch nicht im­mer per se frie­dens­stif­tend. My­then sind oft Le­gen­den, »un­heil­vol­le Er­zäh­lun­gen« (Slo­ter­di­jk). Und ja, die di­ver­sen Spra­chen sind wo­mög­lich hin­der­lich. Aber sie zei­gen eben auch die Viel­falt an.

    Was die EU bräuch­te, um auf Dau­er in den Köp­fen der Leu­te nicht nur als geld­gie­ri­ger und re­gu­lie­rungs­wü­ti­ger Mo­loch zu er­schei­nen, sind kla­re in­sti­tu­tio­nel­le Struk­tu­ren. Aber da­von sind wir m. E: sehr weit ent­fernt.

  140. zu @metepsilonema:
    re. Nas­sehi – ich fin­de die Idee, sich Zu­sam­men­hän­ge mal in der Per­sek­ti­ve »Was lei­stet das über­haupt für die Be­tei­lig­ten?« an­zu­schau­en, sehr span­nend. Er müss­te es halt nur end­lich mal ma­chen, als im­mer wei­ter fröh­lich vor sich hin zu schwa­feln.

  141. @Doktor D
    Ich hät­te das als Auf­ga­be der Po­li­tik ver­stan­den oder für ei­gent­lich selbst­ver­ständ­lich (was mich ne­ben der über­la­de­nen und un­prä­zi­sen Spra­che är­gert, ist, dass da je­mand die Funk­tio­na­li­tät der Kau­sa­li­tät vor­zieht, aber an­schei­nend nicht be­greift, dass er­ste­re oh­ne letz­te­re gar nicht mög­lich ist und das zu­dem noch für Wis­sen­schaft­ler im All­ge­mei­nen ver­an­schlagt; oder er­klärt, dass die Mit­te ein un­lo­gi­scher Ort ist: Aber geh, dass das »ter­ti­um non da­tur«, die Lo­gik al­so, kein drit­tes kennt, ist ei­ne groß­ar­ti­ge Neu­ig­keit! Ein bil­li­ger Stroh­mann.).

    @Gregor
    Ich le­se Ver­ant­wort­lich­keit nicht als im­pe­ra­ti­ves Man­dat, son­dern als Nach­voll­zieh­bar­keit (ich möch­te wis­sen war­um ein Ab­ge­ord­ne­ter so und so ab­ge­stimmt hat; er muss nicht [im­mer] mei­ne Mei­nung ver­tre­ten, das kann er auch gar nicht, weil die Mei­nun­gen de­rer, die er ver­tritt schon zu stark va­ri­ie­ren). Das ist ein Ge­wis­sens­ent­scheid m.E. nicht, weil er sich ei­ner ge­nau­en Be­grün­dung ent­zieht (der dai­mon, die in­ne­re Stim­me, die sagt: »Tu das nicht.«).

    Ich ha­be mich ge­stern beim Schrei­ben auch ge­fragt, war­um der zwei­te Welt­krieg oder letzt­lich »die Kri­se Eu­ro­pas«, wie ein Pro­py­lä­en Ge­schichts­band über das 20. Jahr­hun­dert be­ti­telt ist, nicht ei­nen My­thos her­vor­ge­bracht hat; ei­ner­seits war die­se Kri­se (und die Tei­lung Eu­ro­pas) wohl die Ur­sa­che des Ei­ni­gungs­ge­dan­kens (von dem ich glau­be, dass er im Grund­satz vom ge­sam­ten po­li­ti­schen Spek­trum be­jaht wird, die Aus­for­mu­lie­rung va­ri­iert al­ler­dings) und an­de­rer­seits, wie Du rich­tig schreibst: Ne­ga­ti­ven Er­zäh­lun­gen oder My­then haf­tet et­was be­lie­bi­ges und un­glaub­wür­di­ges an.

    Zu den Spra­chen: Man muss sich ein­mal ver­ge­gen­wär­ti­gen, dass das Pri­mär­recht der EU (al­so die Ver­trä­ge) in al­len 24 Spra­chen im glei­chen Maß gül­tig ist.

    Die fass­li­che Form wä­re ge­ra­de bei eu­ro­päi­schen The­men wie den Ver­trä­gen sehr wich­tig (ich glau­be nur, dass das Jour­na­li­sten nicht lei­sten kön­nen, es sei denn sie hät­ten ei­ne fun­dier­te ju­ri­sti­sche Aus­bil­dung).

  142. @ Doc­tor D, Nr. 146 -«&« @ me­tep­si­lo­n­e­ma, Nr. 144 – Amin Nas­sehi schreibt nicht gut.

    Wenn Sie wol­len, gucken sie mal bei der FAZ – Pe­ter Graf Kiel­mann­seg hat dort vor ca. ei­nem vier­tel Jahr ei­nen Nas­sehi-Text sehr höf­lich und sehr un­nach­sich­tig – al­so: per­fekt! – aus­ein­an­der­ge­nom­men.

    http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/peter-graf-kielmansegg-antwortet-armin-nassehi-14099664.html

    @ me­tep­si­lo­n­e­ma 147
    Was kann die Öf­fent­lich­keit lei­sten und was nicht? – Heu­te ist in der FAZ noch­mal ein Ein­sei­ter von Die­ter Grimm zu den Hür­den des deut­schen Ver­fas­sungs­rechts er­schie­nen.
    Na­ja – und mit den von Ih­nen an­ge­spro­che­nen vie­len Spra­chen kom­men auch di­ver­se 24 Rechts­tra­di­tio­nen zum Vor­schein – und 24 Ar­ten mit dem, was dann zum po­si­ti­ven Recht ge­wor­den ist, im All­tag um­zu­ge­hen. In Grie­chen­land ist es of­fen­bar im­mer noch so, dass die Tex­te und/ oder die Über­set­zun­gen in Map­pen von Bü­ro zu Bü­ro wandern...und dass kaum eine(r) Eng­lisch kann.
    Da­zu kommt der Seuf­zer, dass wei­te Tei­le des EU-Rechts in vie­len der 24 Län­der in­suf­fi­zi­ent bis in­ef­fi­zi­ent im­ple­men­tiert und dann so nach­läs­sig ge­hand­habt wer­den, dass vie­le sich die Haa­re rau­fen.

    Der­lei in öf­fent­li­chen Talk-For­ma­ten z. B. zu be­han­deln, ist aus­sichts­los. An­spre­chen ja, ana­ly­sie­ren: nein.

    Wo aber wer­den die­se Din­ge dann ver­han­delt?

    Gut schei­nen mir Or­te wie die­ser.
    An­de­re pu­bli­zi­sti­sche Or­te sind in D‑Land die FAZ und die ZEIT. Spie­gel ‑s. o. ... Mer­kur ist in die­sen Din­gen nicht auf der Hö­he der Zeit, Die Blät­ter (zu) ge­werk­schaft­ori­en­tiert – al­so ten­den­zi­ell blind (Streek z. B., aber auch Al­brecht von Lucke et. al.). Hie und da die NZZ. Das IFO-In­sti­tut.
    Mein Traum: Un­se­re Öf­fent­lich­keit nimmt den An­tritts­vor­trag von IFO-Fuest so ernst – oder we­nig­stens halb so ernst, wie den neue­sten Coen-Film.
    Wenn un­ser Zeit­al­ter wirk­lich mal als gan­zes zur Höl­le fah­ren soll­te, dann we­gen sol­cher De­fi­zi­te bzw. Hy­per­tro­phien (ob­wohl – True Grit/ In­si­de Lle­wyn Da­vis und The Big Le­bow­ski schon tol­le Fil­me sind – aber trotz­dem, ich bleib da­bei: Wenn un­ser Zeit­al­ter ein­mal ... ).

    Ichab jetzt noch zwei­er­lei: an me­tep­si­lo­n­e­ma: Ich ver­tie­fe das EU-Rechts- und Kom­ple­xi­täts­pro­blem noch mal in ei­nem ge­son­der­ten Kom­men­tar. Ich ha­be ihn ge­stern Nacht ge­schrie­ben und dann nicht ge­po­stet; und po­ste ich ihn nun doch.

    @ Gre­gor Keu­sch­nig, Nr. 146
    1 ein­fa­cher Ge­dan­ke: D a s mei­ne ich ist ein gu­ter Sinn von Ver­an­stal­tun­gen wie die­sen: Die Leer­stel­len des Fern­seh­dis­kur­ses zu be­nen­nen. Ein Ge­dan­ke, der mir heu­te im Wald, durch den ich frei­hän­dig auf dem Fahr­rad roll­te, mit un­ab­weis­ba­rer Klar­heit vor Au­gen stand – in Er­in­ne­rung an die Dis­kus­si­on hier. Ich mei­ne wirk­lich, der­lei sei not­wen­dig: Mög­lichst un­auf­ge­regt und prä­zi­se. Das wä­re al­so Ih­re Me­lo­die, ein we­nig va­ri­iert, glaub ich.

  143. Grimm, OMT, EZB, ESM

    Das OMT Pro­gramm (=O ut­right M oney T rans­fer – Pro­gram) der EZB (Geld von uns (= der EU) in j e d e m Fall) dient da­zu, die Zins­sät­ze in den Eu­ro-Län­dern an­zu­glei­chen, in­dem man durch ei­ne qua­si-De­fi­zit­ga­ran­tie die Bo­ni­täts­un­ter­schie­de über­tüncht .
    Die re­gu­lä­re Ri­si­ko-Be­wer­tung wä­re dann aus­ge­schal­tet.

    Grund­la­ge ist ein ent­spre­chen­der Eu­GH-Be­schluss, für den aber die Grimm’sche Kaut­ele gilt (s. o., Gey­er, FAZ vom 12. 6.)). Haupt­ein­wand: Das Sub­si­dia­ri­täts­prin­zip wird er­neut aus­ge­he­belt. Wie­der mit dem Ar­gu­ment: das gan­ze sei ten­den­zi­ell vir­tu­ell.

    - Ins­ge­samt er­scheint mir die Sa­che we­der als wirt­schaft­lich funk­tio­nal noch als de­mo­kra­tie­tech­nisch ok an; ich wer­te den Vor­gang als kaum mehr zu recht­fer­ti­gen­des Muddlin’ th­rough.

    Su­che ich nach Bil­dern für die OMT-EWS-Kon­struk­ti­on, fal­len mir simp­le Ent­spre­chun­gen ein, die um­so un­wahr­schein­li­cher klin­gen, je bes­ser sie die tat­säch­li­chen Vor­gän­ge ab­bil­den. Man läuft als Kri­ti­ker Ge­fahr, als Dorf­depp zu er­schei­nen. Ver­dreht er­scheint schnell der­je­ni­ge, der a u s s p r i c h t dass der Kai­ser nackt ist. Oder be­trügt. Die Be­für­wor­ter schei­nen Vir­tuo­sen der Ma­xi­me Frech­heit siegt zu sein.
    Am in­ter­es­san­te­sten ist der Be­trugs-Vor­wurf, weil die OMT-Kon­struk­ti­on ja bis an­hin noch nicht ge­schei­tert ist. Dass et­was auch dann be­reits ein Be­trug sein kann, wenn man nur zu 85% (sag’ ich mal) da­mit rech­nen muß, dass ei­ne ver­ab­re­de­te Sa­che an­ders aus­geht, als ver­ab­re­det, ist of­fen­bar nur schwer zu ver­tei­di­gen.
    Klar ist, dass nie­mand auch nur in ei­ne Stra­ßen­bahn ein­stei­gen wür­de, wenn die Be­ant­wor­tung der Fra­ge, ob man un­ver­sehrt am Ziel­ort an­ge­langt so un­si­cher wä­re wie die EZB-Pro­gno­sen / Maß­nah­men der letz­ten Jah­re.

    Jetzt ist das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt mit der Sa­che be­fasst.
    Die we­ni­gen Watch­dogs, die über­haupt noch an Deck sind, hö­ren auf so Na­men wie Grimm, Wei­del und Gau­wei­ler. Sar­ra­zin so­wie­so.
    Über 99% der in den öf­fent­lich-recht­li­chen Sen­dern Be­rich­ten­den ge­ra­ten hie und da aus dem Takt. Alt­mei­er als qua­si höch­ster Re­gie­rungs­spre­cher sagt mit Schmackes: Wei­ter so! Schäub­le läßt den Din­gen nach dem Mot­to »im Krieg war’s schlim­mer« ih­ren Lauf. Kanz­le­rin Mer­kel hält sich be­deckt.

    Wenn Alt­mei­er als der höch­ste spre­chen­de Re­gie­rungs­ver­tre­ter in öf­fent­li­chen Dis­kus­sio­nen auf je­man­den trifft, der den gan­zen Ver­hau durch­dringt, zeigt sich re­gel­mä­ßig, dass er je­den­falls nicht in vol­lem Um­fang ver­steht, wo­von er re­det. Alt­mei­er tut noch im­mer so, als ob es sich bei OMT und an­de­ren ESM-Pro­gram­men um ein Kon­junk­tur­pro­gramm für ei­ne ver­trau­ens­wür­di­ge Volks­wirt­schaft han­del­te. Das ist OMT aber nicht – es ist viel­mehr ein va-ban­que-Ticket. Er über­malt den Wäh­le­rin­nen und Wäh­lern den Ab­grund, über den die Ka­ra­wa­ne zieht, mit ei­ner sanf­ten Au. Die wack­li­ge Hän­ge­brücke, über die die Tour uns al­le führt, ist in Alt­mei­ers Wort­mel­dun­gen ei­nem hei­me­li­gen Wie­sen­grund ge­wi­chen.

    Ich nei­ge Grimm et. al. (Wei­del, Gau­wei­ler, Sar­ra­zin usw.) zu: Das OMT-Pro­gramm ist hoch­ris­kant und hoch­pro­ble­ma­tisch, um es mal sanft aus­zu­drücken.
    Und ich glau­be zu­dem, dass die Leu­te drau­ßen an den Bild­schir­men das wie dif­fus auch im­mer eben­falls so se­hen oder ir­gend­wie ah­nen. Sie be­grei­fen, dass die Zin­sen, die die Spar­kas­se zahlt und die die Bun­des­kas­se nun­mehr ver­langt, et­was mit der­lei Vor­gän­gen zu tun ha­ben – und sie se­hen viel­leicht oben­drein, dass die Idee, den Eu­ro-Raum ein­fach mit Bar­geld zu flu­ten, kei­ne nach­hal­ti­ge Vor­ge­hens­wei­se dar­stellt.
    Ob­wohl das noch ein­mal ein Ab­strak­ti­ons­ni­veau hö­her ist.
    Neh­me ich al­les nur in al­lem, so lau­tet auch aus die­ser Per­spek­ti­ve mein En­zens­ber­ger- und Vé­dri­ne-Schluß: Wir ha­ben uns ver­lau­fen, und müs­sen wie­der zu­rück auf Los.
    M. a. W. – Rück­bau der EU.

  144. Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt hat das OMT un­ter Auf­la­gen zu­ge­las­sen. Trotz­dem tei­le ich die coo­le Ein­schät­zung von Prof. Hen­rik En­derlein nicht, der twit­ter­te:
    »Al­so (...) war OMT ein Bluff, aber le­gal. Ak­ti­vie­rung un­wahr­schein­lich, Vo­lu­men be­grenzt, kei­ne gro­ße Sa­che.«
    Kei­ne gro­ße Sa­che, die wie ein ro­hes Ei zwi­schen zwei Ver­fas­sungs­ge­rich­ten hin und her ge­reicht wur­de...

  145. Zu Nas­sehi: @Doktor D, @metepsilonema, @Dieter Kief
    Was soll er an­ders ma­chen als »schwa­feln«? Er ist So­zio­lo­ge und hat da­hin­ge­hend fast nur be­schrei­ben­de Funk­tio­nen.

    Die Über­le­gun­gen zur Mit­te und de­ren Un­lo­gik fin­det ich ein we­nig an den Haa­ren her­bei ge­zo­gen. Aber die­sen Be­fund fin­de ich min­de­stens in­ter­es­sant:
    Ich bin da­von über­zeugt, dass das Pu­bli­kum selbst nicht an zu simp­le Lö­sun­gen glaubt, aber nach ei­nem po­li­ti­schen Stil sucht, der nicht sug­ge­riert, man sei nur pas­si­ves Ob­jekt der Ver­hält­nis­se, son­dern ha­be die Din­ge in der Hand. Es ge­hört zur Funk­ti­on des Po­li­ti­schen, so­zio­lo­gisch un­be­schei­den zu sein, al­so mehr Sou­ve­rä­ni­tät zu si­mu­lie­ren als mög­lich ist. Die Flücht­lings­kri­se wur­de auch des­halb zum Ka­ta­ly­sa­tor von Pro­test, weil zwi­schen­durch kei­ner mehr wuss­te, wer agiert oder nur auf et­was re­agiert, das kaum zu kon­trol­lie­ren ist.

    Ich se­he hier ge­wis­se Par­al­le­len zu un­se­ren Be­fun­den.

    @Dieter Kief
    Ich möch­te mal be­haup­ten, dass 80% al­ler Men­schen »da drau­ßen« nicht wis­sen, was »OMT« ist. Zur Not wüss­ten sie noch et­was mit »ESM« an­zu­fan­gen, weil das da­mals in öf­fent­lich-recht­li­cher Mun­de war. Aber »OMT«? Ist das nicht ein Film mit Un­ter­ti­teln?

    Viel­leicht über­trei­be ich auch. Aber ich glau­be, dass man ins­be­son­de­re bei den öf­fent­lich-recht­li­chen Mas­sen­me­di­en (Fern­se­hen, aber auch Ra­dio) in punk­to Eu­ro-Kri­se längst in den Schlaf­mo­dus um­ge­schal­tet hat. Hier ist Ru­he die er­ste Jour­na­li­sten­pflicht, um nicht noch wei­te­ren EU-Über­druss in der Be­völ­ke­rung zu er­zeu­gen. Ge­ra­de eben hat das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt ent­schie­den, dass das al­les rech­tens ist. (Was sol­len sie auch ma­chen?) Ha­ken dran und heu­te Län­der­spiel. Und wer liest denn die FAZ?

    (Es wa­ren ja FAZ und FAS, die das Re­fe­renz­sy­stem von Sar­ra­zins Eu­ro-Buch mit fast 40% be­stimm­ten – man sie­he die Gra­phi­ken im ver­link­ten Text. Den­noch reg­te man sich auf – nicht über die FAZ und FAS, son­dern Sar­ra­zin.)

    Wer soll denn Alt­mei­er nach De­tails be­fra­gen? Ich bin si­cher, dass er ge­nau weiss, wor­um es geht (er ist zu in­tel­li­gent). Aber war­um »die Men­schen« in un­nö­ti­ge Be­sorg­nis­se stür­zen? Zu­mal wir schon wie­der im Wahl­kampf sind (Bun­des­tags­wahl 2017). Die Wahr­heit ist ja, dass die Po­li­tik nicht weiss, wie sie die­se Pro­ble­me an­ders lö­sen soll. Das äh­nelt aus der Fer­ne an ei­nen Kauf­süch­ti­gen, der die Rech­nun­gen un­ver­schlos­sen in ei­nen Schuh­kar­ton packt. Jour­na­li­sten ach­ten dann dar­auf, dass die Um­schlä­ge rich­tig fran­kiert sind.

    Ein Rück­bau der EU ist für die Be­tei­lig­ten un­denk­bar. Das ist et­wa so, als wür­den man VW oder Mer­ce­des sa­gen, sie soll­ten mal zwei Jah­re kei­ne Ge­win­ne ma­chen, um ih­re Un­ter­neh­mens­struk­tu­ren zu ord­nen. Es gibt se­riö­se Bei­tritts­ver­hand­lun­gen mit Län­dern wie Mon­te­ne­gro, Ser­bi­en und Al­ba­ni­en. Von der Tür­kei nicht zu re­den. Auch an­de­re Län­der wol­len auf­ge­nom­men wer­den; man hat ih­nen Zu­sa­gen über ein ge­ord­ne­tes Ver­fah­ren ge­macht. Das kann man viel­leicht ein, zwei Jah­re hin­hal­ten, aber dann?

    Wie hät­te Groß­bri­tan­ni­en oh­ne Schott­land da­ge­stan­den? Was wä­re Spa­ni­en, wenn Ka­ta­la­ni­en sich ab­spal­ten wür­de? Und dann der Brexit. Ich ha­be ge­stern ge­le­sen, dass sich be­reits in Tsche­chi­en die An­ti-EU-Kräf­te für ein Aus­tritts­re­fe­ren­dum for­mie­ren.

    In der ei­gent­lich zu ver­nach­läs­si­gen­den »heute«-Sendung um 19.00 Uhr gab es ge­stern ei­nen Bei­trag von Chri­sti­an Sie­vers. Er zeig­te auf ver­blüf­fen­de Art und Wei­se die Räum­lich­kei­ten in Brüs­sel, wie man dort ar­bei­te­te und in wel­chen Di­men­sio­nen das statt­fin­det. Der Bei­trag zeig­te aber auch, wie selbst­re­fe­ren­ti­ell die­ses »Sy­stem« Brüs­sel agiert. Er zeig­te ei­nen Mann, der durch »ki­lo­me­ter­lan­ge EU-Gän­ge« führt und deut­sche Schu­he trug (»Europa...für Leu­te wie ihn, mehr als nur ein Job«, lau­te­te der in­fan­ti­le Kom­men­tar von Sie­vers hier­zu), spür­te ei­ne »Mi­schung aus Sor­ge und Ner­vo­si­tät«, in­ter­view­te EP-Mit­glie­der, die zu­ga­ben, dass es kei­nen Plan B gibt und be­fin­det: »so dra­ma­tisch wie jetzt war es noch nie«. Das kennt man ja. Aber dann wird der Bei­trag nach­denk­lich. Er spricht von ei­nem »ge­öl­ten Ap­pa­rat«; der sei­ne Rou­ti­nen ha­be und sich »nie wirk­lich hin­ter­frag­te« (das »wirk­lich« muss jetzt im­mer sein). Die EU sei so groß ge­wor­den, dass die ver­sam­mel­ten Mi­ni­ster in ei­nem Kon­fe­renz­raum sich per Vi­deo un­ter­hal­ten müss­ten. Oet­tin­ger be­kommt zwei Sät­ze und ver­wehrt sich da­ge­gen, als Eu­ro­krat be­zeich­net zu wer­den, der nicht nicht mehr wis­se, was im Volk los sei. Und dann Sie­vers: »Volks­nah wol­len sie hier al­le sein, be­to­nen das im­mer wie­der, aber das mal je­mand an ih­ren Grund­fe­sten rüt­telt, da­mit hät­ten sie nie ge­rech­net.« Das ist fast schon mehr, als man von ARD und ZDF er­war­ten kann.

    Die Brexit-Dis­kus­si­on zeigt, dass gro­ße Tei­le Groß­bri­tan­ni­ens im­mer noch glau­ben, Welt­po­li­tik (zu­sam­men mit den USA) ma­chen zu kön­nen. Sie füh­len sich Trans­at­lan­ti­ker, aber nicht als Eu­ro­pä­er.

    .-.-.-.

    Zum Dis­kurs­ort: Vie­len Dank, lie­ber Die­ter Kief, für das Lob. Aber die­ser Ort hier kann nie­mals ein »Ver­hand­lungs­ort« à la Spie­gel, FAZ oder Zeit sein. Und dies aus ei­nem ein­zi­gen Grund: Er hat kein ent­spre­chen­des Pu­bli­kum; der Dis­kurs ist, ob­wohl er theo­re­tisch al­len of­fen steht, der­art her­me­tisch (be­grenzt auf fünf, sechs Teil­neh­mer und viel­leicht noch ein­mal so vie­len Le­sern), dass es kei­ne Rol­le spielt, au­ßer für die Teil­neh­men­den sel­ber. (Ich bin bspw. über­zeugt, dass Mül­ler kei­ne Ah­nung hier­von hat.)

  146. @Gregor
    Kurz zu Nas­sehi noch: Ein Wis­sen­schaft­ler soll­te nicht schwa­feln, weil das mehr vor­täuscht, als er tat­säch­lich zu sa­gen hat; er soll­te sich dort wo das mög­lich ist, klar und prä­zi­se äu­ßern (vor al­lem in der Öf­fent­lich­keit). Das an­ge­führ­te Zi­tat ist in­ter­es­sant, aber die Hälf­te da­von ist ei­ne Bin­sen­weis­heit, denn man wählt ja wohl ei­ne an­de­re Re­gie­rung, da­mit die et­was (po­li­tisch) an­de­res tut. — Die Flücht­lings­kri­se hat noch et­was an­ders ge­zeigt: Dass Po­li­tik wie­der vor­aus­schau­end han­deln soll­te, nicht erst, wenn es fünf vor zwölf ist (auch das wird ein Wunsch nicht we­ni­ger Wäh­ler sein).

    @Dieter Kief, #149 (und an al­le an­de­ren)
    Ich ha­be ge­ra­de ei­nen in­ter­es­san­ten Text ge­fun­den, der sich der Vor­ge­hens­wei­se der Kom­mis­si­on in Sa­chen CETA an­nimmt – ganz wie wir wei­ter oben be­fürch­tet ha­ben – und zeigt, dass die­se rechts­wid­rig ist. Ei­ner­seits ein gu­tes Bei­spiel, wie man die­se The­ma­tik all­ge­mein­ver­ständ­lich for­mu­lie­ren kann, an­de­rer­seits zeigt er bei­spiel­haft, wie be­rech­tigt Eli­ten­kri­tik bis­wei­len ist und war­um es fast nicht an­ders sein kann, dass sich al­ler­or­ten Se­zes­si­ons­be­we­gun­gen for­mie­ren. — Und: Ei­gent­lich müss­ten sich sol­che Tex­te an den ge­nann­ten Or­ten der Ver­hand­lun­gen fin­den.

    Die Grimm-Gey­er Tex­te sind nicht on­line zu fin­den, oder ha­be ich sie über­se­hen?

  147. @ me­tep­si­lo­n­e­ma, Nr. 152

    Ich ha­be Chri­sti­an Gey­er über Die­ter Grimm am 16. 6. wie auch Die­ter Grimm selbst am 20. 6. auf Pa­pier ge­le­sen, kann Ih­nen da­her nur hel­fen mit dem all­ge­mei­nen Hin­weis, dass man FAZ-Ar­ti­kel on­line ein­zeln kau­fen kann. Ja und man kann auf Blend­le nach­se­hen, ob sich da et­was fin­det.
    Ih­rem Ce­ta-Hin­weis ge­he ich ger­ne nach.

    @ die_kalte_sophie, Nr. 150

    Wg. En­derlein aus Reut­lin­gen – er ist ein Be­rufs-Eu­ro­pä­er und ich mei­ne, da gilt über wei­te Strecken der Wohl­fühl-Fak­tor: Haupt­sa­che, al­le, de­nen ich auf mei­nen Reisen/Konferenzen und bei mei­nen Geld­ge­bern be­geg­ne, sind gut drauf, dann bin ich auch gut drauf. Au­ßer­dem hat er ein Fern­ziel, das auf den er­sten Blick plau­si­bel er­scheint: Eu­ro­päi­sche Kon­ver­genz. – Der ei­gent­li­che Geg­ner von En­derlein scheint mir ne­ben Sar­ra­zin Sedlacek zu sein: Die bei­den schüt­ten an­dau­ernd Was­ser in den Wun­der-Kelch, aus dem sich der­ma­l­einst die Kon­ver­genz er­gie­ßen soll.
    Im Ver­gleich zu sol­chen Leu­ten wie En­derlein sind Fi­gu­ren wie Gau­wei­ler oder Grimm fast so et­was wie ei­ne an­de­re Spe­zi­es.
    Ein ty­pi­scher Ver­tre­ter die­ser Funk­ti­ons­eli­ten-Zom­bies oder Glo­bal-Trot­tel, wie ich manch­mal bos­haf­ter­wei­se sa­ge, ist hier im De­tail zu be­sich­ti­gen: http://www.srf.ch/sendungen/sternstunde-philosophie/europa-alles-was-recht-ist
    Es han­delt sich um den vor­ma­li­gen Prä­si­den­ten des Eu­GH, der an ent­schei­den­den Stel­len des Ge­sprächs er­ken­nen läßt, dass er ei­gent­lich nur aus der Sicht der win­zi­gen Klas­se der obe­ren Funk­ti­ons­trä­ger her­aus sei­nen Frame of Mind zu­sam­men­schu­stert. Es zählt für die­sen Mann nur sei­ne Peer-Group, so will es mir schei­nen, und sei­ne Fä­hig­keit, in die­sem So­zio­top nicht an­zu­ecken. Bern­hard Schlink er­klärt im Ju­ni- Mer­kur, war­um ei­ne sol­che Hal­tung Sinn und Zweck des Rechts zu­min­dest nicht rich­tig trifft, wenn nicht gleich ganz des­avou­iert.

    @ Gre­gor Keu­sch­nig, Nr. 151 – Das fol­gen­de folgt der Me­lo­die des Gas­sen­hau­sers: »Auch Zwer­ge ha­ben klein an­ge­fan­gen« ... aus der Ope­ret­te »Der schö­ne Mül­lers­mann«...

    Die An­ek­do­te über He­gel , der sich schon hin­ge­legt hat zum Ster­ben und flü­sternd auf sein Phi­lo­so­phen-Le­ben zu­rück­blickt, ken­nen Sie: »Ei­ner hat mich an­geb­lich ver­stan­den, aber auch der nicht rich­tig.«
    Prak­tisch auf der glei­chen Ebe­ne liegt die ver­bürg­te Ge­schich­te, dass Ha­ber­mas Dah­ren­dorf au­ßer­or­dent­lich gram war wg. der be­vor­ste­hen­den Ver­öf­fent­li­chung ei­nes Mer­kur-Ar­ti­kels (!!!!), in wel­chem sich Dah­ren­dorf für Kohls Va­ri­an­te der deut­schen Ein­heit aus­zu­spre­chen ge­dach­te. Ha­ber­mas mein­te da­mals, der rich­ti­ge Weg füh­re über ei­ne vor der Ver­ei­ni­gung durch­zu­füh­ren­de öf­fent­li­che Ver­fas­sungs­dis­kus­si­on in bei­den deut­schen Staats­hälf­ten, und er muss in die­sem Mo­ment tat­säch­lich ge­glaubt ha­ben, die Chan­cen sei­nes Vor­schlags wür­den sin­ken, so­bald Lord Dah­ren­dorf sich im Mer­kur wür­de ha­ben ver­neh­men las­sen... – un­glaub­lich, ei­gent­lich. Aber irschn­dwie doch auch schön!
    We­gen Alt­mai­er – ich ha­be das selbst ver­folgt, er war sich letz­ten Som­mer über die tat­säch­li­chen Fol­gen für den deut­schen Bun­des­haus­halt in Sa­chen Grie­chen­land nicht im Kla­ren. – By the way, die Stones va­ri­ie­rend: The truth, child­ren, is just a shot away, shot away (und das war schon der viel­fa­che Schrift­s­inn: wg. Schuß und Wahr­heit – - min­de­stens drei­er­lei Schüs­se sind auf der Welt (der aus der Waf­fe, der aus der Sprit­ze und der aus dem Zeu­gungs­werk­zeug***) – (das wuß­te glau­bich Wolf­gang Welt schon auch... – moch­te er ei­gent­lich die Stones? – (müss­te nach­den­ken – oder in Peg­gy Sue gucken)) – aber zu­rück zu Alt­mai­er und den Grie­chen und den Stones. My ex­am­p­le is just a click away: http://www.zdf.de/maybrit-illner/griechen-zwangsgerettet-europa-gespalten-39290642.html – es ist Hans Wer­ner Sinn, den Alt­mai­er ar­gu­men­ta­tiv in Sa­chen Grie­chen­land-Ka­la­mi­tä­ten de­fi­ni­tiv nicht packt. Kei­ne Ah­nung, ob das an sei­ner In­tel­li­genz liegt: In Sa­chen In­tel­li­genz hal­te ichs näm­lich auch mit – - – En­zens­ber­ger: Es langt, dass man halb­wegs bei Gro­schen ist, der Rest ist Fut­ter für die Re­gres­si­ven: »In­tel­li­genz – Ein Idio­ten­füh­rer« – ich geb’s ja zu, das ist ein we­nig hef­tig bei mir mit dem En­zens­ber­ger, aber ich kann mir nicht hel­fen: Wo er recht hat, hat er recht.
    Als ich vor­hin (na­tür­lich wie­der: im Wald!) Rad fuhr, ha­be ich am mei­sten um mei­ne Be­haup­tung über die öf­fent­lich-recht­li­chen Jour­na­li­sten ge­bangt: Dass die hier nicht stand­hiel­te.
    Nun se­he ich aber, wie Sie die­sen Ge­dan­ken deut­lich pla­sti­scher er­schei­nen las­sen als ich und: Wie er mir da­durch noch bes­ser (rich­ti­ger) zu sein scheint.
    Ich hal­te ja nicht hin­term Berg da­mit, dass ich er­heb­li­che Le­se- und Le­bens­zeit in den Ver­such ge­steckt ha­be, die Faust-Fra­ge in ei­ner spe­zi­el­len Mo­di­fi­ka­ti­on zu durch­drin­gen: Er­ken­nen, was die so­zia­le Welt im In­ner­sten zu­sam­men­hält.
    Viel­leicht des­halb – bin ich un­ter dem Strich mit we­ni­ger zu­frie­den als Sie. Da die Be­ant­wor­tung sol­cher Fra­gen, wie ich glau­be ver­stan­den zu ha­ben, vor­aus­set­zungs­reich ist, be­trach­te ich Er­kennt­nis­fort­schrit­te auf die­sem Ge­biet egal­weg mit Freu­de.
    Sie sind so häu­fig nicht.
    Es braucht na­tür­lich Tan­ker – aber die klei­nen For­schungs­schif­fe ha­ben durch­aus ih­re Be­rech­ti­gung, selbst dann noch, wenn sich zei­gen soll­te, dass die For­schungschif­fe, nach­dem der Ne­bel gschwun­den ist, als ve­ri­ta­ble Ru­der­boo­te da­hin­glei­ten. Haupt­sa­che es schip­pert über­haupt eine(r).
    Ob die Kun­de von sol­chen For­schungs­fahr­ten dann z. B. Mül­ler er­reicht, ist mir fast ganz gleich­gül­tig.
    Sie wer­den la­chen: Ich hal­te Mül­ler für nicht so wich­tig.
    Und na­ja: Ich jetzt ganz per­sön­lich re­de mit ein paar Leu­ten und schrei­be mit dem ei­nen oder der an­de­ren – - – und da mer­ke ich auch Re­so­nanz, wenn ich die Be­gleit­schrei­ben-Dis­kus­si­on (aus­schnitts­wei­se bis­her – was die gan­ze lan­ge Li­ste an­geht, so den­ke ich an Hes­se: Ein­tritt nur für Ver­rück­te...) her­um­rei­che.
    An­son­sten ist ja im­mer die Fra­ge: Was macht man sonst: Ich z. b. kann nicht im­mer fo­to­gra­fie­ren. Und ich will auch, wenn ich nicht fo­to­gra­fie­re, nicht stän­dig le­sen oder an den Auf­nah­men her­um­fei­len. Das glei­che ha­be ich vor vier­zehn Ta­gen an an­de­rer Stel­le be­reits vor­ge­bracht: Ich ha­be schon er­heb­lich mehr Zeit als hier auf er­heb­lich drö­ge­re Wei­se beim Ver­strei­chen zu­ge­se­hen.
    Fa­zit: Noch­mal vie­len Dank an Sie und al­le Fo­ri­sten für die wahr­haft zi­vi­li­sier­te und pro­fun­de Run­de!

    *** cf. The Beat­les: REVOLVER, bzw. Hap­pi­ness is a Warm Gun auf je­nem Al­bum, das haar­ge­nau so be­nannt war wie – ei­ne Na­no­welt­se­kun­de da­nach, ein in der Tat den Geist stär­ken­des Kun­ter­bunt von tat­säch­lich Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger – - – näm­lich: Wei­ßes Al­bum – - – All­right, that’s en­ough – so ge­mahnt mich ei­ne – öhöööö: Gei­ster­stim­me (En­zens­ber­ger) auf dem letz­ten der of­fi­zi­el­len Beat­les-Al­ben: »All­right, that’s en­ough!«. Und die hab­bich seit 1970ff. of­fen­bar auf im­mer als – so le­ben die Zwer­ge! – klei­nen Mann im Ohr – - -

  148. @metepsilonema
    Das mit dem »schwa­feln« war hal­bi­ro­nisch ge­meint. Aber viel­leicht ist ei­ner der Grün­de, war­um sich Mül­ler mit der So­zio­lo­gie zur Er­for­schung des Po­pu­lis­mus-Phä­no­mens nicht ab­gibt (son­dern sie in ein, zwei Sät­zen weg­wischt) da­mit zu er­klä­ren, dass sie ihm zu be­lie­big, zu be­schrei­bend ist.

    Nas­sehi ant­wor­tet in Wirk­lich­keit gar nicht auf die Fra­ge, was »die Mit­te« ist. Meint er »Mit­te« der Ge­sell­schaft (Mit­tel­stand; Mit­tel­schicht) oder meint er die »po­li­ti­sche Mit­te«. Er pol­tert gleich los und nennt »die Mit­te« ei­nen »un­lo­gi­schen Ort«. Ich stel­le mir ge­ra­de den Jour­na­li­sten vor, der das wo­mög­lich zum er­sten Mal hört. Dar­über muss man erst ein­mal nach­den­ken, was aber nicht mög­lich ist, weil ja das Ge­spräch wei­ter­ge­hen muss.

    Im wei­te­ren Ver­lauf er­klärt Nas­sehi »die Mit­te« so biss­chen wie ein Prin­zip kom­mu­ni­zie­ren­der Röh­ren: Wenn aus der Mit­te her­aus die po­li­ti­schen Rän­der ge­wählt wer­den, dann wird die Mit­te »we­ni­ger«. So­dann spricht er von ei­ner »angst­ha­si­gen Kli­en­tel«, nimmt al­so Wer­tun­gen vor und ruft We­ber und Freud als Kron­zeu­gen. Das ist nichts an­de­res als hübsch for­mu­lier­te Auf­ge­bla­sen­heit. Er schaut dann noch ein biss­chen aus dem Fen­ster und auf Ber­lin und un­ter­stellt dann schließ­lich An­ders­den­ken­den Denk­faul­heit. Das kommt ei­nem dann ein biss­chen vor wie die Ge­schich­te mit dem Split­ter und dem Bal­ken.

    @Dieter Kief
    Ob die Kun­de von sol­chen For­schungs­fahr­ten dann z. B. Mül­ler er­reicht, ist mir fast ganz gleich­gül­tig.
    Ehr­lich ge­sagt: Mir nicht. Und das nicht nur et­was mit Ei­tel­keit zu tun, son­dern auch mit dem in­zwi­schen land­läu­fi­gen Mu­ster: In­ter­net = Quatsch­bu­de, Hass­po­stings, An­ony­mi­tät; im gün­stig­sten Fall Un­sinn. Schließ­lich ist die The­se im­mer noch vi­ru­lent, dass das Me­di­um die Bot­schaft ist (was ich für zu de­ter­mi­ni­stisch hal­te). Wenn ich Be­kann­ten sa­ge, ich ha­be ein po­li­ti­sches Buch in mei­nem Blog dis­ku­tiert, den­ken sie so­fort an ei­nen ent­hemm­ten, ob­szö­nen Dis­kurs oder an Ober­fläch­lich­kei­ten mit ganz viel Smi­leys. Dass es auch an­ders geht kommt den mei­sten gar nicht mehr in den Sinn.

  149. Ehr­lich ge­sagt: Mir nicht.

    Ich hat­te auf Ih­ren Vor­schlag hin der Re­dak­ti­on vom Phi­lo­so­phi­schen Ra­dio ei­nen Hin­weis auf die Sen­dung ge­schickt. Gun­di Gro­ße hat sich auch ar­tig be­dankt und dar­auf hin­ge­wie­sen, dass auch tat­säch­lich JWM der Gast sein wird. Die Sen­dung wur­de dann aber nur mit ei­nem aus Prin­ce­ton zu­ge­schal­te­tem Mül­ler ab­sol­viert. Ob die Re­dak­ti­on ihm sol­chen Hin­weis hat zu­kom­men las­sen? Wer weiss.

  150. Zeit, die Wet­ten ab­zu­schlie­ßen. Ich sa­ge eben­falls »Re­main« vor­aus, viel­leicht mit 55%. Selbst die Skla­ve­rei wur­de in Eng­land (Stich­wort: west­in­di­sche Han­dels­kom­pa­nie) zu Be­ginn des 19.Jahrhunderts noch mit öko­no­mi­schen Grün­den ver­tei­digt. Das sind im­mer über­zeu­gen­de Grün­de. Re­main for slavery!
    Die exi­sten­zi­el­le Kri­se der EU (Mar­tin Schulz) ist da­mit nicht über­wun­den. Die Ant­ago­ni­sten der Ver­än­de­rung, die Statt­hal­ter des Bun­des­staat­li­chen Pro­jekts wer­den sich ge­gen den Rück­bau weh­ren, aber das liegt in der Na­tur der Din­ge. Es muss wei­ter ge­strit­ten wer­den.

  151. @Joseph Bran­co
    Vie­len Dank.

    Frü­her hat­te ich ge­le­gent­lich ver­sucht, die Au­toren di­rekt zu be­nach­rich­ti­gen. An­fangs ka­men auch noch zu­wei­len Ant­wor­ten, aber in­zwi­schen geht so et­was un­ter. Das Phi­lo­so­phi­sche Ra­dio hat si­cher­lich ei­nen um Fak­tor 1000 grö­sse­ren Re­so­nanz­raum als ein Blog.

    @die_kalte_Sophie
    Schulz droh­te schon Schwei­zern, Grie­chen und Öster­rei­chern. Jetzt auch Bri­ten. Wer nicht so ab­stimmt wie Schulz be­kommt kei­nen Nach­tisch und ist min­de­stens ein An­ti­de­mo­krat oder noch et­was Schlim­me­res. Sol­che Leu­te sind Un­muts­be­scheu­ni­ger par ex­cel­lence.

    Ja, »it’s the eco­no­my, stu­pid« wie schon Clin­ton sei­nen Wahl­kampf­ma­na­gern ge­sagt ha­ben soll. Auch hier al­so Droh­ge­bär­den. Ein Wahl­kampf, der Schlim­me­res ver­hin­dern soll. EU-Eu­pho­rie ist das nicht. Aber ein 1:0‑Sieg reicht ja.

  152. Dan­ke, Dok­tor. Ich ha­be so­gar ei­ne Stel­le ge­fun­den, die sich auf mei­ne Ein­wän­de be­zieht, Mül­ler sagt:
    Aber mein Be­griffs­an­ge­bot soll ja ge­ra­de ver­mei­den, un­ter­kom­ple­xe Po­li­tik und Frem­den­feind­lich­keit mit Po­pu­lis­mus in eins zu set­zen
    Da­ge­gen hat­te ich den Po­pu­lis­mus als den »Wil­len der Po­li­tik« der ein­fa­chen Leu­te auf der Ba­sis von ver­dräng­ten The­men von vi­ta­ler Be­deu­tung de­fi­niert.
    Das heißt: ganz oh­ne Fra­ge kann man »un­ter­kom­ple­xe Po­li­tik und Frem­den­feind­lich­keit mit (Rechts)Populismus in ei­nes set­zen«.
    Ich muss­te je­den­falls lä­cheln. Mei­ner Mei­nung nach ge­hen Mül­lers Be­griffs­an­ge­bo­te doch stark mit den Ver­drän­gungs­an­ge­bo­ten der kon­ven­tio­nel­len Po­li­tik kon­form.
    Wir le­sen die For­schungs­er­geb­nis­se von Put­nam, Col­lier, etc. Na­ja, ir­gend­wie be­dau­er­lich.
    Wir le­sen die Jah­res­wirt­schafts­be­rich­te des ifo-In­sti­tuts. Na­ja, ir­gend­wie be­dau­er­lich.
    Dass nur ja nicht je­mand auf die Idee kommt, ein un­ter­kom­ple­xes Po­li­tik­an­ge­bot zu die­sen be­dau­er­li­chen Ent­wick­lun­gen zu for­mu­lie­ren...
    Das darf nicht.

  153. @ Doc­tor D »&« die_kalte_sophie

    Paul Col­lier, Ro­bert D. Put­nam, Ru­ud Ko­op­mans – al­les mül­lersche Leer­stel­len.
    Auch Die­ter Grimm und Di Fa­bio.

    (Bei Put­nam ist es mitt­ler­wei­le so, dass er in den USA mit sei­nen so­zi­al­psy­cho­lo­gi­schen Vor­be­hal­ten ge­gen den Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus fast nur noch von Au­ssen­sei­tern oder ex­pli­zit rech­ten Schrei­be­rIn­nen zi­tiert wird).

    Ich will den Schlink-Be­zug von wei­ter oben noch durch ein Zi­tat ver­deut­li­chen:

    Zi­tat zur EU – Ver­fas­sung aus dem Mer­kur Nr. 6 / 2016, S. 15, in dem Ar­ti­kel »Grech­tig­keit«

    »Bei der eu­ro­päi­schen Uni­on füh­ren die bei­den ge­gen­läu­fi­gen Prin­zi­pi­en der Gleich­heit der Mit­glieds­staa­ten und der Gleich­heit der Bür­ger und Bür­ge­rin­nen zu Kom­pro­mis­sen, die für bei­de Sei­ten be­gründ­bar und ver­mit­tel­bar sein sol­len, aber nicht sind, und hal­ten da­mit ein un­ge­lö­stes Ver­fas­sungs­pro­blem vi­ru­lent.«

    Das schließt naht­los an Grimm und Di Fa­bio an, wie ich fin­de, auch wenn es auf ex­trem lei­sen Soh­len da­her­kommt. Der Ar­ti­kel klingt dann aus mit ei­nem Ap­pell an die Barm­her­zig­keit ge­gen­über Flücht­lin­gen; al­so: Al­lein Flücht­lin­ge wer­den da er­wähnt. Schlink wird sich, wie ich wohl zu­recht an­neh­me, et­was da­bei ge­dacht ha­ben.

  154. Bin­go. Da kann ich nur Uli Jör­ges (Stern) zi­tie­ren: Vor­sicht bei al­len Um­fra­gen, die mit dem The­ma »Mi­gra­ti­on« zu tun ha­ben.
    Ich bin über die Ma­ßen über­rascht, ver­är­gert, füh­le mich gleich­zei­tig be­stä­tigt und rat­los, was die Zu­kunft der EU an­be­langt.
    Ei­nen wun­der­ba­ren Satz ha­be ich üb­ri­gens aus dem Netz ge­fischt.
    Es war Chri­sti­an Nit­sche, Chef-Re­dak­teur auf Tagesschau.de, der sei­nen Kom­men­tar zum Brexit al­len Ern­stes mit dem Satz be­ginnt:
    »Dies ist der de­pri­mie­rend­ste Tag seit der Deut­schen Wie­der­ver­ei­ni­gung.«
    [In­zwi­schen wur­de der Wort­laut ge­än­dert, man hört es selbst in der Ver­bes­se­rung noch Hol­pern, aber heu­te mit­tag stand der Satz im Netz.]

  155. @ me­te, gu­ter Gag. Bil­lig-Un­ter­hal­tung für Pay-TV-Kon­su­men­ten ge­si­chert.
    In­zwi­schen nimmt die Ka­ta­stro­phe, die Ti­mo­thy Gar­ton Ash an­ge­kün­digt hat, ih­ren Lauf. Schott­land be­rei­tet ein zwei­tes Un­ab­hän­gig­keits-Re­fe­ren­dum vor. Ein Alp­traum, der in der po­li­ti­schen Pres­se nicht im Ent­fern­te­sten mit der Deut­schen Re­gie­rung in Ver­bin­dung ge­bracht wird. Ich be­an­tra­ge, in ein künst­li­ches Ko­ma ver­setzt zu wer­den. Weckt mich, wenn die EU Ge­schich­te ist.

  156. die_kalte_Sophie
    Die­se Form des Links­po­pu­lis­mus kommt ja bei den Eu­ro­pä­ern sehr gut an. End­lich zeigt ih­nen mal je­mand, dass man sie mag. Wie das öko­no­misch funk­tio­nie­ren soll, weiss nie­mand (Bri­ti­sches ‎£ oder ein ei­ge­nes, Schot­ti­sches ‎£ oder Mo­dell Mon­te­ne­gro, al­so den € oh­ne Mit­spra­che?). Dem­nächst noch Ka­ta­la­ni­en.

  157. @die_kalte_sophie 162

    gu­ter Gag – hat schon für vie­le ver­blüff­te Ge­sich­ter ge­sorgt. Gra­zie!
    – Der Ge­dan­ke, wie er wahr­schein­lich ge­meint war:
    »Der Tag fühlt sich so schlecht an wie der Tag des Mau­er­falls gut.«
    T G Ash

    Per­fekt auch die öf­fent­li­che Stel­lung­nah­me ei­nes lin­ken re­gio­na­len Kul­tur­ex­po­nen­ten ge­stern Nacht hier am See: Ka­ta­stro­phe, tar­u­ri­ger Tag usw.
    Jetzt muß man noch da­zu sa­gen, dass er sich pri­vat da­zu ent­schlos­sen hat, ein paar Ki­lo­me­ter jen­seits der Gren­ze in der steu­er­gün­sti­gen und be­stens re­gier­ten EU-fer­nen Schweiz zu lo­gie­ren, vor Jah­ren schon.
    Mein Wunsch: Dass man der­lei ge­dan­ken­lo­ses Links­sein per Ge­setz re­gelt. So 500 Eu­ro Geld­stra­fe fürs er­ste wä­ren schön. Von mir aus auch über den Eu­GH.

    Eben­falls gut, aber von heu­te, Mann Mit­tel­schicht aus Chi­ca­go: Nun ja, man braucht sich nur klar­zu­ma­chen, dass Trump da­für ist, dann weiß man ge­nug.

  158. Wg. Brexit und Po­pu­lis­mus

    Hier geht das Po­pu­lis­mus-The­ma wei­ter im Ge­spräch zwi­schen Gast­ge­ber Ste­fan Klap­p­roth, dem eng­li­schen Jour­na­li­sten Haig Si­mo­ni­an (The Eco­no­mist) und der Po­li­to­lo­gin Ul­ri­ke Gué­rot (ehe­dem Frak­ti­ons-As­si­sten­tin der CDU im Bun­des­tag) in der Sen­dung Stern­stun­de Phi­lo­so­phie im Schwei­ze­ri­schen Fern­se­hen.

    Der sy­ste­ma­tisch wich­ti­ge Punkt, auf den Gué­rot aus­führ­lich zu spre­chen kommt, ist die Tat­sa­che, dass die EU k e i n e an­ge­mes­se­ne de­mo­kra­ti­sche Struk­tur ha­be. Gué­rot be­greift, dass es des­halb nicht ge­scheit ist, zwi­schen Fa­ra­ge, Wil­ders, Le Pen und Ha­ber­mas ei­nen grund­sätz­li­chen Un­ter­schied zu ma­chen, was die­se Kritk an der EU an­geht.
    Die weit­hin ge­sun­ge­ne Me­lo­die lau­tet: Die Bö­sen ent­lar­ven, die kon­struk­ti­ven Kri­ti­ker ho­fie­ren. Ha­ber­mas kriegt Prei­se, die eu­ro­päi­sche Rech­te kriegt Haue. Die Poin­te, die Mül­ler ent­geht: Es be­steht zwi­schen den rech­ten Kri­ti­kern der EU und den lin­ken wie Ha­ber­mas (oder Gimm – oder Schlink) k e i n sub­stan­ti­el­ler Un­ter­schied.
    In­so­fern ist es fast ein we­nig scha­de, dass wir un­se­re lan­gen Epi­steln letz­te und vor­letz­te Wo­che schon ge­schrie­ben ha­ben: Heu­te bräuch­te man vie­les gar nicht mehr er­ör­tern, son­dern könn­te gleich auf die­sen Link ver­wei­sen***:

    http://www.srf.ch/sendungen/sternstunde-philosophie/ein-koenigreich-fuer-ein-neues-europa

    *** Die al­ler­glei­che Ge­schich­te wür­de ich per­sön­lich aber lie­ber in die­ser Fas­sung er­zäh­len: Lie­ber Herr Keu­sch­nig: Bes­ser hät­ten Sie un­se­re De­bat­te nicht in­iti­ie­ren und ter­mi­nie­ren kön­nen. Wahr­schein­lich auch des­we­gen war sie so frucht­brin­gend!

  159. @Dieter Kief
    Gué­rot ist ei­ne Ideo­lo­gin; ich kann ihr nicht ein­mal mehr zu­hö­ren. Sie plä­diert für ei­ne Eu­ro­päi­sche Re­pu­blik (wenn auch als Vi­si­on). Hier wird ihr dies­be­züg­li­ches Buch vor­ge­stellt (das Co­ver ist al­ler­dings ge­ni­al), üb­ri­gens nicht oh­ne dar­auf hin­zu­wei­sen, dass sie bei ih­ren Rei­sen fest­ge­stellt hat, dass 70% der Leu­te »Eu­ro­pa« wol­len. Lei­der wird da­bei im­mer ver­ges­sen, dass sich je­der un­ter »Eu­ro­pa« et­was an­de­res vor­stellt.

  160. @ Gre­gor Keu­sch­nig

    Ja, das Buch zielt sy­stem­theo­re­tisch ab­ge­fe­dert auf das Jahr 2045. Das ist so­weit in Ord­nung.
    Und ja: Sie hat in Sa­chen Ein­wan­de­rung im­mer noch die ro­sa Bril­le auf.
    Bleibt nur noch, was sie heu­te in Be­zug auf die Le­gi­ti­ma­ti­ons­lücken der EU ge­sagt hat. Auch mit Be­zug auf ihr Buch.
    Was Sie wei­ter oben schon an­ge­spro­chen ha­ben – hier wur­de ja prak­tisch al­les be­reits an­ge­spro­chen... dass die Eli­ten mit dem struk­tu­rel­len Le­gi­ti­ma­ti­ons­de­fi­zit auch ganz fröh­lich acker­ten, nach dem Mot­to: Dann re­det uns der Plebs we­nig­sten nicht rein, hat Gué­rot heu­te kon­ze­diert. Und das schö­ne ist dann ja bei sol­chen Leu­ten, die den gan­zen Tag nichts an­de­res ma­chen, als die­se paar Fra­gen hin- und he zu wen­den, dass sie, wenn sie nur ein­mal so­weit sind, be­stimm­te The­sen zu ak­zep­tie­ren: Hand­kehrum, wie die Schwei­ze­rin sagt, die al­ler­be­sten Bei­spie­le pa­rat ha­ben. Heu­te für mich neu in die­sem An­ge­bots­kof­fer: Die gan­zen UTB-Ta­schen­bü­cher »Ein­füh­rung in die EU« usw. tra­die­ren die For­mel: Die EU sei ei­ne Kör­per­schaft »sui ge­ne­ris«. Und nun lässt Gué­rot den Vor­hang hoch: Da­mit drücke man nichts an­de­res aus, als dass die Macht des sanf­ten Mon­sters – ei­ne Kopf­ge­burt oh­ne hin­rei­chen­de de­mo­kra­ti­sche Kon­trol­le ist.
    Der Mo­de­ra­tor Klap­p­roth war in die­ser Si­tua­ti­on gei­stes­ge­gen­wär­tig und er­in­ner­te sich, die­sen Punkt ge­gen­über Josch­ka Fi­scher an­ge­spro­chen zu ha­ben, wor­auf die­ser zu sei­nem (des Mo­de­ra­tors) Er­stau­nen ein­räum­te, dass es nicht das schlech­te­ste sei, dass man auf EU-Ebe­ne hie und da ha­be schal­ten und wal­ten kön­nen, oh­ne dass ei­nem groß ei­ner da­zwi­schen­re­de­te. De­mo­kra­tie­de­fi­zit: Nun­ja. Aber an­ders geht es nicht.
    Da war die Gué­rot dann wie­der ziem­lich hilf­los, weil sie Be­schleu­ni­gungs­kla­gen (al­so Kul­tur­kri­tik) mit der Sphä­re des De­mo­kra­tie­de­fi­zits zu­sam­men­brach­te. Das gibt zwar schö­ne Ge­schich­ten über die Sor­gen der me­di­zi­ni­schen For­schung an­ge­sichts schwan­ge­rer Frau­en in Ei­sen­bah­nen um die Jahr­hun­dert­wen­de, hat aber ei­gent­lich nichts mehr mit Po­li­tik zu tun. Al­len­falls ei­ne Sach­zwang-Me­ta­pher wür­de man hier noch gel­ten las­sen wol­len. Aber Gué­rot mein­te das ir­gend­wie Sub­stan­tia­li­stisch. Da war dann der wirk­lich trocke­ne Haig Si­mo­ni­an am Zug, und ließ der dampf­plau­de­rin die Luft raus. Zischsch.
    Ich ha­be auch fast ein­mal ei­ne Gué­rot-All­er­gie ent­wickelt, bin aber mitt­ler­wei­le da­von we­nig­stens ku­riert.

    Ach noch ei­ne Fuß­no­te wg. Brexit: Ge­org Diez (ich weiß, ich weiß – aber man soll sich über das Ge­fie­der des Vö­gel­chens im Me­di­en-Berg­werk nicht so­vie­le Ge­dan­ken ma­chen, so er­mun­te­re ich mich von Zeit zu Zeit) – Diez al­so ist ernst­haft ge­kränkt, und zeigt sich da­mit ein­ver­stan­den, dass Eu­ro­pa ganz den Bach run­ter geht – heu­te auf spon:

    »Wenn Eu­ro­pa sei­ne ei­ge­nen Wer­te ver­rät, ist es nicht Wert zu über­le­ben.«

    Ein Blitz und Don­ner­hall! »Ge­org« Zeus »Diez«.

  161. @ Gre­gor Keu­sch­nig

    Call me cra­zy – aber ich fin­de da ei­ne Par­al­le­le zu Schäub­le.
    Mei­nen ge­sun­den Nacht­schlaf ret­tet wie so oft ein ka­no­ni­scher Geist: Heu­te: Ni­ko­laus von Kues.

  162. zu #167. Dan­ke für die »Stern­stun­de«. Die­sen Vo­gel Gué­rot woll­te ich mir mal aus der Nä­he an­schau­en. Aus ei­nem Ar­ti­kel in der FAZ hat­te ich schon ei­nen er­sten Ein­druck... Idea­li­stin, voll­ge­stopft mit Ver­satz­stücken aus Se­kun­där-Li­te­ra­tur und Pres­se, will die üb­li­chen Be­loh­nun­gen für De­mo­kra­tie-Be­grün­der und Ver­tei­di­ger ab­grei­fen. Sie schreibt bes­ser als sie spricht, denn das Ge­rüst der Gram­ma­tik beim Schrei­ben hat so ein lo­ses Den­ken drin­gend nö­tig.

  163. In der öster­rei­chi­schen Zei­tung »Die Pres­se« kann man die be­reits an­ge­spro­che­ne Dis­kre­panz (Ent­täu­schung oder Ent­frem­dung) zwi­schen Po­li­tik und Bür­gern bzw. Jour­na­li­sten und Bür­gern be­ob­ach­ten (ein fürch­ter­li­cher Ar­ti­kel und ei­ni­ge Kom­men­ta­re da­zu). — Ob die af­fir­ma­ti­ve Nä­he man­cher Jour­na­li­sten zu Po­li­tik und Macht die­sen nicht ir­gend­wann ein­mal pein­lich wird?

  164. Der EU das Nicht­er­rei­chen il­lu­sio­nä­rer Zie­le vor­zu­wer­fen, ist jetzt aber eher das Pro­blem des Au­tors. Ein­fach da­mit zu le­ben, wie Bots­wa­na be­han­delt zu wer­den, wä­re ja OK. Die Brex­ti­te­ers ha­ben aber ver­spro­chen al­le Vor­tei­le zu be­hal­ten und die Nach­tei­le ab­zu­ge­ben. Cher­ry picking se­he ich nicht als ver­tret­ba­re Al­ter­na­ti­ve und soll­te auch so ge­nannt wer­den. Wohl­feil ist das nicht, zu­mal die Bri­ten schon ei­nen gan­zen Sack voll Son­der­re­geln aus­ge­han­delt hat­ten.

  165. @Joseph Bran­co
    Na­ja, so schlimm wie Bots­wa­na wird’s wohl nicht wer­den. Eher wie Nor­we­gen und die Schweiz: Man sitzt nicht mehr am Tisch und kann nur zu­stim­men oder ab­leh­nen. Wohl­feil ist das Bas­hing da­hin­ge­hend, dass man den Bri­ten per se un­ter­stellt, sie sei­en zu dumm ge­we­sen. Parks hat da­hin­ge­hend Recht, dass die EU (nicht nur un GB) für nichts Po­si­ti­ves steht. Das »Frie­dens­mo­dell« wird als sol­ches nicht mehr wahr­ge­nom­men; die Frie­den ist so­zu­sa­gen selbst­ver­ständ­lich ge­wor­den.

    Dass es die Bri­ten sel­ber wa­ren, die Ge­stal­tung ei­ner wei­ter­ge­hen­den In­te­gra­ti­on ver­hin­dert ha­ben, müss­te man viel­leicht auch ein­mal er­wäh­nen. Lässt man die Ost­eu­ro­pä­er Ru­mä­ni­en und Bul­ga­ri­en mal weg, war GB das ein­zi­ge Land, dass we­der im Eu­ro- noch im Schen­gen-Raum ak­tiv war. Selbst Ir­land (Nicht-Schen­gen) hat den Eu­ro. GB war im­mer sehr weit weg und war, um Mer­kel zu zi­tie­ren, im­mer schon ein Ro­si­nen­picker ge­we­sen. Aber es war ein gro­ßer Skalp am Gür­tel der Eu­ro­päi­schen Uni­on.

    Ei­ni­ge Brexi­ter hat­ten ja schon vor­her als Mög­lich­keit an­ge­kün­digt, das Vo­tum in neue Ver­hand­lun­gen ein­zu­brin­gen. Da­her sag­te Ca­me­ron im Wahl­kampf ja, dass es nur die­se ei­ne Chan­ce ge­be. Aber das schreck­te eben nicht ab.

    Wir wer­den se­hen, ob den Bri­ten nicht wie­der ein­mal Son­der­kon­di­tio­nen ein­ge­räumt wer­den: Frei­er Zu­gang zum Markt oh­ne den Punkt Nie­der­las­sungs­frei­heit zum Bei­spiel. Im Mo­ment übt man sich noch in Ab­schreckung und es wird jetzt hef­tig de­men­tiert, aber zu Be­ginn der Grie­chen­land-Kri­se bei­spiels­wei­se wur­den eben­falls Ak­tio­nen aus­ge­schlos­sen, die man ei­ni­ge Mo­na­te spä­ter als al­ter­na­tiv­los dar­stell­te. Na­tür­lich sind bei­de Er­eig­nis­se nicht zu ver­glei­chen, aber es war ja im­mer ei­ne Ei­gen­schaft der Eu­ro­kra­ten, dass sie fle­xi­bel re­agie­ren konn­ten.

  166. Al­so, ich se­he die Si­tua­ti­on nach dem BREXIT als un­zwei­deu­tig. Die ober­fläch­li­chen Kom­men­ta­re von Po­li­ti­kern (kei­ne Ro­si­nen) sind doch nur pu­bli­zier­te Ant­wor­ten auf ex­trem zu­ge­spitz­te Fra­gen. Nein, GB wird ei­nen »Son­der­sta­tus« er­hal­ten, und der dürf­te den Zu­gang zum Bin­nen­markt wohl ein­schlie­ßen. Die Frei­zü­gig­keit und die Nie­der­las­sungs­frei­heit fällt weg, aber das war ja auch der Sinn der Sa­che.
    @ Jo­seph. Die Krän­kung zielt na­tür­lich ge­nau auf die­se letz­ten bei­de Punk­te. Die Po­len. Die il­le­ga­len Ein­wan­de­rer. Das ist zwar nur das Feld »Ar­beit & So­zia­les«, aber die Ab­leh­nung der Vor­ga­ben aus Brüs­sel be­zieht sich di­rekt auf die Fra­ge der Kom­pen­ten­zen. Und die seit Maas­tricht of­fe­ne Fra­ge der Sub­si­dia­ri­tät. Das wur­de nie ge­löst, die Fra­ge: Wenn die na­tio­na­le Ebe­ne ent­schei­det, und die Kom­mis­si­on ei­ne Kla­ge vor dem EU­Gh ein­reicht, wie ist das Ur­teil dann zu be­wer­ten?! D.h. die In­ter­de­pen­denz von Exe­ku­ti­ve und Le­gis­la­ti­ve ist bis auf den heu­ti­gen Tag of­fen. Ich kann mir vor­stel­len, dass vie­le Bri­ten ge­nau wie ei­ni­ge Deut­sche die­ses Roh-Ge­bil­de der Ge­wal­ten­tei­lung (na­ja!) al­bern fin­den. Es ent­spricht ei­gent­lich nicht dem Ent­wick­lungs­stand der Na­tio­nal­staa­ten, struk­tu­rell ge­se­hen, ist das ein »Ent­wick­lungs­ge­biet«.
    Und wer heu­te noch die Chuz­pe hät­te zu sa­gen: Na­ja, das ist ja ge­ra­de der Pro­zess der ver­tief­ten Ei­ni­gung, der wä­re mei­nes Er­ach­tens fast schon ein Lüg­ner. Will sa­gen, ich se­he durch­aus ord­nungs­po­li­ti­sche Grün­de, die EU zu ver­las­sen.

  167. @die_kalte_Sophie
    Die ord­nungs­po­li­ti­schen Grün­de, die EU zu ver­las­sen, kann man se­hen. Aber die spiel­ten in dem Wahl­kampf kei­ne Rol­le. Statt­des­sen wur­de das hier pla­ka­tiert.

    Die Ent­schei­dung, aus der EU aus­zu­tre­ten, ist zu re­spek­tie­ren, aber sie ist auf die Zu­kunft ge­se­hen ei­ne gro­ße po­li­ti­sche Dumm­heit. Ge­ra­de für ei­ne Volks­wirt­schaft die auf Glo­ba­li­sie­rung an­ge­wie­sen ist, dürf­te es ein Rück­schritt sein. Die Fra­ge ist jetzt, ob man von sei­ten der EU den not­wen­di­gen Schnitt un­ter­nimmt. Und da ha­be ich mei­ne Zwei­fel. Und da­mit wür­de der Brexit nach­träg­lich le­gi­ti­miert.

  168. @Gregor Keu­sch­nig

    Was ich auch ge­se­hen ha­be, ist, dass z.B. Gi­se­la Stuart, vor­her gern ge­se­he­ner In­ter­view­part­ner, plötz­lich nicht mehr vor­kam. Wahr­schein­lich dass gleich Pro­blem, wie mit Lu­ke etc. bei uns. Man hat­te wohl Angst Fa­ra­ge im­mer im Hin­ter­kopf mit­zu­den­ken.

    Und die Fra­ge der Dumm­heit se­he ich et­was an­ders. Hät­ten 2% der Bri­ten an­ders ab­ge­stimmt, wä­re die La­ge an­ders. Wie hoch ist der An­teil de­rer, die sich durch Lü­gen (NHS) ha­ben kö­dern las­sen, wie­vie­le ha­ben den Ver­spre­chen ge­glaubt, dass die Po­len am näch­sten Tag nach Hau­se ge­schickt wer­den und noch schlim­mer die an­geb­lich eu­ro­pa­freund­li­che Ju­gend, die es aber nicht in die Wahl­lo­ka­le ge­schafft hat. Da war Dumm­heit dann viel­leicht doch letzt­end­lich der aus­schlag­ge­ben­de Fak­tor.

    Nicht dass ich auf die Bri­ten nicht ver­zich­ten könn­te, wahr­schein­lich wa­ren sie in Sum­me mehr Stör­fak­tor als hilf­reich. Et­was mehr gu­ter Wil­len, hät­te aber si­cher­lich nicht ge­scha­det. Ein Her­zens­pro­jekt wird Eu­ro­pa wohl nie wer­den.

    @die_kalte_Sophie

    Die Si­tua­ti­on se­he ich mo­men­tan sehr of­fen, prak­tisch Spiel­theo­rie. Die Bri­ten kön­nen durch das Trig­gern nur ver­lie­ren, weil sie dann je­den Tag stär­ker un­ter Druck ge­ra­ten, Kom­pro­mis­se schlie­ßen zu müs­sen. Da­her die Zö­ger­lich­keit. Die EU darf un­ter kei­nen Um­stän­den an­fan­gen zu ver­han­deln, be­vor der Pro­zess be­gon­nen hat. Da­her das Ver­bot von Jun­cker. Das hat Mer­kel dann ein paar Ta­ge spä­ter auch ver­stan­den, oder ver­stan­den be­kom­men. Ner­ven­sa­che.

    Auch wenn Deutsch­land we­gen Au­tos und so mas­siv Ein­fluss neh­men wird , kann ich mir nicht vor­stel­len, dass auf Frei­zü­gig­keit und Nie­der­las­sungs­frei­heit ver­zich­tet wird. Dass hat Nor­we­gen nicht und die Schweiz spürt ge­ra­de die Kon­se­quen­zen ih­rer Volks­ab­stim­mung. Auch da hat Mer­kel sich so in Po­se ge­stellt, dass es kaum ei­nen Weg oh­ne Ge­sichts­ver­lust zu­rück gibt.

    Das größ­te Pro­blem bleibt in der Tat das Ver­hält­nis zwi­schen Eu­GH und den na­tio­na­len Ver­fas­sungs­ge­rich­ten. Seit das ita­lie­ni­sche Ver­fas­sungs­ge­richt in ei­nem (öko­no­mi­schen) Streit ge­gen den Eu­GH den Kür­ze­ren ge­zo­gen hat, be­lau­ert man sich wie zwei Pan­ther im Kä­fig, die sich nicht trau­en ein Er­geb­nis zu er­zwin­gen (ge­ra­de wie­der ge­se­hen, we­gen OMT).

    Das hört sich viel­leicht so an, dass mich das »eu­opäi­sche Pro­jekt« wei­ter be­gei­stern wür­de, aber das war ein­mal. Heu­te bin ich nur noch prag­ma­tisch, se­he schlicht mehr Vor- als Nach­tei­le. Mer­kels über­heb­li­ches »Wir schaf­fen das« hat die Axt an die Ba­sis Eu­ro­pas ge­legt, qua­si »Am deut­schen We­sen soll die Welt ge­ne­sen«. Das hat zu ei­nem un­glaub­li­chen Un­mut in Eu­ro­pa ge­führt, der in un­se­ren Me­di­en prak­tisch nicht vor­kam (s. In­dex­ing bei Uwe Krü­ger). In GB wur­de da schon nicht mehr zwi­schen Po­len und Sy­rern un­ter­schie­den. Wenn ich jetzt Jun­cker hö­re, der die Ab­stim­mung über CETA als EU on­ly de­kla­riert, dann aber läs­sig ein »mir doch schnurz­piep egal« nach­schiebt, kann man schon verwei­feln.

  169. @Joseph Bran­co
    Nur kurz: Mit Dumm­heit meint ist nicht die Wäh­ler, son­dern die stra­te­gi­sche Dumm­heit aus ei­nem Ver­ein aus­zu­tre­ten, statt ihn ihm zu blei­ben, um ihn zu ver­än­dern. Dass 51,9% der Bri­ten nicht so stra­te­gisch ge­dacht ha­ben, wird ih­nen viel­leicht ein­mal auf die Fü­ße fal­len.

  170. Als ich das Pla­kat von Nigel Fa­ra­ge um er­sten Mal in ei­nem TV-Be­richt aus Lon­don ge­se­hen ha­be, rie­sig, ge­klebt auf ei­nem Lkw, war ich schockiert. An­de­rer­seits ha­be ich im letz­ten Jahr sehr wohl zur Kennt­nis ge­nom­men, dass im­mer die »rich­ti­gen Bil­der« den Bou­le­vard und die po­li­ti­sche Öf­fent­lich­keit in Deutsch­land er­reicht ha­ben. Das ist ja auch nicht ganz oh­ne Rück­sicht auf die Emo­tio­nen ge­sche­hen.
    Ich muss sa­gen, im Mo­ment wei­ge­re ich mich so gut es geht, po­li­ti­sche Emo­tio­nen an mich ran­zu­las­sen. Ich sa­ge mir: bei­de La­ger ha­ben recht. Die Men­schen­freun­de, die das Di­lem­ma zwi­schen »Kon­trol­le« und »In­te­gra­ti­ons­po­li­tik« mög­lichst weit­räu­mig um­ge­hen, in dem sie auf Kon­trol­le ver­zich­ten.
    Und die Na­tio­na­li­sten ha­ben auch recht: Po­li­tik setzt Bünd­nis­se vor­aus, die in der Le­bens­welt ver­an­kert sind. Und da sor­tie­ren sich nun mal die Kul­tu­ren. Am En­de rührt ei­ne völ­li­ge Ver­mi­schung der Kul­tu­ren so­gar an ei­nen Pol des Po­li­ti­schen als sol­chem. Es ist (glau­be ich) nicht falsch wenn auch theo­re­tisch im­mer noch um­strit­ten, wenn man sagt, dass nur ei­ne streng ideo­lo­gisch ori­en­tier­te Po­li­tik in der La­ge ist, die­se ata­vi­sti­schen Vor­aus­set­zun­gen zu über­schrei­ten. Das sind Ver­hält­nis­se wie bei Pest und Cho­le­ra. Na­tür­lich wech­seln die Pro­fi-Po­li­ti­ker die Ar­gu­men­ta­tio­nen wie ih­re Hem­den, aber ein Skan­dal ent­steht erst durch die Ver­ein­sei­ti­gung.
    Um nicht miss­ver­stan­den zu wer­den: ich mei­ne nicht nur die So­zis. Ich hal­te auch den Li­be­ra­lis­mus für ei­ne Ideo­lo­gie, des­sen Wert ge­wis­ser­ma­ßen in der Über­win­dung der ata­vi­sti­schen Vor­aus­set­zun­gen be­ruht, und des­sen Uto­pie so­gar in ei­nem Ver­schwin­den der Macht gip­felt, zu­gun­sten ei­ner Ge­sell­schaft des rei­nen Funk­tio­nie­rens. Ei­ne durch und durch le­ben­di­ge Ideo­lo­gie...

  171. @ Jo­seph. Rich­tig, die ein­zi­ge ver­nünf­ti­ge Form der Po­li­tik be­steht in Ab­wä­gun­gen und Fra­gen der Pra­xis. Die Ge­set­ze müs­sen aus der Pra­xis kom­men. Auf der ideo­lo­gi­schen Ebe­ne (ger­ne auch »Nar­ra­tiv« ge­nannt«) gibt es nichts zu lö­sen und nichts zu ge­win­nen.

  172. @die_kalte_Sophie
    »Nar­ra­tiv« kann man zwei­deu­tig le­sen. Zum ei­nen als »ideo­lo­gisch«. Aber ich wür­de es eher als den Wunsch se­hen, ei­ne emo­tio­na­le Ba­sis zu er­zeu­gen. Das ist bei ei­nem sol­chen Pro­jekt wie der EU sehr schwie­rig, weil sich im­mer nur die Nach­tei­le zei­gen (dum­me Ver­ord­nun­gen, Re­gu­lie­rungs­wut). Die Nach­bes­se­run­gen auf das Po­si­ti­ve er­schöpft sich in den ge­fal­le­nen Roa­ming-Ta­ri­fen. Al­les an­de­re wird wie selbst­ver­ständ­lich auf­ge­nom­men.

    Das Pro­blem der EU-Ideo­lo­gie ist dar­in zu se­hen, dass kul­tu­rel­le Un­ter­schie­de, die ja be­rei­chernd sein kön­nen, ni­vel­liert wer­den. Statt die öko­no­mi­schen Un­gleich­hei­ten zu be­sei­ti­gen wur­den und wer­den die kul­tu­rel­len Ei­gen­hei­ten so­zu­sa­gen von oben ab­ge­schafft. Dies bringt Na­tio­na­li­sten auf den Plan, die nun leid­lich ge­gen Brüs­sel wet­tern kön­nen.

    Die Po­len, die in GB le­ben, ar­bei­ten dort auch al­le; die Wer­bung mit der Schlan­ge von Flücht­lin­gen von Farra­ge war da­her nichts an­de­res als Volks­ver­het­zung.

  173. »EU-Ideo­lo­gie« ge­fällt mir. Ich se­he kei­nen ein­deu­ti­gen funk­tio­na­len Un­ter­schied zwi­schen der Be­mü­hung ei­nes Nar­ra­tivs und der stän­di­gen Wie­der­ho­lung von Kampf­be­grif­fen bzw. un­rea­li­sti­schen Phra­sen. Ge­nau des­halb re­agie­re auf die Ver­füh­rungs-Ver­su­che all­er­gisch. Das will Zu­stim­mung, Fra­ter­ni­tät, oh­ne Sinn und Ziel. Sieht ver­dammt wie ei­ne Ideo­lo­gie aus, wenn ihr mich fragt...
    Und ja, wir dre­hen uns im Kreis, aber es bleibt auch nichts an­de­res üb­rig: die Kul­tu­ren sind na­tio­nal oder re­gio­nal ver­an­kert, da hat die EU nichts ver­lo­ren. Al­len­falls be­wirkt sie Zer­stö­run­gen. »Kul­tur ist Län­der­sa­che«, sagt man in Deutsch­land ganz pro­bat. Das wä­re sub­si­di­är zu re­spek­tie­ren.
    Ich muss noch was zu dem Ver­mi­schungs­pro­blem sa­gen: ir­gend­wie wer­de ich den Ein­druck nicht los, dass man in Deutsch­land Kul­tur und Re­li­gi­on als Pri­vat­be­sitz be­trach­tet, der frik­ti­ons­frei den »Mo­bi­li­täts­axio­men der Glo­ba­li­sie­rung« ge­horcht. Will hei­ßen: nimm dei­ne Kul­tur, nimm dei­ne Re­li­gi­on, und geh’ wo­hin Du willst, mut­maß­lich aus öko­no­mi­schen Grün­den. In­ter­es­san­ter­wei­se geht bei­des nicht: die Im­mi­gran­ten ver­küm­mern in ei­nem fremd­ar­ti­gen Mi­lieu, die Söh­ne wer­den Sa­la­fi­sten, und die Eu­ro­päi­schen Aus­wan­de­rer neh­men (in der Ein­zel­be­trach­tung) so gut wie nichts mit, es sei denn, sie sam­meln sich in Ko­lo­nien und Com­mu­ni­ties (sie­he U.S.A.), was auch wie­der den Be­stand si­chert. Es gibt m.M.n. we­der ein Mi­schungs­pro­blem noch ein Zu­ge­hö­rig­keits­pro­blem zwi­schen den Kul­tu­ren. Aber ei­ne Ver­ar­mung gibt es durch­aus, und die­se wie­der­um wird von die­ser Be­sitz­stands-Ruck­sack-Men­ta­li­tät so­gar be­feu­ert, in­dem man den Leu­ten weis­macht: öko­no­mi­sche Vor­tei­le gibt’s oh­ne Nach­teil in an­de­ren Le­bens­be­rei­chen. Das wä­re frei­lich schön.
    Zy­nisch: Kommt al­le nach Eu­ro­pa, wenn ihr ver­ges­sen wollt, wer ihr seid...

  174. @die_kalte_Sophie
    ir­gend­wie wer­de ich den Ein­druck nicht los, dass man in Deutsch­land Kul­tur und Re­li­gi­on als Pri­vat­be­sitz be­trach­tet, der frik­ti­ons­frei den »Mo­bi­li­täts­axio­men der Glo­ba­li­sie­rung« ge­horcht.
    Das ist ei­ne gu­te und wie ich glau­be rich­ti­ge Be­ob­ach­tung. Sie zeigt sich u. a. auch dar­in, dass man kei­ner­lei mo­ra­li­sche Skru­pel im Han­del mit be­stimm­ten Staa­ten und/oder an­de­ren zwei­fel­haf­ten Sy­ste­men kennt. Al­les ist »Pri­vat­sa­che«; wird am Rand viel­leicht ein­mal er­wähnt, hat aber kei­ne Aus­wir­kun­gen.

    Al­les wird der Ma­xi­me des Wirt­schafts­wachs­tums, der ein­zig le­gi­ti­men Re­li­gi­on im sä­ku­la­ren Wirt­schafts­wun­der­land, un­ter­ge­ord­net. Der Schock ist nun, wenn je­mand »sei­ne« Kul­tur als nicht ver­han­del­bar an­sieht. Auch da zuckt man in Deutsch­land ger­ne zu­nächst ein­mal die Schul­tern und rühmt sich sei­ner To­le­ranz.

  175. @Gregor
    Du schriebst wei­ter oben, #137: »Zur EU kann ich kei­ne Pro­gno­se ab­ge­ben. Im­pe­ri­en bzw. im­pe­ri­en­ähn­li­che Ge­bil­de kön­nen Rück­bau schwer ver­kraf­ten, schon aus Image­grün­den nicht. Tat­säch­lich droht na­tür­lich ei­ne Art Do­mi­no-Ef­fekt«. Ähn­li­che Über­le­gun­gen spiel­ten beim Brxit wohl auch ei­ne Rol­le: Lohnt es sich zu blei­ben und et­was zu ver­än­dern zu ver­su­chen? Ist das mög­lich und rea­li­stisch? Viel­leicht wur­den öko­no­mi­sche Über­le­gun­gen und Kon­se­quen­zen hint­an­ge­stellt, weil man an­de­res für wich­ti­ger er­ach­te­te.

    @die kal­te So­phie
    Ata­vis­men las­sen sich m.E. nicht über­win­den, weil sie in der mensch­li­chen Na­tur ver­an­kert sind (und da­her im­mer wie­der auf­tre­ten wer­den); Grup­pen­bin­dun­gen und Zu­sam­men­ge­hö­rig­keits­ge­füh­le fin­den wohl ver­schie­de­ne For­men und For­mu­lie­run­gen, wa­ren aber im­mer vor­han­den (Stamm, Fa­mi­lie, Reich, Na­ti­on, Re­li­gi­on, Kul­tur, Staat, Re­gi­on, etc.)

    Ich fin­de die Span­nung zwi­schen der Mo­der­ne und den Ata­vis­men viel in­ter­es­san­ter und wich­ti­ger, als die Über­win­dung des je ei­nen. Ein Selbst­ver­ständ­nis, et­was »Ei­ge­nes«, ei­ne Grup­pen­re­prä­sen­ta­ti­on, ist ja nicht not­wen­di­ger Wei­se un­kom­pa­ti­bel mit ei­ner mo­der­nen Le­bens­wei­se und be­deu­tet nicht, dass man des­we­gen al­les an­de­re ge­ring schätzt; man könn­te so­gar sa­gen: Ein Selbst­bild in­klu­si­ve sei­ner Wert­set­zun­gen ma­chen den Zu­gang und das Ver­ste­hen An­de­rer (Frem­der) über­haupt erst mög­lich (mir scheint, dass wir da eher zwi­schen den Ex­tre­men schwan­ken, als ei­nen ver­nünf­ti­gen, ent­spann­ten Zu­gang zu fin­den).

    Ein Nar­ra­tiv hat im Ge­gen­satz zu Phra­sen und Kampf­be­grif­fen im­mer­hin ei­nen Zu­sam­men­hang, ei­ne Form, Ganz­heit, selbst wenn sie frag­men­ta­risch ist.

  176. @metepsilonema
    Es gibt m. E. kei­ne Al­ter­na­ti­ve zum Blei­ben. Die Fra­ge ist nur, ob man mit dem ak­tu­ell zur Ver­fü­gung ste­hen­den Per­so­nal ei­ne Art Neu­an­fang über­haupt er­rei­chen kann. Und na­tür­lich wie die­ser Neu­an­fang aus­sieht.

    Ich se­he der­zeit we­der in Frank­reich noch in Deutsch­land hin­rei­chen­des In­ter­es­se ein neu­es »Nar­ra­tiv« für die EU ein­zu­brin­gen. Frank­reich ist po­li­tisch prak­tisch ge­lähmt durch den FN. Und auch in Deutsch­land wird Mer­kel ein Jahr vor der Bun­des­tags­wahl nicht das ei­gent­lich doch eher un­be­lieb­te EU-The­ma for­cie­ren. Sie ist in den letz­tem 12 Mo­na­ten in Um­fra­gen dra­ma­tisch ab­ge­stürzt. Erst ein­mal wird man wei­ter­wur­steln. Ein Aus­tritt mag für die Bri­ten (we­der Schen­gen noch Eu­ro) mög­lich, viel­leicht so­gar at­trak­tiv ge­we­sen sein. Für an­de­re Län­der wä­re es vor al­lem auch öko­no­misch un­sin­nig. Es sei denn, man ge­währt den Bri­ten Son­der­kon­di­tio­nen. Dann ist al­les mög­lich.

  177. @Gregor, #187
    Ja, das ist das Di­lem­ma: Der Aus­tritt ist nicht un­be­dingt sinn­voll, zu­min­dest sehr ris­kant, im Ge­gen­zug sind nicht an­satz­wei­se ir­gend­wel­che Be­stre­bun­gen nach Ver­än­de­run­gen oder Dis­kus­si­ons­an­sät­ze sicht­bar. — Letzt­lich ist die Fra­ge nach den Aus­tritts­kon­di­tio­nen (Ver­hand­lun­gen) be­reits mit der Zu­kunft der EU ver­knüpft: Will man ei­nen an­de­ren Weg be­strei­ten, soll­te man die Bri­ten nicht ver­prel­len; will man den jet­zi­gen wei­ter­ge­hen, kann man sie ru­hig »da­von­ja­gen« und da­mit ein Ex­em­pel sta­tu­ie­ren.

  178. Wort­mäch­tig, po­le­misch, fast wü­tend: Wolf­gang Stre­eck.

    »Die kul­tu­rel­le Ge­ring­schät­zung der orts­fe­sten An­hän­ger lo­ka­ler Tra­di­tio­nen durch ei­ne sich kos­mo­po­li­tisch ge­ben­de Ober- und Mit­tel­schicht, die ihr Land und sei­ne Leu­te nach ih­rer „Wett­be­werbs­fä­hig­keit“ be­ur­teilt, ist in den eu­ro­päi­schen Ge­sell­schaf­ten weit ver­brei­tet: sie ist Teil der öko­no­mi­sti­schen Um­wer­tung al­ler Wer­te im Zu­ge des neo­li­be­ral be­schleu­nig­ten ka­pi­ta­li­sti­schen Fort­schritts. Wer sich dem wi­der­set­zen will, dem steht, in­fol­ge des Über­gangs des Zeit­geists in das geg­ne­ri­sche La­ger, das den Un­ter­schied zwi­schen so­li­da­ri­schem und Fi­nanz­in­ter­na­tio­na­lis­mus ver­ges­sen hat, oft kei­ne an­de­re Spra­che zur Ver­fü­gung als die der Na­ti­on und ih­rer gu­ten al­ten Zei­ten. Ge­brand­markt als „Po­pu­li­sten“, die der neu­en „Kom­ple­xi­tät der Welt“ in­tel­lek­tu­ell nicht ge­wach­sen sind, und se­man­tisch aus­ge­bür­gert als „An­ti-Eu­ro­pä­er“ ver­stecken sie sich in ih­ren gal­li­schen bzw. wa­li­si­schen Dör­fern – bis ei­ne Wahl oder ein Re­fe­ren­dum sie her­vor­holt, ger­ne auch er­mu­tigt, in Er­man­ge­lung an­de­rer Er­mu­ti­gun­gen, von Dem­ago­gen oft fin­ste­rer Art, und an­schlie­ßend wort­ge­wal­tig als ge­fähr­li­che Hin­ter­wäld­ler ver­ur­teilt von den Schultzs und Jun­ckers, oder gar als „Pack“ von ih­ren vor­ma­li­gen Re­prä­sen­tan­ten, den Ga­bri­els.«

    Der gan­ze Text hier.

  179. Zu Stre­eck. Das Zi­tat ist ein High­light, mit gro­ßer Ver­ve wird hier po­le­mi­siert, dass man fast er­schrickt. Aber der Text hat noch mehr zu bie­ten.
    Er fin­det ei­ne Ant­wort auf die Fra­ge »Wie kom­men wir aus den Struk­tu­ren raus, oh­ne dass es zu un­ge­re­gel­ten Brü­chen kommt?«.
    Die pro­ze­du­ra­le Idee nennt er die »EU-Light«. Ei­ne Kon­fö­de­ra­ti­on wä­re zu pla­nen, die Län­der mit ho­hem Au­to­no­mie-An­spruch be­dient, und die als Aus­stiegs-Platt­form für die be­reits Un­wil­li­gen at­trak­tiv sein könn­te.
    Das könn­te ei­ne neu kon­zi­pier­te EFTA lei­sten.
    Zi­tat. »Ein sol­cher Rah­men könn­te auch für vie­le der­zei­ti­ge Voll­mit­glie­der at­trak­tiv sein und soll­te des­halb als Auf­fang­la­ger ei­ner ge­ord­ne­ten Aus­wan­de­rung aus der al­ten, ge­schei­ter­ten EU al­len of­fen­ste­hen, nicht nur den Bri­ten...«.
    Ex­zel­len­ter Ge­dan­ke! Ein Sprung­brett für Ein­stei­ger (das lei­di­ge The­ma Tür­kei) und ein Auf­fang­la­ger für Aus­stei­ger... Der Se­zes­si­ons­pro­zess könn­te dem UMBAU näm­lich för­der­lich sein. Ganz im Ge­gen­satz zur land­läu­fi­gen Funk­tio­närs-Den­ke un­ter deut­scher Füh­rung!

  180. Spill So­me Wa­ter in The (Stre­eck-) Vi­ne

    Auch Stre­eck for­dert nun den EU-Rück­bau. Es wer­den im­mer mehr (s. o. als ERSTER En­zens­ber­ger, als ditt­letz­ter Vé­dri­ne)).
    Auch Stre­eck sagt – wie zu­letzt hier im Blog zi­tiert in die­ser Sa­che, Gué­rot: Das an­ti-Po­pu­li­sten-Schwert ist krumm.

    Was mich lei­der nicht wun­dert: Dass Stre­eck sich qua­si auf nie­man­den von de­nen be­zieht, die ihm den Weg ge­bahnt ha­ben oder mit ihm an ei­nem Strang zie­hen; so ist halt Stre­eck (es muss auch sol­che Leu­te ge­ben...). Statt­des­sen der fast kom­plett sinn­freie Ver­weis auf den grei­sen Allan H. Mel­zer, nach dem längst kein Hahn mehr kräht, als ein­zi­ge, an­geb­lich dicke u fet­te Öko­no­mie-Re­fe­renz.
    Fa­zit: Stre­eck denkt nach wie vor mit Stre­eck. So kennt man ihn: Pro bo­no, con­tra malum. Und was dar­un­ter je­wei­len zu ver­stehn sei – be­stimmt ein­zig u al­lein: Wolf­gang Stre­eck.

    Und er ist kom­plett ge­spal­ten: Weil er jetzt nicht nur die EU zu­rück­bau­en will, son­dern gleich­zei­tig die EU-Ma­xi­mal­in­ter­ven­ti­on in Sa­chen Grie­chen­land für zu mick­rig an­sieht, nach wie vor. Mot­to: da wur­den die Ban­ken ge­ret­tet. puh – und wem ha­ben die Ban­ken das Geld zu­vor ge­ge­ben – den Tür­ken? Gro­ßer Gott!
    Lo­thar Struck – nur fürs Pro­to­koll: Ha­ben Sie nicht ge­nau hier im Blog g e g e n den Rück­bau an­ge­schrie­ben, wei­ter oben. Und jetzt sind Sie aber für Stre­eck?
    Oder sind Sie gar nicht für Stre­eck, son­dern fan­den das nur ei­nen be­ein­drucken­den Text – dann hät­te ich mich frei­lich ge­täuscht – was frei­lich nichts be­son­de­res ist.

  181. @Dieter Kief
    Stre­eck for­dert et­was mehr als nur ei­nen Rück­bau. Es ist ein Um­bau; ei­ne »EU-li­te« (sic!). Ei­ne EU, die meh­re­re Ebe­nen hat, in sich un­ter­schied­li­che Le­vels.

    Ich sa­ge nicht, dass das geht. Eher im Ge­gen­teil: Ge­bil­de wie die EU ma­chen frei­wil­lig kei­nen Rück­bau, ge­schwei­ge denn ei­nen Um­bau, weil sich ih­re Prot­ago­ni­sten ein­ge­ste­hen müss­ten, falsch oder über­ha­stet ge­han­delt zu ha­ben. Sie be­trach­ten sol­che Ver­än­de­run­gen wie Na­tio­nal­staa­ten Se­zes­sio­nen an­se­hen: als Be­schä­di­gung ih­rer Iden­ti­tät. Ge­nau­so re­agie­ren Schulz und Jun­cker – be­lei­dig­te Le­ber­wür­ste, die an­geb­lich kei­ne Zeit ver­lie­ren wol­len, da­bei sind sie es Jah­ren, die die Zeit aufs Spiel set­zen.

    Stre­ecks The­se des do­mi­nie­ren­den Deutsch­land und der Schuld der Kanz­le­rin an dem Brexit-Er­geb­nis hal­te ich für dis­kus­si­ons­wür­dig, aber falsch. Auch die lin­ke Kri­tik am Au­steri­täts­kurs ist sehr kurz­sich­tig. Si­cher­lich, man hört jetzt aus Ita­li­en und Frank­reich, dass man die Kon­ver­genz­kri­te­ri­en locke­rer hand­ha­ben will, was be­deu­tet, dass man mit Schul­den Kon­junk­tur­pro­gram­me auf­legt. Das ist so, als wenn ich Kopf­schmer­zen da­mit be­kämp­fe, dass ich mir mit dem Ham­mer auf den Fuß schla­ge – dann ver­ges­se ich den Kopf, weil der Fuß jetzt schmerzt.

    Tref­fend fin­de ich ihn, wenn er die Ar­ro­ganz de­rer gei­ßelt, die glau­ben zu wis­sen, was für Bri­ten gut ist und was nicht. Heu­te muss­te ich den »Pres­se­club« ab­schal­ten, weil dort deut­sche Jour­na­li­sten aus ih­rer Fil­ter­bla­se er­klär­ten, was bri­tisch und vor al­lem was »un­bri­tisch« ist. Das ist der­art wi­der­lich ge­we­sen, dass es schmerz­te. Bri­ten sel­ber ein­zu­la­den hat­te man ver­mie­den (eben: Bla­se).

    Stun­den spä­ter er­klärt Schäub­le, dass er den Men­schen zei­gen will, was Eu­ro­pa lei­sten kann. Und schlägt – wo­mög­lich nicht mehr im Voll­be­sitz sei­ner gei­sti­gen Kräf­te? – ei­ne Art eu­ro­päi­scher Ar­mee vor. Ich se­he schon den FN, die FPÖ und all die Ka­det­ten ka­pi­tu­lie­ren, weil die Wäh­ler jetzt ju­beln, dass sie end­lich ei­ne ge­mein­sa­me eu­ro­päi­sche Ar­mee be­stücken dür­fen. Nicht? Oh.

    Die Leh­re aus dem Brexit-Vo­tum ist nicht nur (wie Stre­eck sagt), dass die Öko­no­mie nicht mehr zählt (Stu­pid Clin­ton). Son­dern eben auch, dass Dro­hun­gen nicht mehr ver­fan­gen – sei­en sie auch noch so ra­tio­nal be­grün­det. Wenn Ehe­part­ner sich nicht mehr ver­ste­hen, ist die Dro­hung, den Part­ner zu ver­las­sen nicht mehr zün­dend.

    Selbst ein Ein­frie­ren der Ak­ti­vi­tä­ten ist ja nicht mög­lich. Den­ken Sie an Grie­chen­land und Spa­ni­en. Und was, wenn Frank­reich nicht mehr nur tau­melt, son­dern droht zu fal­len? Es ist al­so nicht mehr nur ein Image-Pro­blem, dass die EU sich nicht ein­fach mal für ein, zwei Jah­re ab­sen­tie­ren kann. Wäh­rend ich dies schrei­be, liegt Is­land ge­gen Frank­reich 0:4 zu­rück. Aber die Is­län­der kön­nen nicht ein­fach auf­hö­ren. Sie müs­sen wei­ter­ma­chen. Ge­nau so geht es der EU.

  182. @ Gre­gor Keu­sch­nig (ah, jetzt stimmt es wie­der)

    Just for the re­cord: Die Pa­pier-Zeit hat Stre­ecks Ar­ti­kel so ins In­halts­ver­zeich­nis ge­setzt: Wolf­gang Stre­eck for­dert ei­nen Rück­bau der EU.

    Da ich an­neh­men darf, dass Sie ge­stat­ten: Ich ha­be ei­ne un­se­rer? – je­den­falls: mei­ner – zen­tra­len The­sen im Blick: Dass die EU so wie sie ist in un­se­rer Me­di­en­land­schaft, wie sie nun ein­mal ist, nicht gut kom­mu­ni­zier­bar ist.
    Was gin­ge wä­re die stock­kon­ser­va­ti­ve De­mo­kra­tie-Aus­le­gung à la Bur­ke: Die Leu­te kön­nen mich wäh­len oder nicht, bei­des ist ok.
    Aber wenn ich ge­wählt bin, ma­che ich, was ich für rich­tig hal­te. An­dern­falls wür­den wir al­le ver­rückt.
    Was die Po­pu­lis­mus-The­se an­geht: Die­se tra­di­tio­na­le Auf­fas­sung des Wäh­ler­man­dats zu ver­ab­schie­den i s t be­reits ein Keim des »Po­pu­lis­mus«. Zu­gleich gilt aber auch: Ei­ne Rück­kehr zu Bur­ke ist ver­sperrt. Das ist kniff­lig.

    Schäub­le pro­biert al­les mög­li­che durch. Aber er wirkt nicht ver­gnügt da­bei, son­dern zu­neh­mend hart, un­froh. Und das passt über­haupt nicht zu sei­nem Na­tu­rell. Al­so, was fin­det hier statt: Ei­ne Selbst­de­mon­ta­ge?

    Ich wür­de mir wün­schen, dass Sie sich wie beim Brexit, auch im Hin­blick auf das, was die EU als kom­ple­xe Kö­per­schaft kann, täu­schen wür­den.
    Aber im Grun­de ist das so­lan­ge egal, wie es noch so oder so aus­ge­hen kann, so­lan­ge man ar­gu­men­ta­tiv für al­le Va­ri­an­ten of­fen bleibt.

    Pres­se­club hab ich mir ge­spart. – War statt­des­sen bei der öf­fent­li­chen Be­ge­hung des 85. Ge­bruts­tags­fe­stes ei­nes hie­si­gen Re­gio­nal­schrei­bers und Re­gio­nal­ma­lers von aus­ge­such­ter Höf­lich­keit und De­li­ka­tes­se im Um­gang: Die per­fek­te Er­fri­schung!
    Die Fuß­ball-Isen oder wie man die nennt, sind mir schon egal. Es ist aber wie­der himm­lisch ru­hig. Das lie­be ich an der EM!

  183. @Dieter Kief
    Der Keim für das, was man »Miss­ver­ständ­nis der EU« nen­nen könn­te, ist tat­säch­lich ein Kom­mu­ni­ka­ti­ons­pro­blem. Neh­men wie die ost­eu­ro­päi­schen Län­der, die gar nicht schnell ge­nug in die EU kom­men konn­ten. Sie (bzw. ih­re po­li­ti­schen Re­prä­sen­tan­ten) glaub­ten, die EU sei ei­ne Art ei­er­le­gen­de Woll­milch­sau, der man sich an­schlie­ßen, de­ren För­der­mit­tel man in An­spruch neh­men und mit den an­de­ren dann auf glei­cher Au­gen­hö­he über die Zu­kunft des Kon­ti­nents ent­schei­den kann. Sie ha­ben, um es alt­mo­disch for­mu­liert, auf ih­re Rech­te ge­schaut und die­se für gut be­fun­den. Dass die Mit­glied­schaft in ei­nem sol­chen »Ver­ein« auch Pflich­ten vor­aus­setzt, wur­de »ver­ges­sen«.

    Auf die­ser Ebe­ne – wir neh­men das Gu­te, ver­nach­läs­si­gen das Un­an­ge­neh­me – wur­de auch für die EU ge­wor­ben. Zwar hat kei­nes der Län­der ei­nen Volks­ent­scheid über die Mitg­leid­schaft ab­ge­hal­ten, aber es war schon klar, dass ein Groß­teil der Be­völ­ke­rung von Tsche­chi­en, der Slo­wa­kei, Po­lens, Un­garns, usw. die­ser Mit­glied­schaft po­si­tiv ge­gen­über ein­ge­stellt wa­ren. Da­bei stand auch im­mer ein Ver­spre­chen wie selbst­ver­ständ­lich im Raum: Die na­tio­na­le Sou­ve­rä­ni­tät un­se­rer Län­der – man hat­te erst 1989/90 die sub­ku­ta­ne Herr­schaft der So­wjet­uni­on ab­schüt­teln kön­nen – bleibt un­an­ge­ta­stet. Die­se Form der Schmack­haft­ma­chung nen­ne ich EU-Po­pu­lis­mus.

    Jetzt ist klar: Die EU ist mehr als nur die Woll­milch­sau von oben. Sie ist ein Staa­ten­bund, der be­strebt ist (war?), ein­heit­li­che po­li­ti­sche Lö­sun­gen auch dort zu fin­den, wo sie die na­tio­na­len Sou­ve­rä­ni­tä­ten tan­gie­ren oder gar aus­he­beln. Der nach dem Grie­chen­land-Bail-Out vor­läu­fi­ge Hö­he­punkt die­ser Des­il­lu­sio­nie­rung war – und da kom­me ich auf Stre­eck – die Flücht­lings­si­tua­ti­on im Sep­tem­ber 2015. Ver­kürzt ge­sagt lau­te­te die Bot­schaft von Mer­kel: »Ich las­se – aus hu­ma­ni­tä­ren und für D wich­ti­gen de­mo­gra­phi­schen Grün­den – die Flücht­lin­ge ent­ge­gen der ver­ein­bar­ten Ab­kom­men in das Land und an­schlie­ßend wer­den die­se pro­zen­tu­al in der EU ver­teilt«.

    Und dann wa­ren die Re­ak­tio­nen der sicht­ba­ren EU-Funk­tio­nä­re in­ter­es­sant. Bei­de – Schulz und Jun­cker – un­ter­stütz­ten Mer­kels Po­si­ti­on und üb­ten Druck auf die an­de­ren EU-Staa­ten aus. Ei­ni­ge wehr­ten sich, an­de­re, die es ele­gan­ter mach­ten (wie Frank­reich) igno­rier­ten das An­sin­nen und ver­wie­sen auf die­je­ni­gen, die sich wehr­ten. Man kennt das: Wenn man sel­ber nicht han­deln möch­te, es sich aber nicht ver­scher­zen will mit dem Chef ver­weist man auf die­je­ni­gen, die al­les blockie­ren.

    Da­her mei­ne The­se, dass ein Brexit-Re­fe­ren­dum vor ei­nem Jahr (al­so vor der ei­gen­mäch­ti­gen Aus­set­zung von Dub­lin II durch Mer­kel) ge­schei­tert wä­re.

    Ge­ra­de le­se ich die Schlag­zei­le, dass nun aus­ge­rech­net die­ser Mar­tin Schulz ei­ne »eu­ro­päi­sche Re­gie­rung« for­dert. In die­ser For­de­rung zeigt sich die Igno­ranz und Ar­ro­ganz ei­nes Par­al­lel­welt-Be­woh­ners. Nicht, dass so et­was un­denk­bar wä­re. Aber es ist eben nur ei­ne Schlag­zei­le, die mit nichts, rein gar nichts in­tel­lek­tu­ell un­ter­füt­tert ist. Ein Af­fekt ei­nes Trotz­kopfs, der mit dem Fuß auf­stampft, weil die Welt nicht so ist, wie er sie sich vor­stellt.

  184. Dan­ke, Gre­gor. Ich ver­mis­se die (sa­gen wir) re­gel­mä­ßi­ge Wie­der­ho­lung die­ser nicht hi­sto­risch nicht ganz un­be­deu­ten­den »po­li­ti­schen Wil­lens­äu­ße­rung« der Bun­des­re­gie­rung auch im­mer­zu in der Pres­se.
    Die Ver­tei­lungs-Idee (Sarkozy’s Ver­gleich mit ei­nem Was­ser­rohr­bruch, wo der Haus­herr ver­su­che, das Was­ser in al­le Räu­me zu ver­tei­len, statt das Leck zu flicken) mach­te des­halb ei­nen so ir­ri­tie­ren­den Ein­druck auf die EU-Län­der, weil den Vor­schlä­gen nicht zu ent­neh­men war, WER ver­teilt.
    Das mag in der Sach­po­li­tik nor­ma­ler­wei­se kei­ne Rol­le spie­len, da al­lein das Re­gle­ment ent­schei­det, aber in die­sem pre­kä­ren Fall hat­te »Ma­dame« ge­ra­de die Re­geln au­ßer Kraft ge­setzt. Da­mit war der Ein­druck ent­stan­den: die Ver­tei­lung er­folgt nach deut­schen An­er­ken­nungs­re­geln (Nein, die sind nicht har­mo­ni­siert!), aus dem Bin­nen­land her­aus und im Zwei­fels­fall nach hu­ma­ni­tä­ren Gut­dün­ken.
    Ich glau­be, grö­ber kann man bei Ein­wan­de­rungs­fra­gen die Sou­ve­rä­ni­tät sei­ner Part­ner nicht dis­kre­di­tie­ren.
    Aus ei­nem mir un­er­find­li­chen Grund wird An­ge­la Mer­kel im­mer noch »frei ge­spro­chen« von jeg­li­chem Miss­ge­schick, um es freund­lich aus­zu­drücken. Und des­halb hat sie auch nichts mit dem BREXIT zu tun.

  185. @die_kalte_Sophie
    Der Punkt ist, dass man Mer­kel noch das hu­ma­ni­tä­re Mo­ment zu Be­ginn ab­ge­nom­men hät­te. Aber weil sie dann dies zum Re­gel­fall er­klär­te, sich im­mer wei­ter und ent­schie­de­ner fest­leg­te (»Asyl kennt kei­ne Ober­gren­ze«) und die Fol­gen die­ser von ihr nicht vor­han­de­nen Ober­gren­ze auf an­de­re (de fac­to und de ju­re) sou­ve­rä­ner Staa­ten im Rah­men der Eu­ro­päi­schen Uni­on ab­wäl­zen woll­te ent­stand die­se brüsk ab­weh­ren­de Hal­tung vor al­lem in den ost­eu­ro­päi­schen Län­dern (aber auch Dä­ne­mark und so­gar am En­de Schwe­den), die zum Teil ja Re­gie­run­gen ha­ben, die Frei­zü­gig­keit nur als Ein­bahn­stra­sse be­grei­fen (wie man jetzt in Po­len sieht).

    Pu­bli­zi­stisch ist Stre­eck ja der An­ti­po­de zu Mün­k­ler, der Deutsch­land al­lei­ne schon aus geo­gra­phi­schen Er­wä­gun­gen her­aus als trei­ben­de Kraft in der EU sieht; ein biss­chen auch nach dem Mot­to: Wenn man schon Net­to­zah­ler ist, muss man auch mehr zu sa­gen ha­ben (das ist nur ein Teil sei­ner Po­si­ti­on).

  186. Und an Stel­le ir­gend­wel­chen Ein­se­hens be­gann dann die gro­ße Dritt­staa­ten-In­itia­ti­ve. Neu in der Ge­schich­te, zwei­fel­los in­no­va­tiv die »Da­me«. Jetzt müs­sen al­le An­rai­ner-Staa­ten, sei es zu Land oder zur See, über­zeugt wer­den, dass frem­de Bür­ger, die sich den Tran­sit er­schli­chen ha­ben, zu­rück­ge­nom­men wer­den.
    Der Ge­dan­ke da­bei (ich ver­mag es nur zu re­kon­stru­ie­ren): wenn die­se Staa­ten in die Rück­füh­rung ein­wil­li­gen, »er­ken­nen sie ih­re Zu­stän­dig­keit«, und ver­hin­dern auch wei­te­re Mi­gra­tio­nen. Ich fra­ge Sie, was mischt man den Ber­li­nern ins Trink­was­ser?!
    Das Ab­kom­men mit der Tür­kei wird als Pa­ra­dig­ma für die Eu­ro­päi­sche Um­ge­bung, sprich den Na­hen Osten und Nord­afri­ka be­trach­tet.
    No­tiz: die Ir­ri­ta­ti­on der Ost­eu­ro­pä­er be­steht bis auf den heu­ti­gen Tag. Der Vor­schlag der EU-Kom­mis­si­on vom 04. Mai zur Re­form von Dub­lin-III hin zu ei­ner strik­ten Kon­trol­le der Bin­nen­mi­gra­ti­on wird im­mer noch mit Schwei­gen be­dacht. Das Miss­trau­en ist ge­wal­tig, das Grie­chi­sche Ver­sa­gen la­stet auf je­der neu­en Ver­trags­bin­dung.

  187. Deut­scher Rechts­po­pu­lis­mus aus Sicht der Ade­nau­er-Stif­tung

    (Ge­fun­den auf Mi­cha­el Klo­nov­skys ac­ta di­ur­na blog:
    http://www.michael-klonovsky.de/acta-diurna)

    Fo­cus-on­line in­ter­viewt die­se Wo­che Ni­co Lan­ge, der für die Ade­nau­er-Stif­tung das Par­tei­pro­gramm der AfD un­ter­sucht hat:

    »Neh­men Sie das The­ma De­mo­kra­tie. Das nimmt im Pro­gramm weit vorn viel Raum ein. Die AfD stellt sich da ge­gen die Tra­di­ti­on der par­la­men­ta­ri­schen re­prä­sen­ta­ti­ven De­mo­kra­tie in Deutsch­land. Sie ver­sucht, das Bild ei­ner di­rek­ten De­mo­kra­tie nach Schwei­zer Vor­bild zu ent­wickeln. Das ist ty­pisch für rechts­po­pu­li­sti­sche Par­tei­en. Die­se ge­hen zu­meist da­von aus, dass in Volks­ab­stim­mun­gen die Mehr­heit so ab­stimmt, wie sie es für rich­tig hal­ten. Dar­in steckt ein an­ti-plu­ra­li­sti­scher Geist. Das Bild, das hier ge­zeich­net wird, ent­spricht nicht dem der par­la­men­ta­ri­schen De­mo­kra­tie der Bun­des­re­pu­blik.«

    In dem Heft­chen, das wir frü­her nach dem Kin­der­got­tes­dienst be­ka­men, gab es die Such­bild-Ru­brik. Über­schrift: »Wer fin­det die Feh­ler?«

    War­um soll ei­ne deut­sche Par­tei sich nicht für die di­rek­te De­mo­kra­tie nach Schwei­zer Vor­bild aus­spre­chen dür­fen?

    Wer sagt, die Volks­ab­stim­mun­gen in der Schweiz ent­sprä­chen ei­nem Bild, das mit dem Bild der par­la­men­ta­ri­schen De­mo­kra­tie in der Bun­des­re­pu­blik nicht über­ein­stim­me?

    Wel­ches rich­ti­ge Bild zeigt die par­la­men­ta­ri­sche De­mo­kra­tie der Bun­des­re­pu­blik?

    Wie un­ter­schei­det sich die­ses vom fal­schen Bild der par­la­men­ta­ri­schen De­mo­kra­tie in der Bun­des­re­pu­blik?

    In­wie­fern kann man be­haup­ten, wer für Volks­ab­stim­mun­gen ein­tritt will, dass die Men­schen so ab­stim­men, wie er es für rich­tig hält?

    Wie­so ist ei­ne Par­tei nicht mit dem Bild ei­ner par­la­men­ta­ri­schen De­mo­kra­tie nach bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schem Mu­ster kom­pa­ti­bel, die da­von aus­geht, dass sie Ab­stim­mun­gen ge­win­nen könn­te?

    Wo im AfD-Pro­gramm steht, dass die AfD nicht da­mit rech­net, Volks­ab­stim­mun­gen zu ver­lie­ren?

    In­wie­fern ist es ty­pisch für rechts­po­pu­li­sti­sche Par­tei­en, sich am Schwei­zer Vor­bild zu ori­en­tie­ren?

    Wie­so zieht Ni­co Lan­ge die­ses un­glaub­li­che In­ter­view nicht zu­rück?

    Will er uns ei­ne zwei­fel­haf­te Freu­de ma­chen?

    Oder doch nur Är­ger?

    Ich ken­ne Lan­ge nicht. Viel­leicht ist al­les nur Un­ver­mö­gen. Viel­leicht aber auch Pa­nik, Angst vor dem Kon­troll- bzw. Macht­ver­lust. Simp­ler Schuss: Je zu­rech­nungs­fä­hi­ger Lan­ge an sich ist, de­sto wahr­schein­li­cher wird die Pa­nik-Va­ri­an­te.

  188. @Dieter Kief
    Die Dis­kus­si­on um Po­pu­lis­mus be­kommt in­zwi­schen skur­ri­le Zü­ge. Im ver­link­ten Text gibt es ja so­gar ei­ne Poin­te:

    Die par­la­men­ta­ri­sche De­mo­kra­tie der BRD steht ge­ra­de dann in höch­ster plu­ra­li­sti­scher Blü­te, wenn das so­ge­nann­te Volk, al­so das po­ten­ti­el­le Tä­ter­volk, sei­ne Re­prä­sen-Tan­ten nicht mit Ab­stim­mun­gen zu be­ein­flus­sen ver­mag!

    Auf den er­sten Blick mag man das für Iro­nie oder Sar­kas­mus hal­ten, aber ich fürch­te, dass das ernst ge­meint ist. Der Te­nor ist, dass die re­prä­sen­ta­ti­ve De­mo­kra­tie im­mer dann am be­sten funk­tio­niert, wenn sie nicht durch den dum­men Wäh­ler ge­stört wer­den kann. Als Recht­fer­ti­gung da­für wird dann »das Tä­ter­volk« her­an­ge­zo­gen.

    Auch in »Ih­rer« Leib-und-Ma­gen­pu­bli­ka­ti­on, der FAZ, gab es ei­ni­ge be­mer­kens­wer­te Äu­ße­run­gen. So wur­de ein ge­wis­ser Klaus-Pe­ter Hufer (»Ex­per­te für Stamm­tisch­pa­ro­len«) im Sti­le der Sen­dung mit der Maus her­an­ge­zo­gen, um dem dum­men Re­zi­pi­en­ten zu er­klä­ren, wor­an man denn die Bö­sen er­kennt.

    Es gibt ja die The­se, dass ein­an­der ri­va­li­sie­ren­de La­ger im Lau­fe ih­rer Aus­ein­and­ner­set­zung im­mer ähn­li­cher wer­den. Das ist u. a. ei­ner der Be­gleit­erschei­nun­gen des RAF-Ter­ro­ris­mus ge­we­sen. Erst die zu­wei­len hy­ste­ri­sche an­mu­ten­den Po­li­zei- und Ge­set­zes­vor­ga­ben ha­ben da­zu min­de­stens teil­wei­se da­zu ge­führt, dass der Staat zu den Re­pres­sio­nen griff, die die RAF-Leu­te ihm schon vor­her at­te­stier­ten. In Bushs USA nach dem 11. Sep­tem­ber zeigt sich die­se An­nä­he­rung eben­falls – wie der gro­ße Geg­ner kann­te man nur noch Freund oder Feind. Die Po­pu­lis­mus-Dis­kus­si­on ist auf ei­nem ähn­li­chen Weg. Sie ver­la­gert sich zu­nächst auf das Ge­biet der Volks­päd­ago­gik. Wer den ver­ord­ne­ten Er­klä­rungs­brei nicht bis zum Bo­den­satz aus­ge­löf­felt hat, kommt un­ter Ver­dachts­qua­ran­tä­ne. Wer dann nicht ab­schwört, wird ge­bannt.

    Es gibt Bei­spie­le aus den so­zia­len Netz­wer­ken, die nach die­sem Me­cha­nis­mus funk­tio­nie­ren. Jour­na­li­sten – zum Teil sehr be­kann­te und an­ge­se­he­ne – ver­lang­ten prak­tisch von ih­ren Facebook-»Freunden« ei­ne be­din­gungs­lo­se Ak­zep­tanz ih­rer Po­si­ti­on in Be­zug auf die AfD. Wer bei­spiels­wei­se nach Grün­den für den Zu­lauf frag­te, die ra­di­ka­le Dä­mo­ni­sie­rung der Par­tei kri­ti­sier­te und statt­des­sen ei­nen ar­gu­men­ta­ti­ve Aus­ein­an­der­set­zung in den Raum stell­te, wur­de »ent­freun­det«. To­ta­li­ta­ris­mus ge­biert schein­bar eben­falls To­ta­li­ta­ris­mus.

  189. Oh – Ihr Zi­tat ist auch ein Stück fürs Toll­haus.

    Schon al­lein der Asu­druck »Re­prä­sen-Tan­ten«.

    Viel­leicht hängt die Cho­se wirk­lich an der Per­son Lan­ges – irgnd­wel­che Probleme...Gesundheitliches...

    Na­ja – auch so ein ganz wa­cher ehe­ma­li­ger DDR-Bau­hilfs­ar­bei­ter wie Klo­nov­sky ist mitt­ler­wei­le an vie­len Or­ten off li­mits.

    Nicht bei Ih­nen hier – zu mei­ner tief­sten Zu­frie­den­heit und ei­ni­ger Er­leich­te­rung so­gar.

    PS – Na­ja, mit der FAZ kann ich im­mer noch was an­fan­gen. Oder mit der NZZ. Letz­te Wo­che der Psy­cho­an­ly­ti­ker im Spie­gel-Es­say war auch nicht schlecht – auf ein­mal geht es eben doch: Zu vie­le Is­lam­gläu­bi­ge lau­fen lei­der ne­ben der Spur.

  190. @Dieter Kief
    Ir­gend­wie scheint mir das ei­ne neue Me­tho­de zu sein, ter­ro­ri­sti­sche oder halb-ter­ro­ri­sti­sche Ak­te (so­ge­nann­te Ein­zel­ak­tio­nen) nicht mehr als sol­che de­kla­rie­ren zu müs­sen, son­dern in Kran­ken­ak­ten zu ent­sor­gen. Ver­steht es sich nicht von sel­ber, dass zum Bei­spiel bei den At­ten­tä­tern des 11. Sep­tem­ber eben auch psy­chi­sche Stö­run­gen vor­han­den ge­we­sen sein müs­sen? Ist ein Selbst­mord­at­ten­tä­ter, der sei­ne Ak­tio­nen be­wusst und mit po­li­ti­schen Bot­schaf­ten ver­sieht, nicht eben auch de­for­miert? Das Pro­blem ist, dass ei­ne sol­che Dia­gno­se an die ju­ri­sti­sche Schuld­fra­ge an­dockt. Be­schei­nigt man ih­nen psy­chi­sche De­fek­te sind so wo­mög­lich gar nicht ver­ant­wort­lich zu ma­chen? Da­mit hät­te man min­de­stens zwei Flie­gen mit ei­ner Klap­pe ge­schla­gen: Die Tä­ter wür­den so­zu­sa­gen pa­tho­lo­gi­siert (wä­ren da­mit »ent­schul­digt« bzw. aus dem Men­schen­ge­schlecht ver­dammt) und die Kom­po­nen­te des Is­lam an den »is­la­mi­sti­schen« Ta­ten wür­de aber­mals ei­ne Nu­an­ce ab­ge­schwächt. Drit­tens wür­de das bö­se T‑Wort in den Me­di­en spar­sa­mer ver­wen­det.

    (Zur Be­liebt­heit der NZZ in D ist das hier viel­leicht in­ter­es­sant.)

  191. @Dieter Kief
    Wenn Dah­ren­dorf auf das Par­la­ment als »Schutz­schild der De­mo­kra­tie« ge­gen den Po­pu­lis­mus zu spre­chen kommt, steht dort ein in­ter­es­san­ter Satz:

    »Der schlei­chen­de Au­to­ri­ta­ris­mus mo­der­ner De­mo­kra­tien ist selbst ei­ne po­pu­lis­mus­för­dern­de Ten­denz.«

    So­fort wird man er­in­nert an die di­ver­sen Eu­ro-Ret­tungs­pa­ke­te und ‑schir­me, die bin­nen we­ni­ger Ta­ge durch­ge­paukt wur­den. Über die Flücht­lings­po­li­tik wur­de erst nach­träg­lich ei­ne par­la­men­ta­ri­schen De­bat­te ein­ge­rich­tet – vom Prin­zip her wa­ren sich so­wie­so al­le im Bun­des­tag ver­tre­te­nen Par­tei­en ei­nig. Man mag jetzt da­hin­ge­hend ar­gu­men­tie­ren, dass die Dra­ma­tik der Zeit­läuf­te oft ei­ne par­la­men­ta­ri­sche An­hö­rung mit all ih­ren Vor­aus­set­zun­gen un­mög­lich macht. Da­bei wird dann häu­fig ver­ges­sen, dass In­di­ka­to­ren für ei­ne be­stimm­te Ent­wick­lung all­zu häu­fig igno­riert wer­den und der Zeit­druck da­mit prak­tisch selbst er­zeugt wird. Wie­der fällt ei­nem da die Grie­chen­land-Po­li­tik ein. Zu­nächst wur­den die Aus­wir­kun­gen der grie­chi­schen Wirt­schafts­kri­se auf den Eu­ro­raum ver­harm­lost und dann muss­te plötz­lich al­les ganz schnell ge­hen. Man fragt sich dann, ob die­ser Zeit­druck nicht auch er­wünscht ist, da­mit die spä­ter dann so soft fest­ge­stell­ten »hand­werk­li­chen Feh­ler« nicht ent­deckt wer­den.

    Mei­ne The­se geht da­hin, dass es tat­säch­lich ei­ne Art von Au­to­ri­ta­ris­mus in den west­li­chen De­mo­kra­tien gibt. Ver­kürzt ge­sagt: Re­gie­run­gen miss­trau­en zu­se­hends mehr dem Par­la­ment, d. h. al­so auch den ei­ge­nen Frak­tio­nen. Noch kras­ser ist das Miss­trau­en Re­fe­ren­den oder Volks­ab­stim­mun­gen ge­gen­über; hier wird so­fort blockiert. Dah­ren­dorfs Punk­te hier­zu über­zeu­gen mich auch nicht. Statt die Furcht vor der »Stim­me des Bür­gers« mit­tels Ar­gu­men­ten ab­zu­mil­dern, wird ihm per se ein Hang zum Po­pu­lis­mus, al­so zur »fal­schen Mei­nung« un­ter­stellt. Dies wie­der­um er­zeugt ge­nau das, was ei­gent­lich ver­hin­dert wer­den soll.

    .-.-.-

    Ich hat­te üb­ri­gens zwi­schen­zeit­lich die Sen­dung des »Phi­lo­so­phi­schen Ra­di­os« auf WDR 5 mit Mül­ler ge­hört. Lei­der wur­den m. E. nicht die rich­ti­gen Fra­gen an ihn ge­stellt; war sehr af­fir­ma­tiv.

  192. Oh – wie er­fri­schend!

    Ich stim­me rund­um zu.

    Aber, sag ich dann viel­leicht ein we­nig an­ders als Sie: Dah­ren­dorf hat­te – 2003 er­schie­nen sei­ne The­sen ei­ner Quel­le zu­fol­ge zum er­sten Mal, ei­ne an­de­re sagt 2008 – die Na­se im Wind. Da­für post­hum ein von Her­zen kom­men­des Hut-ab!

    Zu­dem war er im­mer of­fen für Ge­gen­ar­gu­men­te.

    Ja und Mül­ler surft auf der gro­ßen Angst­wel­le als Stich­wort­ge­ber. Kei­ne Ah­nung, ob er ein­fach vor­sich­tig ist – er hat im­mer noch kei­ne fe­ste Stel­le, so­viel ich zu­letzt schau­te – oder ob er auch dann nicht mehr zu sa­gen hat, wenn er der­einst fest im Sat­tel sitzt. Vor­erst bleib ich da­bei: Mül­ler ist ein we­nig oben­hin.

    Ist aber eh wurscht, so­lan­ge wir hier so schö­ne Fort­schrit­te ma­chen.

    Die Ge­samt­la­ge ist nach mei­nem Emp­fin­den an­ge­spannt.
    Das irr­ste, was ich in der ver­gan­ge­nen Wo­che hör­te, stand auf iSte­ve – dem­nach soll Jun­cker ge­sagt ha­ben, die schlech­te­ste Er­fin­dung al­ler Zei­ten sei­en Gren­zen. Wenn er es nicht an­ge­schickert ge­sagt hat oder im Kar­ne­val oder nach 4 Uhr mor­gens oder so: Dann ist der Satz wohl ei­ner von de­nen, die man sich mer­ken soll­te.
    Die FAZ zeigt ihn ja auf ei­ner sehr schö­nen Auf­nah­me dop­pel­sei­tig an ei­nem grie­chi­schen Strand. Soll­ten sie es tat­säch­lich schaf­fen, die Grie­chen ir­gend­wie ein­zu­n­or­den, hät­ten sie tat­säch­lich was ge­schafft. Bis­her se­he ich das kaum ir­gend­wo auf­schei­nen.
    Erst­mal muß der ex-Chef des dor­ti­gen Sta­ti­stik­amts vor Ge­richt wg. Lan­de­schä­di­gung: Das ist an sich ein sehr spre­chen­der Vor­gang. Ich neh­me zu­dem an: Ei­ne welt­ge­schicht­li­che No­vi­tät. – So ge­se­hen viel zu we­nig be­ach­tet...

    Eben­so bril­lant die Giord­a­no Bru­no Stif­tung, die sich zum Lu­ther­jahr die Idee aus­ge­dacht hat, es füh­re vom Re­for­ma­tor ei­ne di­rek­te Li­nie in die Gas­kam­mern Na­zi­deutsch­lands – über sat­te vier­hun­dert Jah­re hin­weg.

    Und wo sind die Schwei­zer Gas­kam­mern, und die Dä­ni­schen und die Schwe­di­schen usw. – da müs­sen sich die Re­for­mier­ten von­sei­ten die­ser for­mi­da­blen Sex­ta­ner­stif­tung jetzt noch auf ei­ni­ges ge­fasst ma­chen!

    Nun gut: Das war jetzt die letz­te Wo­che. Fünft­kläss­ler al­ler Län­der – ver­ei­nigt Euch!