Diese einleitenden Ausführungen sollen die Thesen aus Jan-Werner Müllers Buch »Was ist Populismus?« vorstellen. Dies soll so neutral wie möglich geschehen; wo dies nicht der Fall sein sollte und voreiliges Urteil hervorschimmert, bitte ich um Nachsicht.
Inzwischen gibt es kaum noch eine Nachrichtensendung, die ohne den Begriff des »Populismus« aufkommt; meist in der Form als »Rechtspopulismus«, etwa wenn es um die österreichische FPÖ, den französischen Front National, die ungarische oder die polnische Regierung geht. Aber was ist eigentlich Populismus? Welche Folgen hat er, könnte er haben? Jan-Werner Müller, Lehrer für politische Theorie und Ideengeschichte in Princeton, möchte mit seinem Buch »Was ist Populismus?« abseits tagespolitische Aufgeregtheiten eine »kritische Theorie des Populismus« formulieren.
Bereits auf den ersten Seiten bilanziert er seine These: Populismus sei »der Tendenz nach zweifelsohne antidemokratisch«. Populisten gefährdeten die Grundprinzipien der repräsentativen Demokratie. Populismus sei »eine ganz bestimmte Politikvorstellung, laut der einem moralisch reinen, homogenen Volk stets unmoralische, korrupte und parasitäre Eliten gegenüberstehen«. Daher engagierten sich Populisten für plebiszitäre Elemente, aber, so die These, »Populisten interessieren sich gar nicht für die Partizipation der Bürger an sich; ihre Kritik gilt nicht dem Prinzip der politischen Repräsentation als solchem … sondern den amtierenden Repräsentanten, welche die Interessen des Volkes angeblich gar nicht vertreten.«
Es gibt laut Müller zwei essentielle Identifikationsmerkmale für Populismus, die ineinander greifen. Zum einen ist er antipluralistisch (nicht per se anti-institutionell). Und zum anderen nimmt er für sich und seine politischen Thesen die alleinige moralische Vertretung in Anspruch. Und so kommt es, dass, »wer sich ihnen [den Populisten] entgegenstellt und ihren moralischen Alleinvertretungsanspruch bestreitet«, »automatisch nicht zum wahren Volk« zugeschlagen und am Ende ausgegrenzt werde. Populisten sagen: »Wir – und nur wir – repräsentieren das Volk«, und das nicht als empirische, sondern als moralische Aussage.
Antipluralismus und moralischer Alleinvertretungsanspruch greifen zwar durchaus ineinander. Ist aber eines der Kriterien nicht erfüllt, handelt es sich – so die These – nicht um Populismus. So gerierten sich Populisten zwar gegen die bestehenden Formen politischer Repräsentation und gegen das politische Establishment, aber – und das macht die Sache kompliziert – »nicht jeder, der Eliten kritisiert, ist ein Populist«. Und auch wer »auf der Grundlage moralischer Absolutheitsansprüche agiert, sich jedoch nicht über das Kollektivsubjekt Volk legitimiert« sei kein Populist sei. Während Populisten ihrem Verständnis nach 100% des Volkes repräsentieren, hätte die Occupy-Bewegung von sich als Vertreter der »99%« gesprochen. Demzufolge sei, so der Schluss, Occupy nicht populistisch.
Durch diese Volte wird, wie sich später zeigen wird, Populismus auf nationalistische, ja völkische Dimensionen verengt. Und dies übrigens trotz der von Müller immer wieder, womöglich aus Gründen eines diffusen Ausgewogenheitsgefühls eingestreuten Beispiele eines sogenannten Linkspopulismus venezolanischer oder, von ihm seltener berücksichtigt, bolivianischer Prägung, die beide bei näherer Sicht stark nationalistische Elemente aufweisen.
Müller gibt einen kurzen historischen Überblick und beschäftigt sich mit dem amerikanischen Populismus-Verständnis, dass deutlich von dem europäischen variiert. Und es gibt einen kurzen Abriss über tatsächliche oder vermeintliche populistische Strömungen in der Geschichte, bevor er zu dem Schluss kommt, dass Populismus ein relativ neues Phänomen der Moderne ist.
Müller erkennt im Populismus eine ambivalente Gegenströmung zur repräsentativen Demokratie. Repräsentation sei auch »an sich« kein rein demokratisches Prinzip. Dies habe damit zu tun, dass es in einer Demokratie kein imperatives Mandat geben könne – aber genau dies könne man aus der Repräsentation herauslesen. Hier gibt es einen Hiatus: Der politische gewählte Repräsentant, der Abgeordnete ist laut Grundgesetz ausschließlich seinem Gewissen verantwortlich und nicht den Wählern. Populisten instrumentalisierten nun den Gedanken eines imperativen Mandats, welches plebiszitär vergeben würde.
In der Praxis zeige sich, wenn Populisten erst einmal an der Macht seien, ihr »real praktizierte[r] Antipluralismus« überdeutlich, so Müller. Da wäre zunächst der Versuch der »Vereinnahmung des gesamten Staates«. Verfassungen und Gesetze würden zurechtgebogen, das System von »Checks and Balances«, essentiell für demokratische Strukturen, ausgehebelt. Gesellschaftlich relevante Institutionen würden mit loyalen Personen unterwandert. Das nennt Müller »Massenklientelismus«. Jeder bekomme das Gefühl, an der Umsetzung des »Volkswillens«, der in Wahrheit natürlich nur der Willen der Partei oder der Bewegung darstellt, mitzuwirken. Schließlich würden oppositionelle Teile der Zivilgesellschaft inklusive der Medien unterdrückt bzw. auf Regierungslinie gebracht. Einher geht dies mit einem fortgesetzten Alarmismus. »Krise wird zum Dauerzustand stilisiert«, so Müller. Der Wahlkampf ende für Populisten nie.
Gespannt ist man auf das Kapitel »Vom demokratischen Umgang mit Populisten«. Hier hat der Autor Probleme bei der allzu schnellen und schroffen Exklusion von Populisten aus dem Debattendiskurs. Er warnt außerdem vor voreiligen oder allzu griffigen Deutungen, warum Wähler populistischen Strömungen zuneigen. Die gängigen soziologischen Erklärungen, etwa dass die Anhänger populistischer Parteien Modernisierungsverlierer seien, lehnt er aus empirischen Gründen ebenso ab wie pauschale »psychologische Unterstellungen«, wie beispielsweise die Attestierung eines autoritären Charakters von Populismus-Anhängern. Bei der Zuweisung dieser Attribute schwinge immer etwas von »Herrenreiter-Attitüde« mit, ein herablassend-fürsorglicher Gestus. An ihren Worten soll man die Populisten erkennen – nicht an ihren Wählern, so Müller. Und sogar die These, dass der Populismus einfache Lösungen fordere, wird verworfen.
Eine weitere Gefahr sieht der Autor darin, dass der Populismus-Vorwurf inflationär für jede missliebige Meinung verwenden würde (hier nennt er die kritischen Stimmen bei der sogenannten »Euro-Rettung« der letzten Jahre, die allzu oft und in Windeseile zu »EU-Gegnern« und, zuweilen, zu Friedensfeinden gemacht worden waren). Er ist gegen Sprechverbote; statt Illiberalität den Illiberalen gegenüber plädiert er für eine »Auseinandersetzung«, die in einem Klima des »zivilisierte[n] Pluralismus« stattzufinden habe. Es gehe darum, die »moralische Dimension des populistischen Weltbildes« zu verstehen und ernst zu nehmen, statt zur Denkfaulheit neigende Dämonisierungen vorzunehmen. Dabei stellt Müller klar, dass manche Einwände gegen Populisten ebenfalls antipluralistisch und mit Alleinvertretungsanspruch daherkämen. Man kämpfe für die »richtige Sache« – etwas, was eben auch Populisten für sich in Anspruch nehmen. Aber demokratische Debatten würden weder einen Garanten noch ein vorbestimmtes Ende kennen.
Müller bemerkt eine veritable Verunsicherung der politischen Eliten. Ihre Projekte wanken und ihre Deutungshoheit wird bedroht. An zwei Beispielen wird dies ausgeführt. Da ist zunächst die zunehmende Ablehnung der Institution(en) der Europäischen Union gegenüber (allzu schnell als »antieuropäisch« denunziert). Bis in die 1990er Jahre hinein seien die Maßnahmen zur fortschreitenden Integration der EU ohne große Akzeptanzprobleme verlaufen. Es habe zwischen Bevölkerung und Politik einen »permissiven Konsens« gegeben, was »Europa« angehe. Erst als die politischen Maßnahmen immer mehr Bereiche des Alltags berührten, begann die Zustimmung zu bröckeln. Als besonders einschneidend wurden hier die Aufgabe der Nationalwährungen zu Gunsten des Euro und sich seit 2008 zeigenden, krisenhaften Symptome wahrgenommen. Müller macht die von den politischen Entscheidungsträgern aufgebaute Fatalität der Alternativlosigkeit für die Eskalation für diese EU-Verdrossenheit mit verantwortlich.
Der andere Punkt betrifft die Flüchtlingskrise im Herbst 2015. Auch hier seien berechtigte Bedenken gegen die Politik der Bundeskanzlerin schon im Ansatz diffamiert worden. Müller markiert hier eine Konfliktlinie zwischen zwei Politikentwürfen: der »Integration« und der »Demarkation«. Beide Seiten beanspruchten für sich je die absolute Wahrheit. Die Kosmopoliten (Integration), die der uneingeschränkten Aufnahme der Flüchtlinge das Wort redeten, hätten in populistischer Manier einen moralischen Alleinvertretungsanspruch geltend gemacht. Dieser sei aber nicht in einem demokratischen Verfahren legitimiert worden. Die Ausgrenzung der Demarkations-Befürworter durch die Kosmopoliten sei einer demokratischen Entwicklung nicht förderlich.
Es gibt nun politische Kommentatoren, die eine Art künstlichen Populismus von links als Gegengewicht etablieren wollen. Mit diesen Entwürfen beschäftigt sich Müller ausgiebig – um sie am Ende zu verwerfen (was er auch muss, wenn er seine Bilanz Ernst nimmt). Wortreich erklärt er schließlich, warum er zur Bewältigung der Legitimationskrise der Europäischen Union einer »Öffnung Europas für politische Auseinandersetzungen« (à la Habermas) zustimmt und warum dies kein Linkspopulismus ist.
Das Prozedere dieser Öffnung bleibt diffus. Müller spricht von »Politisierung von oben«. Da aber eigentlich vom Autor plebiszitäre Elemente abgelehnt werden, andererseits aber von einem »Risiko« gesprochen wird, kann man mutmaßen, dass es zu einer wie auch immer gearteten Form einer Abstimmung kommen wird, die Legitimation erzeugen soll.
Es gibt von meiner Seite mehrere Vorbehalte zu diesem Buch.
Zum einen: Wann wird die Schwelle vom Populismus zur Demagogie überschritten? Eine genaue Ausarbeitung dieser Problematik unterbleibt. Und noch eine Frage bleibt unbeantwortet. Schlüssig erklärt Müller, dass populistische Parteien, sobald sie an der Macht sind, dazu neigen, ihren Alleinvertretungsanspruch zügig zu institutionalisieren und damit zu festigen. Aber wann wird dann daraus eine Diktatur? Das Abhalten von Wahlen ist ja nach Müller kein hinreichendes Abgrenzungskriterium mehr. Er weist darauf hin, dass sich Populisten zumindest zu Beginn durch Wahlen in ihrer Politik bestärken lassen. Wann schlägt es also um?
Müllers Buch wird inzwischen schon als Standardwerk herumgereicht. Aber es bietet leider nur eine reduzierte Sicht; unablässig wiederholt der Autor seine Thesen, fasst sie am Ende noch einmal in zehn Punkten zusammen. So bleibt etliches auf der Strecke. Wie sieht es zum Beispiel mit dem Populismus von per se nicht unter Populismusverdacht stehenden Parteien aus? Müller kritisiert, dass Populisten Länder häufig wie Unternehmen führen wollen (Berlusconi ist da ein gutes Beispiel). Dabei unterschlägt er, dass der Populismus sich auch bei einem wie Gerhard Schröder zeigte, der zum Regieren nur »Bild, BamS und Glotze« brauchte. Und die Nachfolgerin? Fällt einem nicht sofort der Atomausstieg 2011 nach dem Unfall von Fukushima ein? Obwohl einige Monate vorher noch die Atomenergie gesetzliche und damit rechtsverbindliche Sicherungszusagen erhielt, wurde praktisch über Nacht eine 180-Grad-Wende vollzogen; nicht zuletzt um die drohende Niederlage bei einer Landtagswahl noch abzuwenden (was nicht gelang). Populismus wird nämlich nicht nur von antipluralistischen Demokratieverächtern eingesetzt (die man schnell in eine Schmuddelecke stellen kann), sondern eben auch von »normalen« Parteien, wenn sie glauben, dass es ihnen dienen könnte.
Müller versäumt es, das Scheitern populistischer Wahlkämpfe zu beschreiben, wie sie beispielsweise die SVP in der Schweiz durchaus erlebt (medial ist es nur dankbarer, die vermeintlichen Erfolge der SVP in den Abstimmungen herauszustellen). Auch der dezidiert zuwanderungsfeindlich geführte und am Ende gescheiterte Wahlkampf der CDU in Hessen unter Roland Koch von 1999 wird nicht erwähnt. Es gibt also sehr wohl Möglichkeiten, populistischen Parolen jenseits TINA (»There Is No Alternative«) etwas entgegenzusetzen.
Damit kommt man zum Urgrund dessen, was Populismus eigentlich ist, aber bei Müller ebenfalls nicht vorkommt. Populismus ist ein Politikstil, der mittels unterkomplexer, vermeintlich populärer Phrasen Komplexität leugnet. Stattdessen werden eingängige Phrasen als Lösungen für komplizierte politische Sachverhalte angeboten. Die politische Spannbreite ist dabei enorm. Sie reicht von »Ausländer ‘raus« über »Wir schalten jetzt alle AKW und Kohlekraftwerke ab« bis zu »Hartz IV abschaffen«. Populismus ist also zunächst einmal ein rhetorisches Mittel um (durch Umfragen wahrgenommene) Stimmungen bei potentiellen Wählern für die eigene Agenda aufzunehmen. Populisten wissen in der Regel, dass ihre Forderungen nicht derart umsetzbar sind wie dies suggeriert wird bzw. keine grundsätzlichen Lösungen geboten werden. Sie werden dennoch verwendet um zu demonstrieren, dass man handelt bzw. handeln würde. Insofern ist die Regierung im Gegensatz zur Opposition vor Populismus meist gefeit – sie müsste einfach nur handeln. Wo dies nicht geht, werden dann doch zuweilen populistische Haken geschlagen, in dem das Nicht-Handeln mit fremden Zwängen begründet wird (bei Problemen innerhalb der EU wird dies gerne auf die Gremien in Brüssel geschoben oder innenpolitisch werden die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat herangezogen).
Populisten schielen nach Mehrheiten. Dies alleine genügt inzwischen um plebiszitären Elementen gegenüber skeptisch eingestellt zu sein. Hier entwickelt Müller einen Paternalismus, den er den Gegnern des Populismus vorwirft. Dieser ist übrigens längst Konsens im linksgrünen Spektrum geworden; entgegen dem, was man vor noch rund 20 Jahren dachte, als eine verstärkte Partizipation der Bürger als notwendig erachtet wurde. Das inzwischen gereifte Misstrauen gegenüber »Volksentscheiden« nimmt zuweilen absurde Züge an. Es gipfelt darin, dass die Begriffe »Volk« und »Volkswillen« als inexistent deklariert werden. »Die« Volksmeinung gebe es nicht, weil sie sich ständig ändere und auch nicht klar sei, wer unter dem Begriff »Volk« zu subsummieren sei. Die Berufung von Populisten auf die »schweigende Mehrheit« sei demzufolge nur eine Behauptung um für sich die Legitimation zu erhalten. Dass es so etwas wie eine »Schweigespirale« gibt, scheint er zu negieren.
Zwar hat Müller formal Recht – selbst am Wahltag einer Bundestagswahl würde die Wahl, wenn man sie zwei Stunden später noch einmal stattfinden lassen würden, sicherlich anders ausfallen. Aber entfernt man die diskreditierten Begriffe »Volk« und »Volkswillen« und ersetzt sie durch »Wähler« und »Mehrheit der Wähler«, so löst sich diese Argumentation und damit ein Baustein seiner Populismus-Theorie fast schon auf. Und hier zeigt sich dann auch das Manko seines »Occupy«-Vergleichs. Nur weil diese sich als Sprachrohr für 99% sehen, sind sie nicht weniger populistisch als diejenigen, die, so Müller, für sich 100% Zustimmung in Anspruch nehmen. Und so dumm kann kein Populist sein, dass er für sich 100% Zustimmung reklamiert (es sei denn, er ist Diktator). Insofern führt Müllers Verwendung des Tocqueville-Begriffs der »Tyrannei der Mehrheit« nicht weiter. Dabei sollte längst Konsens sein, dass demokratische Politik immer auf Mehrheitsentscheidungen basiert, die allerdings durch entsprechende institutionalisierte Kontrollmechanismen ausbalanciert werden muss. Erst wenn diese Kontrollmechanismen nicht mehr funktionieren bzw. Hand an sie gelegt wird, droht Ungemach. Das ist aber dann kein Populismus mehr, sondern Diktatur.
Aus der Ablehnung plebiszitärer Elemente spricht neben der Furcht vor dem »falschen« Resultat – vorsichtig ausgedrückt – auch eine Geringschätzung des potentiellen Wählers. Dieser könne, so die unausgesprochene These, die komplexen Sachverhalte nicht »richtig« bewerten. (Inwiefern dies die Repräsentanten können, die 1000-seitige Konvolute über EU-Rettungsschirme binnen 24 oder 48 Stunden lesen, verstehen und bewerten sollen, wird nicht diskutiert.) Daher versucht man erst gar nicht mittels argumentativer, anti-populistischer Auseinandersetzung die »richtige« Politik nahezubringen. Die Furcht vor dem »falschen« Resultat ist zu groß. Indirekt zeigt sich damit auch, dass die Bildungspolitik der letzten Jahrzehnte versagt hat. Die gelegentlich so hochgehaltene »Schwarmintelligenz« hat scheinbar dort ihre Grenzen, wo sie wichtige politische Entscheidungen treffen soll. Stattdessen tritt eine Art tautologischer Politikstil in den Vordergrund: Etwas ist richtig, weil es richtig ist.
Die Vorschläge Müllers zum Umgang mit Populisten im Tagesgeschäft fallen eher bescheiden aus. Auf die Gründe für das Erstarken der populistischen Parteien (oder Bewegungen) geht er kaum ein. Die über Jahrzehnte als Erstarrung wahrgenommene Politik der sogenannten »etablierten« Parteien, die allzu oft in Großen Koalitionen Probleme nur noch »auf Sicht« verwalten statt neu zu strukturieren, könnte eine Erklärung für die merkwürdige Stärke der Populisten liefern.
Die Ambivalenzen der Repräsentation sieht Müller ja durchaus. Aber seine Sicht ist demokratie-theoretisch, richtet sich gegen den eher abstrakten Begriff des imperativen Mandats. Die »moderne Demokratie«, so Müller, kenne nur das »freie Mandat«. Das dies eine reine Behauptung ist, die durchaus kontrovers diskutiert werden könnte, kommt gar nicht vor. (Häufig empfinden sich deutsche Abgeordnete als Repräsentanten ihrer Partei, die sie zur Wahl aufgestellt und ihren Wahlkampf bestritten hat. Es gibt also auch noch ein imperatives Mandat in Bezug auf die Partei. Dies ist bei der Betrachtung des Populismus allerdings zu vernachlässigen, da diese Parteien häufig auf eine Person ausgerichtet sind.)
Was aber, wenn erhebliche Teile des öffentlichen Meinungsspektrums in den Parlamenten gar nicht mehr repräsentiert werden? Sollte man nicht auf eine gewisse Art und Weise populistische (nicht extremistische!) Parteien sogar begrüßen, da sie notwendige Diskussionen anstossen? (Müller negiert das nicht ganz.) Aber dies ist natürlich anstrengend, denn dass eine Dämonisierung sinnlos ist, müsste jedem auch noch gutwilligen Aktivisten inzwischen dämmern. Ein einfaches Nachplappern von Populismen zwecks »Stimmenfang« ist auf lange Sicht auch nicht zielführend, da man bereits gesehen hat, dass lieber der Originalton als das Echo gewählt wird. Insofern ist das jahrzehntelange taktisch angelegte Konzept der Unionsparteien, dass rechts von ihnen keine starke politische Kraft entstehen darf, gescheitert.
Im Herbst 2017 wird in Deutschland ein neuer Bundestag gewählt. Bereits jetzt mahnen, ja: beschwören einige Politiker, Experten, Sozilogen, Politikwissenschaftler, Lobbygruppen und NGOs, dass bestimmte Themen bitte in keinem Fall in den bevorstehenden Wahlkampf eingebracht werden sollten. Aber ist diese Art von Tabuisierung nicht das Gegenteil dessen, was in Wahlkämpfen eigentlich stattzufinden hat. Wieso darf man nicht Qualifizierung und Integration von Zuwanderern thematisieren, auf die eventuelle Belastung der Sozialsysteme und Schulen, des Wohnungs- und Arbeitsmarktes hinweisen und hierfür politische Lösungsvorschläge einbringen? Warum sollen Diskussionen über neue Rentensysteme und –formeln nicht geführt werden? Welche Gründe gibt es dafür, nicht über die Zukunft der Europäischen Union in den nächsten fünf bis zehn Jahren zu streiten? Warum sind angeblich Nationalstaaten zukunftslos und Supranationalität das Gebot der Stunde? Die Liste der Themen ließe sich noch fortsetzen. Stattdessen führt(e) man lieber Wahlkampf über lächerliche Rand- bzw. Scheinthemen wie PKW-Maut, Betreuungsgeld, Elektroautos oder die Brosche der Kanzlerin und Stinkefinger des Kandidaten.
Wird das 2017 anders werden? Schon klar: Überall lauert der Populist, der hieraus, so die Furcht, Wasser für seine Mühlen abzweigen könnte. Müller spricht von einem Bodensatz von 10–15% populistischer Wähler. In Österreich und Frankreich zeigt sich allerdings, dass die populistischen Parteien in dem Maße Zulauf gewinnen, in dem man sie mit Empörungsritualen, künstlichen Ausgrenzungen und Anhängerbeschimpfung versucht zu bekämpfen oder, das erwähnt Müller, einzelne politische Entscheidungen nicht anfasst oder, anders herum, in Aktionismus verfällt. Vieles spricht also dafür, den dornigen Weg des Diskurses zu beschreiten. Dabei müssten die politischen Eliten agieren, versuchen, zu überzeugen statt von oben herab zu dekretieren. Und spätestens hier würde den (öffentlich-rechtlichen) Medien eine wichtige Rolle zukommen: Weg von der personalisierten Schlagzeilenberichterstattung hin zu einer sachbezogenen, vertiefenden aber eben nicht paternalistischen Aufklärung. »Politik von oben« alleine wird nicht funktionieren.
Ich beginne mit dem, was Sie @Gregor am Schluss ausführten. Ich habe den Eindruck, dass mit der »Themenvermeidung« bei Wahlkämpfen und der Verlegenheit Müllers, den Populisten mit komplexen Argumentationen schlecht beikommen zu können, eine These von Gilles Deleuze wieder aktuell wird. Er sprach von der Kontrolle, welche die Spätbürgerlichen nicht nur über die Märkte sondern auch über die Diskurse ausüben zu müssen.
Ich würde dem die schon mehrfach gefallene Einordnung (auch Sarrazin zuletzt) vom wilden Politischen zur Seite stellen. Der Kontrollverlust der Bürgerlichen erstreckt sich über die Finanzmärkte bis hin zu einer hohen Arbeitslosigkeit im Süden, weiters über eine ganze Anzahl von Migrationsbewegungen »in die Mitte Europas hinein«, bis hin zu dieser vogelwilden Truppe, die sich mit Pegida, der AfD und publizistischen Freelancern kundtut, welche wiederum auf die Märkte und die Migration Bezug nimmt. Will sagen, der Kontrollverlust bezieht sich auf Reales und auch auf den »Diskurs an sich«, den man mit Begriffen wie »Mainstream« oder »demokratische Auseinandersetzung« umschreibt, wenn man meint, alles im Griff zu haben.
@die_kalte_Sophie
Danke für den Einwurf, aber ich möchte zunächst die Diskussion im Sinne dessen, was ich »Leserunde« nenne auf das Buch von Müller konzentrieren. Andere Punkte können wir später hinzunehmen.
Beim Himmel, was haben Sie sich für eine Arbeit gemacht! Ich fürchte, ich bin ebenfalls ein wenig unordentlich, nun denn:
Was mich beschäftigt an der Causa, ist die Sorge Müllers, jemand berufe sich aufs Volk und entdifferenziere dadurch den politischen Diskurs.
Zu recht weisen Sie darauf hin, dass dieser Vorgang nach allen politischen Richtungen hin offen ist, dass Müller aber vornehmlich die rechtspopulistische Variante betrachtet. Wie Sie ebenfalls feststellen, macht Müller nicht viel daraus, außer dass er in Sachen Occupy in Rechtfertigungsnöte kommt.
Vielleicht noch diese These: Die Entdifferenzierung des politischen Diskurses bringe eine Attitude hervor, die strukturell antidemokratische (= antipluralistische) Züge trage.
Überhaupt neigt die Populistin nach Müller dazu, ihre subkomplexe Sicht der Dinge zur Norm zu erheben und dadurch selbst die bewährten Traditionsbestände an institutionellem und kulturellem Reichtum zu schleifen.
Die beiden großen Themen sind: Migration (Immigration) und der Euro und seine Folgen.
Die praktischen Probleme, die an diesen beiden Groß-Themen hängen, sollen handhabbarer werden, indem die Eliten ebenso wie die europäischen Intellektuellen und die Medien sich für die EU einsetzen. Dies sei angezeigt, da a) Europa im Weltmaßsstab gesehen ohnehin schrumpft und b) die großen Probleme die Ländergrenzen längst obsolet gemacht haben (Welthandel, Klimaschutz, Weltfrieden). Ein Ruck soll durch Europa gehen und eine segensreiche »Politisierung von oben« erwirken.
Lieber Herr Keuschnig: Sie betonen, dass Müller den Fehler mache, die Haupt-Krux des Populismus zu übersehen: Nämlich dessen Neigung, die Wähler mittels Scheinlösungen und leeren versprechen an die Urnen zu locken und recht eigentlich Komplexität zu leugnen.
Solange das abstrakt bleibt, ist es ok: Man soll nicht subkomplex argumentieren. Überkomplex ist aber auch nicht gut. Da sei Ockham vor.
Es muss immer zwischen der Expertenkultur hie und der Lebenswelt da vermittelt werden (das ist eine der Kernthesen der Theorie des Kommunikativen Handelns). Ockham ist auch insofern aktuell, als er mit der römischen Theologie eine hypertrophe Expertenkultur angriff. Wie man heute weiß, nicht ganz folgenlos. Und ja: Die Reformation war in theologischer Hinsicht eine erhebliche Form der Komplexitätsreduktion.
Mit Ockham: Man kann die Problemlage auch überkomplex darstellen (Freud nannte das Rationalisierung).
Es ist also ein systematischer Fehler in der Diskussion über Populimus, Kompexitätsreduktion per se zu brandmarken. Oder Komplexitätsteigerung per se zu befürworten. Insofern beruht ein gut Teil der Populimus-Verächtung auf einem Denkfehler.
Was sie über die Massenmedien schreiben ist bedenkenswert. Was mich dort stark irritiert: Die Vermengung von konstativer Rede und therapeutischer Intervention. Man soll nicht sozialwissenschaftliche Fakten tabuisieren mit Blick auf die ad ultimo germanisch-nazistisch verseuchte deutsche Volksseele. Die deutsche Gesellschaft ist aktuell weder ein Ponyhof noch drohen »faschistoide« (R. D. Precht gegen Sloterdijk) oder freicorps-artige Zutände (Zeit-online ebenfalls gegen Sloterdijk – und Safranski).
Werter Herr Keuschnig: Ob sie mir beipflichten würden, wenn ich behaupte: Das ist aktuell der Zustand des dornigen Weges des Diskurses – einschließlich einem antisemitischen Verschwörungstheoretiker, seines Zeichens Schriftsteller und retirierter Hausarzt im baden-württembergischen Landtag namens Gedeon.
Bleiben wir bei Müller, natürlich. – - Was mich gleich in der Einleitung ernüchtert hat, ist die Beschreibung seiner Kernthese. Die These ist lediglich eine BEWERTUNG des Populismus, die sich an einem universellen Demokratie-Begriff aufhängt. Das ist fachlich ziemlich niedrig angesetzt, auch wenn Müller ausführlich versucht, den Zusammenhang zwischen »Populismus«-Theorie und Demokratie-Theorie zu entfalten.
Damit hängt die Qualität der Erörterung doch einzig allein an der Plausibilität der Demokratie-Theorie. Und diese ist ja, wie Sie @ Gregor ausführten, nicht immer hieb und stichfest. Siehe der Hinweis auf das »imperative Mandat« und das heillose Kreisen um die majoritären Begriffe »Volk« und »Moral«.
Erste Kritik: eine phänomenologische Erörterung des Populismus müsste der Demokratie-Theorie vorausgehen. Das ist relativ viel Forschungsarbeit, weil man die fraglichen Länder von Bolivien, Venezuela, Thailand, die Philippinen, Holland, Schweden, Dänemark, Frankreich, GB, U.S.A., etc. nicht mehr mit Stichpunkten abhandeln kann. Man müsste dann zwischen demokratischen Strukturen, illiberalen Politiken und autoritären Gebilden in den staatstragenden Parteien unterscheiden, schon um die Fallgewissheit über den Umschlagpunkt zur Diktatur zu erreichen. Ein allgemeiner »Instinkt« gegen das Autoritäre und Illiberale, auf den sich Müller zweifellos versteht, ist nicht besonders urteilssicher.
Übrigens spielt auch der Begriff »Urteil« in einer Analyse eine für mich nicht nachvollziehbare Rolle. Das soll Sicherheit signalisieren, wenn die Genauigkeit fehlt?!
@Gregor
Ich teile Deine Einwände (und erspare mir durch Deine Vorarbeit einiges an Schreibarbeit).
Ich möchte noch einmal auf einen Punkt verweisen, der schon angeklungen ist: Populismus (und Demagogie; meine Definitionen vor dem Lesen, dort und dort) zerstören und ersetzen einen differenzierten, argumentbasierten Diskurs (warum das passiert und möglich ist, hängt mit den Ursachen und dem Erfolg populistischer Bewegungen zusammen; er scheint mir im Grundsatz nur bei einem eher kleinen Teil der Bevölkerung »naturgegeben« zu sein). Eine Analyse populistischer »Diskursmuster« müsste man mit einer der Bewegungen verbinden und klären warum auf Populismus gerne mit demselben Mittel reagiert wird und wo die Unterschiede liegen. — In der Zerstörung bzw. Ersetzung des öffentlichen Diskursraums sehe ich die größte Gefahr und erst dadurch wird alles Weitere möglich (ein Prozess den man fast überall beobachten kann).
Österreich könnte ein interessantes und lehrreiches Beispiel sein: Wir haben eine Regierung, die sich innerhalb ihrer Amtszeit personell erneuert und einem Neubeginn verschrieben hat; das ist keine neue Praxis und mittlerweile stellen sich – nach erstaunlich kurzer Zeit – die ersten Konflikte nach alten Mustern ein. Wir werden sehen wie sich das weiterentwickelt, aber eines ist klar: Das Versprechen eines Neubeginns ist eine Glaubwürdigkeits‑, nein: eine Vertrauensprobe und das Eis ist dünn. — Meine These ist, dass Populisten ihre großen Erfolge zu einem guten Teil der Abnutzung und dem Scheitern der etablierten politischen Eliten verdanken: Dann greifen ihre Phrasen, gerade dann treffen sie Realität am besten und die Menschen sind am ehesten bereit ihnen zu folgen.
Ich muss mir noch meine etwas chaotischen Notizen durchsehen, dann folgen vielleicht noch ein paar Punkte.
@Gregor Keuschnig
Ihre Einleitung ist sehr gelungen, fasst alle wesentlichen Ideen zusammen. Auch ihrem Kommentar kann ich im Wesentlichen zustimmen.
Als erstes ist mir klar geworden, dass mein Begriff des Wortes sehr diffus war. Schande über mich. Die wesentlichen Eigenschaften waren für mich der Opportunismus, das Ansprechen von hohen wie niederen Instinkten der Wähler, wie Gerechtigkeitsempfinden und Neid, sowie die von Ihnen genannte Komplexitätsreduzierung. Ich würde aber nicht die Frage stellen: Wann wird die Schwelle vom Populismus zur Demagogie überschritten?, sondern eher: Ist Populismus eher opportunistisch oder demagogisch?. Der Duden definiert die Begriffe so:
Und da stolpere ich zum ersten Mal. Populismus ist von Opportunismus = Anpassung geprägt oft aber auch demagogisch = Volksverführung. Da stimmt was nicht. Beispiele: Trump ist sicherlich opportunistisch. Während der Primaries will er eine Mauer Richtung Mexiko bauen, kaum ist er nominiert, liebt er alle Hispanics und publiziert ein Foto mit wie auch immer geartetem Hispanicfood. Cruz dagegen ist Taliban. Demagogisch versucht er seine illiberalen kruden Thesen den Wählerns kompromisslos überzustülpen. Pretty different? Nö, beides Populisten. Da Müller den opportunistischen Teil des Wortes erst gar nicht thematisiert, war mir zumindest schnell klar, dass es hier nur um den kulturwissenschaftlichen Diskurs geht und mit dem Wort, dass sich die Kontrahenten in den Talkshows um die Ohren hauen, nicht viel zu tun hat.
In Ermangelung eines echten Textkorpuses habe ich mal mit Googles Ngram Viewer die Verbreitung der Wörter nachgesehen. Die Adjektive und die Nomen zeigen erstaunlicherweise ein recht unterschiedliche Verwendung. Demagogisch und Demagogie scheinen auf dem absteigenden Ast, das Nomen war in den 70er-Jahren plötzlich sehr modern. Populismus tritt überhaupt erst in den 60er-Jahre auf (ob durch die Studentenbewegung oder den von Müller angesprochenen Kongress in London sei dahingestellt), hat seitdem Konjunktur. Überraschenderweise ist bei den Adjektiven opportunistisch viel stärker en vogue als populistisch.
Damit ist das Kardinalproblem klar. Jeder meint etwas anderes, wenn er das Wort verwendet. Und damit ist auch Müllers Problem umrissen. Er versucht das kulturwissenschaftliche Wort als Urmeter für jede andere Verwendung zu benutzten, was kaum gelingen kann. Die Probleme mit den 100% haben Sie schon angesprochen. Auch wenn man zugute hält, das Müller nicht meint, dass ein Populist wirklich glauben muss, dass er 100% vertritt. Es reicht, wenn er so tut. Als Gegenbeispiel habe ich sofort Guido Westerwelle mit der 18 auf den Sohlen und sein späterer Ausspruch über die spätrömische Dekadenz vor Augen. Für mich Populismus in Reinkultur, ohne auch nur eine Mehrheit anzuvisieren.
Zum ersten Mal die Augenbraue gehoben, habe ich, als er von aufgeregtem Gerede über Postdemokratie sprach, die weder normativ noch empirisch zu sehen ist. Das ist schon eine abenteuerliche Behauptung. Es gibt wahrlich genug anerkannte Wissenschaftler, die zumindest diese These für diskussionswürdig halten. In Zeiten, in denen Abgeordnete nicht mehr verstehen, worüber sie abtimmen, in denen Steuergesetze von den Firmen zumindest mitgeschrieben werden, die später mit entsprechenden Steuersparmodellen an den Kunden gehen, Postdemokratie als Gerede abzutun, hat ihm in meinen Augen schon auf S.17 schweren Schaden zugefügt.
Ähnlich seine fast schon dualistische Wertung von demokratischer Wahl und Plebiszit. Die Wahl ist Alles, das Plebiszit Nichts. Als ob der Wähler bei der Bundestagswahl all seine schlechten Eigenschaften ablegen würde, die er beim Plebiszit wie ein Banner vor sich her trägt. In Wahrheit sieht es doch eher so aus, dass man bei einer Wahl nur ein versprochenes Meinungsbouquet wählt, an das man sich später hält oder auch nicht. Beim Plebiszit gilt es und zwar so, wie bei der vielbeschworenen Demokratie in Griechenland auf der Agora oder in Rom auf dem Forum. Nicht Areopag oder Senat haben die Gesetze gemacht, das Volk hat abgestimmt. Und wenn da was aus dem Ruder läuft, ist Platz für Populisten. Soweit erstmal und als Zwischenfazit (und um doch noch Bezug zur EM zu bekommen): Politik muss konsequent Raumdeckung gegen Populisten spielen und bei besonders gefährlichen Stürmern wie Le Pen oder Wilders muss man sie auch mal in Frau-/Manndeckung nehmen.
Noch ein paar Anmerkungen in Verbindung mit meinen Notizen:
metepsilonema
Wenn Populismus meist oder immer eine Frage von Opportunismus ist, ...
Viktor Orbán, Jarosław Kaczyński, Marine Le Pen, Hugo Chávez, Ted Cruz, Wladimir Putin, dass sind doch alles keine Opportunisten, gelten aber alle als Populisten. Jeder von ihnen hat soweit ich dass sehe eine Mission, Macht um der Macht willen reicht ihnen nicht. Illiberal, antipluralistisch, teilweise antielitär, ja, aber opportunistisch, nein.
Auf Müllers andere Definition des Volkes als historischer Zufall, praktisch Folge gewonnener Kriege könnte man sich vielleicht einigen, ohne damit etwas gewonnen zu haben.
Bei dem Verhältnis zwischen vermeintlichem Volkswillen und populistischem Parteiprogramm hat Müller sich glaube ich arg verheddert. Sie erkenne den einzigen Volkwillen, sind aber demagogisch, sind für Plebiszite, aber eigentlich auch nicht. Alles sehr labil und inkonsistent.
Die Elitenkritik ist sicherlich ein elementarer Teil populistischer Parteien. Wie in vielen Ländern haben wir in Deutschland natürlich auch die Diskussion, dass »etwas nicht stimmt«. Aber momentan eher den Vorwurf der populistischen Mitte, so dass das lange gültige Franz-Josef-Strauss-Diktum, dass es keine demokratische Partei rechts von CDU/CSU geben dürfe, von Merkel (schon per TINA) in Frage gestellt wurde und dadurch die rechte Flanke für Populisten geöffnet wurde.
OT: Wie hat die Aufzählung funktioniert? Bei meinem Versuch hat der Editor die Tags ul/li entfernt.
@Dieter Kief
Ihr Einwand bzgl. der Massenmedien (»Die Vermengung von konstativer Rede und therapeutischer Intervention.«) ist ja zutreffend. Daher sehe ich die Gefahr der Überkomplexität (Ockham) in den Massenmedien (und hierüber müssen wir beim Thema Populismus reden) überhaupt nicht. Wenn Sie wollen, streiche ich den Begriff des »Unterkomplexen« und ersetze ihn mit Ihrer Formulierung der »Entdifferenzierung des politischen Diskurses«. Ich stimme Ihnen nämlich zu, dass hierin der Grund liegt für »strukturell antidemokratische (= antipluralistische) Züge«. Nur: Zur Entdifferenzierung tragen eben jene Medien bei, die sich an Personenfragen ergötzen (wieso hat die SPD noch keinen Kanzlerkandidaten) statt sich mit den Themen zu beschäftigen.
Müller ist sich dessen wohl bewusst, in dem er auch bei den Kritikern der Populisten einen antipluralistischen Affekt entdeckt. Die hysterisch geführten Debatten um Sloterdijk/Safranski zeigen dies ja überdeutlich. Sie wurden in eine »neu-rechte« Ecke gestellt, weil sie es wagten Kritik zu üben. Statt sich damit auseinanderzusetzen begann sofort eine Diffamierungskampagne.
.-.-.
@Sophie und @metepsilonema haben natürlich Recht. Müller unternimmt gar keine phänomenologische Betrachtung des Begriffs Populismus. Bei ihm ist es sofort eine Ideologie, nicht nur eine Methode. Auch die Spezifizierungen, wie sie @Joseph Branco so schön herausgearbeitet wird, finden nicht statt. Alles ist sofort Populismus. Wie wohl die Google-Grafiken aussehen, wenn die Ergebnisse bis 2015 eingearbeitet sein werden (das ist wohl derzeit nicht möglich).
Mein Verdacht: Populistisch/Populismus klingt aggressiver und eindeutiger »böse« als opportunistisch. Während Opportunismus eher verstanden werden kann als ein persönliches Verhalten (bspw. eines Politikers), so ist Populismus schon eher intentional zu verstehen. Es klingt auch ein wenig nach »populär«, was in bestimmten Kreisen ja per se schon mit Unbehagen betrachtet wird. Der Begriff der Demagogie wird womöglich alleine schon aus rechtlichen Gründen gemieden; ich kann mich daran erinnern, dass sich in den 1970er Jahren schnell hitzige Debatten daran entzündeten, wenn dieses Wort fiel. Demagoge wurde (und wird) eher mit einer Figur wie Goebbels in Verbindung gebracht.
Natürlich sind Orbán, Kaczyński, Wilders, und Le Pen keine »Opportunisten« mehr, sondern versuchen planvoll die Macht zu übernehmen. Ob das eine Mission ist, vermag ich nicht zu sagen (vielleicht der Versuch einer Restauration?). Es würde auch wenig ändern. Schwierig wird die Sache immer dann, wenn demokratische Strukturen dazu verwendet werden, um diese dann dauerhaft der eigenen Ideologie anzupassen. Das Paradox wird noch deutlicher, wenn man sich die Anti-EU-Parteien im Europäischen Parlament anschaut. Ihre einzige Programmatik besteht darin, ihre jeweilige Nation aus dem Korpus EU herauszubringen. Hierzu nutzen sie zielgerichtet eine Institution, die sie gleichzeitig ablehnen. Das Verhalten mag man als opportunistisch bezeichnen, das Ziel ist jedoch destruktiv.
Dass Müller die These der »Postdemokratie« wie einen lästigen Kuchenkrümel vom Tisch wischt, fand ich auch interessant. Ich stehe diesem Befund zwar mit einer gewissen Skepsis gegenüber, aber ihn mit einem Satz praktisch wegzuwischen zeugt von wenig Souveränität (und – das ist jetzt polemisch – »Antipluralismus«). Natürlich ist Müller dem Denken bspw. von Möllers sehr nah (den er einmal zitiert, aber eine wichtige Schlussfolgerung Möllers’ in Bezug auf den Populismus weglässt). Beide denken in Institutionen. Solange diese Institutionen noch administrativ funktionieren, werden die Bedenken schlichtweg geleugnet.
Die Elite-Diskussion ist m. E. vor allem aufgrund des Status des Berufspolitikers virulent. Während man sich in Wahlkämpfen noch erbittert bekämpft, zeigt sich in Koalitionen dann, dass die Differenzen gar nicht so groß sind. In Deutschland ist es längst Konsens in der Politik, dass alle demokratischen Parteien miteinander koalieren können. Dabei ist der Status der »demokratischen Partei« auch Stimmungen unterworfen. In den 1980er Jahren wollten Konservative die Grünen in keinem Fall dazu rechnen; sie galten als Bürgerschreck. Nach der Wende galt die PDS, heute: Linkspartei, als Paria. Diese Vorbehalte weichen in dem Maße auf, in der sich die Parteien den Gepflogenheiten der Anderen angepasst haben. So entstehen dann die »politischen Eliten«. Populisten greifen nun diesen »Klüngel« (rheinisches Wort) an und gerieren sich gleichzeitig als »Parteienschreck« (da, wo es früher der »Bürgerschreck« gab). Dass sie sich selber elitär geben (schon, in dem sie andere schlichtweg ausgrenzen), schadet ihnen merkwürdigerweise nicht, zumal, wenn sie ihren Anhängern das Gefühl vermitteln, einer irgendwie gearteten anderen »Elite« anzugehören.
Ich glaube übrigens, dass Müller in dem Punkt Recht hat, wenn er schreibt, dass Populisten an Plebisziten an sich, also an dem Urteil des Bürgers, gar nicht interessiert sind. Sie benutzen einen für sie positiven Bescheid nur (s. o. das Beispiel mit den EU-Gegnern im Europäischen Parlament).
Noch eine etwas abseitige These: Kann es nicht sein, dass der Erfolg der Populisten auch eine gewisse Sehnsucht nach einem wirklich offenen, von jeglichen Rücksichten erst einmal befreiten Diskurs verstehen werden kann? Nicht umsonst grassiert ja immer die Mär von dem, was man nicht mehr sagen dürfe. Indem Populisten bewusst diese Rolle des »Tabubrechers« übernehmen, erhalten sie plötzlich eine Glaubwürdigkeit zugesprochen. Dabei kommt es am Ende gar nicht mehr darauf an, ob das, was gesagt wurde, in sich schlüssig ist oder stimmt. (Das kann man am Gauland-Zitat sehen: Dass sich Gauland laufend widerspricht, schadet ihn bei seinen Anhängern überhaupt nicht.) Das würde auch erklären, warum eine argumentative Auseinandersetzung so schwierig ist.
Die These ist bestimmt nicht abseitig. Man kennt doch die Gesichter, die fast zu explodieren scheinen, wenn endlich mal die »Wahrheit« gesagt wird. Man riecht die schwarze Galle, die sich angestaut hat. Ich hatte nach Ihrer Rezension an anderer Stelle von Mainstream von Uwe Krüger das Buch gelesen, der dort überzeugend herausarbeitet, wie es zu dem Meinungskorridor von der Breite einer Schießscharte in den Mainstreammedien kommt. Andere noch demokratische Meinungen findet man halt nur noch in den Schmuddelecken. Sich mal locker in geselliger Runde hinstellen und »Schotten dicht« posaunen, erfordert zumindest Haltung, die oft nicht vorhanden ist und so sucht sich der Unverstandene ein Ventil, auch wenn es ein wenig schmierig ist. In dem Fall sind die Eliten dann nicht die da oben, sondern die gleichgeschaltete Mitte.
Australien, einer der Sehnsuchtsorte vieler Europäer, vertritt eine Flüchtlingspolitik, die weit rechts von allem steht, was die AfD je gefordert hat. Bootsflüchtlinge werden vor der Küste aufgegriffen und nach Papua-Neuguinea oder Tonga in unhaltbare Zustände verfrachtet. Ins Land kommt man nur nach sehr strengem Verfahren. Allein der Versuch an Land zu kommen gilt als cue jumping und wird gesellschaftlich nicht toleriert. Und zwar von Konservativen wie Sozialdemokraten. Ich glaube bisher hat niemand behauptet, dass Australien ein abscheuliches Land schlimmer als Ungarn oder Russland ist. Weil man sich lächerlich machen würde, die Realität plötzlich als Maßstab zeigt, wie klein man selber denkt. Und das ist Futter für Populisten, weil nicht argumentiert, sondern diffamiert wird.
Beim Linkspopulismus, der sich gegen Machteliten richtet, werde ich auch manchmal schwach und muss meine Argumentation wieder in ruhigeres Fahrwasser bringen. Vor ein paar Wochen habe ich mich mit dem Fahrrad im Düsseldorfer Norden etwas verfahren und bin mitten in der Airport-City gelandet. Eine interessante Erfahrung. Dass man Globalisierung fühlen kann, hätte ich nicht gedacht. Zwischen Nobelhotel und Porsche-Dependance wird die Vorstellung einer weltweiten, transnationalen Elite spürbar. Müller unterscheidet soweit ich mich erinnere nicht, ob das antielitäre nur für eingebidete Eliten gilt oder auch für reale. Insgesamt spricht Müller kaum von Verflechtungen zwischen Politik und Wirtschaft, das Politische ist ihm zur Begründung genug. Aber gerade der Linkspopulismus sieht das Feindbild doch in der Wirtschaft und Politik ist nur Mittel zum Zweck.
@Joseph Branco
Natürlich ist das Wollen etlicher Protagonisten nicht opportunistisch, aber ihre Methodik (vielleicht). Viele Politiker benutzen populistische Formulierungen, wenn es passt, wenn sie sich daraus einen Vorteil erhoffen (oder wenn es der »Gegner« tut). Passiert das bei den Genannten aus denselben Gründen oder ist es – sozusagen – inhärent? Falls ja, warum (und worin unterscheidet sich der Populismus als inhärente bzw. opportunistische Methode)? Und gibt es etwas wie »moderate Populisten«? Gibt es Länder mit gleichzeitig mehreren populistischen, politischen Bewegungen?
[Zur Liste: An ihrem Beginn das ul tag setzen; dann vor jedem Listenpunkt ein li und dieses nach jedem Listenpunkt schließen; am Ende der Liste das Tag ul schließen.]
Der Tabubruch passt gut zur Elitenkritik (die glaube ich, um erfolgreich zu sein, schon etwas mit der Realität zu tun haben muss); er kann als Speerspitze der Kritik, als beispielhaft, wahrgenommen werden. — Man könnte jetzt den Populismus glatt mit Gramscis Konzept der Hegemonie verbinden, ihn also als einen Kampf um einen Wandel der vorherrschenden (und unausgesprochenen) gesellschaftlichen Zustände deuten (was m.E. auch zu Joseph Brancos Linkspopulismus passt).
1. Populismus: Theorie...
Die Theorie des Populismus zu fassen, ist durch den schwammigen Begriff sehr schwierig. Müller scheint hin- und hergerissen zwischen der südamerikanischen, nordamerikanischen und europäischen Deutung des Wortes, findet dann aber mit antielitär und antipluralistisch zwei notewendige, aber nicht hinreichende Merkmale. Den Sack zu macht er mit dem moralischen Alleinvertretungsanspruch, der durch das Erkennen des wahren Volkswillen legitimiert ist. Wenn dies nicht per Wahl gelingt, stimmt irgendetwas mit der Demokratie nicht. Der Alleinvertretungsanspruch ist nicht 99%, 100% müssen es sein. Der Populist kann den Willen des Volkes als Einziger erkennen, heizt ihn durch eine Dramatisierung der Zustände aber selbst an. Der Wähler ist Kleinbürger oder Sozialdarwinist, meist gering gebildet und Modernisierungsverlierer.
Bei antielitär und antipluralistisch kann man kaum widersprechen, warum Müller aber auf den 100%igen Vertretungsanspruch kommt, verschliesst sich mir, zumal diese Aussage für den Rest des Buches nur Klotz am Bein bleibt. Auch die Diffamierung der Wähler ist unnötig, da hätte man deutlich differenzierter vorgehen können. Kleinbürger, Sozialdarwinist, Modernisierungsverlierer mit geringer Bildung oder Wutbürger muss man schon sein, um Populisten auf den Leim zu gehen. Solange diese ungeliebten Wähler der Wahlurne fern blieben, vergoss man Krokodilstränen ob der niedrigen Wahlbeteiligung. Wenn die Wahlbeteiligung dank AfD wieder steigt, kommen die Pharisäer ins Schleudern, müssen vor der Kamera darüber froh sein, winden sich dabei aber wie ein Aal.
Unappetitlich finde ich die Passage, in der Müller Teilnehmer an Online-Petitionen als Wutbürger beschimpft (ich habe sowohl die »Wasser ist ein Menschenrecht«- als auch die »Stop TTIP/CETA«-Petitionen aus, so glaube ich, guten Gründen gezeichnet) und die Kontaktaufnahme zu dem Abgeordneten als Mail-Bombardement bezeichnet (ich habe meinen Abgeordneten zu seinem vermutlichen Abstimmungsverhalten zu TTIP/CETA kontaktiert). Die Wahl ist alleiniger Ort wo Demokratie stattzufinden hat. Wenn ich nach Frankreich schaue, mit welchem Wahlprogramm Hollande hoffnungsfroh angetreten ist und welches er momentan per (Sach-)Zwang durchzusetzen versucht, ist der Wähler durchaus betrogen worden und die Wahl oder alternativ die repräsentative Demokratie ad absurdum geführt. Auf die nächste Wahl zu warten, wenn alles in trockenen Tüchern ist, hat mit Demokratie nichts mehr zu tun. In Deutschland hatten wir ähnliches mit der Schröderregierung erlebt. Wenn man nüchtern aufzählt, was Rot-Grün durgesetzt hat, das hätte vorher niemand geglaubt. Wahlen alleine reichen nicht, Demokatie braucht zusätzlich ein themenbezogenes Korrektiv und mehr Transparenz.
Einen Blick auf Müllers wahres Denken findet glaube ich auf S.34 unten. Der Wähler ist gegenüber etablierten akademischen Eliten (sprich er) feindlich eingestellt, obwohl man doch selbst im Internet forscht (in Anführungsstrichen) und dort Erkenntnisse gewinnt. Wenn das keine Herrenreiterattitüde ist, kein Ressentiment, was dann? Und das auf welcher Basis?
Der Hinweis, dass es sich bei Führern populistischer Parteien nicht um charismatische Menschen handeln muss, hat mich nicht sehr überzeugt. Das Merkmal der Demokratie, dass Menschen austauschbar sind, nur eine Funktion ausfüllen, gilt bei Populisten kaum. In Venezuela kann man gerade sehen, was passiert, wenn der Nachfolger kein Charisma hat. In Deutschland sprach man aber tatsächlich vor den Erfolgen der AfD immer davon, dass sobald ein charismatischer Führer da wäre, auch hierzulande eine populstische Partei möglich wäre. Es ist anders gekommen, anders als in allen anderen Ländern, was aber nur dem besonderen Umstand der Flüchtlingskrise geschuldet ist.
Richtig ist der Einwand, das Kritik schnell als Ressentiment oder Populismus verteufelt wird. Mittlerweile könnte das Wort Godwins Law erweitern. Allgemein gilt jede Unstimmigkeit, eigentlich der Normalzustand in einer Demokratie, als schädlich. Wenn ein Thema in den Bundestag kommt, ist meist schon eine Einigung im Hinterzimmer ausgemacht. Kampfabstimmungen gelten als zu vermeidender Streit (Als Jens Spahn in den Vorstand der CDU gewählt werden wollte, aber dadurch weniger Plätze als Bewerber vorhanden waren, musste Hermann Gröhe auf Befehl seine Kandidatur zurücknehmen). Bei ÜberMedien habe ich gelernt, dass CDU/CSU Enthaltungen bei der Berechnung von Wahlergebnissen weglassen, um bessere Wahlergebnisse erscheinen zu lassen. Die Menschen werden harmoniesüchtig genannt, man verwechselt aber vielleicht nur Ursache und Wirkung.
Noch ein Zwischenruf zum freien Diskurs: ich nehme das ähnlich wahr wie @Gregor. Es ist nicht eindeutig zuzuordnen, ob hinter dem Motiv des »Diskurs-Brechers« wirklich die Absichten der Populisten lauern, oder ob es sich um eine Fremdzuschreibung, und spiegelverkehrt um einen »blockierten Wunsch« handelt.
Wir erleben den Öffentlichen Politischen Diskurs, vor allem wenn er von Institutionen ausgeht, als hochreguliert, als »entsubjektiviert« im Sinne der verschiedenen Sprecher-Funktionen, und auf der anderen Seite selektiv im Bereich des politischen Kommentars, teilweise sogar auswahl-selektiv bei den Themen.
Von FREIHEIT landauf landab keine Spur.
Dagegen kann, wie @Branco sagt, ein ungezwungener deregulierter Diskurs durchaus stattfinden, und er findet ja immer noch statt. Schotten dicht, Freimaurer-Hymne absingen, Sitzung eröffnen, und los geht’s.
– - Das ist soziologisch gesehen, ein Peer-Group-Setting. Und es ist das einzige Setting, das die Diskurs-Ideale verwirklicht! Seltsamerweise richten sich Verschwörungsphantasien aber genau gegen dieses Setting. Des einen Freiheit, des anderen Verschwörung?!- -
Ich hab’ das theoretisch noch nicht ganz durchdrungen, aber es gibt wohl eine Variante des Liberalismus, gerne unter Publizisten, welche sich ein utopisches Anliegen auf die Fahnen geschrieben hat; nämlich die Peer-Group auf öffentliche und gesellschafts-breite Verhältnisse auszudehnen.
Den Linkspopulismus braucht Müller zunächst nur, um in ihm das nationalistische Element (welches häufiger vertreten ist, als man denkt) herauszuarbeiten. Später dann noch einmal, um ihn als Gegenposition zum Rechtspopulismus zu verwerfen. Das musste er natürlich auch, sonst wäre sein Schluss, dass Populismus demokratiefeindlich ist, hinfällig.
Den Meinungskorridor, den unter anderen auch Krüger anspricht, gibt es natürlich aus Gründen der »Vorsorge«. Wenn man sich heute politische Diskussionen aus den 1970er und auch noch 1980er Jahren im Fernsehen anschaut, sieht man, mit welchen harten Bandagen dort agiert wurde. Die divergierenden Meinungen prallten ohne (rhetorischen) Rücksichten aufeinander. Im Unterhaltungsfernsehen durfte »Ekel Alfred« Brandt und Schmidt auf Stammtisch-Niveau beschimpfen. Da war natürlich Satire mit einem am Ende pädagogischen Impetus – aber es fand eben statt.
Am überzeugendsten bei Krüger fand ich dessen Feststellung, wie Pluralismus in den Medien zwar stattfindet, aber eben keinerlei Einfluss auf die Tagesberichtstattung hat. Da gibt es um 23 Uhr werktags eine Doku, in der bspw. die Ukraine-Krise differenziert dargestellt wird und mit einigen Vereinfachungen »aufgeräumt« wird. Aber dieser Bericht hat dann keinerlei Auswirkungen auf die Berichte und Reportagen zu Prime-Time-Zeiten.
So entstehen »Tabubrüche«, die natürlich streng genommen keine sind, aber als solche scheinen. Das ist fatal, weil hier die populistische Darstellung fruchtbaren Boden vorfindet. Medien müssen hier eine Balance finden; ihr vorsorgliches Bemühen, dem Rezipienten nicht allzu viel zumuten zu wollen, führt am Ende zu den Effekten, die man dann beklagt. Andererseits darf man auch nicht den populistischen Thesen zu viel Raum lassen, da sie natürlich von den Massenmedien leben.
Dass Müller die gängigen soziologischen Erklärungen nicht gelten ist, fand ich eigentlich ganz gut. Ob es wirklich das »Lumpenproletariat« ist oder der »Modernisierungsverlierer« wäre natürlich dahingehend interessant, um dagegen zu wirken. Wer ist anfällig für Populisten? Bleiben wir in Deutschland: Die Rezeption des ersten Sarrazin-Buches war für mich nicht überraschend. Er gerierte sich als eine Art »Messias der Mittelschicht«. Einer Mittelschicht, die gut verdient(e), aber ihre beruflichen Perspektiven einem schleichenden Wandel ausgesetzt sieht. Wie die hartnäckigsten Gegner Sarrazins hatten sie das Buch (das sie gekauft hatten) kaum gelesen, aber er artikulierte ihre Ängste, dem Club der Webergrill-Besitzer irgendwann nicht mehr anzugehören. Es sind Menschen, die Höchstbeiträge bei der Krankenversicherung bezahlen und mehr als 40% Einkommensteuer. Zinsen erhalten sie auf ihr Gespartes seit Jahren nicht mehr, daher geben sie es aus. Sie kaufen brav die jeweils neuesten, aktuellen technischen Geräte nebst Automobil. Sie hören vom üppigen Sozialhaushalt und fragen sich, warum sie ihn finanzieren müssen und die Millionäre Steuerschlupflöcher en masse vorfinden. Sie »riestern« ohne genau zu wissen, was das heisst und glauben sich damit gefeit vor Altersarmut. Aber sie spüren, dass sie am Peak ihres Lebensstandards angelangt sind – von nun an geht’s, wenn nicht noch ein Karrieresprung passieren sollte – bergab. Den Staat empfinden sie als den Apparat, der ihnen das Geld aus der Tasche zieht. Die Projekte, die man mit »ihrem« Geld durchführt, erscheinen ihnen nutzlos. Meist scheitern sie auch noch bzw. werden teurer als gedacht. Den Kennedy-Satz empfinden sie als Hohn. Der Ellenbogen-Individualismus, der ihnen beigebracht wurde, beginnt sich gegen sie selbst zu richten.
Gegen einen Stamm von 10% oder 15% Populismus-Wählern kann man vermutlich nichts mehr machen. Aber wenn es 30% oder mehr sind (oder drohen), dann verabschiedet sich die Mittelschicht.
Die Frage ist interessant, ob es auch gemässigte Populisten gibt. Und ob es immer einer charismatischen Führungsfigur bedarf. Charisma ist ja eine Eigenschaft, die man den jeweiligen Personen selber zuspricht. Ich kann (und will) mir nicht vorstellen, dass jemand wie Strache in Deutschland aufgrund »seines« Charismas Erfolg hätte. Und die AfD zeigt, dass man nicht unbedingt charismatische Figuren braucht, um entsprechenden Erfolg an der Wahlurne zu haben. Die Frage ist nur, wie nachhaltig der Erfolg der AfD ist. Ich wage die Prognose, dass die Partei bei der Bundestagswahl 2017 unter 10% bleiben wird. Eben weil ihre Figuren eher dubios sind (Petry, Gauland; von Höcke oder von Storch will ich gar nicht erst reden). Auf Dauer ist eine smarte, medientaugliche Figur notwendig.
Nicht zufällig kennen wir die Namen der gängigen europäischen Populisten. In Ungarn sieht aber die Lage anders aus als in Polen. Hier ist ein Unbehagen am System selber, das tiefer geht als Eliten- oder Finanzkritik. Was ist mit den populistischen Bewegungen in der Slowakei und Dänemark, die dort in Regierungen vertreten sind? Deren Namen kennt man (= ich) weniger (nicht). Hat es damit zu tun, dass sie »gemässigter« sind?
(Zum Diskurs später)
Hier geht’s ja schon gut zur Sache!
Dass Müller sehr wenig empirisches Material verarbeitet bzw. ausbreitet, scheint mir vor allem der Form des Textes geschuldet: Essay. Aber es wäre sicher interessant, wenn man sich nicht die meist üblichen Verdächtigen (Berlusconi, Wilder et. al) vornähme, sondern von linken-emanzipativen Bewegungen aus denkt. Leider lässt Müller diesen Ansatz schnell fallen (im Prinzip ist ja seine Begriffsgeschichte des Populismus in den USA so ein Ansatz), um ins deutsche Feld zurückzukehren. Bei der Diskussion von Chantal Mouffes Ansatz, ob ein linker Populismus denkbar und wünschbar sei, kommt er noch mal ein bisschen darauf zurück – aber was er damit will, hat sich mir nicht so recht erschlossen.
Seine These, so hab’ ich ihn wenigstens verstanden, dass Populismus der Schatten einer (nicht mehr gut funktionierenden bzw. vielleicht auch einfach nicht mehr wirklich verstandenen (meine Ausweitung)) repräsentativen Demokratie sei und deren historische Herleitung aus der Geschichte der repräsentiven Demokratie als konservatives Defensiv-Organ gegen »zuviel« und zu »chaotischem« Meinungsbildung und Politik machen in der Bevölkerung fand ich schlüssig. Damit hat er den Begriff auch zumindest teilweise entdämonisiert (was auch eines seiner selbstformlierten Ziele ist). Mit dieser Lesart seines Textes scheine ich aber in der Diskussionsgruppe hier allein.
Auch seine Defintion, Populismus ist, wenn jemand den Alleinvertretungsanspruch auf den wahren Vokswillen für sich reklamiert, kann ich nachvollziehen. Was eben gerade nicht heißt, dass man tatsächlich 100% davon vertritt, sondern dass man für sich reklamiert, wer dazu gehört und wer nicht. Damit lässt sich auch sehr elegant erklären, warum Populismen, auch gerade linke, so schnell den Weg in Antisemitismus und Rassismus antreten. Und auch dass populistische Bewegungen oft so seltsam unpolitisch sind – sowohl in den Forderungen als auch im Umgang mit und Verständnis von bestehenden politischen Institutionen, Prozessen und Organisationen. Das läuft ja im Prinzip auf eine Forderug an den den Staat bzw. ‘die Eliten’ in der Form von Wir sind wir! Alimentiert uns! hinaus.) Identitätsherstellung und ‑durchsetzung ist ja keine politische Forderung, auch wenn das linke und rechte Identitäts’politiker’ das gerne so sehen.
Populismus als ein radikales De-Komplexifizierungsangebot zu sehen, kann ich auch nachvollziehen – was dann aber auch heißt, dass Politik in einer Gesellschaft, die ihren politischen Diskurs und Meinungsbildungsprozess in Form einer Dichotomie zwischen PolitischUnterhaltungsindustriellen-Komplex und teilweise extrem intransparenten Aushandlungsprozessen der mit dem Regieren beauftragten und sonst wie Machtzugang habenden organisiert hat, immer starke populistische Züge haben muss. (Meine Interpretation. Vielleicht müsste man dann auch die These zur repräsentativen Demokratie modifizieren: Repräsentative Demokratien vertragen sich nicht gut mit massenmedial organisierter Entertainmentifizierung der Politik, in denen ja Quatschshows wie Anne Will et al. Volksvertretungsanspruch reklamieren, genauso wie die unzähligen Moderatoren & Interviewer, die meinen, irgendeinen Volkswillen bauchzurednern. Oder diese dümmliche Rede von der Politik, die liefert! Damit wird der Bürger als politisches Subjekt auf ein Couch Potato reduziert – aber Politik ist nix zum Konsumieren.)
Was mir fehlt:
– Was unterscheidet Müllers Populismus-Begriff, zumal in seiner Verengung auf ein ethnisches Verständnis von Volk (das ich aber nicht ganz so stark sehe wie die meisten hier), vom Faschismus? Dazu gehört wohl auch meine Frage, was aus Populisten wird, wenn sie tatsächlich an die Macht kommen? Lässt sich ein populistische Bewegung überhaupt in Regierungsfähigkeit, wie undemokratisch auch immer, überführen? Auch Diktaturen funktionieren nur über Disziplin, Wiederholung und stabile Entscheidungsprozesse, vgl. Chavismo & Perronismus. Ist Populismus dann nicht doch eher ein Stil, denn eine politische Haltung oder gar Programm? – Kann es stabile populistische Bewegungen ohne Führerfigur geben?
– Ein paar Ideen & Beibachtungen zum Zusammenhang von Populismus und Massenmedien. Mir scheint, der Begriff wird geprägt in der ersten großen massenmedialen Welle in und nach dem USamerikanischen Sezessionskrieg, dann eine Hochzeit um 1930 mit Radio, Kino und Zeitungswesen (vgl. auch Citizen Kane & Hugenberg etc.), dann in den 1960ern (TV in allen Wohnzimmern) und eben jetzt (Internet in allen Händen qua Mobilen Endgeräten).
Fazit: Die Lektüre hat mir mehr Fragen eröffnet als geklärt – was ich Müller aber positiv anrechne. Im Moment tendiere ich eher dazu, dass Populismus als übergeordneter analytischer Begriff eher unbrauchbar ist, einen gewissen massenmedial geprägten und erfolgreichen Stil der Poltik-Kommunikation und der Entertainmentifizierung ganz gut beschreiben kann. Und solange Facebook-Kommentarschlachten und QuatschShows als ernsthafte Formen politischer Meinungsbildung gelten, wird der auch weiter in soweit erfolgreich sein, dass der Technokratismus à la Merkel der Mehrheit als einzig sinnvolle Alternative erscheint. Und das ist das eigentliche Problem.
Gregor Keuschnig
Webergrill-Besitzer ist gut. Sie beschreiben genau die soziale Gruppe, die ich meinte und bei Müller vermisse.
Dass man die Namen der führenden Populisten aus Dänemark, der Slowakei oder Finnland nicht sofort per Namen parat hat, liegt wahrscheinlich nur an der hiesigen Pressedarstellung. In den eigenen Ländern sind sie schon sehr präsent. Zu Timo Soini (Wahre Finnen) z.B. findet man schnell einen Taz-Artikel in dem es heißt: Das rhetorisch begabte und charismatische Aushängeschild seiner Partei .... Das Gleiche zu Kristian Thulesen Dahl der Dansk Folkeparti. Wahrscheinlich sind sie für die Medien einfach zu sperrig, Le Pen und Wilders funktionieren besser. Und die AfD wurde in ihrer Neustrukturierung einfach überrascht. Wenn man z.B. Frauke Petry mal genau zuhört, ist sie für einen echten Populisten noch viel zu sachorientiert. Ich glaube nicht, dass sie sich so auf Dauer halten kann. Ein Populist als Arbeiter im Weinberg der Demokratie? Kaum vorstellbar.
Doktor D
Ich hadere tatsächlich mit der aktuellen repräsentativen Demokratie als Herrschaftsinstrument ökonomischer Interessen. Es gibt ein allgegenwärtiges Unbehagen gegen die nicht mehr funktionierende Repräsentation, das natürlich missbraucht werden kann. Heinz Bude schreibt dazu sogar:
Dummerweise kenne ich aber keine erfolgsversprechende Korrektur.
Die Verengung u.a. auf Ethnien ist vielleicht nur Folge des Alleinvertretungsanspruches. Inhomogene Gruppen sind einfach zu schwer ansprechbar. Wir Kaninchenzüchter würde wahrscheinlich auch funktionieren.
Die Medienentwicklung als Ursache für Populismus? Interessant. Spielen die Medien dann eine aufklärerische Rolle, die Probleme erst sichtbar macht oder eher doch nur als Volksempfänger?
@ Doktor D
Die 100% These braucht Müller vielleicht nur, um die Occupy-Bewegung mit ihrem 99% igen Vertretungsanspruch als nicht-populistisch darzustellen. Dass sich Politiker auf eine Mehrheit berufen, ist meines Erachtens weder ungewöhnlich noch per se populistisch. Merkels Volte nach Fukushima wäre ohne einer von ihr antizipierten Mehrheit innerhalb der Bevölkerung gar nicht passiert. Es war ein extrem populistischer Zug.
Insofern ist natürlich jede demokratische Partei auf populistische Elemente ausgerichtet; heute mehr als damals (obwohl Adenauers Wahlkampf mit der Angst vor der SPD als kommunistischem Geheimbund schon fast demagogisch war). Parteien, die sich als »Volksparteien« sehen, müssen auf gesellschaftspolitische Trends reflektieren. Die Frage ist nur, ob sie ihnen nachlaufen sollen. Brandts Ostpolitik war zunächst wenig populär und damals kaum Bestandteil des 1966er Wahlkampfs. Als er dann diese Politik einleitete, gab es bis in das liberal-konservative Lager hinein sehr starke Widerstände. Die vorgezogene Bundestagswahl 1972 wurde dann auch (nicht nur) zur Abstimmung über die Ostpolitik. Damals standen klar unterschiedliche Politikentwürfe zur Wahl. Und deren jeweilige Repräsentanten hatten fürchteten nicht die Wahlniederlage. Heute werden erst einmal Meinungsforschungsinstitute beauftragt um Stimmungslagen abzuscannen. Danach wird dann Politik gemacht.
Ich glaube, dass die Krise der repräsentativen Demokratie nicht eine Krise des Systems an sich ist, sondern nur seiner Interpretation. Die sehr starre Fokussierung auf den (de jure gar nicht existierenden) Fraktionszwang trägt ein gerüttelt Maß dazu bei. Indirekt deutet Müller das mit dem »imperativen Mandat« an, was es nicht geben dürfe. Daraus lese ich zwischen den Zeilen: Die nur ihrem Gewissen verantwortlichen Abgeordneten sollen sich mehr trauen, um auch Debatten in den Fraktionen zu führen. Da ist aber das Listenwahlrecht davor. (Warten wir mal ab, welche Folgen bestimmte CDU-Politiker zu tragen haben, die ein wenig gegen Merkel »rebelliert« hatten.) Gleichzeitig stürzen sich die Medien bei Unstimmigkeiten, so als sei es selbstverständlich, dass 50 oder 200 Leute »wie ein Mann« abzustimmen hätten. Hier ist eine gehörige Portion Obrigkeitsdenken präsent. ich erinnere nur an die »Abweichler« zur EU-Politik innerhalb der FDP in der Legislatur 2009–2013. Dies wurde ja damals von Lucke (und einigen anderen) aufgenommen, um die AfD (als Anti-Euro-Partei) zu gründen. Das Ergebnis 2013 entbehrte nicht einer gewissen Tragik. Beide Parteien lagen dichtauf bei knapp unter 5%, was zur Folge hatte, dass sie beide nicht in den Bundestag kamen. Hätte es die AfD nicht gegeben, wäre die FDP sicherlich bei 6% gelandet. Die Abspaltung innerhalb der Euro-Gegner hat also erst zu einer 80%-Koalition im Bundestag geführt. Aber diese 80% repräsentieren nur 66%. Da es aber 80% sind, werden »Abweichler« kaum noch zur Kenntnis genommen. Diese Entwicklung führt wiederum zum Elite-Denken.
Der Bürger als Couch-Potato – das ist salopp formuliert das, was von Weizsäcker in den 1990er Jahren mal als eine Art stillschweigendes Agreement zwischen Bürger und Parteien ansprach. Das funktioniert nur, wenn der Bürger dabei das Gefühl hat, dass die Politik für ihn keinerlei (negative) Folgen hat. ich glaube, dass dieses System lange so funktioniert hat. Erst kam der Wiederaufbau und »Wohlstand für alle«. Dann »mehr Demokratie wagen«. Bei der »geistig-moralischen Wende« stockte es ein bisschen (okay, es gab Privatfernsehen). Schließlich dann die Wende 1989/90 und die »blühenden Landschaften«. Die Botschaft hieß: Gebt uns die Stimme – den Rest machen wir. Und nach vier Jahren geht es Euch besser. Diese Versprechungen und die damit verbundenen Sicherheiten sind vorbei. Politik dient nur noch zur Krisenbewältigung. Merkel wird gewählt, weil sie das kleine von vielen Übeln ist (hinzu kommt ihre ostentative Bürgerlichkeit). Aber der Geist der Skepsis ist aus der Flasche. Und er geht nicht mehr zurück.
Müller zeigt schon genau, wohin Populisten an der Regierung führen. Er benennt es nur nicht. Sie sagen Faschismus – ich sage Diktatur. Wir meinen das gleiche. Wir erleben diese Entwicklung gerade in der Türkei. Das wird Deutschland noch sehr stark beschäftigen.
@Joseph Branco
Es gibt ein allgegenwärtiges Unbehagen gegen die nicht mehr funktionierende Repräsentation, das natürlich missbraucht werden kann. [...] Dummerweise kenne ich aber keine erfolgsversprechende Korrektur.
Budes Befund teile ich; die Folgen erscheinen mir zu spenglerisch.
Ich maße mir natürlich nicht an, »die« oder überhaupt eine Lösung zu kennen, aber vielleicht könnte sie darin liegen, dass das de-facto-imperative Mandat, welches die Parteien für sich in Anspruch nehmen, »abgeschafft« wird. Das klingt einfacher als es ist, weil Fraktionen per se als 100%-Einheiten funktionieren, d. h. im Sinne Müllers antipluralistisch sind. Der/die Fraktionsvorsitzende gibt im Sinne der Regierung bzw. Parteispitze vor, wie abzustimmen ist. Theoretisch bräuchte man dafür nicht 600 oder 700 Abgeordnete, sondern nur 10 oder 15, die die Mehrheitsverhältnisse spiegeln würden. De facto agieren Fraktionen in Parlamenten (besonders im Bundestag) wie populistische Parteien.
Ändern kann man das nur mit einer Revision des Wahlrechts. Aber das wäre ein anderes Thema.
@ Doktor D
Vielleicht müsste man dann auch die These zur repräsentativen Demokratie modifizieren: Repräsentative Demokratien vertragen sich nicht gut mit massenmedial organisierter Entertainmentifizierung der Politik, in denen ja Quatschshows wie Anne Will et al. Volksvertretungsanspruch reklamieren, genauso wie die unzähligen Moderatoren & Interviewer, die meinen, irgendeinen Volkswillen bauchzurednern
Finde ich sehr plausibel. Gibt es für diese systemische These irgendwelche Hinweise bei Müller? Wenn ich richtig gelesen habe, behandelt er die Medien sehr schlicht als »reinen Transponder«, welcher aufgrund seiner Übertragungs-Neutralität selbst keine unerwünschte Effekte generieren kann, oder?!
Was wenn die mediale Inszenierung des Politischen auch eine nicht-inhaltliche strukturelle Wirkung entfaltet hätte, –die Möglichkeit des Populismus
@ Gregor Keuschnig @ die_kalte_sophie
*
Zunächst aber @ Joseph Branco »&« @ Doctor D
Ob man nun die Populisten und deren Strategien/ Ziele betrachtet oder die Dynamik Etablierte/ Populisten oder die Zusammenhänge zwischen den Indiskutablen/Nicht diskutierenden/Nicht Diskursfähigen (links u n d rechts) und den Populisten – stets ist die Frage, was gesagt werden kann, was verhandelbar ist und was nicht; und manche Akteure siedeln direkt bei der Tat.
Auch Taten sind dann noch irgendwie – oft klandestin – diskursiv eingebunden, aber die Grenze verläuft spätestens da, wo Absichten strafrechtlich relevant werden.
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Rückblick auf die großen BRD-Grauzonen
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Die Grauzonen zwischen Legalität und Illegalität sind oft riesig. Ich habe mich eine ganze Weile in zwei solchen Grauzonen bewegt: Der zwischen der Psychiatriereform hie und der RAF da in Heidelberg – und der zwischen sozialistischen Ideen und erweiterten Konzepten vom Volkskrieg (kein Vertippa) im Rhein-Neckar – Delta (MA – LU – HD).
Um die Geschichte gleich ausklingen zu lassen: am verblüffendsten fand ich, mit wieviel Langmut die bürgerliche Gesellschaft diese Grauzonen bewirtschaftet hat; und das Wundersamste an diesen Grauzone-Geschichten: Wie friedlich, ja, wie konstruktiv sie ausgegangen sind, alles in allem.
Die nachmalige Paracelsus-Herausgeberin, der nachmalige Lehrstuhlinhaber für ökologischen Weinbau, der nachmalige Autoschrauber und – aber ja doch: der Postbote und der Schullehrer oder der Berater unseres grasgrünen Außenministers im Staatssekretärsrang: Sie alle waren in MA-HD damals offen für den Volkskrieg – die eine oder andere verfügte über Zugang zu Waffendepots usw. – Sie haben sich sicherlich bereits ungefähr eine Vorstellung gemacht.
Ja, und der Kampf gegen die etablierte Psychiatrie beinhaltete eben die Indianerkommune mitsamt ihrem Pädosex als Gäste im besetzten Haus. Und Knastaufenthalte etwelcher Protagonisten, und Zusammenbrüche, drogeninduzierte Abstürze, den Tod, den Irrweg in den bewaffneten Kampf via Sozialistisches Patientenkollektiv.
Peter Schneider hat durchaus etwas am Wickel, wenn er selbstkritisch vom Wahn der 68er spricht.
Meine Überzeugung habbich in den Siebzigern in ein paar Zeilen gequetscht, die immer noch standhalten: Politik ist nicht schön; und es hat keinen Sinn, das zu beklagen.
Einschub: Natürlich hat das auch damit zu tun, dass Ch. Enzenbergers Versuch über den Schmutz et. al. dafür gesorgt hatten, den Sauberkeitsaspekt als Leitlinie in hohem Masse zu depotenzieren.
Nun: Wenn ich mir anschaue, woher wir kommen, so kann ich Leuten, die heute gegen das Establishment anrennen, schwerlich vorwerfen, dass sie nicht völlig zurechnungsfähig sind.
Das fällt mir wahrscheinlich umso leichter, als ich
– @ gregor keuschnig @ die_kalte_sophie -
mit dem Zustand des Gemeinwesens insgesamt recht zufrieden bin, und jedenfalls ähnlich wie Müller keine vorherrschend postdemokratischen Zustände oder den vollständigen Kontrollverlust auszumachen imstande wäre. Pars pro Toto (und schon wieder Enzensberger): Kaum brennts irgendwo, flitzt schon die schimmernde Wehr ums Eck.
Dennoch sind einige Dinge in den Blickschatten der öffentlichen Aufmerksamkeit geraten, die in der Tat wichtig sind.
Bei der Migrationsthematik sind zwei Dinge nicht ok.
a) Es gibt immer noch kein offizielles Einwanderungsreglement.
b) Die aggressive Seite des massenhaften Zuzugs, wie wir ihn seit etlichen Jahren immer wieder erleben, wurde/wird verkannt.
Dann noch diese Problemfelder fürs Protokoll:
3) Die Euro-Einführung hat das ohnehin undurchsichtige internationale Finanzwesen noch einmal verkompliziert.
4) Die europäische Politik insgesamt hat ein Maß an Komplexitätssteigerung und Verfahrensdiversität mit sich gebracht, das unser Fassungsvermögen (und das unserer Repräsentanten) schon arg strapaziert – cf. HM Enzensbergers »Sanftes Monster Brüssel« – und seine 2011 immerhin abgegebene Prognose, was die EU betreffe, so stehe ein Rückbau an. Könnte schneller gehen, als gedacht: Mal sehen, was der Juni noch bringt...
5) Der Klimawandel
6) Der Welthandel
7) Der Osten (Russland, Ukraine, Türkei, Syrien usw.)
8) Der Süden (Italien, Spanien, Portugal?, Griechenland, Afrika).
Das ist eine überschaubare Liste. Aber sie enthält Probleme, die wir besser bearbeiten, bevor sie uns ernsthaft aus dem Takt bringen.
Ich meine also, es sei wieder so ähnlich wie in den Siebzigern: Es gebe eine überschaubare Menge von abzuarbeitenden Themen, dazu eine Öffentlichkeit, die sich ihrer nach und nach annimmt. Dabei entstehen Turbulenzen, die alles andere als schön sind. Ich glaube, das ist soweit alles normal.
Gauland zum Beispiel: Gemessen an dem, was die BRD in den Sechzigern und Siebzigern an Unsinn zu verdauen hatte, scheint mir Gauland keine große Hürde darzustellen. Zumal ich der Überzeugung bin, dass er ehrlich ist, wenn er sagt: Er sehe sich als Mittler einer Stimmung, die er in der Bevölkerung wahrnehme. Und die richtet sich gerade nicht gegen meritokratisch gepolte Profi-Fußballer, und ja: Bei solchen Leuten spielt die Hautfarbe keine Rolle. Auch damit liegt Gauland aller Aufregung zum Trotz richtig. Und er hat etwas für sich, das viele Lehnsesseltheoretiker eben nicht für sich reklamieren können. Ich drücke das mal mit einer kleinen Verneigung in Richtung Michael Rutschky aus: Gauland hat trotz fortgeschrittenem Alter seinem offenbar erheblichen »Erfahrungshunger« nachgegeben und mischt nun tatsächlich mit.
Theoretisch wird man die mit Gauland zusammenhängende Problematik nicht hinreichend ergründen können. Daher schrieb ja Goethe den Faust, oder Thomas Mann den Dr. Faustus usw.
Was aber gemacht werden sollte, ist, die in Rede stehenden Probleme praktisch anzupacken.
Vorarbeit geleistet haben die Juristin Kirsten Heisig und der weithin unterschätzte Heinz Buschkowsky, Thilo Sarrazin (ich stimme der kalten_ sophie zu, dass sein letzter FAZ-online-Artikel von dieser Woche sehr gut ist), Fawzia Zouari, Ahmad Mansour, Steve Collier, Ron Unz (insbesondere seine einschlägigen Studien über und die nachfolgende erfolgreiche politische Intervention pro: Englisch als Erstsprache für die Hispanics in Kalifornien – und die enorm segensreichen Folgen dieser bildungspolitischen Revolte), Bassam Tibi, Necla Kelek, Seyran Ates – und viele mehr – in den letzten Tagen haben mich der Dalai Lama und Robert Spaemann positiv überrascht. Ich sollte wohl auch den FAZ-Blogger Don Alphonso nennen. Und Camel Doud; und den Perlentaucher. Und das Begleitschreiben-Blog, warum nicht.
Ich würde also so sagen: Dass bisher vernachlässigte Themen (s. o. 1 – 8) nun öffentlich beharkt werden, ist gut. Dass sie oft in schräger Weise beharkt werden, ist weder verwunderlich noch per se besorgniserregend.
Thomas Assheuer hat in der ZEIT glaubich vorletzte Woche einen Artikel über den Populismus geschrieben, der überwiegend aus Mutmassungen besteht. Also was da Schreckliches kommen könne / werde. Das kann man, aber ich mache das nicht mit, solange das Hauptproblem vom Typ Gauland oder von mir aus auch noch vom Typ Höcke ist: Ein wenig verwackelt referierte Soziobiologie. So what. Und dass Höcke den tausendjährigen deutschen Dom in der Stadt Halle oder wo schätzt – das ist doch wunderbar.
Positiv gewendet: Hinweise auf die Bevölkerungsdynamik in Schwarz-Afrika (= im »subsaharischen« Afrika...) und die daraus sich ergebenden Probleme sind erlaubt und müssen auf der sachlichen Ebene bearbeitbar sein. Der katholischen Kirche sollte man in diesem Punkt eine komplette Kehrtwende ihrer Verkündigung abverlangen: Seid vernünftig u n d – mehret euch n i c h t .
Was nicht geht, ist ein weißer Rassismus der Art, wir seien die würdigeren Menschen. Diesen Punkt hat Höcke aber wiederholt anerkannt. Wie ernst er das meint, muss eben jetzt kontrolliert werden, soweit das geht, und so streng das geht.
Was ebenfalls geht, ist zu fragen, welche Menschen man hier haben will: Was die können sollen und wie die eingestellt sein sollen. Entsprechende Forschungsarbeiten wie die von Heiner Rindermann und Detlev Rost zu ignorieren oder gar zu skandalisieren ist ein Luxus, den wir uns auf keinen Fall leisten sollten.
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Man wird unterscheiden müssen zwischen Nothilfe und der Gewährung des Aufenthaltsrechtes auf unbestimmte Zeit.
Die Politik ist gefragt, das Problem der Rückführung anzupacken und die Öffentlichkeit ist gefragt, mit der Politik einen Plan auszuhandeln, was bis wann geschafft werden soll. Bodo Hombach hat dazu einen guten Artikel auf seiner Webseite (. http://www.bodo-hombach.de/2016/02/27/die-fluechtlingskrise-ein-hausgemachtes-missverstaendnis/). Derzeit spricht man davon, ca. sechzig Prozent derer, die letztes Jahr eingereist sind, seien nicht asylberechtigt: Diese sechzig Prozent sollte eine wache Öffentlichkeit in den Blick nehmen und thematisieren. Zuallererst wg. Familiennachzug: Der sollte ausgesetzt werden, bis die Situation administrativ wenigstens annähernd unter Kontrolle ist. Wenn das ein halbes Jahr dauern sollte, wäre das nicht schön, müsste aber dennoch sein (NRA = No Reasonable Alternative).
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Schäuble lass’ ich weg.
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Oh – Tage wie gestern: man liest ja einiges zusammen und denkt und fühlt: Die größte Wirkung hatte gestern auf mich ein kleiner Text in der Papier-FAZ in der Rubrik Leserbriefe; ein Brief eines Vaters, dessen Kinder auf dem Schulweg erpresst und in abstoßender Weise bedroht wurden; dessen Haus nun von einem privaten Wachdienst rund um die Uhr beschützt wird, weil die jugendlichen Täter mit Migrationshintergrund direkt nach der erkennungsdienstlichen Behandlung von der Polizei wieder auf freien Fuß gesetzt wurden und nun weiter, gerne nachts, Drohungen absondernd, um das Haus streifen; ein Haus, das, wie der Brief in der FAZ schließt, nun zum Verkauf steht, auch weil die Polizei erklärt hat, sie könne leider nichts tun, solange keine gravierenderen Dinge geschehen.
Ich möchte dazu noch eine Anmerkung machen: Ich glaube in der Tat, dass die Familie, die ihr Haus in Bad Godesberg zum Verkauf ausgeschrieben hat, sich in einer – relativ – privilegierten Lage befindet: Weil sie eben aus ihrer bis anhin gutbürgerlichen Wohngegend weg kann.
Betrachtet man vor dem Hintergrund solcher privilegierten Einzelnen die Gesellschaft als Ganzes, so ist klar, dass es so wie im Leserbrief geschildert nicht weitergehen darf. Man denke an die Millionen, die eben nicht umziehen könnten in so einer Situation.
Und dieses Fazit mag noch so populistisch anmuten: Ich kann – als Staatsbürger und Demokrat und – ja, auch das noch: als Christ, nicht anders. Ich stimme dem steinalten ehemaligen Papst-Berater und Philosophen Robert Spaemann zu, der unlängst so sprach: Es heißt nicht liebe alle wie Dich selbst. Nein, da steht, liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst, – und es sind nun einmal nicht alle unser Nächster.
Wenn man ein wenig über das Wort Nächster nachdenkt, begreift man kaum noch, wie die Kanzlerin den falschen Gedanken je hat fassen können, es seien auch alle wanderungswiligen Armen dieser Welt als Nächste zu betrachten. Ein falscher Gedanke, den sie aber tatsächlich, zum Erschrecken Spaemanns, äußerte.
Eine der eindringlichsten Warnungen Adornos bestand darin, die Säkularisierung nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Die Spannung zwischen dem grenzenlosen Universalismus der Menschenrechte und den lokalen und damit endlichen Ressourcen unserer Lebenswelt verlangt nach Grenzen des Zuzugs und zügigem, massenhaften Abzug der nicht Anspruchsberechtigten. Sonst realisieren wir nicht den Universalismus der Menschenrechte, sondern fallen allesamt dem Universal-Dillettantismus anheim: Einer offenkundig fehlerhaften Fortführung unserer besten Traditionen und einem Pragmatismus, dessen deutlichstes Merkmal darin besteht, dass er nicht funktioniert.
Noch ein paar Bemerkungen (soweit möglich geordnet):
Zu @Kalte_Sophie: Die These von der Schwerverträglichkeit von Massenmedialität u. Repräsentativer Demokratie ist von mir. Sie ergibt sich für mich aus meinem zentralen Einwand gegen Müller: Dass er das mediale Feld, in dem der politische Diskurs mitorganisiert und geführt wird, zu wenig mitdenkt. Ich denke nämlich nicht, dass das einfach ein Medium ist, durch das Botschaften durchgehen, sondern das seine Formatierungen schon sehr stark bestimmen, was die Botschaft sein kann. Der Imperstiv des Entertainments wäre hier an erster Stelle zu nennen, aber auch die große soziale Homogenität der Protagonisten, die zum Beispiel nicht-passende Protagonisten fast nur als exotisches Vieh zur Schau stellen können: von der Putzfrau über den Salafisten bis hin zum Iraker, der es verrückterweise bis zum Prof geschafft hat. Usw.
Dass jetzt, 30 Jahre nach dem Ende des Sozialistischen Blocks, auch in der Ehe von Kapitalismus u. Liberaler, repräsentativer Demokratie u. Dem dazugehörigen Staatsverständnis etwas zu Ende geht, glaube ich auch.
@ Dieter Kief
Ich finde ihren »Katarakt« wirklich gut, würde ich fast gesondert editieren. Besonders: Politik ist nicht schön; und es hat keinen Sinn, das zu beklagen. Ich meine ebenfalls die verbreitete Neigung zu erkennen, schadhafte Wirklichkeit mit Schönheits-Vorstellungen zu bekämpfen.
@ mete
Ich kann mit ihrem weichem Repräsentations-Begriff durchaus etwas anfangen. Es ist ein Vertrauensverhältnis, dass Politiker nach Zielen und Interessen handeln, die man selbst schätzt. Aber berechtigt uns das schon, von einer »repräsentativen Demokratie« zu sprechen. Offenbar ist das nur ein deskriptiver Begriff, der jegliche Partikularität ignoriert und gewissermaßen nur die »Staatsidee« zusammenfasst.
Die Ursache für die Entstehung des Populismus dürfte weniger abstrakt sein. Sie schauen daher nach den Programmen, den strukturellen Kompromissen (Fraktionszwang) und den technokratischen Notwendigkeiten, gegen die keine Ideologie der Welt ankommen würde.
Ihre Erklärung: Enttäuschung, Frust bei den Wählern... Das kann eigentlich nicht sein, da der Populismus sehr gut »unterhalb der Ebene der Programme und Ziele« funktioniert. Daher würde ich die Wertigkeiten insgesamt nicht mit »anti«-Vokabeln, sondern mit Vergleichsworten wie »wild«, ungeschlacht’, primitiv, etc. beschreiben. Orientieren Sie sich nicht einseitig an den flotten (feschen) Funktionären?! Was ist mit dem Klientel, und den zivilisationsbedingt verdrängten Forderungen der einfachen Leute, nach einfacher Sprache, nach primitiver Reaktion, nach eindeutigen Vorteilen?!
Lese ich @Dieter Kief noch einmal, so beschreibt er doch ausführlich, wie schwer die Demokratie und das politische Handeln geworden ist... Daraus schließe ich mal etwas kühn: könnte es nicht sein, dass der »primitive Wille zur Politik« die Herausforderungen seiner Zeit nur deshalb ignoriert, weil es wichtiger ist, Politik zu treiben, als genau zu wissen, was man tut?!
Hat die Demokratie vielleicht mehr als nur ein Problem mit der Dummheit?!
[Als Nietzscheaner will ich natürlich auf das vitale Interesse an der Macht hinaus, den Selbstzweck, der auch repräsentativ erfüllt werden kann...]
Füge noch hinzu, auch gegen Müller: der Populismus hat von Anfang an, also in Ungarn, Polen, Frankreich, Österreich und Deutschland (von mehr weiß ich nicht) ein Problem mit den Medien. Es kann doch nicht sein, dass in der Theorie nichts davon auftaucht. Das muss doch erklärt werden.
@die_kalte_Sophie Nr. 26
danke!
@ d_k_S nr. 27: Martin Walser hat mal gesagt, solange er regelmässig ins Casino ging, hat er gegen die Spielbank gespielt. Das ist die Kurzfassung.
Etwas länger, würde ich so sagen.
Die Medien sind Teil des Systems – und der große Feldzug geht naturgemäß gegen das System. Die Muster sind uralt. Da Sie in Nr. 26 Nietzsche erwähnen, bräuchte man eigentlich fast nicht mehr weiterreden. Viel Feind, viel Ehr! Us and them. Die ausgebeuteten Massen gegen das Schweinesystem usw.
Nochmal, aber wieder kurz: Die Apokalyptiker (Umberto Ecco) sind aggressiv (cf. de Sade, Darwin, Freud, – – Nietzsche). (Full circle).
@die_kalte_Sophie
Wenn es früher in Afrika einen Putsch gab, war es (1) immer das Militär und (2) wurde immer sofort gemeldet, dass man das Funkhaus Staatssenders besetzt und unter Kontrolle hatte. In Südamerika war das schwieriger, weil es dort Privatradiosender gab. Populisten haben natürlich nur dahingehend ein »Problem« mit den Medien, weil sie sie gleichschalten wollen. Es sind die Medien, die sie auf Linie bringen wollen, die sie vorher für ihre Phrasen brauchten, aber eben auch noch Widersprüche hinzunehmen hatten. Berlusconi hatte etliche Privatsender, aber eben nicht die halbstaatliche »RAI«; Polens starker Mann möchte den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nun in seine Richtung umbiegen. Aber dennoch: Ohne die Medien wäre Populisten nicht dort, wo sie sind. Um ihren Status (= Wählerstimmen) zu erhalten, müssen sie nun die Medien versuchen, zu beherrschen.
Daher sind, und da möchte ich @metepsilonema widersprechen, Populisten per se antipluralistisch – und zwar umso stärker, als ihr Populismus eine politische Agenda verfolgt.
Über Repräsentation in Demokratien hatten wir vor ein paar Jahren hier diskutiert. Meine These geht dahin, dass auf Aufkommen der Populisten nicht nur aus der Krisenform der Repräsentation kommt. Populisten besetzen einfach Politikfelder, die kontrovers zu den Konsensen in anderen Parteien sind. Es gibt in diesem Sinne eine umfassende, große Koalition über weite Teile der politischen »Eliten«. Dieser Konsens dürfte rd. 70% der Themen ausmachen – daher muß man auf PKW-Maut und sonstigen Blödsinn ausweichen, um überhaupt Unterschiede zu finden. Populisten nehmen sich nun mit Verbalradikalismus diese stillschweigenden Konsense an.
@Dieter Kief
Vielem stimme ich zu; anderem nicht. Zum Beispiel die funktionierenden Insitutionen. Formal haben Sie da Recht. Aber wird denn überhaupt noch Politik gemacht, wird also agiert oder wird sie nur noch reagiert und verwaltet? Waren nicht die Flüchtlingsströme 2015 schon Monate im voraus abzusehen? Was hat man gemacht? Die Daumen gedrückt, dass die Vorhersagen nicht eintreffen? Oder erinnern Sie sich an die Griechenland-Krise. Wer hat das Problem offensiv nach vorne gebracht – als der Staatsbankrott drohte? Es war der damalige griechische Ministerpräsident, der natürlich sofort Hilfen bekam (die in dieser Form gar nicht im Vertragswerk vorgesehen waren). Hätte es funktionierende Institutionen (auf EU-ebene oder eben im Finanzministerium in D) gegeben, wäre das eher entdeckt worden. Aber man wollte es vielleicht nicht entdecken. Oder, innenpolitisch: Wie kann man funktionierende Institutionen sehen, wenn es Geheimdienste in Deutschland gibt, die in die NSU-Morde irgendwie verstrickt sind? Das ist Herumstümpern, oder, hübscher formuliert: »Fahren auf Sicht«. Jeder Autofahrer, der so »fahren« würde, würde sofort au dem Verkehr gezogen.
Ein anderes Beispiel ist TTIP. Zunächst wäre ich ja durchaus für ein Handelsabkommen zwischen EU und USA. Prima, soll kommen. Aber warum wird damit derart umgegangen? Man hat ja inzwischen den Eindruck, dass die Atombombencodes der USA und die Einsicht in die TTIP-Dokumente ähnlichen Geheimhaltungsstatus haben.
Populisten reüssieren immer dann, wenn es breite, überparteiliche Konsense über wichtige Politikfelder sowohl zwischen Regierung und Opposition gibt, die warum auch immer keine Entsprechung in der öffentlichen Meinungsbildung (mehr) finden. (Am Beispiel Griechenland/Syriza zeigt sich etwas sehr interessantes: Angefangen, um der EU das Fürchten zu lehren und alle Verträge neu zu verhandeln, entwickelte sich die Regierung Tsipras binnen weniger Monate zum handzahmen Schosshündchen. Der Populist hatte also, wenn man seine Aussagen mit seiner Politik maß, versagt. Daraufhin machte er den Schröder, ließ Neuwahlen ausrufen – und gewann!)
Zu den Massenmedien vielleicht später.
@ Gregor Keuschnig 29
Ein wenig allgemein, ich gebs zu: Dass in der deutschen Politik Dinge schlecht laufen heißt nicht, dass alles schlecht läuft, oder dass es im großen und ganzen schlecht läuft.
Ich habe die letzten Wochen ein wenig experimentiert, und mit amerikanischen Nerds (überwiegend IT-ler und Natwissler) diskutiert. Was sofort ins Auge springt: Sie haben keinen Sinn für die Abgründigkeit unseres Daseins und die Beschränktheit unsere Erkenntnisfähigkeit. Schließlich können wir auf den Mond fliegen: Und da soll (jetzt füllen Sie irgendwas ein: das Migrationsproblem, die Endlagerung von Atommüll, die gerechte Entlohnung: Ernsthaft ein Problem sein?!). – Das ist zudem scheints ein guter Boden für Verwschörungstheoretiker.
Ich plädiere stttdessen dafür, vorsichtig zu urteilen und – jetzt werden sie wahrscheinlich teilweise lächeln (1) und mir etvl. teilweise (2) nicht mehr folgen wollen: Wir haben es ganz gut, weil wir gut gerüstet sind, vorsichtig zu urteilen.
1) Was arbeiten wir uns immer noch an Goethe ab, und welches Glück ist es, dass wir das können (cf. Peter Handke, Vor der Baumschattenwand nachts – Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007 – 2015).
Verstehen sollte man aber, dass Faust keine Kasperlefigur ist, sondern in uns allen sitzt und herumfuhrwerkt, sobald wir über den allerprivatesten Kreis hinausschauen und dann mitreden.
2) Das Gewerk aus System und Lebenswelt einerseits und System und Subsystemen andererseits ist b a s a l.
Sie ahnen vielleicht schon, was jetzt kommt, jetzt kommt die Kurzfassung von 2) in Form einer – Enzensberger-Paraphrase: Alle waren wir der Ansicht, dass es weg muss, aber keiner wußte, was das überhaupt ist, das System. Niemand von uns konnte Griechisch.
Das berührt natürlich auch ein wenig unser Thema hier: Den Populismus – ich habe oben darauf hingewiesen.
Am Ende ist es eine Frage der intellektuellen Disziplin – und der Redlichkeit – in summa: Der Affektkontrolle und der Anerkenntnis der eigenen Grenzen im Handgemenge des Diskurses.
Nun haben Sie das auch schon gemerkt: Ich liebe die essayistische Technik, durch Problemfelder und Traditionsbestände quer durchzulaufen. Das ist die Schnellpost und das macht ja schon auch Spaß.
Aber derlei ist nur sinnvoll, wenn man hinreichend geschmackssicher ist, um sich jederzeit einzubremsen, bevor man Dinge behauptet, die nicht standhalten, oder indem man die etablierten Standards respektiert – und sich emt auch manchml einer heftigen Kritik stellt usw.
Denken Sie von mir was Sie wollen: aber in ein paar Hinsichten bin ich ziemlich hartnäckig: Luhmann hat weitenteils recht, und Habermas hat weitenteils recht. Man soll also ungefähr jedenfalls die Eigenlogik des jeweils in Rede stehenden Subsystems verstehen, bevor man sich dazu äußert, schon gar bevor man über Interdependenzen von Subsystemen und schließlich das System selber und endlich das Hin- und Her von System und Lebenswelt spricht.
Eines Ihrer Beispiele: Griechenland. Griechenland ist gegenüber Deutschland oder Dänemark oder der Schweiz in Bezug auf die Staatsverwaltung z. B. rückständig. Das ist ein riesiger Brocken. Ich bin kein Spezialist, aber ich folge den Spezialisten (Richter! : http://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/schuldenkrise-in-griechenland-chronik-des-desasters-13686169.html) – ich folge also Richter z. B. gerne, wenn er diesen Punkt beleuchtet.
Ich interessiere mich auch dafür, wie die Griechen auf Hinweise in dieser Richtung reagieren (nicht immer mit dem Verweis auf das Hakenkreuz...).
Ohne diese beiden Dinge geht es nicht. Wer sich für derlei nicht interessiert, dessen Analysen sind in meinen Augen schwach, weil ein moderner Staat ohne funktionierende Verwaltung eine Utopie darstellt (nix gegen Utopien an sich, natürlich...). Anders gesagt: Weil er nicht funktionieren kann. Oder eben so funktioniert, wie Griechenland.
Aber noch zu Deutschland: Wenn es nicht so gut funktionierte, wie würde man dann erklären können, dass es für soviele Menschen weltweit ein Sehnsuchtsland ist – ich glaube diese Sehnsüchte h a b e n ein fundamentum in re.
Gut, ich geb’ zu: Ich deute das alles nur an. Aber aus lauter Angst, das Falsche zu sagen, gar nichts mehr zu sagen – das wäre vielleicht noch ein größerer Fehler.
Apropos:
PS: Ich wohne ruhig, aber es ist doch noch ruhiger, nämlich überaus ruhig gerade – emt wg. EM – und das ist Ihr Verdienst – also dass wir uns jetzt zur EM schreiben: passt wirklich gut (je ruhiger es ist, desto lieber schreibe ich).
@Gregor
Wenn ich Antipluralismus als bewusstes Nichtanerkennen existierender Vielgestaltigkeit definiere (und Populismus u.a. als die politische Instrumentalisierung dieser Leugnung), dann brauche ich dazu keinen einheitlichen Volkswillen postulieren, ich kann auch ohne demselben antipluralistisch sein (den Volkswillen brauche ich nur dann, wenn ich Pluralismus mit Meinungspluralismus gleichsetze; Müller verstehe ich dahingehend). Das meinte ich.
2. ... und Praxis
Für mich ist die interessanteste Frage die des Praxiskapitels. Wie Verhalten sich populistische Parteien, wenn sie in Verantwortung kommen. Müller meint, dass mit Anti-Politik kein Staat zu machen ist. Entweder man wird entzaubert oder verhält sich auch als Mehrheit wie eine verfolgte Minderheit. Stimmig.
Natürlich fallen da sofort die linkspopulistischen Regierungen ein, die die USA als Überelite für alles Böse verantwortlich machen. Das trifft sicher häufig zu. Es muss aber auch die Frage erlaubt sein, ob z.B. im Falle Kubas diese Beschreibung nicht einfach stimmt.
Die Vereinnahmung des ganzen Staates, Massenklientelismus, Unterdrückung der Zivilgesellschaft und und der Medien sind laut Müller die Kennzeichen einer Übernahme des Staates durch populistische Parteien. Die Übernahme erfolgt nicht offen autoritär, sondern durch den selbst definierten moralischen Anspruch unter dem Deckmantel der weiter für Ansehen sorgenden Demokratie, die er in dem Falle defekt nennt. Auch stimmig.
Aber Hoppla. Was ist denn dann mit der USA. Nach der Wahl werden dort im Gegensatz zu uns nicht nur die Politiker, sondern die gesamte Administration ausgetauscht. Ist das institutionalisierter Populismus oder einfach das bessere System, weil der Minister nicht mit irgendwelchen dahergelaufenen Beamten der Vorgängerregierung Reibung erzeugt?
Zu dem Thema ist mittlerweile so viel gesagt, dass ich nur noch lose aufzähle, was mich gestört hat.
Everything for my friends, for my enemies the law. Populismus? Dazu hat Bärbel Boley nach der Wende die hübsche Aussage geprägt: »Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat«. Und dem ist auch Nichts hinzuzufügen. Der Rechtsstaat, meist vertreten durch das Verfassungsgericht, wird ohne nähere Begründung als unangreifbar dargestellt. Bisher war jede Kritik daran verpönt, aber es brökelt. Das hat etwas Religöses, um (meine Diagnose) eine Rechtfertigung zu umgehen.
Müller rechnet uns vor, warum Viktor Orbán eigentlich keine Mehrheit hat, um die Verfassung zu ändern. Ist das bei uns anders? Und würden grundsätzlich immer die tatsächlichen Prozentzahlen angegeben, sähe die Legitimierung einer Regierung immer sehr dürftig aus. Müller nennt die von Orbán vorausgesetzte Legitimierung atemberaubend. Ich finde z.B die geschäftsmäßige »Übernahme« der DDR ohne das im Grundgesetz angedachte Prozedere atemberaubend.
Den scheinbaren Widerspruch einer populistischen Verfassung löst Müller auf, indem er Verfassungsänderungen sieht, die konstitutionell den zu schütztenden Volkswille darstellen Ja, natürlich. Ist es nicht das, was man eine Verfassung nennt.
Der Versuch das Wir sind das Volk aus Leipzig und vom Tahrir-Platz zu relativieren, wirkt sehr bemüht. Er gibt Kredit für das hehre Ansinnen, aber letzlich ist der Anspruch genauso absolut wie von SED, Diktatur oder Muslimbrüdern.
Ebenso ins Schwimmen kommt er, wenn er versucht die Unterdrückung von NGOs durch populistische Regierungen zu diskreditieren, da sie an den 100% nagen. Wenn man ehrlich ist, werden NGOs heute verwendet, um Geld für eigene PR in die entsprechenden Länder zu pumpen. Man muss gar nicht immer mit George Soros rumfuchteln, dass gilt allgemein. Bei uns sind dass dann gerade aktuell Ditib und Millî Görüs als verlängerter Arm Erdogans. Wollen wir auch nicht.
Auch hier ein Fazit. Den dummen Spruch vom Reichstag entfernen und durch Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better ersetzen.
Aus Zeitgründen habe ich es bisher nicht geschafft, alle Kommentare zu lesen. An Müllers Buch hat mich so manches enttäuscht. Die Genrebezeichnung »Essay« scheint der Autor nur als Freibrief zu verstehen, vage und uninspiriert drauflos zu schreiben, in einem halb akademischen, halb journalistischen Jargon. Verstört hat mich dann gleich in der Anfangsphase der Lektüre, daß Müller dezidiert beim »Politischen«, also bei den Mechanismen der Demokratie, bleibt und Bezüge zu Soziologischem, also zu der Lebenswelt, wie wir sie kennen, gar nicht berücksichtigen will. Aber aus den Zuständen und Veränderungen dieser Welt mit ihren Bürgern und Wählern, ihrer Mittelklasse und ihren Sozialfällen und Eliten, ist doch das Phänomen des Populismus, das man zu erklären versucht, entstanden.
In den (bisher gelesenen) Kommentaren scheint mir dieser Satz einen Kern zu treffen: »Der Ellenbogen-Individualismus, der ihnen beigebracht wurde, beginnt sich gegen sie selbst zu richten.« Sie, das sind die Angehörigen der wohlhabenden Mittelschicht. Die Angst haben, daß ihnen die Felle davonschwimmen, was einigen ja schon passiert ist. Wobei die Jungen hinzukommen, die wenig Aussicht haben, je dieses Niveau von Einkommen und sozialer Sicherheit zu erreichen.
Was diesem Befund m. E. hinzuzufügen ist: Die neoliberale, ökonomistische Ideologie hat sich seit den achtziger Jahren in den Köpfen festgesetzt. Die populistischen Bewegungen gedeihen in Verhältnissen der allgegenwärtigen Werbung, der Public Relations, der Konditionierung durch die Massenmedien, der Aufweichung der Unterschieden von Öffentlich und Privat, der Rhetorisierung, des Erfolgszwangs, der Pop-Industrie.
Ein Posting im Onlineforum einer Tageszeitung hat mich zur Zeit der Bundespräsidentenwahl in Österreich frappiert: Der Mann (oder die Frau oder was auch immer) warf einem Kandidaten vor, sich nicht nach dem auszurichten, was am meisten Zustimmung habe. Nach dieser Logik müßte der grüne Kandidat für Steuererleichterungen für Autofahrer plädieren. Vom Wähler gewählt wird, wer das sagt, was alle sagen. Man wählt den Opportunisten / den Populisten, weil er Opportunist / Populist ist – und nicht wegen der Inhalte, die er vertritt. Auf diese Art wird Konformität gegenüber dem Ranking selbst zum entscheidenden Kriterium. Zumindest in Österreich, wo ich den Populismus in den frühen achtziger Jahren kennengelernt habe, war und ist der Populismus zutiefst opportunistisch. Das hat dazu beigetragen, daß sich seine Politik nicht bewährte, wenn er in Regierungsverantworung kam (auch auf regionaler Ebene). Anderswo, etwa in Ungarn, scheinen die Populisten diesen methodischen Opportunismus abzustreifen, sobald sie Machtpositionen erreichen. Das könnte uns auch in Österreich bevorstehen. Die Frage ist jeweils, wie antipluralistisch die Populisten wirklich sind. Im Klartext: Eine strikt antipluralistische Politik arbeitet am Übergang zu einem totalitären System. Leider kann ich nicht beurteilen, ob das in Ungarn bereits der Fall ist. Und die Frage, wie pluralistische Demokraten dem begegnen sollen, stellt sich dann viel ernster, als uns Müllers Essay nahelegt.
Aufgrund persönlicher Erfahrungen und Beobachtungen fürchte ich, daß man in Westeuropa dem Populismus das Wasser nur langfristig abgraben kann: durch kulturelle und pädagogische Umorientierungen. Das vernünftige Argumentieren, das Müller und einige hier in diesem Forum beschwören, ist ja wunderbar, aber viele von denen, die die Schnauze voll haben, und auch viele der populistischen Politiker, argumentieren ja überhaupt nicht, sie können und wollen das nicht, es geht ihnen nicht um den vernünftigen Diskurs. Politiker, und zwar nicht nur die als populistisch ausgewiesenen, argumentieren doch längst nicht mehr, sie verwenden rhetorische Formeln, die ihnen Kommunikationprofis beibringen. Das paßt gut zum opportunistischen Populismus, ist aber Ausdruck einer weit verbreiteten kulturellen Einstellung.
An dieser Stelle drängt sich dann doch wieder die historische Parallele auf. Wo Argumente keine Achtung erfahren, greift man eher zur Gewalt. Die Gewaltbereitschaft ist in den letzten Jahren dramatisch gestiegen. Ich meine nicht nur extremistische, gar terroristische Taten, sondern auch die verbale Gewalt, Haßpostings etc., gefördert durch die Ano- und Pseudonymitätskultur des Internets und umso beunruhigender, als sie offenbar aus der ehemals schweigenden, jetzt aber pseudonym sich äußernden Mehrheit kommt.
@ Federmair 33
1) was die Anonymität angeht – - ichsehe so: Kann man anonym posten, aber soll man dann besonders zurückhaltend sein mit Aggression.
Das wäre eine Norm, deren Einhaltung meiner Meinung nach für einen guten blog spricht.Schlechte blogs / schlechte Gesellschaft soll man meiden.
Fänd’ ich gut, wen sich das durchsetzt. Tu’ ich auch was dafür.
2) Dass unsere Gesellschaft den Egoismus fördert ist nichts Neues – das ist der Kapitalismus – und Marx war einer derer, die gesagt haben, wie gut das ist. Aber auch Adam Smith usw.
Das genau ist ja die protestantische Arbeitsethik und der Geist des Kapitalismus. Aber schon immer gibt es gleichzeitig die Erweiterung der gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten – die Diversivizierung der Lebensstile (die Erkundung des Sado-Masochismus im Falle Webers...), die Freiheit der Kunst, der Religionsausübung usw.
Auch die Klage, dass das nicht so einfach ist, ist so alt wie der Kapitalismus selber. Und sie ist nicht vollkommen falsch, aber sie hat neben Bergen und Bergen von alten Autoreifen und hasserfüllten Leserbriefen usw. eben auch Berge und Berge von Lösungsvorschlägen provoziert: Wir fangen also nicht bei Null an – das ist übrigens auch in vielen Kommentaren hier auf dem blog zu sehen.
Pardon – gemeint war in 34:
@ Leopod Federmair 33
@ Gregor Keuschnig 29 – 1) TTIP und 2) Griechenland und EU
1) Ich meine, zwischen TTIP und Griechenland sei ein Unterschied.
Mir passt TTIP auch nicht – aus dem gleichen Grund wie Ihnen: Wegen des Geheimhaltungsverfahrens. Das ist ein Kommunikationsproblem. Inhaltlich habe ich mich in TTIP nicht eingelesen.
2) Die griechische Krise ist k e i n reines Kommunikationsproblem. Es gibt erhebliche Sachprobleme, die kurz gesagt mit der mangelnden Rationalisierung/ Modernisierung des ganzen Landes einschließlich seiner politischen Institutionen zu tun haben.
Bitte, ich will damit nicht sagen, die Griechen müssen sich modernisieren. Ich will aber sagen: Wer auf diesem Gebiet hinkt, soll sich entweder helfen lassen, oder mit den Folgen leben. Das ist nicht meine private Ansicht, das ist eigentlich geltendes Recht aufgrund des Schuldenübernahmeverbots im EU-Vertrag.
Wenn Ihnen das hier zu ausführlich ist, können Sie es gern löschen:
D i e U n i o n haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen von Mitgliedstaaten und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein; dies gilt unbeschadet der gegenseitigen finanziellen Garantien für die gemeinsame Durchführung eines bestimmten Vorhabens. E i n M i t g l i e d s t a a t haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen eines anderen Mitgliedstaats und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein; dies gilt unbeschadet der gegenseitigen finanziellen Garantien für die gemeinsame Durchführung eines bestimmten Vorhabens.
(Artikel 125, Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union – meine Herv., D. K.)
@Leopold Federmair
Die populistischen Bewegungen gedeihen in [...] Pop-Industrie
Ein treffender Befund. Die öffentliche Kommunikation wurde von Experten gekapert, die sich darauf spezialisiert haben, menschliche Schwächen auszunutzen. Dadurch hat man schnell einen faden Geschmack auf der Zunge, wenn nur bestimmte Schlüsselbegriffe fallen. Ein Fest für den Populisten.
... viele von denen, die die Schnauze voll haben, und auch viele der populistischen Politiker, argumentieren ja überhaupt nicht, sie können und wollen das nicht,
Vielleicht wäre es genauer, wollen das nicht mehr, zu sagen. Opportunist und Geduld passt nicht gut zusammen. Dadurch wechselt er die Themen, wie er einen Tanker um die Kurve fahren würde. Erst das Steuer stark einschlagen und weil nicht sofort etwas passiert, erstmal wieder in die andere Richtung. Ergebnis ist zumindest ein Schlingerkurs. In Deutschland ist das genau das Verhalten von Sigmar Gabriel, der nachdem er ein neues Thema gefunden hat, eine pathetische Rede hält und wenn sich die Umfrageergebnisse nicht schnell ändern, reagiert er sogar noch unwillig, statt sich zu fragen, wo der Fehler lag. Das macht nicht unbedingt diskussionsfreudig.
Nennt mich spießig, aber ich habe das Bedürfnis, ein wenig Ordnung zu schaffen. Erlaube mir daher folgende Reflexion der Beiträge:
Die Definition des Populismus als anti-pluralistisch (Müller) wird weitestgehend goutiert. Innerhalb einer Öffentlichkeit, die wenigstens als »teiloffen« für verschiedene Meinungen und Politiken gelten kann, ist die Erweiterung der bestehenden Vielfalt um eine anti-pluralistische autoritär-diskursive Variante der Politik nur ein Schein-demokratischer Zugewinn, d.h. es kann keinen neuen »Spieler« geben, der die Regeln ignoriert.
Mit dieser spiel-theoretischen Provokation kann man nicht kritisch verfahren, ohne die bereits erfolgten »Regel-Beugungen« der sich bis dato als »konform« selbst-darstellenden Teilnehmer zu thematisieren und auf ihren Einfluss zu prüfen bzw. auch deren Reaktionsschwäche einzukreisen.
Die Frage, ob die strategisch gewollten Abweichungen vom Diskurs-Ideal eine Dekadenz, eine Milieu-Verschlechterung der Politischen Öffentlichkeit bewirkt hätten, und damit den ungebetenen Falsch-Spieler wahrscheinlich gemacht haben, kann nicht ohne eine stark vertiefte Demokratie-Theorie beantwortet werden. J‑W-Müller leistet dafür nur sehr bedingt die Vorarbeit.
Motivisch werden die Globalisierung, der politische Wunsch nach einem nationalen Rahmen und die Krise der Repräsentation als »Bermuda-Dreieck« für das Aufkommen des Populismus betrachtet.
Sollte eine Vier-Punkte-Aufzählung werden, aber der Editor hat meine (ul) und (li) Tags ignoriert. Man erkennt es an den Absätzen...
@Dieter Kief
Ich glaube, ich habe mich missverständlich ausgedrückt. Natürlich ist TTIP nicht mit Griechenland vergleichbar. Und natürlich ist die griechische Eurokrise eine veritable finanzökonomische Malaise. Und noch einmal und: Ja, es war ein Verstoss gegen die »No-Bail-Out«-Regelung. All dies ist mir bekannt. Mein Gedanke war dahingehend, dass (1) die Institutionen, die im Fall von Griechenland hätten auf die Probleme hinweisen müssen (weil es doch Konvergenzkriterien für den Euro gab/gibt, die – Achtung Modewort – laufend »evaluiert« werden) versagt haben müssen. Jetzt stelle ich meine kühne These auf: (1a) Sie haben nicht versagt, weil (1b) gar kein Interesse daran bestand, diese Volkswirtschaften einer Evaluierung zu unterziehen. Welche Konsequenzen sieht man eigentlich vor, wenn Verstösse drohen? Richtig: Bussgelder. Wenn ich also einem, der pleite ist, ein Bussgeld aufdrücke, wird der dadurch natürlich noch mehr in die Pleite gezogen. (Ich werde etwas volkstümlicher im Diskurs.) Das ist also völliger Blödsinn und das war jedem klar, der bis fünf zählen kann. Tatsache bleibt also nur, dass man es gar nicht wissen wollte, wie es um Griechenland, Zypern, Italien, Portugal usw. steht. Denn das hätte Folgen für die Eurozone nach sich ziehen müssen. Und das wollte man nicht, weil der Euro nämlich nie ein ökonomisches Projekt war, sondern ein politisches. Scheitern verboten! Als der damalige Bundesbankpräsident Pöhl nach den Maastricht-Verträgen Kohl fragte, wie man denn den Euro stabil gestalten wollte, soll Kohl gesagt haben: ‘Das ist Ihr Problem’. – So einen »schlanken Fuss« darf sich die Politik nicht machen.
Die Kommunikation um das Problem in Griechenland wurde von dem damaligen griechischen MP selber auf die Agenda gesetzt. Auch hier gab es dann zunächst die abwiegelnden Stimmen. Griechenland sei klein; die Probleme zu vernachlässigen. Binnen Wochen wurde es immer dramatischer. Den Rest kennen Sie besser als ich. Hier haben also die Institutionen der Politik (und auch die Medien) wieder versagt. Sie haben aus populistischen Gründen (!) eine Verharmlosung betrieben, um das Kartenhaus Europäischen Union bzw. Euroraum nicht zum Einstürzen zu bringen.
Bei TTIP versagt die Politik vollkommen. Einerseits predigt man überall Transparenz, aber ausgerechnet hier herrscht eine Geheimhaltung wie bei Fort Knox. Gerade diese Punkte verstärken das Unbehagen gegenüber »denen da oben«. Und nur das wollte ich damit in die Diskussion einbringen.
Und ja, es ist schön, dass man so wunderbar über Goethe nachdenken kann. Oder, wie wir hier, in einem wie ich finde gepflegten Ton ein politisches Thema beleuchten können. Beides ohne, dass in unsere Wohnungen eingebrochen wird oder wir auf der Strasse befürchten müssen, erschossen zu werden. Aber soll man wirklich das schlimmstmögliche immer annehmen müssen, um sich selber zu vergewissern, dass man es doch noch ganz gut getroffen hat? Natürlich ist ein Hartz-IV-Bezieher in Deutschland oft genug besser gestellt als ein Sozialhilfeempfänger in den USA oder Großbritannien. Aber was hilft ihm das, wenn er glaubt, nicht mehr am sozialen Leben teilnehmen zu können und das schon, weil er sich das Buch für 15 Euro einfach nicht leisten kann?
@Leopold Federmair
Ich zucke immer bei dem Wort »neoliberal« zusammen, weil ich gelernt hatte, darunter etwas anderes zu verstehen (bspw. Walter Eucken). Aber egal, wir wissen, wie es gemeint ist (und das soll ja Sprache leisten).
Und ich zuckte zusammen, als die Rede vom »wohlhabenden Mittelstand« war. »Wohlhabend« in Bezug auf »Mittelstand« artikuliert für mich einen gewissen Statusneid. Man darf nicht vergessen, dass in Deutschland die »soziale Marktwirtschaft« das Versprechen des »Wohlstands für Alle« ausgab. Das war in den 1950er Jahren deutlich anders konnotiert als heute. Die Verheißung war aber: Du kannst es mit Deiner Arbeit schaffen einen gewissen Wohlstand dauerhaft (das ist wichtig) zu erreichen. Der zweite Punkt des Versprechens war, dass dieser Wohlstand ständig wächst. Das wurde inzwischen heimlich »einkassiert«, da es hier Grenzen gibt (was ein Teil des Problems ist, aber nur ein kleiner Teil). Die Parallele zum »amerikanischen Versprechen« liegt auf der Hand. Der Unterschied bestand und besteht darin, dass der Staat mehr als in den USA bestimmte soziale Standards garantiert. Ausgesprochen wurde dieses Versprechen, als man sich in permanentem Wachstumsrausch befand; man konnte sich einfach nicht vorstellen, dass irgendwann einmal 5% oder 10% Arbeitslose geben könnte; Arbeit war genug da – und die Unternehmen waren bereit, diese Arbeit zu honorieren. Mit der Automation, die in Deutschland bereits Ende der 1960er Jahre begann (und dann sprunghaft wuchs), wurden die schlechter bezahlten Arbeitsplätze, die nur geringe Qualifikationen erforderten, überflüssig gemacht. Dieser Prozess bekam durch die weitgehende und fortschreitende Digitalisierung der Industrie ab Ende der 1990er Jahre noch einmal einen weiteren Schub. Wenigstens hat man den Fehler Großbritanniens und der USA nicht gemacht, in dem man die Volkswirtschaften deindustrialisiert hatte. Inzwischen sprechen Unternehmensberatungen von einem gewaltigen Stellenabbau in den Dienstleistungen in den nächsten Jahrzehnten. Dass die Digitalisierung gleichzeitig neue Arbeitsplätze schafft, steht außer Frage. Aber sie wird mehr Stellen kosten als schaffen.
Dies ist der Hintergrund für das Erodieren der Mittelschicht. Deren »Wohlstand« besteht darin, dass sie sich Konsumgüter leisten kann. Wichtig ist aber, dass er erarbeitet wurde, d. h. es gibt in der Regel keine »Dynastien«, die Reichtümer weitergegeben und vererbt haben. Meistens besteht die Mittelschicht aus abhängig Beschäftigten; ein Teil ist selbständig, meist aber in nur sehr kleinen Unternehmen. (Um einen Augenblick persönlich zu werden: Ich zähle mich dazu. Mein »Wohlstand« ist erarbeitet, meine Steuern habe ich bezahlen [müssen], die Sozialversicherungsbeiträge habe ich bezahlt – und ab Oktober ändert sich mein Leben, aber das ist ein anderes Thema.) Dieser Mittelstand hat – das hatte ich schon in einem anderen Kommentar versucht zu erklären – aktuell keine Möglichkeit mehr, sein Geld außerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung zur Altersvorsorge anzulegen. Also wird das Geld mehr oder weniger vollständig konsumiert (was im Sinne der Wirtschaft ist). Subkutan merkt man natürlich, dass die Rente (falls sie überhaupt in der aktuell vorhergesagten Höhe ausgezahlt wird) nicht für diese Form des Lebensstandards reicht. Und schon entsteht eine gewisse Furcht.
Gravierender ist dies bei Arbeitslosigkeit. Wer als Angestellter (bis hinein in den Abteilungsleiter-Bereich) eine 4 vor seinem aktuellen Lebensalter stehen hat und aus irgendwelchen (unverschuldeten) Gründen arbeitslos wird, hat kaum Chancen auf dem bisherigen Niveau eine Beschäftigung zu finden; es sei denn, er/sie kennt irgend jemanden, der einem dann an den üblichen Bewerbungsprozess vorbeisteuert. Wer eine Familie hat, ist binnen 12 oder 18 Monaten (je nach Lebensalter) praktisch auf Sozialhilfeniveau – wenn er/sie »Pech« hat. Wenn man vorher einen Job bekommt (jetzt kommt das Wort »Job« statt« »Arbeitsplatz« oder »Beruf«), ist man evtl. in der Zumututbarkeitsklausel gefangen, d. h. man arbeitet für weniger Geld. Wird man danach wieder arbeitslos, fällt das Arbeitslosengeld wieder niedriger aus, usw.
Zu den Hasskommentaren: Ich bestreite, dass Hasskommentare eine »Erfindung« des Internets sind. In meiner Jugendzeit habe ich erlebt, wie politisiert es in der konservativen Stadt, in der ich aufwuchs, zuging. Es war die Zeit, als Willy Brandt Bundeskanzler war und sich 1972 zur Wahl stellte. Die Schmähungen in der Schule, auf der Straße, in den Läden über Brandt waren sehr bedrohlich. »Brandt an die Wand« hieß es auch schon mal. Meine Mutter wurde in einem Geschäft nicht mehr bedient, weil sie den Button mit »Willy wählen« angesteckt hatte. Das Netz macht den unterschwellig stark vorhandenen Hass nur deutlich. Und es hat eine Weile gedauert, bis man sich dies »traute«. Dieser Punkt ist erreicht, aber den Geist bekommt man nicht mehr in die Flasche. Das Versagen der Bildungspolitik der letzten Jahrzehnte mag zur Verstärkung beitragen.
@Joseph Branco
Das Beispiel mit der DDR-Übernahme ist sehr gut. Es zeigt, wie man damals schon aus Furcht vor einem unliebsamen Ausgang die repräsentativ-politische Variante zur Wiedervereinigung durchzog. Und dies obwohl man sich doch eigentlich sicher sein konnte, eine veritable Mehrheit zu erhalten. Aber was, wenn diese nur 60% oder noch weniger betragen hätte?
Also auch damals schon: Demokratie ist toll – solange ihr alle denkt, was wir denken. – Provokativ gefragt: Wer ist eigentlich antipluralistischer? Derjenige, der »direkte Demokratie« (wenn auch u. U. zu populistischen Zwecken!) einsetzen möchte oder derjenige, der sie ablehnt (weil ein »falsches« Ergebnis herauskommen könnte)?
Eine Frage jenseits des Buches, aber zum Thema habe ich noch; ja vielleicht gehört auch diese Aussparung bei Müller sogar zur »spätbürgerlichen Blindheit von Demokratie-Experten«, und wäre damit ein Symptom unserer Zeit:
Es war Udo di Fabio, der mich darauf hingewiesen hat, dass es zwischen der liberalen Demokratie und der Marktwirtschaft einen inneren Zusammenhang gibt, der auch ihre »Grenzbedingung« darstellt.
Es müssen eine hinreichende Anzahl von Menschen davon überzeugt sein, dass es sinnvoll ist, an den Axiomen des Privateigentums, welches die Organisation der Wirtschaft umfasst, festzuhalten. Wenn eine nicht genau bezifferbare Menge an Menschen der Meinung ist dass daraus keine persönlichen Vorteile mehr erwachsen, können weder die Rechtsverhältnisse noch die wirtschaftliche Organisation aufrecht erhalten werden.
Sowohl @Branco als auch @Keuschnig gehen darauf tendenziell ein. In Spanien darf man gespannt sein, was der « neue Sozialismus« sich für Pläne zurecht legt, wenn er erst an der Macht ist. Was mich daran wundert, ist dass die Virulenz des echten anti-systemischen Sozialismus so gut wie überhaupt keine Besorgnis auslöst in Europa. Das lächelt man weg.
Und was mich ebenfalls wundert, ist dass der Populismus so gut wie frei von sozialistischen Motiven ist. Sollte man diese beiden »Beobachtungen« nicht zusammenfassend als eine übergreifende politische »Naivität« interpretieren, die dahingehend lautet: in Europa und ÜBERHAUPT kann uns gar nichts mehr vom Kurs abbringen außer ein paar autoritäre Stinkstiefel...
die_kalte_Sophie
Man muss ja nicht gleich Privateigentum in Frage stellen. Wir haben gerade durch die Finanzkrise eine gigantische Umverteilung hinter uns, die von Leuten betrieben wurde, die mit Geld Geld verdienen. Die Realwirtschaft spielt da kaum noch eine Rolle. Börsenkurse sind heute fast ausschließlich von den Zentralbanken getrieben. Wenn man sich an die putzigen Reden aus den 70er und 80er Jahren erinnert, frage ich mich manchmal schon wie es soweit kommen konnte, dass Respekt und Würde kaum noch eine Rolle spielen, die Controler Effizienz als nicht in Frage zu stellenden Sachzwang darstellen konnten. Ein Versagen von Politik, Kirchen etc. hat den Acker bereitet, auf dem jetzt allgegenwärtig Ungutes wächst. Wie gross der Hass auf das Establishment werden kann, sehen wir gerade in den USA. Das war jetzt hoffentlich nicht zu sozialistisch.
Wer noch nicht genug hat, kann sich Müller auch mal im O‑Ton im Radio anhören. Zusätzlich ist das Thema Populismus nächsten Sonntag Thema im Philosophischen Radio im WDR5.
@die_kalte_Sophie
Den Linkspopulismus beachtet man derzeit kaum, weil man sich insgeheim an Griechenland orientiert. Dort ist Syriza wie ein Tiger gestartet und als Bettvorleger gelandet. Wie weiland die Schröder-SPD den galligen Lafontaine loswurde, in dem er die Brocken hinwarf, so hat sich Tsipras Varoufakis entledigt. Damit war der Markenkern von Syriza entfernt worden. Seitdem macht man brav die Austeritätspolitik weiter. Ähnliches erwartet (hofft) man auch dann, wenn Podemos in Spanien gewinnen sollte.
@Joseph Branco
Müllers Buch trifft den Nerv der Massenmedien aus zwei Gründen: (1.) Er identifiziert Populismus als nationalistisch (auch wenn er vereinzelt einmal von links kommt). Das ist Mainstream. Und (2.) er liefert kleine Häppchen, die nicht besonders überfordern. Vielleicht sollte man die Macher vom Philosophischen Radio mal auf die Kommentare hier hinweisen...
Nach der guten Zusammenfassung der kalten Sophie in Kommentar #38, bin ich zu sagen geneigt, dass es letztlich (doch) an den Wählern liegt (und nur an ihnen), ihr Urteil zu fällen und eine gegebenenfalls scheindemokratischen Bewegung entsprechend einzuschätzen. Kein politisches System kann sich vor einer Täuschung schützen und niemand weiß vorher, was nachher passieren wird. Man kann Phänomene, wie den Populismus, analysieren und einzugrenzen versuchen, dann benennen, aber mehr ist in einem System, das nach der politischen Vernunft des Einzelnen fragt, nicht zulässig, wenn man seine Grenze nicht überschreiten möchte. — Und noch ein Wort zum »Sozialismus«: Man müsste das einmal programmatisch analysieren (das wäre eigentlich ein interessanter Folgebeitrag), aber gefühlt meine ich, dass die FPÖ sehr wohl eine Art Sozialismus (»für den kleinen Mann«) zumindest rhetorisch vertritt, allerdings innerhalb der nationalen Grenzen.
@Leopold Ferdermair, #33 Ich glaube nach wie vor, dass das Phänomen Populismus etwas mit der Art zu tun hat, wie Politik heute verkauft wird (etwas anderes ist das Phrasengewerfe ja nicht; und niemand in der Politik scheint zu bemerken wie viele diese Art des Sprechens und Nichtantwortens satt haben); und mit dem allgemeinen Zustand der Parteien. Diejenigen, die die deutsche Politik besser kennen als ich, mögen mich korrigieren, aber ich behaupte, dass einen Aussage wie »Wir werden das schon schaffen« von einem der wichtigsten Politiker eines Landes zu einem der drängendsten Probleme, doch nur mit Abwehr und Widerwillen goutiert werden kann. Das ist doch die Verhöhnung eines jeden Bürgers! Ein klarer, verbindlicher Abriss dessen, was die Bundesregierung in Anbetracht der Lage zu tun gedenkt und wie man auf eine allfällige Verschlechterung oder Verbesserung reagieren möchte, hätte eine ganz andere Wirkung gehabt. Und wenn keiner mehr Politik macht und sich mit Unternehmensjargon aus der Affäre zieht, laufen die Leute logischer Weise zu denen, die das am besten können (zudem kann man es den anderen dort auch noch heimzahlen). Nicht weil die Menschen den unvernünftigen Diskurs mögen laufen sie weg, sondern weil die Unvernunft überall zu finden ist (wenn zum zehnten Mal beteuert wird, dass man die eigene Politik bloß besser kommunizieren muss, dann ist die logische Folge des Wählers, dass nur mehr die Abwahl Einsicht bringen wird). [Die Darstellung ist natürlich einseitig, da kommen noch andere Aspekte hinzu.]
@metepsilonema
Die Aussage von Merkel war: »Wir schaffen das!« Diese Beschwichtigung hatte einen Vorläufer im Jahr 2008. Da traten plötzlich an einem Sonntag die Bundeskanzlerin und der damalige Finanzminister Steinbrück vor die Kameras und garantierten den »Sparerinnen und Sparern« ihre Spareinlagen. Damit sollte ein angeblich drohender Run auf die Bankschalter am nächsten Tag entgegengewirkt werden. Es gab Gerüchte, dass auch deutsche Banken in der damals auf dem Höhepunkt befindliche Finanzkrise stärker involviert seien als gedacht. Diese »Garantie« war natürlich Unsinn, denn rein rechnerisch wäre es gar nicht möglich gewesen, dass der Staat die gesamten Spareinlagen absichert. Zudem geht jede Bank zu jeder Zeit (ob Krise oder nicht) pleite, wenn alle Spareinlagen per sofort abgeholt würden. Aber es war – wie Ströbele im Video sagt – eine politische Garantie, ohne rechtliche Wirkung. Ähnliches sollte jetzt in der Flüchtlingsfrage ebenfalls ausgedrückt werden.
@ mete und die Frage, ob
die FPÖ eine Art Sozialismus (»für den kleinen Mann«) zumindest rhetorisch vertritt, allerdings innerhalb der nationalen Grenzen...
Das ist auch ein Lieblings-Thema von mir, denn als West-Deutscher habe ich die Sozial-Demokratie nur durch ihre Aufsteiger kennen gelernt, also üblicher weise Lehrer, Beamte und Rechtsanwälte. Sowohl vom Habitus als auch von den politischen Zielen war für mich immer ein »Heros« des gehobenen nicht-technischen Dienstes erkennbar, der höhere Angestellte mit den schmalen Händen.
Prototypisch passt das sehr gut zum Verschwinden der Arbeit, und alles schien mir bis zur Jahrhundertwende eigentlich ganz gut eine allgemeine Entwicklung der Lebenswelt (als Schnittmenge aller) abzubilden.
Erst durch den Rechtspopulismus und seine (wahrlich beachtliche Zustimmung in der Arbeiterschaft) bin ich darauf gestoßen, dass mit Klientel und »Repräsentation« ja auch Erfahrung, Sprache und Prioritäten gemeint sind. Und da nimmt es nicht Wunder, dass eine rechte Partei ebenso wie eine Linke in der Lage ist, sich in diesem (wertfrei:) Milieu zu verankern.
[Vielleicht ist der »böse Nationalismus« ja auch nur ein Ablenkungs-Manöver der Mittelschicht-Aufsteiger von einem allerdings gewaltigen Versagen, der erfolgreichen Verdrängung der eigenen Herkunft?! Ich spekuliere nur...]
@die_kalte_Sophie
Müller würde auf die Frage, ob die FPÖ eine Art Sozialismus (»für den kleinen Mann«) zumindest rhetorisch vertritt, allerdings innerhalb der nationalen Grenzen… auf das Wort »rhetorisch« in metepsilonemas Kommentar verweisen. Seine These ist ja, dass die Befürwortung de Partizipation des Bürgers per Volksentscheiden o. ä. tatsächlich nur Rhetorik sei:
Die FPÖ als »Sozialisten« für den »kleinen Mann« mit nationaler Ausprägung – das wäre sehr ähnlich dem, wie die NSDAP in den 1930er Jahren in Deutschland reüssierte. Man erinnere sich an das sehr kontrovers diskutierte Buch von Götz Aly über »Hitlers Volksstaat«. Im Vorfeld hatte er dazu in der SZ geschrieben: »Hitler regierte nach dem Prinzip „Ich bin das Volk“ und er zeichnete damit die politisch-mentalen Konturen des späteren Sozialstaats Bundesrepublik vor.«
Populisten müssen den »kleinen Mann« ansprechen, da sie das demokratische Prinzip als Legitimation benötigen. Notfalls gerieren sie sich selber als »klein«.
Ja, das genau der Punkt. Die Interpretation (das ist eine Grauzone, wie wir wissen) geht mit Attributen wie »rhetorisch« vor. Das ist die zentrale Annahme. Nichts gegen @mete oder Müller, das ist ja eine allgemeine Verunsicherung. »Rhetorisch« heißt »fingiert«. Geplant. Hintersinnig. Dahinter kann nur eine Täuschungsabsicht stecken. Impliziert:
Das hat ja schon mal ganz gut funktioniert, wenn auch mit katastrophalen Folgen.
Ich bin der Meinung, es ist keine Täuschung, weder bei den Beobachtern, noch in der Absicht bei den Akteuren. Oder anders gesagt: der »politische Wahn« ist echt, aber nicht bösartig. Es sind tatsächlich dieselben Muster und Motive wie in den Dreißiger Jahren, was schockiert, aber nicht unbedingt zu der Annahme berechtigt, man wisse schon, wie die Sache weitergeht. Es ist eine strukturelle Neuauflage vor einem vollkommen neuen gesellschaftlichen Hintergrund.
Ich denke, man kann nur die Milieu-Hypothese, die ich formuliert habe, oder die »Machttechnik«-Hypothese für Deutungen, Erklärungen und Empfehlungen heranziehen. Denn »Milieu« besagt, der Vertretungsanspruch ist ideologisch ernst gemeint, »Machttechnik« besagt, man hat sich was in der Geschichte abgeguckt. Dass hier Begriffe wie »Volk« fallen, die leicht auszuhebeln sind, sollte uns doch nicht von der eigentlichen Frage ablenken: geht die Macht von oben aus, von den Anführern, den Funktionären, oder kommt die Macht von unten... Eine deleuzianische Frage!
@die_kalte_sophie: Ich würd’s focaultianische versuchen zu verstehen: Macht entsteht an allerlei Orten. Mir ist auch die Trennung in oben und unten bzw. Elite und die Regierten zu einfach.
Ich habe ein wenig befürchtet, dass das Assoziationen an die 30iger Jahre wecken würde (ich bin kein großer Freund der allzu rasch geführten historischen Parallelen, weil eine Analytik des Gegenwärtigen eigentlich zunächst einmal genügen müsste; danach freilich kann der historische Vergleich sehr interessant und aufschlussreich sein). — Ich schrieb »gefühlt« und »rhetorisch« vorallem deswegen, weil ich mir die Programmatik der FPÖ nicht genauer angesehen habe (kommuniziert wird das, zweifellos). Fairerweise muss man dazu sagen, dass es auch auf der politisch Linken nationale Bewegungen gibt (wenngleich seltener).
Was mich zu dem Punkt bringt, dass man die Populisten im Sinne des antipluralistischen Elements mit Sicherheit erst dann erkennt, wenn sie alleine an der Macht sind. Vorher kann man das nur vermuten, bzw. aus dem Gesprochenen oder Geschriebenen destillieren.
Müller hat dem Nationalsozialismus auch populistische Elemente zugesprochen.
Ich habe mir auch schon überlegt (bei Erdoğan, etwa), inwieweit Populisten wie Schauspieler auftreten, also fast schon demagogisch verstellt agieren, oder tatsächlich all das glauben, was sie von sich geben, bzw. tun.
Ich habe mir auch schon überlegt (bei Erdoğan, etwa), inwieweit Populisten wie Schauspieler auftreten, also fast schon demagogisch verstellt agieren, oder tatsächlich all das glauben, was sie von sich geben, bzw. tun.
Ist das nicht die Arbeitsplatzbeschreibung eines Politikers? Und das meine ich nicht polemisch. Er greift aus den hunderten von Problemen zwei, drei heraus, schneidet sie mundgerecht und serviert mit dem der Klientel angepassten Gesicht. Merkel vor der Kamera und Merkel im Kabinett sind wahrscheinlich zwei grundverschiedene Menschen.
Und Göbbels einen Sozialisten oder Populisten zu nennen, würde mir schwer fallen. Demagoge hat Gregor Keuschnig ihm oben zugeschrieben und der kommt in jedem Gewand.
Doktor D
Mir ist auch die Trennung in oben und unten bzw. Elite und die Regierten zu einfach.
Zu Foucaults Zeiten, ja. Aber heute auch noch? Ich erzählte oben meine kleine Fahrradgeschichte. Verwerfungen erzeugen mal hier oder da mal einen Wirbel, aber statisch sehe ich heute tatsächlich die happy few.
@die_kalte_sophie
Ich glaube, dass das Schauen auf Milieus ein wenig veraltet ist. Gibt es denn noch den »Arbeiter«? (Und wenn ja wo?) Woran bemisst man »Mittelschicht« (am Einkommen, das ist klar – aber wo sind die Grenzen?) Milieus sind fliessend geworden und mit ihnen die Wahlentscheidungen. Entscheidend ist weniger der soziologische Begriff, sondern wie sich der Einzelne fühlt. Ich kenne sehr wohl Leute mit sechsstelligen Einkommen die sich als benachteiligt empfinden und ihre Steuerlast als unverschämt. Und ich kenne Leute mit einem deutlich geringeren Einkommen, die zufrieden sind.
»Oben« und »Unten« kann man sicherlich soziologisch definieren, aber darauf komtm es nicht an. Es geht darum, wer von den Populisten angesprochen wird. Populisten, die erfolgreich sein wollen, müssen ein Gefühl beim potentiellen Wähler erzeugen, dass sie zu einer Klasse oder Schicht gehören, die von der jetzigen Politik bewusst benachteiligt wird. Sodann spielt sich der Populist als Retter auf.
Es gibt ja ein Paradoxon: Einerseits wollen viele Bürger mehr Mitbestimmung, plädieren für direkte Demokratie. Andererseits: Wenn ein Entscheid in ihrer Stadt ansteht, tendiert die Wahlbeteiligung bei 20% oder 25% (meist unterhalb eines Quorums). Gibt man ihnen auf kommunaler Ebene die Möglichkeit, Stimmen zu Kumulieren oder zu Panaschieren, dann gehen die meisten doch hin und wählen einfach die Liste (verändern also nichts). Will sagen: Es gibt ein Missverhältnis zwischen dem politischen Wunsch der Partizipation und dem, was man dafür tun soll. Und da rede ich noch gar nicht von der Möglichkeit, sich selber in einer Partei zu engagieren...
Ein bisschen ist es eben so, dass man sich sehr gerne raushält – um dann um so heftiger gegen die »oben« zu wettern.
@metepsilonema
Ich habe die FPÖ nicht mit der NSDAP verglichen. Das wäre auch töricht. Ich glaube auch nicht, dass es bereits Voraussetzungen sind wie in den 1930er Jahren. Das war eine ganz andere politische Situation (man sehe/höre hier und hier).
Laut Müller neigen Populisten in der Regierung dazu, sich dauerhaft Macht zu verschaffen. Das Wort »Diktatur« vermeidet er, aber genau darauf läuft es hinaus. In Ungarn, Polen, Türkei und auch Venezuela (Chavez-Nachfolge) wird dies immer deutlicher. Ziel sollte es also, solche Parteien nicht federführend in Regierungen zu bringen.
Wobei die Türkei ein Sonderfall ist. Erdoğan galt lange als moderat; er reformierte die Türkei vor allem ökonomisch (es entstand eine breitere Mittelschicht). Mit ihm wurden 2005 die Beitrittsverhandlungen zur EU aufgenommen. Wer sich damals gegen eine Aufnahme der Türkei aussprach, galt mindestens als dubios. Irgendwann wurde er dann immer totalitärer. Tatsächlich zeigt Erdoğan diktatorische Züge. Ob man dadurch bessert, in dem man ihn mit Schmähungen bedeckt oder billigmutige Armenien-Resolutionen aufsetzt, sei dahingestellt.
@ Doktor D et alt. Mir war klar, dass die Frage nach den »Ausgangspunkten« der Macht naiv rüberkommen würde, aber wenigstens der »Doktor« hat mich verstanden. In der Tat kann der post-foucault’sche Machtbegriff kein Zentrum und keine Mitte mehr verorten. Trotzdem möchte ich noch einmal darauf eingehen, dass es sich beim Populismus mMn weder um Verführung noch um Schauspielerei handelt. Wenn man das Künstliche betonen möchte: ein »politisches Konstrukt«, welches einen einfachen niedrigschwelligen Zugang zum politischen Feld erlaubt.
Ich gehe von mir aus: wenn ich (was der Fall ist) nicht mehr sagen kann, wie die Bankengesetze zum Vorteil der Volkswirtschaft verändert werden können, wie das Energie-Einspeisungsgesetz hinsichtlich der staatlichen Preis-Garantien modifiziert, oder das Erbschaftssteuergesetz angelegt sein kann, ohne die Substanz der mittelständischen Unternehmen zu gefährden, etc. etc. Dann kann ICH an diesen Politik-Entscheidungen nicht teilnehmen.
Da gibt es einiges, was ich nicht verstehe.
Wie sieht es unten aus?!
Klar...
Vielleicht war deshalb der Milieu-Begriff auch irreführend. Es geht schon um das soziologische Profil aber auch die geistigen Möglichkeiten seiner Bewohner. Die Grund-Erfahrung in einer spätmodernen Demokratie scheint mir doch die schwierige bis tendenziell scheiternde Teilnahme an politischen Prozessen zu sein, also eine intellektuell und kommunikativ bedingte »Ent-Politisierung«. Versteht man diese Wortwahl?! Da kann niemand was für, auch nicht die Parteien.
Dies gesetzt, füge ich nur zwei Aspekte zusammen: einmal den von mir oben schon beschriebenen »Willen zur Politik«, also das vitale Interesse daran teilzunehmen, und dann ein Ereignis von außen, ein sehr einfaches Ereignis, das gleichwohl politisch aufgefasst werden kann, –die anhaltende Einwanderung von Muslimen aus dem arabischen Kulturraum, die »monokulturelle Erweiterung« der autochtonen Bevölkerung.
Was wird passieren?!
Nun wir wissen es bereits...
Aber wären wir schlau genug gewesen, es vorher zu sehen?!
Gib der Bevölkerung ein »einfaches Thema« und Du hast verloren, als technokratischer Experte für Frauen-Gleichstellung oder Energie-Politik.
Die Bedingung für die Entstehung einer populistischen Partei ist ein »einfaches Thema«, das trotzdem von politischer und vitaler Bedeutung ist. Das hätte auch Prostitution sein können, aber es sind die Einwanderer.
@die_kalte_Sophie
Je komplexer politische Entscheidungen daherkommen, desto schwieriger wird es ja, diese zu treffen. Das ist tatsächlich ein Problem. Eine »Meinung« zu einem Thema kann ich in einer Minute haben. Diese Form der »Meinung« ist aber immer stark vereinfachend. In solchen Vereinfachungen bewegen sich die gängigen sogenannten Polit-Talkshows wie »Anne Will« oder »Maybrit Illner«. Wer hier ans »Eingemachte« geht, wird binnen 20 Sekunden unterbrochen. Tatsächlich trauen sich viele politische Beobachter eher zu den Nahost-Konflikt zu lösen, als eine kommunalpolitische Entscheidung über eine Umgehungsstraße zu treffen. Deshalb will jeder Außenminister werden – aber kaum noch jemand Bürgermeister (okay, das war jetzt polemisch).
Populisten leugnen Komplexität und agieren in Schlagworten und Emotionen. Dabei fallen Fakten schon mal gerne unter den Tisch. Schwierige Sachverhalte werden dadurch auch entkräftet, dass man bestimmte Grundannahmen (politische Konsense) schlichtweg in Zweifel zieht. Wer beispielsweise keine Zuwanderung wünscht, braucht sich um die Integrationsgesetzgebung nicht mehr zu kümmern. Und wenn man glaubt, dem Klimawandel nichts entgegensetzen zu können, dann sind Maßnahmen für Stromtrassen, die die Windenergie vom Norden in den Süden bringen, nicht mehr notwendig. So funktioniert Komplexitätsreduzierung auch.
Populismus ist eben nicht, wie Müller das suggeriert, eine Art von politischer Richtung. Populismus ist vor allem (und zunächst) eine Technik, mittels rhetorischer und medialer Vereinfachungen den jeweils vorherrschenden politischen Gefühlslagen potentieller Wähler opportunistisch anzupassen. Der ideologische Überbau, die »Mission«, kommt meist später. Zuerst ist also, um es salopp zu formulieren, Trump. Später wird es dann Le Pen.
@ Gregor, sehr gut, die Abstufung von Trump gegenüber Le Pen! Wie macht Trump eigentlich »Populismus« ohne Thema?! Offenbar reichen die Simplifizierungen in allen Politik-Feldern. Nach meinem Aussagen wäre er so was wie ein freelancer im Geschäft... Mein Modell ist natürlich auf Deutschland, Österreich und Frankreich zugeschnitten, wo das Thema Einwanderung oder das Thema Währung/Europäische Verträge schon vorliegt.
Zustimmung weiterhin: Müller suggeriert eine Richtung, einen diffusen Willen. Obwohl man in Europa sehr gut die Themen erkennen kann. Das ist schon sehr merkwürdig. Als ob man in Europa bereit wäre, über die verdeckte Einwanderung und die verzwickten Interdependenzen des Währungsraums zu sprechen! Wenn nur nicht diese autoritäre chauvinistische Attitude wäre... Darüber gibt es keinen »Gesprächsbedarf«, sage ich mal in bestem merkelianischem Neusprech.
@die_kalte_Sophie
Naja, Themen hat Trump schon; zur Not schafft er welche. Er will die USA zu alter Stärke zurückbringen – was immer das bedeutet. Und flüchtet sich in den Isolationismus. Das kommt an, weil die Amerikaner die Nase voll haben von ihrer Polizistenrolle. Er ist ja sogar gegen die NATO. So dumm muss man erst einmal sein, denn die NATO sichert den USA ja den politischen Einfluss auf Europa. Er ist gegen muslimische und mexikanische Einwanderung und bedient hier ein diffuses Gefühl. Das ist übrigens sehr gefährlich, weil die USA natürlich eine Einwanderungsgesellschaft ist. Wer er gegen einzelne Gruppen hetzt, dann könnten sich auch die betroffen fühlen, die der Gruppe entstammen aber längst integriert und assimiliert sind. Und er ist gegen »die da oben«. Das ist kaum zu schlagen.
re: Trump: Gegen »Die da oben« und »Washington« zu kämpfen, ist in den USA spätestens seit dem Sezessionskrieg eines der zentralen Themen, über das sich die Nation über ihr eigenes Selbstverständnis streitet. Wenn nicht das zentrale. Und seit der Southern Strategy heißt das schlicht und ergreifend auch, dass man rassistisch, anti-semitisch und homophob zumindest dog-whistled, wenn nicht offen so kommuniziert. Damit hat ja auch das Sanders-Camp zu kämpfen (gehabt) – erstaunlich viele Leute, die sich als progressiv oder liberl verstehen, sind da ganz häufig in seltsame rhetorisch-semantische Regionen weggerutscht.
Populismus als Machttechnik von @gregor keuschnig – das kommt ziemlich dem nah, was ich mir aus unserer Diskussion hier erschlossen habe.
Zitat @die_kalte_sophie:
»Die Grund-Erfahrung in einer spätmodernen Demokratie scheint mir doch die schwierige bis tendenziell scheiternde Teilnahme an politischen Prozessen zu sein, also eine intellektuell und kommunikativ bedingte »Ent-Politisierung«.« – Das erscheint mir eine sehr genaue Beschreibung der Erfahrung zu sein, gleichzeitig habe ich den Eindruck, dass diese Erfahrung aus komplett unrealistischen Ansprüchen der Bevölkerung an den politischen Prozess besteht. Wie hier schon mehrfach beschrieben, ist der eben langsam, zäh, ohne objektives, weil absolut richtiges Ergebnis, ein langer Aushandlungsprozess etc. – und das war schon immer so, selbst auf der Agora. Volksbefragungen etc. verdecken das im Grunde, weil da auch so ein Instant Gratification-Charme herumweht, und machen die Sache, nämlich das grundsätzliche Missverständnis des politischen Prozesses, nur schlimmer. Dabei sind die Möglichkeiten, sich heute in DE am politischen Prozess praktisch ode auch nur kommunikativ zu beteiligen, unglaublich groß – das scheinen nur die meisten damit zu verwechseln, dass ihr Wille geschehe. Woher dieses Missverständnis kommt, ist mir nicht so wirklich deutlich. Warum Menschen in Frankreich, den Front National unterstützen, ist mir klarer als hier die AfD etc.: In FR ist es tatsächlich schwierig für Menschen, die nicht aus den 5 bis 10 Edel-Hochschulen kommen, auch nur auf Regional-Ebene in irgendwie interessante Positionen zu kommen, und der FN eröffnet da tatsächlich Chancen. Aber in DE ist man ja quasi ratzfatz in der Kommunalpolitik, wenn man sich nur ein bisschen auf die Hinterbeine stellt.
Das erscheint mir eine sehr genaue Beschreibung der Erfahrung zu sein, gleichzeitig habe ich den Eindruck, dass diese Erfahrung aus komplett unrealistischen Ansprüchen der Bevölkerung an den politischen Prozess besteht.
Das gilt für die genannte Umgehungsstraße (durch EU eigentliche auch schon nicht mehr), auch für die Implantationsdiagnostik (solange das noch nicht als Business globalisiert ist), aber, ich wiederhole mich, bei den ganz dicken Brettern weiß der Abgeordnete heute nicht mehr worüber er abstimmt, er hat über das abzustimmende Thema vielleicht ein bisschen auf dem Flur diskutiert, aber nicht im Plenum, dann kommt Kauder etc. hält eine dramatische Rede im Ausschuss, warum so oder so abzustimmen ist und alle halten sich daran, weil man den ganzen Käse, den man kurz vor der Abstimmung in englischer Sprache erhalten hat sowieso nicht mehr lesen kann und weil man in der nächsten Legislatur doch dies oder das werden möchte.
Da wird nicht nur der Wähler entmündigt, der Abgeordnete dazu. Damit ist nicht nur die repräsentative Demokratie erledigt, die Gewaltenteilung ist de facto aufgehoben. Wer letztlich die Entscheidung fällt ist vollkommen unklar. Ich hatte z.B. »meinen« Abgeordneten kontaktiert, wie sein Abstimmungsverhalten gegenüber CETA seine wird, wenn die privaten Schiedsgerichte weiter Bestandteil sind. Er hatte mir ausdrücklich gesagt, dass die SPD-Fraktion niemals zustimmen wird. Jetzt gibt es wohl EU-only und der Bundestag wird zur Quatschbude. Und es gibt keine demokratische Alternative, die man wählen könnte.
Das schafft den Raum für Populisten. In Deutschland haben wir in den letzten Jahren doch mehrfach gesehen, wie hungrig die Wähler darauf sind jemanden wählen zu können, der wie auch immer nicht zu diesem schmutzigen Geschäft gehört. Erst hatten die Grünen plötzlich abenteuerliche Zustimmungsraten, dann wurden alle Piraten gewählt, die nicht bei drei auf den Bäumen waren und jetzt ist es halt AfD. Wenn Demokratie keine Alternativen bietet, ist hohe Zeit für Rattenfänger. Dann den Wähler als unterkomplex zu beschimpfen, empfinde ich als Hohn.
Also, beim @Doktor muss ich noch mal nachhaken. Ich glaube nicht, dass es ein Missverständnis in der Bevölkerung darüber gibt, welche Anstrengung für eine fundierte Teilnahme an einer politischen Entscheidung nötig ist. Ich glaube im Gegenteil, dass die Demokratie permanent »mit ihrem gutem Ruf« kämpft, nämlich dass es eine Möglichkeit oder Chance für jeden gibt, an diesen Prozessen teilzunehmen. Das ist schlicht nicht der Fall.
Gut vergleichbar mit dem amerikanischen Verfassungs-Grundsatz des »pursuit of hapiness«. Hält keiner näheren Betrachtung stand.
Ein weiterer Vergleich, zu Beginn der Zeitrechnung im Mittelmeerraum war das entscheidende religiöse Thema: was geht es weiter nach dem Tod für die einfachen Leute. Dass der Pharao und der Kaiser ewig leben, war klar. Darauf konnte das Christentum die beste Antwort geben, und hat so den Wettbewerb der Angebote für sich entschieden.
Ist es gewagt, wenn ich den Populismus auch als eine Zeitenwende in diesem Sinne interpretiere?! Wie geht es weiter mit der Politik für die einfachen Leute?!
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Sehr stichhaltig finde ich eure Ausführungen zum Polit-Techniker »Trump«. Ich glaube, damit hätte auch Müller einen besseren analytischen Ansatz finden können, weil sich bei Trump die Rohform abzeichnet. Ich wende mich nur gegen die Abschleifung des sozialpsychologischen Motivs »gegen die da oben« zum Dauerthema. Das ist eben kein Thema. Das gehört zur Technik, zur politischen Motivation, bzw. stellt das wesentliche identifikatorische Angebot dar.
@Joseph Branco: Aber gerade CETA und TTIPP sind doch Beispiele, die zeigen, dass außerparlamentarische Mobilisierungen, der Zusammenschluss vieler internationaler Initiativen tatsächlich was bringt. Die beiden sind immer noch nicht durch, es wurde deutlich mehr Transparenz hergestellt als ursprünglich gewollt – und im Bundestag wird der Vertrag zur Abstimmung gestellt werden müssen: http://www.wiwo.de/politik/europa/freihandelsabkommen-ceta-bundesregierung-stellt-sich-quer/13727484.html
Schon der Dissens zwischen BuReg und EU-Kommisson ist schon ein Erfolg der Leute, die sich dagegen engagiert haben.
Auch bei Ihnen ist mir dieser Reflex unverständlich, schon den ganz normalen Gang der Politik als schmutziges Geschäft zu denunzieren – bei gleichzeitiger Fokussierung auf die »Quatschbude« Parlament. Natürlich sind Parlamentarier verschiedenen Logiken der Meinungs- und Willensbildung ausgesetzt, gerade in einer primär über Parteien organisierten Demokratie wie in DE. Partei-Logik gehört da eben dazu und ist nicht illegetim. Gerade innerhalb großer Fraktionen gibt’s ja ein breites Meinungsspektrum – das Fraktionschefs da so einfach »durchregieren« halte ich, auch auf der Basis von Kontakten mit ParlamentarierInnen, für einen Mythos.
Ich bin seit ein paar Jahren auf kommunaler und regionaler Ebene politisch engagiert – nicht über eine Partei, sondern über Vereine, Bürgerinitiativen (v.a. Stuttgart 21) und die ev. Kirche. Das hat meine Einschätzung und meine Wertschätzung der Arbeit von PolitikerInnen gegenüber ziemlich verändert – auch gegenüber denen, die ich aktiv bekämpft habe oder noch bekämpfe. Man bekommt einen sehr viel realistischeres Bild davon, was Politik und Politikern überhaupt können und was nicht – manchmal auch ein realistischeres als diese selbst. Medien und Politik selbst arbeiten ja unermüdlich daran, dass wir die Macht der Politik über- und die Ungesicherheit und Unregelbarkeit des Stands der Dinge sowie unsere eigenes Vermögen unterschätzt. Viele Populisten sind ja auch schwer enttäuscht, wie wenig Macht sie haben, wenn sie an der Macht sind – selbst wenn sie den Staat dann beherzt in Richtung gelenkte Demokratie, Autoritarismus oder echte Diktatur entwickeln.
@Doktor D
Naja, ich kenne nicht US-Wahlkämpfe seit den Sezessionskriegen, aber es mag da durchaus auch andere Themen gegeben haben. Carter gerierte sich 1976 als Reformer ohne die große rhetorische Keule zu schwingen. 1980 gewann Reagan mit seiner anti-etatistischen Wirtschaftsdoktrin. Auch Clinton thematisierte 1992 die Wirtschaftspolitik und wollte – vereinfacht – mehr Wohlstand erreichen. Und Obamas Wahlkampf war gewiss kein Anti-Establishment-Ding. Es war so ziemlich das Gegenteil von dem Wahlkampf, den Trump jetzt macht.
@Doktor D
Das ist genau meine These: Die dicksten »Bretter« in der Politik werden auf kommunaler und regionaler Ebene gebohrt. Es ist eben ein veritabler Unterschied, ob ich eine Umgehungsstraße, eine Stromtrasse oder eine Mülldeponie in Stadtteil A oder Stadtteil B bauen lassen möchte. In jedem Fall trete ich nämlich Leuten auf die Füsse, die ich liebe oder hasse – aber eben oft genug kenne. Bei der Zuweisung von Flüchtlingen besonders im Herbst und Winter wurden die Landräte und Bürgermeister vor Problemen gestellt, die bewältigt werden mussten. Da habe ich jeden Respekt vor, weil diese Politiker vor Ort oft den Quatsch auszubaden haben, den ihnen andere (auch oft genug Parteifreunde) einbrocken.
Viele Populisten sind ja auch schwer enttäuscht, wie wenig Macht sie haben, wenn sie an der Macht sind – selbst wenn sie den Staat dann beherzt in Richtung gelenkte Demokratie, Autoritarismus oder echte Diktatur entwickeln.
Das ist ein sehr interessanter Punkt, weil sich Populisten eben nicht für die Politik »vor Ort« interessieren (wenigstens nicht primär), sondern eher den »großen« Fragen widmen. Man kann dass daran sehen, dass Repräsentanten populistischer Parteien auf kommunaler, regionaler oder landespolitischer Ebene sehr oft scheitern (beim FN ist das wohl jetzt immer mehr sichtbar). Entweder fehlt ihnen die Problemlösungskompetenz oder sie zerstreiten sich mit ihren »Kollegen«.
@Joseph Branco
Nicht der Wähler ist »unterkomplex«, sondern das Angebot, dass man ihm unterbreitet. Das geschieht bewusst. Und ist nicht auf populistische Interpreten beschränkt.
Die AfD spricht eine andere Klientel an als beispielsweise die »Piraten«. Das war im klassischen Sinne eine Protestpartei. Sie hätten reüssieren können, wenn sie ein Thema gehabt hätten, das die Bevölkerung mitgerissen hätte wie weiland die Grünen, die zweigleisig fuhren: Atomenergie und militärische Aufrüstung. Es mussten beide Themen sein; eines hätte nicht ausgereicht. Auch hier war übrigens sehr viel Populismus im Spiel; das nannte man damals nur noch nicht so (man nannte es »Panikmache«).
Die SPD hatte lange den Fehler gemacht, die Grünen zu unterschätzen und dann waren diese Wähler praktisch auf immer verloren. Ähnliches könnte der Union mit der AfD drohen, die auch mindestens zwei Themen mit Dauerbrennercharakter hat: Flüchtlinge/Integration/Islam und EU/Euro. 2017 entscheidet sich, wohin die Reise geht. Wenn es der Regierung gelingt, diesen Themen die populistische Brisanz zu nehmen, bekommt die AfD vielleicht 7% oder 8% (und ist dann 2021 weg aus dem Bundestag). Wird eines der Themen – oder gar beide – wieder virulent, dann droht der GAU.
Ich glaube, da haben Sie mich missverstanden. Ich hatte nicht geschrieben, dass das normale Ringen um Lösungen ein »schmutziges Geschäft« ist, das ist originäre Demokratie, von mir auch mit harten Bandagen. »Schmutziges Geschäft« ist zu verbergen, dass die Mechanismen der Demokratie eben ausgehebelt sind, was ich glaube ich deutlich gemacht habe.
Und Quatschbude ist hier nicht der denunziatorische Begriff der Weimarer Republik, sondern das Aushebeln des Bundestages als Ort der Debatte oder besser Diskussion. Ich hatte letztes Jahr das Buch von Klaus-Peter Willsch, zugegeben ein etwas unangenehmer Typ, über die Rolle des Haushaltsausschusses während der Griechenlandkrise gelesen. Auch wenn Willsch etwas wehleidig und eitel ist, allein der prüfbare Ablauf entspricht genau dem was ich geschrieben hatte.
Bezüglich TTIP/CETA sieht es momentan eher so aus, dass auf EU-Ebene entschieden wird, ob es sich um ein gemischtes Abkommen handelt oder nicht. Damit wäre der Bundestag außen vor. Wer die gesamte Entwicklung von den Seattle-Riots, über Doha bis TTIP verfolgt hat, kann eigentlich aus meiner Sicht nur zu dem Schluss kommen, dass nicht demokratische Kräfte massiv versuchen undemokratische Verfahren durchzusetzen. Alleine der Durchhaltewille sollte zeigen, dass es um etwas Bahnbrechendes geht. Falls dies ohne Bundestag passieren sollte, was möglich ist, wäre die Verfassung legal ausgehebelt (Das wir eine veritable Verfassungskrise haben, wird auch nicht immer gesehen. Das Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und EuGH ist völlig ungeklärt).
Die dicksten »Bretter« in der Politik werden auf kommunaler und regionaler Ebene gebohrt.
Ob es die dicksten Bretter sind, würde ich bezweifeln. Aber mühsam und wie Sie schon schreiben durch die größere Nähe auch von anderer Qualität ist das schon. Da haben mich die amerikanischen Townhallmeetings immer sehr fasziniert. Da kann wirklich jeder erscheinen und seine Meinung sagen. Gelebte Demokratie. Und Populistiten werden dort vermutlich viel schneller decouvriert.
Wenn meine Befürchtungen gegenüber den (privaten) Schiedgerichten und der (käuflichen) Wissenschaftsbasierung von TTIP auch nur annähernd wahr sind, ist dies in seinen Auswirkungen ein enorm dickes Brett.
@Gregor et al#53
Von der Macht fernhalten oder sie in Koalitionen einhegen. Aber um das zu erreichen müsste man die Ursachen ihrer Erfolge freilegen. Immerhin haben wir, glaube ich, einen weitgehenden Konsens »den Populismus« als Methode oder Technik aufzufassen. Wenn die kalte Sophie mit der Überlegung hinsichtlich des Ausschlusses auf Grund der Komplexität schon einzelner politischer Themen, recht hat, dann werden wir den Populismus kaum mehr wegbekommen, ganz im Gegenteil, wir werden froh sein müssen, wenn er nicht weiter zu nimmt (populistisch wählen, könnte man dann als eine Art Abwehrhaltung deuten, allerdings wäre das dann wieder eine Erklärung die ähnlich simpel, wie die der Modernisierungverlierer oder die der Abstiegsängste wäre, siehe auch Joseph Branco, oben; ich bin kein Freund dieser Einfacherklärungen). — Vielleicht sollten wir uns noch einmal der Erfolgsgeschichte (den Erfolgsursachen) dieser Methode zuwenden?
@Joseph Branco #52
Ich glaube Müller kommt um diese Zuschreibung innerhalb seiner Logik nicht herum (Volkswille), aber er reduziert den Nationalsozialismus nicht darauf (weshalb ich »auch« schrieb).
Vielleicht bin ich zu naiv, aber ich hoffe, dass nicht jeder Politiker, das als seine Arbeitsplatzbeschreibung versteht.
Und zu #59: Und es gibt auch genügend Beispiele wie »unfolgsame« Abgeordnete behandelt werden (vom nicht mehr ausgestellt werden, bis zu verbalen Angriffen).
@Doktor D
Wirkungen bei CETA kann ich keine großen erkennen: Es wurde nachgebessert und steht, es wird vielleicht sogar noch vorzeitig als nicht gemischtes Abkommen in Kraft treten.
@Josef Branco: Danke für die Klärung! Ich hab’ wirklich am Beitrag vorbei verstanden :D, weil ich mich von den Buzzwords habe ins Bockshorn jagen lassen.
Zumindest die direkt gewählten CDU-Abgeordneten in BaWü sind sehr mächtig und von oben unabhängig von oben – die Rede vom peitschenschwingenden Kauder kommt mir deswegen wenig glaubwürdig vor. Und einen risikolosen Machtkampf, und das wäre es ja, wenn die sich zur Dissidenz stilisierenden Abgeordneten Ernst gemacht hätten, gibt es halt nicht. Da muss man seinen gepuderten Popo halt auch aufs Spiel setzen.
Re: CETA und TTIPP – dass das Mechanismen zur Aushölung der Demokratie sind, davon braucht mich keiner zu überzeugen. Das würde ich auch der EU im jetzigen Zustand vorwerfen: auch mit aufgemotztem Parlament ist das ein Technokratie-Monster, dem alle Köpfe abgeschlagen gehören. Mal gespannt, wie es nach der Brexit-Abstimmung weiter geht.
Müllers These, der Populismus sei der Schatten der repräsentativen Demokratie, stimme ich zu. Und in GroKo-Zeiten wird der eben besonders groß, zumindest in DE. Ob das, was in USA, post-kommunistischen Staaten und in Südamerika passiert, nicht was anderes ist (also jeweils etwas anders), glaube ich allerdings auch. Deswegen finde ich den Begriff Populismus als ein Art selbstständige Ideologie zu verstehen falsch (wie wohl die meisten hier).
Über die moderne Verzwergungskränkung, undemokratische Formen von EU-Legitimität, den prominent angedachten EU- Rückbau und die weltweite Konkurrenz -
– bzw: Den materiellen Unterbau des Populismus
Im Prinzip zustimmend @ Doctor D Nr. 61
Das unvermeidliche Komplexitätsniveau moderner Gesellschaften verzwergt uns a l l e .
Dieses Faktum stelle ich neben Freuds drei große Kränkungen als die allfällige Nr. 4 – und nenne sie die moderne Zwergenkränkung.
Dazu kommt, dass wir nach aufgeklärter Diktion die tägliche Ungewissheit aushalten müssen, wie das von uns so ca. wahrgenommene Problembündel sich morgen wohl darstellt – i. e wo der nächste Empörte in die Menge feuert, die nächste Mutter ihre Kinder aus dem Fenster wirft, die nächste Negativzinsmeldung aus dem Äther quillt usw., usf. Die enigmatische Formulierung hier lautet: Gegenüber der Zukunft sind wir notwendigerweise provinziell (ja, Habermas).
Das kann man sich sozusagen ohne irgendwelche besänftigenden Schutztechniken bzw. Abstandshalter direkt und ungebremst geben – oder man kann sich in Richtung richtiger Gelassenheit (cf. Heinrich Seuse) orientieren.
Vorderhand ist jede Haltung gleich gut – in Wirklichkeit wird wohl so manche Hysterie gerade daraus resultieren, dass, um es möglichst einfach auszudrücken, die Geduld eben nicht eingeübt wird, sondern: Die Gier und die Ungeduld.
Müller hat immerhin in der Hinsicht recht, dass er sagt, die etwas thymoteischeren Arten Politik zu betreiben beinhalten strukturell die Gefahr, die Übertreibung hervorzubringen.
Ich meine dagegen, es sei fruchtbarer, nach (strukturellen) Gründen im politischen Prozess Ausschau zu halten, die für Empörung sorgen.
Da sehe sich auf der Ebene der EU: Dass sich ein Riss/ Spalt auftut zwischen administrativer Machtausübung und demokratischer Legitimation. Das geht soweit, dass auf EU Ebene über irgendwelche regulativen Umwege einfaches Recht plötzlich »Verfassungsrang« (Grimm) genießt.
Das ist gut für die Macht des EU-Parlaments und der Kommission, aber schlecht für das Nervenkostüm so manchen Europäers. Wer sehen möchte, sieht – leider – : Die Paranoia ist real, in Brüssel und Straßburg werden entscheidende Dinge beschlossen ohne demokratische Legitimation, die dann auf Länderebene demokratisch legitimierte Verfahren gegenstandslos machen.
Das ist per se miserabel – mag der Wille dahinter noch so nett und europäisch gepolt sein.
(Der obige Abschnitt bezieht sich auf einen einwandfreien Artikel Christian Geyers über einen Vortrag des ex-Verfassungsrichters Dieter Grimm in der Katholischen Akademie Berlin: s. FAZ-Feuilleton vom letzten Samstag).
Einschub: Wer den aktuellen Spiegel anschaut, der eigentlich ein idealer Ort wäre, derlei zu bearbeiten, findet – nichts. Spooky Tooth! – Stattdessen der mittlerweile vielleicht fünfte grössere Beitrag, der einer rosigen Zukunft gewidmet ist, mit europaweit besser aufgestelltem und natürlich viel tiefer gestaffeltem Sozialstaat, sowie ein gefühliges »bitte weiter so« im Hinblick auf GB. Das sind die Raumschiffe Hamburg und Brüssel und Berlin im Formationsflug. Das wird auch für den Spiegel ungemütlich weitergehen. »Hello, this is your captain speakin’ – we are going to attend a crash landing« / Laurie Anderson/ Big Science.
Zurück in geistig produktivere Gefilde:
Gestern, ebenfalls Papier-FAZ, schreibt Hubert Védrine, Sozialist und Ex-Aussenminister Frankreichs von 1997–2002, auf einer gut gefüllten Seite über die Krise der EU.
Ich meine folgendes Muster zeichne sich ab: Die EU tendiert zu Überkomplexität und gleichzeitig / d a h e r suboptimaler demokratischer Legitimation.
Wen haben wir auf der Befürworter-Seite dieser These: Immerhin Christian Geyer, der Grimm zustimmend referiert, dazu Dieter Grimm, und schließlich Hans Magnus Enzensberger (cf. o. cit. ? 43 (er ist wie so oft der Igel...) – und seit gestern weiß ich, dass auch Hubert Védrine dazurechnet. Man verzeihe mir diesen Schlenker. Védrine kommt zu den nämlichen Schlüssen wie Enzensberger, wenn auch fünf Jahre später und – sie treffen sich in einer konkreten Forderung: Rückbau der EU!
Védrine hat sogar einen Vorschlag in petto, das praktisch umzusetzen: Man macht ein EU-Moratorium, in welchem gar nichts mehr entschieden wird und nutzt die Zeit, sich auf das Wesentliche zu besinnen. Dieses Kondensat (viel weniger als bisher!) wird in einen »KURZEN TEXT« (Herv. D. K. ) gegossen und europaweit zur Abstimmung gestellt. Fertig!
Sollen die Briten machen, was sie wollen: Wir haben eine Idee, wie es mit der EU weitergehen kann. Irgendsowas wäre schön!
Aber unabhängig davon, was aus dem Védrine/Enensberger-Vorschlag wird: Die von Grimm monierte bürokratisch erzeugte Legitimität von nachmaligem Verfassungsrang (!) sollte unbedingt beendet werden. Nebenbei: Die schweizerischen Watchdogs vom Schlage eines Thomas Hürlimann oder Roger Köppel angesichts ihrer diesbezüglichen Kritik als tendenziell demokratiefeindliche Finstermänner zu entlarven, resultiert in lauter Pyrrhus-Siegen.
Der unsichtbare Elefant – bzw. die Weltwirtschaft
Bleibt noch der unsichtbare Elefant: Es geht mit der Wirtschaft im Euroraum auch deswegen abwärts, weil die weltweite Konkurrenz zunimmt. Angesichts dieser Tatsache gibt es keine europäische Lösung der Art: Wir verteilen einfach den nordeuropäischen Reichtum besser: Das wäre ungerecht und obendrein nicht prospektiv. Es sollte schon so sein, dass Europa als ganzes sich der globalen wirtschaftlichen Konkurrenz stellt.
Das Imposanteste, was ich in dieser Hinsicht in den letzen Jahren gesehen habe – ich bin halt ein Augenmensch, sind wirklich Videoaufnahmen, bzw. Fotos. Das Video habbich mal irgendwo im Internet gesehen – leider find’ ichs nicht mehr: Man schaut aus einem Hubschrauber, der mein’ ich an der südwestlichen Flanke von Seoul vorbeifliegt – so ca. 10 Minuten lang, ohne Kommentar. Man sieht das und glaubt seinen eigenen Augen nicht! Und alles praktisch nagelneu- eine Kette der funkelndsten und funktionalsten denkbaren Infrastruktur von vielleicht 40 Kilometern ohne nennenswerte Lücke.
Das andere sind die Aufnahmen der chinesischen Fabrikwelt von Ed Burtynski (http://www.edwardburtynsky.com/).
Thilo Sarrazin liefert die Daten zu diesem Welt-Konkurrenz-Aspekt in zwei Beiträgen für die FAZ. Der eine ist derzeit noch online, die_kalte_Sophie und ich haben bereits darauf hingewiesen, und handelt – vom Populismus und seinem sozusagen materiellen Unterbau; der andere handelt von der Zukunft der EU.
http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/gastbeitrag-betrachtungen-zur-populismus-debatte-14250991.html
Und das hier ist Sarrazin zu EU und Schengen:
http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/f‑a-z-exklusiv-sarrazin-europa-wie-wir-es-kennen-wird-zerbrechen-14108703.html
Anmerkung: Auch Sarrazin fordert wie Védrine ein Moratorium – es passiert zu viel auf einmal! Die Masse der zu steuernden Probleme nimmt überhand.
Wer einen Einblick in die wirtschaftliche Lage Italiens haben will und nach einer Antwort auf die Frage sucht, was das mit der EU und dem EWS zu tun hat – und wieviel davon – umbau- wo nicht gleich rückbauwürdig wäre: Hier ist der Sinn-Nachfolger Clemens Fuest: http://mediathek.cesifo-group.de/iptv/player/macros/cesifo/mediathek?content=6715847&idx=1&category=2489745443
@Dieter Kief
Schöne Idee, das mit dem Moratorium bzw. dem Kondensat des nur notdürftigsten Handelns. Aber ist es nicht so, dass die Probleme nicht vor der Haustüre stehenbleiben, nur weil man ihnen sagt, sie sollen einem erst einmal in Ruhe lassen? Wie schnell wachsen sich innenpolitische Krisen wie bspw. aktuell in Frankreich zu EU-Krisen aus? Wann ist Italien »dran«? Und wie geht es mit Griechenland weiter?
Und von mir aus ein JA hierzu: Sollen die Briten machen, was sie wollen: Wir haben eine Idee, wie es mit der EU weitergehen kann. Aber wie soll man das machen, wenn man die morsche Baustelle EU erst einmal mit einer Plane überziehen möchte?
Ich stimme Ihnen ja im Befund zu: Es ist zuviel zu tun – aber genau das wollte man ja. Eine politische Union MIT einheitlicher Währung MIT allen Ländern Osteuropas, die NATO-fähig sind MIT den Perspektiven für die Türkei, usw. Der Brexit wäre vor allem eines: ein Image-Verlust.
Und mit der Brexit-Frage wird auch Camerons Populismus zur Abstimmung gestellt: ‘Wir, die Briten, drohen damit rauszugehen und sichern uns weitere Privilegien der anderen’ – damit geht er dann in den Wahlkampf zum Referendum. Wenn das kein Populismus ist...
Und wie »stellt« sich denn Europa der »wirtschaftlichen Konkurrenz«? Indem man Bruchbuden baut wie in China? Dort platzt die Immobilienblase gerade. Indem man Industriestandards senkt? Was macht den »Mehrwert« europäischer Produkte aus?
Sarrazin als Empiriker rechnet alles in Zahlen aus. Aber was, wenn sich Produkte gar nicht im Wettbewerb befinden wollen? Ein Beispiel, das mir einfällt: Es gibt den Haushaltsgerätehersteller Miele. Alle, die ich kenne, glauben, dass Miele langlebige und sehr gute Produkte herstellt (ich auch). Aber die meisten derer, die mir das sagen, kaufen diese nicht (obwohl es bei ihnen keine primär finanzielle Frage ist). Sie nehmen lieber die Maschine, die nur die Hälfte kostet (und vielleicht nur 5 Jahre hält und nicht 15). Die Rechnung funktioniert bei ihnen ist, obwohl sie sich darüber klar sind. Das gesparte Geld verwenden sie für Smartphones oder einen Fernseher. Was soll Miele nun tun: Ihre Qualität runterschrauben ‑und damit den Preis? Oder auf die happy few bauen, die rechnen können?
Es ist ein Fehler, Volkswirtschaften alleine unter Wettbewerbsbedingungen zu subsumieren. Man kann das schon in der EU sehen. Hier war man stolz darauf, dass es Wettbewerb innerhalb der EU gibt (Unternehmenssteuern, Löhne). Das ist ein großer Irrtum. Es ginge darum, die Bedingungen anzugleichen.
Sarrazin mutmasst, dass Populismus blüht, weil das Wirtschaftswachstum schwach ist. Das ist – mit Verlaub – blühender Unsinn. Das Wirtschaftswachstum ist eine abstrakte Zahl, die wenig über die jeweiligen Branchen aussagt. Diese Zahl interessiert die Leute nicht. Sie wollen wissen, ob ihr Arbeitsplatz sicher ist, wie hoch die nächste Gehaltserhöhung ausfällt oder ob der Zeitvertrag verlängert wird. Sie wollen wissen, wie sie der Altersarmut entgegensteuern können, wenn 10jährige Bundesanleihen seit heute negativ verzinst (!) werden und sie bei Banken 0,3% Festgeld bekommen. Vulgo: Die Mittelschicht fürchtet sich vor dem, was kommt. Sie ahnt, dass ihre beste Zeit vorbei ist.
PS: Hier der KOSTENPFLICHTIGE Artikel von Hubert Védrine (über Blendle; 45 Cent), den Dieter Kief anspricht.
weil ich mich von den Buzzwords habe ins Bockshorn jagen lassen
Ja, stimmt. War nicht so clever von mir.
@ Joseph Branco: Von mir auch nicht.
@Dieter Kief: Sehen Sie den Südkorea als Vorbild?
Ich denke, Gregor Keuschnig hat recht, regieren nach volkswirtschaftlichen Kennzahlen ist eher mitverursacher der Wut als ein Lösungsansatz. Zumal das auch ein Versuch der Entpolitisierung sein kann: Einführung von Pseudoobjektivität, an die sich dann jemand wie Sarrazin Klammern kann, dem ja offene politische Situationen und Diskussionen tief zuwider sind – wie nicht wenigen der Leute, die sich noch mit dem längst dysfunktional gewordenen Begriff Bürgertum, Mitte oder Mittelschicht titulieren.
Einiges an Populismus in DE scheint mir auch eine Krise der Selbstbeschreibung der handelnden Personen und Strukturen zu sein. Leider spricht Müller da sehr wenig drüber.
»Es ist, als würde der Verlust von sozialer Identität diese Obsession hervorbringen, die nach aggressiver Identifizierung verlangt.« Diesen Satz lese ich gerade in einem Interview mit Franco Berardi. (http://derstandard.at/2000038946340/Franco-Berardi-Die-Kultur-ist-das-Ziel-dieses-Krieges) Ich glaube daß genau hier auch die Wurzel des neueren Populismus liegt. Enzensberger hat schon damals, in der Entstehungszeit, von Aussichten auf den Bürgerkrieg gesprochen. Schlechte Zeiten für Diskurse. Nichts von solchen Zusammenhängen bei Müller, dafür bräuchte man ein bißchen denkerischen Mut.
@Leopold Federmair
Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie Menschen andere Menschen, die sie überhaupt nicht kennen, und deren Taten binnen 24 oder 48 Stunden »analysieren« können. Berardi weiß scheinbar schon alles von dem Orlando-Attentäter. Dabei sind die Ermittlungen noch in vollem Gange. Er erzählt von den armen, zukunftslosen jungen Männern, die sich dem IS angeschlossen haben. Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit, falls es überhaupt die Wahrheit ist. Viele Attentäter hatten Schulabschlüsse (teilweise an Universitäten), entstammten guten Familienverhältnissen; waren angeblich sogar gut integriert. Eine Studie aus den USA hatte 2006 herausgefunden, dass von 400 AlQaida-Anhängern 63% einen Oberschulabschluss aufwiesen, aus der Ober- oder Mittelklasse stammten (zitiert nach Enzensberger SM [s. u.], 46). Aber Berardi muss seine vulgärmarxistischen Deutungsmuster über alles stülpen, spricht auch von der »Erniedrigung der weißen Arbeiterklasse«. Demnach müsste Europa ein schrecklicher Ort sein. Und natürlich kommt auch Hitler vor, der »seine Macht auf dem Elend der deutschen Arbeiter errichtet« habe. Das ist der Wissensstand der 1950er Jahre. Tatsächlich sieht es etwas anders aus, wie man hier nachlesen kann:
Denkerischen Mut entdecke ich bei Berardi keinen. Nur Holzschnitte.
Interessant ist jedoch der Hinweis auf den »Bürgerkrieg«, der im Interview 3 x fällt. Das ist eine These von Enzensberger, der das 1993 in einem Essay formuliert hatte. Er spricht von einem »molekularen« Bürgerkrieg. Die ausgesprochenen Visionen sind in den letzten 20 Jahren nicht direkt eingetroffen, aber es entwickelt sich dahin. Ein Beispiel:
Auch Enzensberger spricht von der Notwendigkeit in einer Gesellschaft Anerkennung zu finden und sieht hier ein Motiv. Aber wenn es danach gehen würde, müsste man in Griechenland und Spanien – hier leben etliche sehr gut ausgebildete Jugendliche ohne Aussicht auf einen adäquaten Beruf – vor lauter Selbstmordattentätern nicht mehr auf die Straße gehen können. Es muss also auch noch andere Gründe geben, warum eine solche Radikalisierung Platz greift. Einige Jahre später wird Enzensberger im »Schreckens Männer – Versuch über den radikalen Verlierer« deutlicher:
Daraus folgt für Enzensberger:
Besonders in »Schreckens Männer« agiert Enzensberger mit starken Vereinfachungen. Er postuliert, dass aus dem arabischen Raum »in den letzten vierhundert Jahren […] keine nennenswerte Erfindung hervorgebracht wurde. Bücher seien dort praktisch unbekannt (außer der Koran); nur 0.8% der Weltbuchproduktion würden in der arabischen Welt gedruckt. Er spricht von dem »Niedergang« einer Zivilisation. Diese despektierlichen Äußerungen hatten damals dazu geführt, dass ich das Buch ablehnte. Der Selbstmordattentäter als »radikaler Verlierer« ist mir auch heute noch zu stark vereinfachend. Einiges hat sich für mich aber als durchaus richtig herausgestellt.
Für mich immer noch das Standardwerk im Sachen Terrorismus: Louise Richardson »Was Terroristen wollen«.
Müllers Glaube an die funktionierenden demokratischen Institutionen ist derart stark, dass bei ihm der Gedanke an einen »molekularen Bürgerkrieg« gar nicht kommen kann. Das ist vielleicht der Unterschied zwischen einem Wissenschaftler und einem Essayisten.
Da wir schon im free flow der Ideen sind, noch eine Frage an alle:
Die Komplexitäts- resp. Verzwergungs-Hypothese findet breite Zustimmung. Seht ihr auch wie ich eine eklatante Paradoxie zwischen den »lokalen Bedingungen« des politischen Subjekts und den »globalen Herausforderungen«?!
Die Paradoxie wird nämlich üblicherweise in die Pragmatik verlängert, nach dem Motto, man sollte, aber kann nicht eben viel ausrichten.
Liegt die Paradoxie (nach einigen Jahren Erfahrung mit der Globalität) aber nicht vielmehr in dem, was ich »politische Zuständigkeit« nennen würde. Ist »Europa« nicht schon zwei Nummern zu groß, besonders mit Rücksicht auf die hinlänglich beschriebenen »dicken Bretter vor Ort« und seine angebliche Demokratie-Kompatibilität?! –Ich bin jedenfalls ernsthaft der Meinung, wir (repräsentativ?!) müssen uns in einem politischen Dispositiv (...mir fällt kein anderes Wort ein) positionieren, agieren, bewähren, das durch und durch FEHL-DIMENSIONIERT ist, schon bevor wir kapieren, worum’s geht.
Plakativ: Kann Demokratie »Welt regieren«?!
Wenn man ein wenig Ahnung hat von den inzwischen jahrzehntelangen Entwicklungen in den Pariser Banlieues hat, weniger bei Handke unten im Süden als im Norden (Flugreisende aus Roissy müssen da durch), dann weiß man, was Berardi meint. Akademiker? Nein. Vielleicht ab und zu ein Schmalspurakademiker, heutzutage geht ja jeder ein paar Semester an eine Uni (was auch mit den sozialökonomischen Entwicklungen zu tun hat: Unis als Parkplätze für Arbeitsuchende/Arbeitslose). Ich erinnere mich weiters an ein Interview, weiß nicht mehr wo, mit zwei aus dem Irak stammenden jungen IS-Kämpfern. Akademiker oder so? Nein und nein. Depravierte Leute, die gar nicht recht wußten, wo sie da überhaupt hinzogen, in welchen Krieg – ja und ja.
Ich weiß nicht recht warum, aber ich verbinde diesen Diskussionsstrang mit Ihren Bemerkungen, lieber Gregor, über die deutsche Mittelschicht. Nach meinen Beobachtungen sind weite Bevölkerungsschichten im eigentlichen Sinn wohlhabend geworden, in der späten Nachkriegszeit (in Japan, wo ich lebe, noch »ärger«, fast unerträglich). Karl-Markus Gauß hat kurz vor der österr. Bundespräsidentschaftswahl in der FAZ einen Artikel geschrieben (für den er im Forum beflegelt wurde), wo er behauptete, in Österreich gehe es den meisten Leuten ohnehin so gut wie nie. Das stimmt meines Erachtens auch, der angestammten Mittelschicht geht es ökonomisch sehr, sehr gut (in anderen, nichtökonomischen Hinsichten zweifle ich). Dumm war Gaußens Bemerkung nur insofern, daß diese Leute, und zwar durchaus berechtigt, Angst haben können, daß ihnen all das Erarbeitete oder Ersessene ziemlich rasch abhanden kommen kann. Oder daß sie keine ordentlichen Pensionen bekommen werden (wie ich das in Argentinien massenhaft erlebt habe, das ist dort bereits Geschichte und Gegenwart). Genau diese Befürchtung, diese Gefühle sind ein Grund für diese Leute, Populisten zu wählen.
Enzensberger: Doch, er hat den Finger an den Puls der Zeit gelegt, das war immer wieder eine seiner Stärken. Bißchen opportunistisch manchmal, zeitgeistig, aber gut....
@die_kalte_Sophie
Bin gerade »im Flow«, also antworte ich mal sofort.
Der Ausdruck der »dicken Bretter«, den ich für die Lokalpolitik verwendet hatte, war missverständlich. Ich meinte: Lokalpolitiker »vor Ort« müssen Entscheidungen, die sie unter Umständen gar nicht getroffen haben, ausführen. Sie sind oft genug die »Gehilfen« der Landes- oder auch Bundespolitik. Hinzu kommen die lokalen Entscheidungen, mit denen sie oft genug immer einer Gruppe auf die Füße treten müssen (Umgehungsstraße bspw.). Sie haben scheinbar Macht, sind aber eben auch sehr stark in politische Prozesse eingebunden. Das Interessante ist, dass es den Regierungschefs inzwischen auch so geht. Das ist eine Auswirkung der Globalisierung. Man ist nur noch schein-autark. Wenn es nicht die EU ist, die als übergeordnete Instanz für unpopuläre Entscheidungen herhalten muss, dann ist es »der Markt«. Das ist das Paradox, dass man immer weniger Macht hat (was dann auch die Populisten merken).
Den gordischen Knoten Richtung ökonomischer Fremdbestimmung der Politik könnte diese zwar durchschlagen, aber es gibt offensichtlich zu viele »übergeordnete« Interessen bei den politischen Entscheidungsträgern selber. Man könnte es »Angst vor der eigenen Courage« nennen, aber es ist am Ende eben immer die Rücksicht auf die eigene Volkswirtschaft, die bspw. die USA und Großbritannien von einer weltweit besseren Regulierung der Finanzmärkte abhält. Aber ohne diese »Player« ist das sinnlos.
Politik ist also nicht so machtlos, wie sie tut. Sie scheut nur nur die Konsequenzen vor grundlegenden Änderungen. Ein kleines Beispiel: Mehrmals haben Regierungen versucht, die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse (in Deutschland: 450 Euro-Jobs) abzuschaffen, um diese Tätigkeiten dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt zuzuführen, der die vollen Sozialversicherungsbeiträge abführt. Wer mehrere Jahre diese »Jobs« ausführt, wird am Ende des Arbeitslebens nur minimale Rentenansprüche (Mindestrente) geltend machen können. Diese an sich sinnvolle Idee der Abschaffung wurde stets ganz schnell wieder zurückgenommen. Zu groß war der Druck aus der Wirtschaft, für die solche Beschäftigungen natürlich ideal sind. Das Ergebnis war dann dahingehend, dass man in den 80er und 90er Jahren die Beträge immer mehr erhöht hat. Und tatsächlich zahlt der Arbeitgeber einen geringen, pauschalen Beitrag zur Kranken- und Rentenversicherung, aber damit kann man natürlich für die spätere Rente nichts »ansammeln«. Das Beispiel ist dahingehend interessant, weil weder der EU noch der »Weltmarkt« oder »die Anleger« für die Weiterführung dieses Unsinns verantwortlich sind. Mit viel Geduld ließen sich Listen von sinnvollen Reformen erstellen, mit der die Politik sich wieder neue Handlungsspielräume erschließen würde – und dies ohne große Verwerfungen was die Produktivität angeht (s. Mindestlohn, der jahrelang mit diesem Argument blockiert wurde).
Die Europäische Union halte ich mit den aktuellen Institutionen für nicht regierbar. Das hat nicht nur mit dem so oft beschworenen demokratischen Defizit zu tun. Ob mit Großbritannien oder ohne wird man sich irgendwann verständigen müssen, ob man einen Bundesstaat möchte (dann muss alles neu organisiert werden) oder einen Staatenbund mit vielleicht gemeinsamer Wirtschaftspolitik. Es gibt auch noch die britische Variante: einen offenen Markt ohne weitere Verpflichtungen (außer denen, die Subventionen zu kassieren).
Wie auch immer. Ich glaube, die EU muss reagieren.
@Leopold Federmair
Ich nehme an, Sie meinen diesen Artikel. Gauß beschreibt mit einem Satz diese Abstiegsangst der Mittelschicht. Hierin liegt tatsächlich m. E. der Hauptgrund für den Zulauf der Populisten.
(Dass er ein falsches Karl-Kraus-Zitat verwendet – hier greift Ihre These vom Internet, dass eben auch Fehler multipliziert.)
»Ich bin jedenfalls ernsthaft der Meinung, wir (repräsentativ?!) müssen uns in einem politischen Dispositiv (…mir fällt kein anderes Wort ein) positionieren, agieren, bewähren, das durch und durch FEHL-DIMENSIONIERT ist, schon bevor wir kapieren, worum’s geht.« (von @_die_kalte_sophie)
So sehe ich das auch – und ich schließe daraus, dass die »Lösung« sein wird, dass in absehbarer Zukunft die natürlichen Ressourcen, die die sich selbst gegenseitig beschleunigenden und schmachmatt-setzenden inter- und transnationalen Großstrukturen (und damit meine ich auch den globalisierten Kapitalismus wie wir ihn kennen) brauchen, um sich zu reproduzieren, so ausgebeutet sind, dass viele der Strukturen davon rasend schnell und damit unkontrollierbar zusammenbrechen werden. Und dann wird irgendwas neues anfangen zu entstehen.
@ die_kalte_sophie Nr. 75 – Kann die Welt demokratisch regiert werden? Nur unter Applikation des jeweils angemessenen Abstraktionsniveaus ‑anders gesagt: Je mehr es um die Welt als ganze geht, desto dünner wird die Luft. – Eigentlich: Desto mehr ist – von Milliarden – - virtuelle Zustimmung gefragt; bzw. andersrum: Ein überaus reflektierter und disziplinierter Sprachgebrauch unverzichtbar. Cf. I Kant – Zum ewigen Frieden – und die Folgen
@ Doktor D Nr. 72 @ Gregor Keuschnig Nr. 69 @ Leopold Federmair Nr. 76
Ein wenig spontan
@ Gregor Keuschnig, Nr. 69
Vor 12 Wochen neuen Staubsauger gekauft – »Miele silent, chrystal white« – of course. Guess you like that!
Es läuft darauf hinaus zu sagen: Das Leben ist kein Ponyhof, ich gebs zu: Aber man kann die koreanische Konkurrenz z. B. nicht wegbeamen. Das ist die Grundlage der allermeisten politischen Diskurse – sagen wir im Rahmen der Realpolitik. Ich sage nicht, es soll keine anderen (utopischen) Diskurse geben. Aber der Realpolitik-Diskurs und die parlamentarische Praxis in der EU arbeiten sozusagen unter den Bedingungen solcher Konkurrenz. Und die Konsumenten kaufen eben die koreanischen (und taiwanesischen usw. ...) Produkte.
Ein von Ihnen nicht bemerkter Lichtblick: Zypern hat die große Krise ganz gut bestanden -
– Richter (cf. weiter oben – mein Griechenland-link) hat das ganz richtig vorausgesagt – hier am See haben, als er diese Prophezeiung machte, eigentlich alle gegen ihn gewette(r)t, mit denen ich sprach.
Ach ja: Ich hab’ jahrzehntelang von ein paar hundert Mark im Monat gelebt. Aber halt unter BRD-Bedingungen – ordentliche medizinische Versorgung, freier Zugang zur Bildung, praktisch Gratis-Eintritt in Museen usw. usw. usw., eine Szene, die mich trug – das ging ganz flott dahin. Bücher z. B. wurden ausgeliehen, sparte man die Regale. Klamotten haben nix gekostet. Ein par Mark hie und da. Einmal in Ostberlin ein paar Ledersandalen – die Verkäuferinnen haben nicht schlecht gestaunt; die Sandalen für praktisch kein Geld waren ok.
Was sich im Moment zuspitzt, ist eine Konkurrenz innerhalb der bürgerlichen Schicht um die schönen Plätze. (Leopold Federmaier Nr. 76) Vom Zahnarzt aufwärts kaufen alle Wohnungen in bester Lage, alles was irgendwie schön ist oder schön liegt oder auch nur erträglich aussieht und passabel liegt, und diese Leute drängen in Scharen hierher; hier am See wollen Sie als Buchändler z. b. nicht mehr auf Wohnungssuche gehen. Da ist der h a l b e Monatslohn weg für eine Einzimmerwohnung, wenn auch warm und mit Müll und Strom. In den Genossenschaftswohnungen ist es noch ein wenig besser, da reicht das dann für 1 1/2 oder zwei Zimmer. Interessant, dass etliche von denen noch immer auf Die Linke eingeschworen sind. Mal sehen wie lange noch.
Miele ist natürlich im Wettbewerb. Auch Joker, Trigema und Birkenstock. VW usw. Schaeffler, Stihl – ok ich bin ja schon still, – nix geht ohne – Wettbewerb. Aber der Kuchen insgesamt wird durch die weltweite Konkurrenz kleiner, bzw. härter umkämpft. Ich empfehle an dieser Stelle noch einmal den Blick auf die Bilder Burtynskis – und gebe noch 1 Zusatzinfo: 70% der weltweit verkauften Kaffeemaschinen kommen derzeit aus einer einzigen der von Burtynski fotografierten Fabriken im chinesischen Shenzen. Das war einmal ein ganz bunter Markt und jede Menge Arbeitsplätze in Europa hingen daran. Aber dieser Massenmarkt ist weg, und kehrt so bald nicht wieder. Derweil wandert die Textilindustrie von China ab nach Vietnam usw.
Das alles (und noch viel mehr..) sieht Sarrazin richtig. Es entstehen diese gemeinen Defizite – Griechenland hatten wir ja schon: aber emt ooch Italy: Was Fuest (s. o.) da erzählt ist schon ernst – Italien steuert auf einen die Ökonomen faszinierenden Negativrekord zu: 15 Jahre mit 0 % Produktivitätssteigerung – und das bei anhaltendem technischen Fortschritt.
IFo-Chef Fuest sagt, das habe es nicht nur im entwickelten Europa, sondern in der gesamten OECD noch nie gegeben seit sie derlei Messungen durchführen, also seit mindesten vierzig Jahren. Und das sind die realen Folgen der zunehmenden weltweiten Konkurrenz. Außerdem sind die italienischen Außenstände in den letzten acht Jahren von 22 auf 280 Mrd. (ca.) gestiegen. Das kann so nicht weitergehen. Die Zustände sindaa ohnehin schon desaströs. Wir bezuschussen derzeit italienische und griechische Staatshaushalte. Die Familie Lafontaine ist der Ansicht, das habe seine Richtigkeit wg. Exportüberschüssen. Aber die Familie Lafontaine ist in diesen Dingen ruck-zuck von hoher Flexibilität. Ob Herr Gabriel das begreift – seine Wähler würden es ihm ganz sicher honorieren – aber solange er den Acker nicht bestellt, erntet dort die AfD; Frau Weigel und Herr Meuthen verstehen die Zusammenhänge ohne mit der Wimper zu zucken. Die Talkshow-Gastgeberinnen werden sie noch eine Weile verbellen. Aber das Publikum sieht langsam, was vor sich geht, weil die Sache über die von Ihnen (und von mir weiter oben) erwähnten Bundesanleihen, aber auch über so handfeste Dinge wie die zunehmenden Filialschließungen der Sparkassen und Genossenschaftsbanken, und die erodierenden Sparzinsen, die entwerteten Lebensversicherungen usw. sehr konkret werden.
Der einzige echte Trost: Alles, was wir derzeit erleben, ist weit über den Werten der fünfziger und sechziger Jahre – überall – mit Ausnahme eben des 1) Wachstums – also des Gefühls, dass es aufwärts geht: das ist definitiv weg und – 2) der Netto-Rendite der Sparer.
Insgesamt glaub ich, dass Sarrazin ein verflixt akkurater Berichterstatter ist. Und er war aktiver Sozialdemokrat – er ist tatsächlich politisch beschlagen von der Pfalz über das Rheinland bis nach Berlin, vom Mittelständler bis zum Dax-Konzern und zum Landeshaushalt, von den Zwängen und Handlungsspielräumen der Ministerialbürokratie bis hin zur Bundesbank und der EZB. Im neuen Buch habbich nur 1 eklatanten Fehler gesehen: Und der ist mir jetzt kurioserweise nicht präsent, müsste ich nochmal gucken, hehe.
Aber das große Bild find’ ich stimmt, ja mehr noch: Es ist so gut gezeichnet wie von keinem vergleichbaren Schreiber sonst.
Auch im Hinblick auf die EU: Er durchschaut in der Tat diese große und ziemlich sinnlos Geld verbrennende Umverteilungsmaschine namens EWS und er sah v o r a u s , dass das EU-Verbot der Schuldenübernahme nicht funktionieren würde. Damals hieß es bei den wenigen, die diese Prognose immerhin beachteten, Sarrazin male schwarz. Das geht nun nicht mehr. Das irrste Argument in dieser neuen Lage, das ich bisher gegen Sarrazin gehört habe, lautete so: Das Aufkommen der Populisten sei ihm, Thilo Sarrazin und seiner höchstpersönlichen demagogischen Schwarzmalerei geschuldet. Mir fällt grad nicht mehr ein, wer’s gesagt hat, aber im Zweifel wird es schon so eine Tiptop – Fernsehexpertin gewesen sein, vielleicht sogar mit Migrationshintergrund – warum nicht!
Ich weiß nicht, ich glaube Schäuble sieht die Lage auch ungefähr richtig (Aussetzer ausgenommen), aber er hat noch diese Kriegsfolgendiskussion im Nacken und denkt wohl andauernd: Was, wenn wir statt Wirtschaftsdifferenzen auszutragen echte Schlachten schlügen: Das wäre natürlich viel schlimmer. Stimmt. Außerdem glaubt er glaubich an das Durchwursteln. Das könnte eine Täuschung sein.
Renzi ist auf die Abzockerschiene eingebogen. Ziel: Wenn die Schulden die kritische Grenze erreicht haben, sollen sie gekappt werden – wie im Falle Griechenlands.
Was mich wundert – was mich enorm wundert, ist, wie ruhig sich Slowenien, Slowakien (heißt jetzt so, oder?), Tschechien, Lettland usw. in dieser Situation verhalten.
Die Finnen sind soviel ich verstehe raus, weil sie der EU eine materiale Absicherung all ihrer Garantien abgetrotzt haben. Schlau! Die Niederlande begehren gelegentlich gegen den Brüssler Mainstream auf – wie die Polen.
Was Hollande denkt, werden am Ende vielleicht nicht einmal die französischen Historiker zu sagen wissen. Irschendwie schwebt der einfach durch die Szene wie weiland das Schwein an der Leine über dem Kraftwerk. Er wippt so selbstversunken in den Videos mit dem Motorroller. Einen Schuß hat er noch, aber selbst den vielleicht nur, wenn die aktuellen Streiks nicht die EM strangulieren.
@ Dieter. Ja, auf Italien sollte man achtgeben. Der Einlagensicherungs-Fond steht dieser Tage wieder auf der EU-Agenda, Italien ist ganz scharf drauf. Da kann man dem @ Doktor nur beipflichten, sieht aus als ob die Italiener im Endspiel wären, das schließlich alle verlieren werden.
*
Wenn ich unsere Runde noch einmal breit auslegen darf: die Ermutigung von JWMüller (Abschnitt 3), alle Bürgerlichen mögen sich sachlich aber unnaiv mit den fehl-etikettierten Vertretungsansprüchen der »Populisten«, in Deutschland und anderswo, auseinandersetzen, findet hier in diesem Forum keine Zustimmung, weil sie doch eine starke Filterung (Stichwort: Korea, Miele, Mindestlohn) für Publizisten und Akademiker ohne befristeten Vertrag voraussetzt?!
Anders gesagt, ist ein Absehen von der Ökonomie in einem Teil-Bereich der Politischen Theorie immer dazu angetan, eine Verengung der Bürgerlichen Zumutung, die schon mal als »globale Zuständigkeit« aufleuchtet, idealtypisch und prototypisch erscheinen zu lassen. Ist das Absehen von der Ökonomie nicht das zentrale Anliegen des bürgerlichen Liberalismus, dem man Müller fraglos zuordnen muss, eben genau weil die Unkontrollierbarkeit der Wirtschaft mitsamt ihren existenziellen Folgen nicht wirklich zum »System« passt?!
Ich stelle mir diese Frage immer und immer wieder: warum ist der Liberalismus so überzeugend mit seinem arroganten Weltausschnitt...
@Leopold Federmair, #76 @die kalte Sophie #81
Müllers Ausgangspunkt und Herangehensweise ist politisch bzw. demokratietheoretisch; eine soziologische (ökonomische) Analyse strebt er nirgendwo explizit an. Um das Phänomen zu fassen, muss man das auch nicht; um es zu erklären schon, aber ich denke, dass es ihm darum eigentlich nicht geht (man kann diese Grenzziehung bemängeln, aber vorwerfen eigentlich nicht, weil das nicht sein Anspruch ist).
@die kalte Sophie, #75
Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Sache mit dem Dispositiv richtig verstehe: Das wäre in der Konsequenz als Schritt weg von den überstaatlichen Gebilden zu verstehen?
Ist »Europa« nicht schon zwei Nummern zu groß
Subsidiarität ist der Zauber, der nicht immer funktionieren will, aber per Idee skalierbar bis ganz oben ist. In den USA war der Bund lange nur für wenige nationale Aufgaben wie Verteidigung wichtig, der Rest passierte in den Staaten. Seit dem WWII hat sich die Regierung immer mehr Aufgaben geangelt und Washington wurde immer wichtiger. Vielleicht zwangsläufig, auch wenn die andere Idee besser ist? Bei uns können die Länder jetzt nur noch immer skurileren Wahlkampf mit Schule und Polizei machen.
@metepsilonema Nr. 82
Ich meine, die Fragen, die Müller aufwirft: Sachzwangpolitik und Populismus (= Fragen nach der Identität und dem Eigentlichen (dem Volk an sich)) einerseits vs. verhandelbare politische und staatspolitische (=institutionelle) Fragen ist soweit ok, wird aber immer erst im Streitfall wirklich interessant.
Auch dass er den Populisten zuschreibt, sie seien notwendigerweise gegen die EU eingestellt, ist zunächst noch nicht sehr hilfreich – und an sich auch nicht sehr bedeutsam:
In fact, technocracy and populism reinforce each other: liberal elites become ever more distrustful of democracy; illiberal people seek to defy them. Instead, politicians need to acknowledge that there are alternatives, justify the one they have chosen as best they can and argue that ultimately politics is about issues and institutions – not about pure identity, as populists insist. (Müller im Guardian)
Dass Polit-Technokraten und Populisten sich gegenseitig schachmatt setzen soll vorkommen. Aber die Erörterung dieses und anderer einschlägiger Spannungsfelder stellt kein im engeren Sinne polit-theoretisches, sondern ein polit-praktisches Problem dar. Das wird vielleicht deutlich, wenn man sich anschaut, wer wen zurecht als Populisten bezeichnet.
Im Kern wird man unterscheiden müssen, ob über die artikulierten Positionen oder über die Motive der Akteure gesprochen wird. -
– Klar kann man die SVP (Blocher-Partei) als eliten-kritisch und selbstbewußt schweizerisch oder eben EU-kritisch und populistisch einschätzen. Ich habe oben (Nr. 80) einen Punkt angeführt, wo mittlerweile auch absolut unverdächtige Leute wie Ex-Verfassungsrichter Grimm und FAZ-Feuilletonist Geyer das gleiche sagen, was die SVP-Leute schon hundertfach gesagt haben. Nur dass gegen Grimm und Geyer keiner die Keule schwingt. Zu sagen, dass sich die EU via EuGH Legitimität erschleicht (!) hat mit dem Populisten-Muster praktisch nur noch deskriptiv zu tun und ist via FAZ vom Samstag in den akzeptierten Mainstream eingerückt.
Was Müller jetzt noch einwenden könnte wäre: Ja, aber Geyer und Grimm meinen ihre Kritik ernst, während Blocher et. al. die nämliche Kritik nur aus einem – verdorbenen, zersetzenden, EU-feindlichen usw. Geist heraus geäußert haben.
Tatsächlich wird argumentativ schon seit Jahren so verfahren, mit der Folge, dass sich prima vista einwandfreie Intellektuelle wie Thomas Hürlimann, den ich in diesem Zusammenhang ebenfalls (wenn auch mit Absicht...) zitiert habe, sich praktisch über Nacht zum tendenziellen Volksfeind herabgewürdigt sahen: Mitgegangen, mitgehangen.
Ich glaube bei Hegel steht irgendwo, dass in solch einer Situation der nächste argumentative Schritt so aussieht: Pahh, man verstehe die ganze Aufregung nicht: Im Grunde habe man, was er da behaupte, schon immer gesagt: Nun zier er sich nicht so!
Noch tiefer ins Herz der Causa eindringend stellt man fest, dass es bei nationalen Politiken sowieso ein identitäres Moment gibt: Wir Schweizer! – Erklärt man jede Person, die sich auf solcherlei beruft zum Populisten, wird man sicher reiche Beute machen – aber auch an vielen Wählerinnen und Wählern vorbeireden.
Die SPD macht das in D‑Land mit langsam schon erstaunlicher Naivität und stupender Konsequenz: Sie sendet bis anhin prinzipiell an der Deutschlandfahne und an heimischen Interessen vorbei. Im Zweifel für die Griechen!
So ist die SPD stets auf der sicheren Seite, wenn Herr Müller und seinesgleichen überprüfen kommen, ob auch wirklich keine identitären (= regressiven, = irrationalen, =anti-internationalistischen, = unsolidarischen, = geschichtsvergessenen) Positionen auszumachen sind. Positionen mithin, wie Sigmar Gabriels Vater sie eingenommen haben würde in aktuellen Debatten, wenn er denn noch lebte: Das ist ein Kriterium, das in dieser Müller-Not, so will ich die mal nennen, von Sigmar Gabriel treuherzig erfüllt wird: Das und das ist nazistisch, weil mein Vater, der bis zu seinem letzten Atemzug ein Nazi war, genauso geredet haben könnte...).
Derlei geht. Aber die Leute langen sich zwischendurch an den Kopf und machen in der Wahlkabine einen riesen Bogen um die fehlgewickelte SPD und ihren sich immer wieder in therapeutischen (oder wittgensteinisch: privaten) Diskursen verstrickenden Vorsitzenden. Ich habs in Ba-Wü kommen sehen; und hier im Blog auch darüber geschrieben, und hab mich, wenn auch leise, so doch unmissverständlich, nun ja: eigentlich unmissverständlich – – schriftlich an die SPD gewandt, aber ich habe keine Antwort bekommen; und ich war dennoch überrascht angesichts der Schärfe, mit der die WählerInnen in Ba-Wü Schmid und Friedrich, an den ich geschrieben hatte, verschmäht haben. Und oh ja, ich kenne auch AfD-Wählerinnen. Und nein: Keine einzige von denen, die ich persönlich kenne, sind identitär, oder pro-Nazi. Und ja: Wie weiter oben schon angesprochen: Die (elitengesteuerte) Geldumverteilungmaschine ESM z. B. ist der einen oder dem anderen von ihnen sogar unsympathischer als mir.
Noch eine allgemeine Feststellung zum Polit-Diskurs: Es ist vollkommen normal, dass Wählerinnen nicht alles, was wahlrelevant ist, diskursiv aufzulösen vermögen, und sich stattdessen in hohem Masse auf ihre Intuition verlassen. Sie riechen den Braten aber – und auch das verschafft Orientierung in unübersichtlichem Terrain.
@metepsilonema
Genau so wirkte Müllers Buch auf mich: abgehoben (von sozialen Realitäten), auf die Demokratiespiele fixiert. Streckenweise nicht einmal politologisch, eher journalistisch, bemüht locker, wie gewisse Leitartikel. Ich erwarte mir schon Erklärungsversuche von Suhrkamp-Büchern.
@Gregor
H. M. Enzensberger überzeichnet manches im Schreckens-Buch, aber von einem Niedergang der Kultur im arabischen Raum zu sprechen, scheint mir nicht ganz verfehlt. Bücher kommen wenige von dort. Aber natürlich muß man die Bevölkerungen und ihre Sorgen ernst nehmen. Islamophobe Populisten tun so, also könnte man eine ganze Weltreligionen mit ihren ‑zig Millionen Anhängern einfach auf die Müllhalde der Geschichte kippen. Genau diese Vereinfachungstendenz betonen Sie immer wieder, Gregor K., und zurecht. Simplifizieren heißt aber, gegen Kultur und Denken an sich vorzugehen. Darin liegt m. E. die große Gefahr der gegenwärtigen Situation, wo dann Kommunikation oft beim besten Willen nicht mehr möglich ist (Habermas’ schönes, aber blauäugiges Kommunikationsmodell!).
Der IS haßt und zerstört Kulturgüter ganz offen. Aber gleichzeitig gibt es im Westen eine kulturelle Erosion, die Gadgets und Junk-Konsum und digital-virtuellen Ersatz hervorbringt, wozu manch ein Depravierter das von Enzensberger angeführte Double-Bind-Verhältnis hat.
@Leopold Federmair
Viele Attentäter des 11. September waren keine Depravierten, sondern Menschen mit guter Bildung und Ausbildung (hier, hier, hier, hier und hier). Die Gleichung »Arm = Terrorist« trifft schlichtweg nicht zu. Andernfalls müssten in Spanien, Griechenland aber auch Frankreich laufend Bomben explodieren. Gerade darum ist Enzensbergers These der »radikalen Verlierer« in dieser Diktion falsch (in vielem, was er schreibt, liegt er dennoch richtig).
Die These, dass Bildung vor Dummheit schützt, ist eine Legende; eine Mischung aus bildungsbürgerlichem Wunschdenken und Sozialarbeiter-Jargon. Man findet sie heute vor allem bei Linken. Die arbeitslosen Hochschulabsolventen in Europa tröstet ihr Bildungsgrad kaum. Gute Bildung ist heute längst kein Selbstläufer mehr. In Frankreich »zählen« übrigens besonders die Bildungsabschlüssen an bestimmten Eliteuniversitäten. Dann laufen die Drähte hin zu den guten Posten in Politik und Wirtschaft fast automatisch heiß.
Tatsache ist, dass der politische Islam eine große Gefahr für die »westlichen« Gesellschaften darstellt. Er bietet nämlich nicht nur Konsum und Warenfetischismus, sondern liefert einen spirituellen Überbau (so pervers er auch am Ende sein mag). Das ist das, was weitgehend unterschätzt wird. Wenn er sich – wie der IS – auch noch antikolonialistisch gibt (Sykes-Picot; Zerstörung der diversen Weltkulturerbe), dann entsteht diese gefährliche Mischung aus religiösem Wahn und politischer Agitation. Das ist ähnlich dem, was es in Europa seit den Kreuzzügen gab und erst – nach vielen Kriegen – im Westfälischen Frieden 1648 endete. Von da an säkularisierten sich die Gesellschaften, was aber die Schrecken des 20. Jahrhunderts nicht verhinderte.
Es ist ein Manko, dass Müller die Motivationen der Populismus-Anhänger nicht untersucht bzw. mit einem Federstrich die soziologischen Befunde wegwischt. Ich glaube ja, dass er hier richtig liegt, aber es reicht eben nicht und ist intellektuell sehr schwach. Auch in einem Essay sollte man Begründungen einbauen.
@Joseph Branco
Es tut mir leid, aber mit »Subsidiarität« kann ich in Bezug auf die EU rein gar nichts anfangen. Es gibt ständig neue Initiativen irgendwelcher EU-Kommissare und/oder Gremien, die genau dieses Prinzip ad absurdum führen. So will man jetzt dafür sorgen, dass es eine Art Quote für europäische Filme bei Serienanbietern gibt. Auch das »Geoblocking« soll aufgehoben werden – vermutlich mit der Konsequenz, dass eine litauische Firma auch demnächst nach Portugal liefern muss, obwohl sie das vielleicht gar nicht möchte. Das alles für den Fetisch des »freien Marktes«, den man natürlich auf der anderen Seite mit diversen Subventionen und Beihilfen unterläuft.
(Ich sage nicht, dass diese Massnahmen nicht jede für sich ihre Berechtigung haben. Aber sie vermitteln nach außen ein Gefühl der Doppelzüngigkeit. Einerseits gibt es einen »freien Markt«, andererseits wird dort ständig mit Vorschriften eingegriffen, die ihn regulieren – allerdings nicht dergestalt, dass sich für den Verbraucher hieraus ein Mehrwert ergibt.)
Und anders herum: Wenn man in Deutschland die Zuständigkeit der Bundesländer in Bezug auf Polizei und Schule ab den Bund delegieren würde, wären die Ministerpräsidenten mit ihren Landeskabinetten praktisch machtlos. Ihre einzige Funktion bestünde dann darin über den Bundesrat Einfluss auf die Bundespolitik zu nehmen (als Kontrollinstrument). Der »Wettbewerb« der Bundesländer um das sozusagen beste Schulsystem ist allerdings ein Wahnsinn und zeigt, wie verbogen dieser Konkurrenzgedanke inzwischen ist. Niemand zieht von Bremen nach Bayern, weil seine Kinder dort vielleicht ein besseres Abitur machen.
@Dieter Kief
Im Kern wird man unterscheiden müssen, ob über die artikulierten Positionen oder über die Motive der Akteure gesprochen wird.
Dass er das nicht trennt, ist eines der Probleme des Buches. Aber man kann über die »artikulierten Positionen« irgendwann nicht mehr sprechen, ohne seine eigene Meinung einfließen zu lassen. Wenn man Pro-EU eingestellt ist, wird einem jede EU-kritische Position am Ende »populistisch« vorkommen und sie als solche benennen. Auf dem Höhepunkt des Willkommenskultur-Bekenntnisses galt es schon als »populistisch«, wenn man auf essentielle Bedingungen des Zusammenlebens nur hingewiesen hat.
Der wahre politische »Meister« zeigt sich darin, Populismus immer dann einzusetzen, wenn ihm seine Wählerschaft um die Ohren fliegt. Ich hatte oben Roland Koch erwähnt, der im hessischen Wahlkampf 1999 gegen die doppelte Staatsbürgerschaft zog und sogar Unterschriftenaktionen veranstaltete. Zwar gewann er die Wahl (entgegen den damaligen Prognosen), aber eben nicht derart stark (CDU und FDP legten nur rd. 2% zu, aber Rot-Grün verlor knapp 3%-Punkte – das genügte.) Als Koch im Landtagswahlkampf 2008 wieder auf das Thema Ausländer und Ausländerkriminalität setzte, überspannte er den Bogen, als er die Strafmündigkeit auch für Zehnjährige forderte. Die »Bild«-Zeitung entzog ihm die Unterstützung und er verlor 12%-Punkte gegenüber 2004. Koch hatte den Bogen überspannt; sein Gespür für das »Mögliche« hatte ihn verlassen.
Interessant wird sein, ob Seehofer mit seiner Politik der Opposition in der Regierung in Bayern reüssieren wird. Es ging und geht Seehofer kaum um eine tatsächliche Lösung der Flüchtlingsproblematik (auch hier hatte die kommunalpolitische Basis – ebenfalls weitgehend CSU geprägt – die tatsächliche Arbeit vor Ort zu leisten). Sein ganzes Handeln dient der Abschottung gegenüber der AfD in Bayern. Dort sind 2017 Wahlen. Derzeit scheint dies zu funktionieren; in Bayern liegt die AfD zwischen 8% und 10%, also deutlich unter dem Trend im Bund. Aber bis zur Wahl ist es noch lange. Und irgendwann wird das Spiel Seehofers lächerlich. Er riskiert damit nämlich mehr, als er erhält. Es ist nämlich schlichtweg unvorstellbar, dass die CSU sich im Bundestag autark von der CDU verhält. Indirekt baut Seehofer womöglich auf eine 10%-AfD (und auf die Rückkehr der FDP, die er ja eigentlich hasst), weil dann die Mehrheitsverhältnisse derart sind, dass die CSU wieder »gebraucht« wird. Aktuell ist sie für die Mehrheit der GroKo schlichtweg entbehrlich.
Zu Sarrazin sag ich jetzt mal nichts. Ich habe drei seiner Bücher hier besprochen. Das Euro-Buch hat mich maßlos enttäuscht. Das dann folgende war ganz schwach und das letzte hat mich dann nicht mehr interessiert.
Enzensberger hat scheint’s wirklich einen Treffer gelandet. Dabei ist der Kassandra-Job gar nicht so leicht, wie man denkt.
Aber zu @Dieter: Im Kern wird man unterscheiden müssen, ob über die artikulierten Positionen oder über die Motive der Akteure gesprochen wird. – Besonders richtig. Eine Entscheidung auf der Meta-Ebene, die Müller offeriert, ist keine wesentliche politische Tat. Der Essay geht zuletzt in Leitartikel’rische Gesten über, wo sich abstrakte Argumente mit politischen Vorlieben verbinden. Linker Populismus?! Naja, klar. Sind wir nicht so.
Die Kritik von Dieter Grimm, Fuest oder Sarrazin kommt wesentlich ernsthafter daher. Sie scheint (soweit ich nachvollziehen kann) begründet. Es ist eine Kritik in der Sache, während man Müller wohl eher eine Kritik »auf der META-EBENE« zubilligen muss. Eine Kritik, die übrigens in jeder Talkshow schief geht. Es wird immer wieder versucht, es sind nur läppische Vorhaltungen, die verpuffen.
Nennt mich naiv, aber für mich war es schon eine eindringliche Erfahrung, dass »Männer und Frauen« mit ehrfurchtsgebietenden Sachverstand keinen Einfluss auf die wesentlichen Entscheidungen unserer Tage ausüben konnten, also weder die noch ich.
Das passt dann doch eher zu @Gregor und der »Immanenz der Macht«, bei den Funktionären, bei den assistierenden (eben nicht repräsentierenden) Eliten. Ich bleibe dabei: dem unauffindbaren Volk ist das Wurscht. Ein Gutteil wird die Idee, dass (Foucault zu variieren) noch heftiger, umso klarer und direkter regiert werden muss, gar nicht mal so schlecht finden. Wir haben es also mit einem Macht-Gebilde zu tun, wo immer deutlicher zwei Phasen erscheinen, die wilde kommunikative Phase des Willens, und die technokratisch regulierte und beschnittene Phase der Institutionen.
Ach ja, @mete. Die Fehldimensionierung des Politischen Feldes scheint mir in der Tat die Konsequenz zu beinhalten, Demokratien nicht auf jede beliebige Größe aufzublasen und auf überstaatliche Gebilde zu verzichten. Das ist mein persönlicher Provinzialismus, da steh ich auch dazu. Nicht Habermas: gegenüber der Zukunft sind wir notwendigerweise provinziell, sondern territorial: Gegenüber dem Planeten Erde und seiner Zukunft sind wir notwendigerweise provinziell.
@die_kalte-Sophie
Leute wie Enzensberger schöpfen ihren (Kassandra-)Ruhm daraus, dass man ihre Irrtümer »vergisst«. Es begann mit seinem Essay über die »Große Wanderung« 1992. Der Verlag fasst die vier Texte jetzt noch einmal zusammen. Ihre Geschmeidigkeit ist sehr groß. Man liest den Bürgerkrieg-Text, jauchzt auf vor Zustimmung und vergisst ganz schnell die Passagen der wabernden Ungenauigkeiten. Sprachlich ist das aber wunderbar.
Ich glaube, dass die Ohnmacht der Politik (das Eingeständnis, provinziell zu sein?) eine selbsterfüllende Prophezeiung ist. Hierin liegt übrigens auch der Sprengstoff für Populisten. Sie geben das Gefühl an politischer Gestaltung zurück (daher sind sie auch für Plebiszite). Sie geben, pathetisch ausgedrückt, ein Versprechen. Daher ist das Gerede um »Postdemokratie« – so richtig es als Befund sein mag – kontraproduktiv.
Auch so ein Punkt, den Müller wegwischt: Dass Demokratien per se einen Hang zum Populismus haben. Sonst wäre sie keine. Die Frage ist nur nach den »Checks and Balances« um die »Tyrannei der Mehrheit« (Toqueville) zu verhindern. Sofort ist man in den Institutionen gefangen. Hier kennt sich Müller aus, hier führt er sich wohl. Aber die Institutionen sind – ich wiederhole mich da – fast nur noch Politikververwalter. Dies wiederum hat mit Großen Koalitionen zu tun. Ein Teufelskreis. Populisten versprechen den Ausbruch daraus. Hierin liegt ihr Faszinosum.
Ich habe einen Kommentar von @_die_kalte_Sophie übersehen, auf den ich aber gern noch antworten würde: Ihre Skepsis gegenüber den Teilnahmemöglichkeiten der Bevölkerung.
Grundsätzlich glaube ich auch, dass die Demokratie, vor allem die repräsentative Demokratie, quasi als »Ideologie« mehr Demokratie und Teilnahme verspricht, als sie de facto in einem sehr großen, sozio-kulturell extrem diversen Wahlvolk leisten kann. Ganz besonders dann, wenn sie wie in der hegemonialen liberalen Demokratie-Theorie des Westens stark an den Bürger als selbstständiges, freies und rational handelndes Wesen geknüpft ist – und diese regulative Idee vom Bürger mit dem realen Bürger und dessen Eigeninteressen verwechselt oder tendenziell in eins gesetzt werden (auch von diesem selbst und auch in großen Teilen ganz unvermeidlich). Deswegen erscheint mir in vielen Fällen die Kritik an NIMBY- & St. Florian-Bürgern auch am eigentlichen Problem vorbei: Wenn Leute bestreiten, dass ihre Nachbarschaft der beste Platz für eine Flüchtlingsunterkunft ist, ist das erstmal ihr Recht – und übt auf Verwaltung und Politik den entsprechenden Druck aus, sich zu erklären und ggfs. ein bisschen mehr Aufwand in die Lösung zu stecken.
Das Problem sehe ich eher wo anders:
1. Geht ein Verfahren (auch mit einer Volksbefragung oder einem Volksbegehren) dann gegen die eigenen Interessen & Haltungen aus, sind sehr viele Beteiligte schnell mit dem Label »Undemokratisch! Wir wurden verarscht!« dabei. Nein, man hat eine politische Auseinandersetzung verloren – und das kann sogar dazu führen, dass wie zB. bei S21 absehbar, das komplette Verkehrsnetz einer Landeshauptstadt und evtl. auch die jeweiligen Stadt- und Landeshaushalte zusammenbrechen werden – aber das ändert nichts daran, dass das ein nach den in DE geltenden Regeln und Annahmen demokratisches Verfahren war. Solche politischen Niederlagen einzustecken, scheint aber für Menschen, die sich vor allem aus wie auch immer gearteter existenzieller Betroffenheit in solchen Verfahren engagieren, sehr schwer zu fallen. (Aus eigener Erfahrung weiß ich auch, warum das so schwer ist.) Das »Man diffamiert mich und nimmt mir das Recht auf freie Rede!« von Sarrazin, Sloterdijk etc., wenn ihren steilen Thesen ebenso massive Kritik entgegengesetzt wird, rechne ich im Grunde auch zu diesen Reaktionsmustern.
Das scheint mir aber auch damit zu tun zu haben, dass viele Menschen in unserer Gesellschaft wenig Erfahrung mit demokratischen Prozessen zu haben scheinen; und oft auch erstaunlich wenig Wissen über die quasi »verfahrenstechnische« Seite daran. (In den Bundesländern, die einmal die DDR gebildet haben, ist das noch offensichtlicher als im alten Westen.)
Das zeigt sich nun auch schon ansatzweise bei den Landtagswahlen: Weil die eigene Partei nicht den erwarteten Triumph eingefahren hat, stellt man z.B. bei der AfD einfach mal in den Raum, in den Wahllokalen wäre betrogen worden. Gleichzeitig schafft es gerade die AfD nicht, überhaupt Wahlhelfer zu rekrutieren.
2. Um an ‘unseren’ politischen Prozessen teilzunehmen – und offensichtlich gilt das auch schon für den vergleichsweise simplen Akt des Wählens (vgl. auch Gregor Keuschnigs Darstellung zur Unfähigkeit/willigkeit zum Kumulieren & Panaschieren) – braucht es wohl einen Habitus sowie diskursive und intellektuelle Fähigkeiten, die das Produkt langer Übung / Erziehung / Erfahrung und nicht einfach DA sind. Und natürlich Zeit bzw. die Bereitschaft, sein Zeitbudget auf das politische Engagement auszurichten.
Die Glätte und Geschmeidigkeit vieler Politiker, das Funktionärs- und Managerhafte, das ich als Vorwurf eines gewissen Elitismus auch hier aus einigen Beiträge herauslese, lässt sich auch als besonders starke Ausprägung dieses »demokratischen« Habitus zu sehen: So bleibt man auch bei starken inhaltlichen Differenzen überhaupt handlungsfähig, wenn man sich auf etwas einigen muss oder immer wieder miteinander zu tun bekommt. Sobald sich so etwas sehr stark entwickelt und verbreitet, wird es natürlich schwer für anders sozialisierte und habitualisierte Personen, sich an diesen Prozessen zu beteiligen – zumal sich dann auch schnell Habitus-Allianzen aufbauen, die inhaltliche Differenzen überschreiben (an so etwas laboriert sicherlich die SPD). Problematisch ist auch, wenn sich die habituell Privilegierten nicht klar machen, wie ausschließend ihr Habitus wirken (kann) oder diesen sogar offensiv als Ausschließungs- und Verdrängungsmechanismus einsetzen.
Die Unwilligkeit, sich mit dem Spielregeln ernsthaft zu befassen, oder die eigene Unfähigkeit, sich erst mal auf Differenzen oder die Möglichkeit des Scheiterns einzulassen, ist aber für mich kein Einwand gegen meine Einschätzung, dass gerade heute die demokratischen & politischen Teilnahmemöglichkeiten in DE sehr groß sind – und ja auch von vielen genutzt werden, wie man ja im Engagement für Geflüchtete, in zig Bürgerinitiativen und eigentlich sogar im Aufbau der AfD sehen kann. Dass viele Probleme politisch bearbeitet werden müssen, aber vermutlich politisch unlösbar sind – steht auf einem anderen Blatt und hat meines Erachtens mit den Möglichkeiten der Teilhabe wenig zu tun (eher mit der Motivation).
@ Doktor D. Wunderschön, dass Sie hier für die Funktionäre Partei ergreifen. Ich zitiere gleich noch mal ein Highlight:
Sobald sich so etwas [der Habitus] sehr stark entwickelt und verbreitet, wird es natürlich schwer für anders sozialisierte und habitualisierte Personen, sich an diesen Prozessen zu beteiligen – zumal sich dann auch schnell Habitus-Allianzen aufbauen, die inhaltliche Differenzen überschreiben (an so etwas laboriert sicherlich die SPD).
Ich unterstreiche den Begriff »Habitus-Allianz«, und überhaupt alles. Ein Volltreffer! Demokratie wird in genau den Verfahren gelernt, an denen die meisten nicht teilhaben. Kleines performatives Paradoxon.
Gegen oder für den Elitarismus möchte ich mich nicht aussprechen. Aber imgrunde versteh’ ich die Populisten, wie überhaupt deren primitiver Ansatz »bemerkenswert gut von allen verstanden wird«. Ich habe schon oben die Unterscheidung zwischen »repräsentativen Eliten« und den Ko-Exzellenzen, seien sie Verfassungsrichter oder Schriftsteller gezogen. Diese Unterscheidung erscheint mir wesentlich. Das kann man bewerten wie man möchte, melancholisch (»Die Leuchttürme der Menschheit senden sich gegenseitig ihre Botschaften zu...«) oder kritisch (»An der Regierung sind immer nur Leute aus der zweiten Reihe beteiligt...«).
Übrigens habe ich Müller nach dieser Unterscheidung befragt, er trifft sie nicht. Und das geht mir, proletarisch gesagt, schon auf den Senkel. Ein Hauch von »Elite« auch bei Müller?! Na so was.
@Gregor #86
Für die meisten Attentäter von Paris im November 2015 und vorher bei Charlie Hébdo treffen die Vermutungen von Berardi und Enzensberger zu. Junge Männer aus Pariser/Brüsseler Vorstädten mit wenig Perspektive, Migrationshintergrund, oft kleinere Delikte in der früheren Biographie. Natürlich brauchte ein Attentat wie das vom September 2001 in New York auch Techniker und Logistiker, sonst wäre es nicht durchführbar gewesen. Terroristische Gruppen haben bestimmte Strukturen in ihrem Inneren, Arbeitsteilung etc.
Daß alle Depravierten Terroristen werden, hat niemand behauptet.
Es hat auch niemand behauptet, daß alle gut Gebildeten Terroristen werden.
Es ist schon klar, daß Bildung an sich vor gar nichts schützt. Äußerungen in diesem Zusammenhang beziehen sich auf die gegenwärtige soziale Situation. Daß schlecht Gebildete häufiger populistische Parteien wählen, wurde in den letzten Jahren oft und an ganz verschiedenen Orten deutlich. Ich erfahre das auch, ganz konkret, jenseits bzw. diesseits der Statistiken, aus meinem engeren Verwandten- und Bekanntenkreis in Österreich, viele von ihnen sind in pädagogischen Berufen und haben täglich mit den jungen Generationen Umgang. Bei niedrigerem Bildungsniveau ist die Affinität zu Populismus, Stereotypen, Simplifizierungen unverkennbar; bei höherer Bildung eher zu Grünen (die sogenannten Altparteien schauen unter den Jungen ganz alt aus).
Ebenfalls die Situation in ihrer Gesamtheit betrifft die Beobachtung, daß Bildungspolitik in unseren Breiten seit vielen Jahren orientierungslos ist und/oder nicht greift. Meiner Meinung hat das schwerwiegende Folgen und wird noch mehr haben.
Ich glaube nicht, daß es unbedingt notwendig ist, ganz genaue Infos zu haben, um Motivationen eines Attentäters wie dem von Orlando einigermaßen zu verstehen (man muß ja nicht gleich ein Buch schreiben). Es kam bald heraus, daß dieser Mateen möglicherweise selber schwul war und im selben Klub, wo er dann wütete, Alkohol trank, was mit der strengen Interpretation des Korans nicht vereinbar ist. Also wohl auch etwas von Selbsthaß. Was auf Enzensbergers Schreckensmänner-Erklärungslinie liegt.
Ich erinnere mich, daß ich schon in den achtziger Jahren in Paris in der Araberkneipe, die ich damals frequentierte, öfters auf junge Maghrebins stieß, die mir zerknirscht erklärten, daß sie eigentlich keinen Alkohol trinken sollten. Und es trotzdem taten, manchmal mit Freuden. Sicher sind nicht alle später, als die Ideologisierung begann, Terroristen geworden.
@die_kalte_Sophie
Wolf Dieter Narr, Professor emeritus der FU Berlin, sprach (zunächst im Zusammenhang mit Studentenunruhen Ende der 1960er Jahre) von einem »repräsentativen Absolutismus«. Dieser zeigt sich ganz schön in den Polit-Talkshows und gerade, als ich das schreibe, sehe ich im Fernsehen den französischen MP Valls, wie er französischen Polizisten steht und ihnen versichert, dass sie von der breiten Bevölkerung geschätzt werden. Sie schauen alle sehr geradeaus. Leider zeigt man nicht, wie er sich in seinen gepanzerten Wagen setzt und die Polizisten dann weiter zu irgendwelchen Einsätzen gehen.
Ob man das nun »demokratischen Habitus« oder »repräsentativen Absolutismus« nennt, ist eigentlich egal. Das Signal ist da. Und es wird verstärkt, wenn sich die Politik wieder vornimmt »mit den Menschen« zu reden. Was dann bei Anne Will per Dekret geschieht. Währenddessen bekommt der Landrat mitgeteilt, dass er morgen 1.000 Flüchtlinge bekommt und das alles zu organisieren hat. In Ostdeutschland fehlen schon länger Kandidaten für kommunale Ämter. Könnte Gründe haben.
@Leopold Federmair
Die Selbsthaß-These beim Orlando-Attentäter ist jetzt Trumpf. als Beleg gilt u. a. ein Selfie. Naja. Vorher hat es geheissen, er hätte sich dem IS angeschlossen oder sich zu ihm bekannt. All dies ist eigentlich gleichgültig, spielt aber im Diskurs in den USA eine wichtige Rolle. Wenn nämlich der Mann FBI-»bekannt« war und nicht entsprechend überwacht wurde, fällt dieses Versäumnis der politischen Verantwortungsdramaturgie gemäss auf Obama zurück. Trump hatte das schon sofort entsprechend instrumentalisiert. Das wäre eben auch fatal für Clinton bei der nächsten Wahl gewesen. Eine Selbsthaß-These, also eine Art Affekttat, »spricht« die Behörden nun eher »frei« von Versäumnissen.
Dass die Bildungspolitik nicht funktioniert, mag sein. Ich möchte nur einmal wissen, was es heißt, wenn man sagt, dass sie nicht »greift«. (In Deutschland wurde seit den 1970er Jahren die Abiturquote sukzessive erhöht [auch durch Absenken der Standards]; es studieren derzeit so viele wie nie zuvor. Aber was hat das mit »Bildung« zu tun?)
Es ist seltsam, aber dieser Typ hat mich an Otto Weininger erinnert, den jungen jüdischen Antisemiten, der in einem der Wiener Beethovenhäuser Selbstmord beging. 1903 glaub ich wars.
Zur Bildungsfrage: Um 1960 lag die Abiturientenquote in Deutschland bei ca. 5 Prozent. Heute liegt sie in den meisten europäischen Ländern irgendwo um die 50 Prozent. Es ist doch sonnenklar, daß das akademische Niveau keinen Vergleich aushalten kann mit dem seinerzeitigen. Muß es auch nicht. Studiert zu haben, bedeutet heute nicht viel, Abitur zu haben rein gar nix, außer daß man den üblichen Weg (von »Bildung« oder was auch immer) durchlaufen hat. Manch ein Abiturient ist heute ein halber Analphabet. All diesen – teils von ihr selbst bewirkten – Verschiebungen hat die Politik nicht ausreichend Rechnung getragen.
@Leopold Federmair
All diesen – teils von ihr selbst bewirkten – Verschiebungen hat die Politik nicht ausreichend Rechnung getragen.
Man kann das Wörtchen »teils« streichen.
Da Müller im Prinzip pro Funktionärselite ist, zumindest seine Argumentation dahin tendiert, lässt sich ja ziemlich direkt aus seinen Argumenten für die die repräsentative Demokratie ableiten. Es braucht eben Repräsentanten – und deswegen wird so eine Demokratie auch ein Problem mit Populismus haben, denn er ist so eine Art funktioneller Schatten. Das fasst er ja zum Schluß auf S. 134f. auch entsprechend zusammen.
Gregor Keuschnig
Subsidiarität ist eigentlich nur eine vernünftige, ja eignetlich unabdingbare Forderung. Sollte ein Komet die Erde bedrohen, wird der Kosovo kein Weltraumprojekt auflegen. Die Umgehungsstraße von Priština wird eher nicht bei der UNO verhandelt. Ich hatte die beiden Beispiele ja als Fehlentwicklung gegeben. Meine Frage ist, ob man die Einhaltung der Zuständigkeiten konstitutiv manifestieren kann oder ob es systemimmanent ist, dass sich die Macht über kurz oder lang zentralisiert.
Ein bisschen hat es mich gewundert, dass bisher kaum das Thema TV-Debatten mit Populisten im Wahlkampf aufgekommen ist. Mit der Weigerung deutscher Politiker mit der AfD im Fernsehen aufzutreten und mit der obskuren Debatte zwischen Hofer/Van der Bellen lag doch genug Potenzial vor.
Ich war mir uneins, ob die Weigerung in Ordnung war. Wahrscheinlich ist es abhängig vom Format der Sendung, ob es sinnvoll ist. Unmoderierte Debatten können wir jetzt auch empirisch belegt ausschließen. Sendungen, in denen nur Sprechblasen (Sie haben jetzt 15 Sekunden Zeit zu antworten) abgesondert werden, würde ich als Kandidat gegen Populisten auch ablehnen. Vermutlich ist es weder möglich, noch bei den Altparteien durchsetzbar, tatsächlich themenorientierte Runden durchzuführen, in denen belastbare Aussagen erforderlich sind. Da die wenigsten bei Phoenix Bundestagsdebatten verfolgen, überlässt man dann Zeitungen das Feld, proudly present by Holtzbrinck, Murdoch oder so.
Aber AfD VertreterInnen waren / sind doch festes Inventar der Ard / Zdf-Talkshows, zusammen mit Politikerinnen der anderen Parteien. Und die Idee, in Talkshows themenorientiert irgendetwas seriös diskutieren zu können .... ganz mein Humor, wie man in anderen Teilen des Netzes zu schreiben pflegt.
Talkshows themenorientiert irgendetwas seriös diskutieren zu können
Nicht Talkshows, TV-Debatten vor Wahlen. Unkonzentriert?
Die Orlando-Thematik ist, so wie sie derzeit verhandelt wird, mit heißer Nadel genäht – sie kann nicht anders genäht sein.
Und nein @ Leopold Federmair Nr. 91 – Enzensberger macht die Gleichsetzung von sozialem Stand und Gewalttat der Art: Die depravierten Banlieu-Bewohner, was bleibt ihnen anders übrig als zu bomben, ausdrücklich nicht mit. – Auch Gregor Keuschnig hat in dieser Hinsicht recht – cf. Nr. 86.
(Was man derzeit sagen kann ist, dass bei den publizistischen Schnellschüssen in Richtung Orlando erhebliche diskursive Kollateralschäden entstehen. Gestern bin ich auf folgendes Kuriosum aufmerksam geworden: https://newrepublic.com/article/134270/hypermasculine-violence-omar-mateen-brock-turner.)
Aber wie gesagt: Ich glaube nicht an die ad hoc Analyse solcher Phänomene.
@ Doctor D Nr. 89und die_kalte_sopie Nr. 90- wg. Repräsentanten: Hö: Auch sie befinden sich auf enzensbergerschem Gebiet: Nämlich dem des Essays »Erbarmen mit den Politikern«, wenn ich recht sehe -
– und zudem auf dem Sloterdijks wg. Zynischer Vernunft.
Leute, die sich in den Parlamenten und Parteien engagieren, sollte man seine Achtung zollen. Soviel Bürgersinn wäre schön. Und ja:@ Leopold Federmair Nr. 91 u 94 wg. Bildung: Die Frage ist schon wichtig, wo man den Bürgersinn allenfalls lernt.
Das schöne daran ist: Man kann ihn eigentlich überall lernen!
Und auch da wieder: Viel lieber als eine allgemeine Klage über den Niedergang der Bildung und das Abschmelzen der entsprechenden Standards sind mir persönlich die guten Praktiken, also die Fälle, wo junge Leute den Bürgersinn tatsächlich lernen.
All das korreliert freilich, ich habe bereits darauf hingewiesen, mit der Zwergenkränkung: Man ist, wenn man sich für die positiven Beispiele interessiert – und vielleicht sogar dafür einsetzt (Dr. D !) schnell in der Angst befangen, die Erfolge seien, gemessen an den Aufgaben, eine zu vernachlässigende Größe.
Um das noch 1 mal fortzuspinnen: Derlei Anfechtungen sind nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, aber eben auch unumgänglich: Sie gehören zur Signatur unseres Zeitalters.
@ Gregor Keuschnig Nr. 86 wg. Sarrazin
Ich bin ja noch meinen Sarrazi-Fehler schuldig. Merke aber, ich bin da ein wenig blockiert. Einstweilen mal soviel:
Also wenn man Edmund Burke folgt, nämlich seiner Regel: Das Wahlvolk sei stets wie ein Kind zu behandeln – und Kinder dürfe man unter keinen Umständen brüskieren, dann sind Sarrazins Aussagen über das Integrationshindernis Islam eine Katastrophe.
Das lass’ ich mal so stehen, sage dazu aber noch: Rotherham – wo es diese in die Hunderte gehenden Fälle von kindlichem Mißbrauch in der islamischen Community gab, ohne dass das Labour-Establishment auch nur einen Finger rührte – über Jahre hin – obwohl es Hinweise die Menge gegeben hatte – - und durchaus im Burkeschen Geist.
Und dann nenne ich noch die Dänen als ein Volk, das offenbar eine andere Strategie gewählt hat. Nämlich die problembehafteten Muslime nicht weiter anzusprechen als solche, und stattdessen dafür zu sorgen, dass keine mehr ins Land kommen. Ähnlich Japan und – Korea – und neuerdings Frankreich.
Just for the record: Es könnte von einem Mißverständnis zeugen, die Theorie des Kommunikativen Handelns für blauäugig zu halten. Was die Anwendung oder den Einfluß der Theorie betrifft oder deren praktische Auswirkungen – darüber läßt sich immer streiten. Aber das wäre etwas anderes als von Ihnen behauptet, mein’ ich.
TV-Debatten sind für mich Talkshows. Das Medium macht aus etwas, was vielleicht live ohne Übertragung in die weite Welt und ModeratorInnen, die auf Proporz etc. pp. achten müssen, eine interessante Sache sein könnte, eine Talkshow. Wirklich interessant könnte dagegen das Format sein, das Sie nach der vanderBellen / Hofer-Premiere schon beerdigt haben: die Kontrahenten unbetreut aufeinander loszulassen, mind. 2 Stunden lang. Am besten länger. Wahrscheinlich müsste es ein Obergrenze an Teilnehmern geben, vielleicht aber auch nicht. Müsste man mal ausprobieren. Quasi eine TV-Debatte im Geiste Schlingensiefs oder wie bei Thilo Jungs Jung un Naiv – total wildstyle und ungescripted. Schon allein um zu sehen, wer sich das zutraut.
In Talkshows kann man plaudern, wenn man aber in TV-Debatten vor Wahlen Substanzielles sagt, kann man später darauf festgenagelt werden. Das ist gänzlich etwas anderes. Und nach der Debatte im österreichischen Fernsehen habe ich niemanden gehört, der nicht peinlich berührt war. Schliengensief ist besser für Wagner. Aber das weiß ich nicht genau. Politik auf dem Niveau ist gefährlich.
- ah meine 101 u. ist leider missverständlich – so ists richtig:
@ Leopold Federmair Nr. 86
Just for the record: Es könnte von einem Mißverständnis zeugen, die Theorie des Kommunikativen Handelns für blauäugig zu halten. Was die Anwendung oder den Einfluß der Theorie betrifft oder deren praktische Auswirkungen – darüber läßt sich immer streiten. Aber das wäre etwas anderes als von Ihnen behauptet, mein‘ ich.
re: Zwergenkränkung: Interessanterweise habe ich, obwohl mein Wieder-Einstieg ins politische Engagement ausgerechnet die Anti-S21-Kampagne war, die ja bei der Volksbefragung verloren hat, als »Ermächtigung« erlebt – und das ist als Gefühl nicht abgeklungen, sondern hat dazu geführt, dass ich mich nun auch auf anderen Gebieten politisch oder im politischen Vorfeld (wie die Profis gerne zu so jemandem wie mir sagen :) engagiere. Woran das liegt, ist mir immer noch nicht so recht klar. Aber eine Rolle spielt sicher, dass sich Themenfelder, in denen ich mich engagiere, aus einer undifferenzierten »Ich bin mit der Gesamtsituation unzufrieden!«-Haltung verwandeln und man anfängt, einzelne Bereiche und Problemfelder wahrzunehmen und schaut, wie und wo man da einen Hebel in die Hand bekommt oder bekommen kann. Mit wem man Allianzen schmieden kann etc. Und dass man tatsächlich was hinbekommt – zum Beispiel die Volksabstimmung überhaupt hinzukriegen oder auch nur das unglaublich angepisste Gesicht von Merkel bei ihrem großen Auftritt zum Wahlkampf in Stuttgart sowie mitverantwortlich für die Abwahl des wirklich widerwärtigen Mappus zu sein – das hat mich sehr bestärkt weiter zu machen.
Interessant ist auch, wie Profis und Parteien auf einen reagieren: Man wird natürlich sofort auf Mitgliedschaft angesprochen (von allen Parteien!) – was ich auch als Domestizierungsversuch werte. Denn man bekommt zwar sehr oft von Politikern gesagt, wie toll sie mein / unser bürgerschaftliches Engagement finden, mit was sie aber eher schlecht umgehen zu können scheinen, sind selbstorganisierte Strukturen, die wenig von der Politik selbst wollen – ein bisschen Geld, aber vor allem Handlungsräume. Und allein diese Fähigkeit, damit ab und an mal das Business as Usual zu irritieren, empfinde ich als echten Wert. Und mach weiter.
@Doktor D und @Joseph Branco
Die TV-Debatten, die Joseph Branco meint, sind – mindestens in der Theorie – sachbezogene Diskussionssendungen. Der interessante Punkt ist, wie wir seit Rheinland-Pfalz wissen, wer daran teilnehmen darf. Ist die Einladung gemäss dem Ergebnis der entsprechenden Wahl davor oder gilt die aktuelle Umfrage? Das ist etwas fundamental anderes als die Einladungen von Anne Will, Plasberg, Maischberger oder wie sie auch heißen. Diese Sendungen haben soviel mit Politik zu tun wie die Tour de France mit Sport.
Die Frage ist nun, ob solche »Debatten« mit den jeweiligen Spitzenkandidaten einen Sinn machen, wenn dort am Ende vielleicht sechs Politiker neben zwei Journalisten sitzen die drei Themenkomplexe durchhecheln und insgesamt 90 oder max. 120 Minuten Zeit haben. Dann bleiben jedem Politiker insgesamt vielleicht 5 oder 6 Minuten – sofern man nicht aufeinander eingeht. Der informatorische Wert solcher Veranstaltungen tendiert gen Null.
Mit zwei Kandidaten wie Merkel/Steinbrück 2013 war es ähnlich, nur dass es vier(?) Fragende gab. Worauf hat man sich konzentriert? Schlandkette Merkel, PKW-Maut, Raab-Outfit.
Mein Vorschlag für Landtagswahl-Debatten: Jeder Kandidat trägt 5 Minuten die Schwerpunkte des Wahlprogramms vor. Danach gibt es 10 Minuten Fragen. Alles hintereinander; ohne Diskussionen untereinander. Am Ende eine Bilanz durch Journalisten – Gegenüberstellung von Positionen, Gemeinsamkeiten/Unterschiede.
.-.-.-.-.
Noch einmal @Doktor D: Vielen Dank für den Einblick. Wirklich interessant.
@ Doctor D Nr. 105
Naja, den anderen kanns egal sein, aber ich bin auch Ba-Wü und für mich ist das ein wirklicher Wohlfühl-Faktor, dass in der Villa Reitzenstein nicht Stefan Mappus sitzt, sondern der geläuterte ehemalige Weltrevolutionär Wilfried Kretschmann.
Ohne Jockel Fischer und seine Spürnase und seine entschiedene Förderung des Polit-Talents Kretschmann wäre das freilich ganz anders gekommen.
Cum grano salis – so ähnliche Erfahrungen wie Sie habe ich auch gemacht. Heute gibt es gemeindepsychiatrische Zentren in jeder Stadt – aber das für Jahrzehnte erste gemeindepsychiatrische Zentrum in Deutschland gab es nur einmal – in Heidelberg in der Brunenngasse – und was war das für eine ungewöhnliche Koalition von Aktivisten! – Wer, soviel ich mich erinnere, nicht dabei war, das waren die Mitglieder der Parteien, die damals sozusagen programmatisch antizwergisch eingestellt waren, nämlich auf Weltrevolution gepolt: KPD/AO, KPD/ ML, KBW, NRF, DKP, IV. Internationale usw. usf. Und es waren komischerweise schnell Kontakte geknüpft sowohl zu offiziellen amerikanischen Organisationen (European Headquarter of the American Forces – die haben kooperiert wg. Drogen-Problematik, und zu protestantischen Institutionen).
Irgendwann dann auch zum eigentlich stockreaktionären SPD-OB Zundel. Irgendwann hat den seine stockreaktionäre Haltung einfach nicht mehr gehindert, mit der Free Clinic konstruktive Dinge abzumachen – die dann auch prompt umgesetzt wurden.
Und noch ein Fall von terrestrischem Zwergen-Paradox
Anderes Beispiel war das AKW Philippsburg, das in den Siebzigern für 50 Millionen Mark neue Technik bekam – wegen einer Gruppe von Protestlern, zu deren Peripherie auch ich gehörte, und die man sich alles in allem genommen hinfälliger nicht vorstellen kann: Es wimmelte nur so von Versagern jeglicher Couleur, angefangen vom Muttersöhnchen mit der Zahnlücke und dem Mundgeruch über intellektuell unzurechnungsfähige anarchistische Gärtnergesellen (nein, ich erfinde nix! – ich war mit denen befreundet, es waren anarchistische Handwerker – ich glaube Konstantin Wecker wäre heute ihr größter Fan...), bis hin zum Junkie, der mit dem großen Citroen-Kombi vorfuhr und immer mindestnes zwei drei Freundinnen dabei hatte, bis zum schlichten Freak und dann aber doch: Dem einen oder anderen »Revolutionär«.
Auch da: Institutionelle Politik nur vertreten durch ein paar Sozialdemokraten und ein paar gewerkschaftsorientierte linke (=»fortschrittliche«) Nat-Wissler von den umliegenden Unis, die allerdings eine große Hilfe waren. Nun gut: Die Grünen gab es erst in statu nascendi – ebenfalls in der Free Clinic hausend – u. a. den legendären Untergrundverleger Werner Piper (»Die grüne Kraft«), der aber damals in erster Linie Knastarbeit machte...). Oh Gott, oh Gott
@ Gregor Keuschnig Nr. 106
solche Dtail interssieren mich eigentlich wenig, aber ich kann und will nicht ausschließen, dass einiges an ihnen hängt. Ihr konkreter Vorschlag wäre mir zu steril.
@Dieter Kief
Mich interessieren »solche« Details auch nicht, weil ich mir solche Sendungen nicht mehr anschaue. Es war nur ein Versuch.
@Joseph Branco, Dieter Kief, Gregor, die kalte Sophie#83, #84, #86, #87
Man kann Populismus dechiffrieren ohne sich um Motive zu kümmern, ja ohne sie zu kennen: Ein Populist argumentiert nicht und er muss wirken, denn er agiert populistisch, weil er jetzt etwas erreichen will (er muss der Wirkung wegen überzeichnen und verlässt deshalb – nicht nur deshalb – den Weg einer stringenten Argumentation). Man muss wohl feststellen, dass Müller da scheitert. Insofern aber ist die Unterscheidung für den Bürger in der Praxis eigentlich gar nicht so schwierig (man muss nur überlegen wie die Begründung einer Aussage aussieht und ob sie plausibel ist; ihr Stil ist zumindest ein Hinweis). — In der Praxis der Wahl kann man auch taktisch bzw. strategisch wählen, wenn man das möchte.
Dass die personellen und moralischen Aufladungen leider auch Ideen desavouieren habe ich bei einer Bekannten beobachtet: Es wurde nicht mehr zwischen Idee und Person getrennt (in dem Fall die einer föderalen EU und dem Präsidentschaftskandidaten Hofer, der sie vertrat, allerdings ohne irgendwann genau zu sagen, was er eigentlich damit gemeint hat).
@Leopold Federmair, #85
Ich habe mir dem Titel des Buchs folgend eigentlich keine soziologische Analyse erwartet (und Sie haben recht, mich hat der lockere Stil auch überrascht). Selbstverständlich wäre sie interessant, aber: Wenn dann müsste sie, nicht nur, aber vor allem bei diesem heiklen Thema, empirisch fundiert sein; das wird allerdings rasch aufwändig und im Ergebnis tendenziell uneindeutig sein (also mit vielen Einschränkungen verbunden). — Ich kenne Enzenbergers Buch nicht, aber so wie die Zitate auf mich wirken, ist das bessere Spekulation (das ist in Ordnung und interessant, aber was ich wissen will, ist nicht nur welche Logiken theoretisch möglich sind, sondern ob sie zutreffen, also Erklärungswert besitzen).
@Doktor D, #89
Ein guter Punkt, dennoch: Politiker sollten doch zumindest wissen was sie zu wem sagen, wenn ich das einmal salopp formuliere (Vielleicht ist meine Erwartungshaltung unrealistisch, aber eine Verhandlung, eine Fernsehdiskussion, ein öffentlicher Auftritt, ein Interview, etc., sind doch verschiedene Dinge, verschiedene Situationen in denen man sich automatisch anders verhält [und eben: anders spricht]; ich vermute da schon auch noch andere Ursachen wie Politikberatung, Redetechniken,...).
@metepsilonema: Ja klar sind das Unterschiede. »Der ist ja in Wirklichkeit voll nett und richtig gescheit.« gehört sicherlich zu den häufigsten Aussagen, die ich von Leuten gehört habe, die einen Politiker mal im direkten Gespräch erlebt haben, nicht medial vermittelt. Deswegen halte ich eine zu große Dissonanz zwischen Wahlkampfrhetorik und anschließendem Koalition für gefährlich. Das schürt das Misstrauen, zumal eine gewisse Konsistenz im Auftritt im Prinzip das einzige ist, nach dem Wählende PolitikerInnen beurteilen können.
Und gerade weil man als Politiker in DE ab Landesliste rhetorisch und verhaltenstechnisch durchgeschult wird (Habitus-Feinschliff quasi), halte ich die Idee, der ja auch viele Journalisten anhängen, in Interviews & Talkshows & TV-Debatten irgendwas informatives herauszubekommen für eine weitgehende Überschätzung des Formats selbst. Das ist strukturell auf Soundbytes & Personality Show ausgelegt, nicht auf Debatte, zumal die Moderatoren ihre eigene Agenda haben (müssen), den Most outrageous Soundbytes zu provozieren, denn sie dann in die sozialen Medien blasen können. Deswegen lieben die QuatschShows so die AfD: da haben sich Arsch und Eimer gefunden. Ich bin mittlerweile davon überzeugt, dass die meisten politischen TV-Formate Politik systematisch verstellen u. Teil des Problems sind. Apotheosen der Blödmaschine.
Sachlicher Jounalismus hieße mE., an den Sachen selbst arbeiten, nicht an den Persönlichkeiten.
@Doktor D
Ich bin mittlerweile davon überzeugt, dass die meisten politischen TV-Formate Politik systematisch verstellen u. Teil des Problems sind.
Das sehe ich genau so. Die durchgehende Personalisierung von Sachproblemen gehört wohl zur journalistischen Kernausbildung. Damit werden zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Zum einen liefert dies wunderbare, knappe Schlagzeilen. Und zum anderen entlastet es den Journalisten von Sachkenntnis. Es ist ja auch unmöglich, dass Plasberg oder Will oder wer auch immer zu all den jeweils verhandelten Themen detaillierte Kenntnisse haben. Daher gibt es Redaktionen, die ihnen auf Kärtchen die Fragen und womöglich ein paar Stichworte notieren. Wenn dann – durch Zufall – die Diskussion »droht«, sich zu sehr der Sache zuzuwenden, wird eben abgebügelt. Für Politiker sind solche Sendungen eine wunderbare Bühne der Selbstdarstellung. Sie wissen, dass, wenn sie Unsinn reden, in der Regel niemand ad hoc in der Lage ist, Gegenbeweise aufzuführen.
Neue Parteien wie die AfD sind in der Tat ein Segen für solche »Formate«. Wenn ein AfD-Vertreter irgendwo eingeladen ist, beißen sich die anderen Gäste an ihm fest. Da braucht man dann erst recht keinerlei Argumente mehr. Es reicht der Empörungsgestus.
Wenn man so will sind diese Polit-Talkshows Populismusbeschleuniger. Und das gilt in beide Richtungen. Aber dass das Fernsehen per se eine »Blödmaschine« ist, bestreite ich. Nicht das Fernsehen ist blöd, sondern diejenigen, die es in dieser Form trivialisieren.
QuatschShows als Populismusbeschleuniger – genau! Sehr treffende Formulierung. Ob das Fernsehen an sich nicht eine Blödmaschine ist, darüber bin ich mit mir uneins. Man kann mit Bewegtbild unglaublich großartige Sachen machen, die einem beim Anschauen klüger machen (Kluge, Farocki, die v. DokumentarfilmerInnen u. Reportagen), aber mir scheint die Verführungskraft des Mediums mit Krawall & anderen Schauwerten das Denken zu verblöden für die meisten Macher zu groß zu sein. Vor allem im Politikjournalismus.
Ich schaue fast nie Fernsehen, nur noch aus der Mediathek. Fußballgroßereignisse sind dann meine Gelegenheit, mal wieder Nachrichten zu schauen. Eine Zumutung, auf die man als Programmverantwortliche aber wohl stolz ist. Dito Talkshows. Diese Aussagen der Verantwortlichen lassen mich stark daran zweifeln, dass sie einen Begriff von den Möglichkeiten ihres Mediums haben (wollen).
Zur Politik-Vermittlung: Die AfD ist spannend im Moment, keine Frage. Ich meine, sogar die Talk-Show profitieren von dem suspense: Ist das ein gut getarnter Nazi oder nur ein cholerischer Neo-con?! –So weit ich das beurteilen kann, denn ich meide die Formate, und stecke höchstens 5min meine Nase rein.
Wie ist eure Einschätzung für das Potenzial des Rechts-Populismus in Deutschland?! Auch bei Müller findet sich keine Einlassung auf die verzögerte Entwicklung der AfD, gegenüber Holland oder Frankreich glatt um 30 Jahre. Eine Ungleichzeitigkeit, die irrelevant ist, weil man ohnehin nur Formalia bespricht?! Alles hat seine Zeit, und die zeitlichen Umstände sind sogar die Voraussetzungen für Geschichte.
Eine seltsame Entstehungsgeschichte, die aus Deutschlands Osten gespeist wird, der Hoffnung auf ein Kollektiv, welches keine westliche Gesellschaft mehr aufweist... Ohne Nachschauen: woher weiß ich, dass JWMüller in Westdeutschland »habitualisiert« wurde?!
Mir ist nicht nur die zeitliche Verzögerung in Deutschland aufgefallen, ich billige der AfD auch weniger Potenzial zu. 15%... Es sei denn, die Konservativen zerlegen sich endgültig, und die Überläufer chartern die Partei. Aber bei einer Kohabitation wird wohl nicht mehr daraus. Vor dem Hintergrund dieser Prognose wäre zu klären: warum ist das Potenzial der Rechtspopulisten in fast allen Europäischen Vergleichsländern doppelt so hoch?!
@Doktor D
Die Möglichkeiten des Mediums werden nicht ausgeschöpft, weil sich insbesondere das öffentlich-rechtliche Fernsehen unter einem immensen Legitimationsdruck befindet bzw. dies glaubt. Dies ist nicht zuletzt der Diskussion um die »Zwangsabgabe« geschuldet. Wichtige und interessante Sendungen werden entweder in die Nischenkanäle (3sat, Arte) oder zu nachtschlafender Zeit gesendet. Es gibt keine Risikobereitschaft mehr gegen bestimmte triviale Formate bspw. von Privatsendern etwas Anspruchsvolles zu setzen, wenn es am nächsten Tag heißt, der Marktanteil sei nur bei 5% gewesen. Passiert das 2–3 x kommen die Kritiker mit dem Elitarismus-Vorwurf daher.
(Kluge findet mit seinem dctp auf RTL und Sat.1 statt.)
@die_kalte_Sophie
Müller schreibt von 10% bis 15% für populistische Parteien, die »immer drin« seien, so zitiert er (ohne diese Quellen zu nennen). In der Empörung über die AfD wird leicht vergessen, dass beispielsweise die Republikaner 1992 in Baden-Württemberg 10,9% erhielten (kein Bundesland, in dem Depravierte leben). Die eigentliche Überraschung war dann, dass sie 1996 noch einmal 9,1% schafften. Erst 2001 flogen sie raus (4,4%). Die Republikaner waren (sind?) stärker rechtsradikal eingestellt als große Teile der AfD.
Bisher hatten sich DVU- und NPD-Fraktionen in Bundesländern immer irgendwann selber zerlegt. Ich kenne Leute, die 2013 die Lucke-AfD bei der Bundestagswahl gewählt hatten, weil dort für sie ehrenwerte Kandidaten waren. Diese sind jetzt erschüttert über die Petry-AfD. Gleichzeitig dürfte die AfD besonders in den Landtagen die NPD-Stimmen aufnehmen, aber eben auch viele Nichtwähler wieder motivieren.
Die aktuellen 15% in den Vorhersagen halte ich nur für eine Momentaufnahme (wie es bei einem Anschlag in D aussehen würde, weiß ich allerdings nicht). Die Gefahr besteht, dass insbesondere die CDU einen gewissen Anteil an die AfD verlieren wird (wenn denn etliche konservative CDU-Wähler nicht gleich zu Hause bleiben).
Dass in Deutschland rechtspopulistische Parteien weniger Stimmen bekommen als in anderen europäischen Ländern hat mit der Geschichte zu tun. Damit ist auch erklärt, warum Linkspopulismus immer noch als fortschrittlich gilt.
Gut, wenn man kollektiv den Faschismus und den Sozialismus schon ausprobiert hat, lässt natürlich auch der Drang irgendwo nach. Die unbelegten Zahlen sind mir auch aufgefallen, ich fürchte, es handelt sich um umstandslose Übertragungen aus den »Rechtsextremismus-Forschungen«. Deshalb besser unbelegt. Aber ich komme zu derselben Schätzung, eben wie Sie sagten: geschichtliche Erfahrung.
Was mir aus der Forschung noch fehlt: alle Rechtspopulisten scheinen sich auf die zwei-Themen-Situation in Europa eingestellt zu haben, Europäische Verträge und Migration, nur bei der AfD sieht es so aus, als wäre die Einwanderer-Frage eine Spätgeburt, die sich aus aktuellen Bezügen speist. Darf man vermuten, dass das Thema lange schon latent vorhanden war?! Beide Themen bieten die Komplexitätsreduzierung mit der Forderung nach nationaler Souveränität geradewegs an. Und beide Themen scheinen auch ungeeignet (so meine Einschätzung) für integrative und pluralistische Verfahren, weil sie sehr stark Interessen-dominiert sind. Es gab ja schon die ironischen Vergleiche von @Dieter, in der Beschreibung von Gabriel, der Prototyp des spätmodernen Allround-Politikers, der sich immer wieder prüfen lassen muss, ob er wirklich kein »Eigeninteresse« mehr im Blut hat.
Wollt ihr die dto-dtale Interessen-Vertretung ohne Selbstbezug?!
[Man hört Hintergrundlärm, Rauschen, tosender Applaus vom Band...]
Das Gegenteil eines Nazis: ein Mensch, der zwischen allen Interessen-Ansprüchen vermitteln kann, solange sie nicht NATIONAL konnotiert sind. Doppelte Exklusion, weder Vertretung noch Vermittlung.
Ist die Wahrung nationaler Interessen dem Populismus nicht förmlich in die Kinderschuhe geschoben worden, als politischer Rest, als pudendum?!
Der informatorische Wert solcher Veranstaltungen tendiert gen Null.
Meine Frage war, ja, an welcher Stelle Politik denn dann einer breiteren Masse vermittelt werden kann. Aus dem Ohrensessel zu rufen, Fernsehen ist blöd, ist zu einfach, da es weiterhin das Hauptmedium ist. Überlässt man dann die Politikvermittlung Springer, Funke-Gruppe und Holtzbrinck? Das kann es doch nicht sein. Demokratieabgabe war ein ziemlich provokanter Begriff, aber ohne eine Alternative genannt zu haben, bleibt die schnöde Kritik am öffentlich rechtlichen Rundfunk wohlfeil. Ich lese selbst lieber und schaue kaum Fernsehen, aber ich sehe auch täglich, dass ich kein Maßstab bin.
@Joseph Branco
In den Kommentarspalten sozialer Netzwerke oder von Onlineforen werden fernsehkritische Beiträge fast immer von denen zuerst kommentiert, die das Bekenntnis ablegen, schon seit X Jahren keinen Fernseher mehr zu besitzen (was streng genommen nicht bedeutet, dass sie keine Fernsehsendungen schauen). Fernsehbashing ist schlichtweg »in«. Aber das Medium bzw. die Verantwortlichen haben ein gerüttelt Maß Anteil daran. Der Bildungs- und Kulturauftrag hängt längst vergilbt in der Rumpelkammer der Intendanzen und Redakteure. Was zählt sind Zahlen und Schlagzeilen. Alles muss einfach und eingängig sein. Das ESM-System ist aber schwierig darzustellen. Die Unterschiede zwischen Flüchtling, Asylsuchenden und Einwanderer sind frappierend. Studien müssen in Gänze gelesen werden, nicht nur die Pressemitteilungen hierzu. Dies alles findet kaum Berücksichtigung und man fragt sich: Warum?
Politik kann nur dahingehend noch vermittelt werden, dass man sich fachlich damit auseinandersetzt. Dafür müssen aber Journalisten entweder zurücktreten (weil sie immer den einfacheren Weg gehen) oder, besser, sich in Sachthemen einarbeiten. Dabei ist es auch notwendig, die eigene Meinung so weit wie möglich hinten an zu stellen.
Das ist alles richtig. Aber Ihre Kritik ist nicht besonders konstruktiv. Wolfgang Herles, auch nicht so ganz mein Fall, beschreibt deutlich, dass bei Entscheidern nur noch die Quoten zählen. Aber wer kritisiert, sollte auch machbareAlternativen nennen. Die habe ich bisher nicht gehört.
@Joseph Branco
Wo steht geschrieben, dass Kritik zwingend konstruktiv sein muss? Muss ein Literaturkritiker besser scheiben können? Ist es sicher, dass wir, weil wir hier so filigran das Populismus-Buch von Müller kritisieren, ein besseres Buch darüber geschrieben hätten? Was wäre die Konsequenz aus einem »nein«? Lessing hat mal sinngemäss gesagt, dass ich kein Koch sein muss um festzustellen, dass die Suppe versalzen ist.
Vorschläge gibt es zuhauf: Bessere Sendezeiten für Features, Dokumentarberichte und Kultur. Raus aus den Nischensendern – rein ins Hauptprogramm. Warum nicht den Sport auf »einsfestival« oder sonstwo statt im Winter zehn Stunden Biathlon, Bob- und Rodel und Ski alpin in der ARD? Warum überall nur noch Krimis? Freitags Abends in den Dritten Programmen: Promi-Talkshows, in der immer die gleichen immer den gleichen immer de gleichen Fragen stellen. Was ist aus »III nach 9« geworden. Smalltalk für Promifetischisten.
In den Anstalten sitzen Tausende sehr gut bezahlter Redakteure und Entscheider, die eigentlich genau wissen, was sie machen müssten. Und da soll ich Vorschläge machen?
Und jetzt bin ich auf Ihre machbaren Alternativen gespannt...
Kritik sollte dann konstruktiv sein, wenn es um die Basis des Zusammenlebens geht. Und gerade weil ich keine Alternative kenne, hatte ich den Punkt angestoßen. Es hätte mich tatsächlich interessiert, ob jemand sich einen Weg vorstellen kann, der das Lamento gegen vermittelte Fakten tauscht. Wenn man sagt, das hat doch eh keinen Sinn, verändert das den Anspruch an die Politik schon.
@Joseph Branco
Hier hatte ich einen kleinen Versuch gemacht. Mein Vorschlag für Landtagswahl-Debatten: Jeder Kandidat trägt 5 Minuten die Schwerpunkte des Wahlprogramms vor. Danach gibt es 10 Minuten Fragen. Alles hintereinander; ohne Diskussionen untereinander. Am Ende eine Bilanz durch Journalisten – Gegenüberstellung von Positionen, Gemeinsamkeiten/Unterschiede.
Kennen Sie die Sendung »Pro und Contra« noch? Das Format wird teilweise wiederbelebt: Eine Art Gerichtsverhandlung über ein Thema – mit Anwälten, Experten, Plädoyers. Abstimmungen im Publikum gab es vorher – und nachher. Sowas lief in den 70ern – glaube ich – um 20.15 Uhr oder 21.00 Uhr. Nebeneffekt: Rhetorische Schulung .
@Joseph Branco, #97
Ich bin im Grundsatz bei Ihnen: Was auf einer niedrigeren Ebene genauso gut (oder besser) wie (als) auf einer höheren erledigt werden kann, soll dort erledigt werden. Technokratie und Bürokratie tendieren wohl zu einer zentralistischen Lösung (dazu kommt dann die Rede von der Schwäche der Nationalstaaten). Allerdings darf man nicht übersehen, dass Machtpositionen auf den unteren Ebenen mit den höheren in Konflikte geraten können, schon rein aus Eigeninteresse heraus (in Österreich können wir ein Lied davon singen; der Wiener Bürgermeister etwa setzt eine vom Bund beschlossene Pensionsreform für Beamte nicht um, weil er, wie er ganz unverblümt feststellt, ja auch Wahlkampf in Wien führen müsse; das kann es dann auch nicht sein). — Das System muss ausgefeilt und durchdacht sein.
Zu den medialen Formaten: Im ORF gibt es die sogenannte Pressestunde; dort wird ein Politiker oder eine andere Person öffentlichen Interesses von einem ORF-Journalisten und einem Kollegen eines Printmediums befragt; ich verlinke ein aktuelles Beispiel mit dem scheidenden Rechnungshofpräsidenten Moser. Die Konstellation ist trocken und reduziert, wenn alle Beteiligten wollen (sie selbst und ihr Wollen ist entscheidend), dann kann man dort sicher belastbare Aussagen gewinnen und Details herausarbeiten (Dauer: Etwa eine Stunde.)
Weil die unmoderierte Diskussion zwischen Hofer und van der Bellen solche Wellen geschlagen hat: Es gab bereits vor einiger Zeit einen Reaktivierungsversuch, der besser glückte, die sogenannte große Konfrontation der Kleinen (ein Beispiel dort, die anderen beiden findet man über die Leiste rechts.). Ich habe es mir jetzt nicht wieder angesehen, aber es war auf jeden Fall besser als das jüngste Experiment. Wer den Klassiker (das Vorbild) nicht kennt, dort (ich hatte das irgendwann schon einmal verlinkt).
Noch zum Medium Fernsehen: Selbiges beschäftigt zwei Sinne, sich auf einen Film zu konzentrieren ist einfach, das funktioniert quasi von selbst, mit dem Nebeneffekt, dass man rasch passiv dahin dämmert (wie oft erzählt mir jemand, er sei vor dem Fernsehen eingeschlafen). Das ist m.E. das eine Grundübel: Das große (und vielfach schlechte) Angebot verleitet zudem zur Passivität; das andere ist, dass fulminante Optik und ebensolche Klangqualität (»Heimkino«) Äußerlichkeit fördert. Wie weit das auf eine Erwartungshaltung seitens der Konsumenten trifft, sei dahingestellt (jedenfalls mag ein anstrengender Arbeitsalltag zu einer solchen Art der Entspannung einladen). Daraus ergibt sich, dass findige Köpfe dieses Medium zur Selbstdarstellung und zum »Verkauf« (zur Bewerbung) wovon auch immer nutzen können und weiter, dass das Fernsehens immer dort schwach ist, wo seine Mittel (Optik) im Überschuss vorhanden sind; es blendet dann bloß. Die meisten politische Sendungen brauchen kein Fernsehen, das Radio und die Konzentration auf das gesprochene Wort genügen vollauf (erst bei einer sehr großen Runde wird man das Fernsehen vorziehen, weil man dann besser folgen kann). Und ich glaube auch, dass man im Regelfall einem Radiobeitrag besser zuhört (und zuhören muss), als einer vergleichbaren Sendung im Fernsehen, einfach weil die Bindung durch unser visuelles System wegfällt (wir sind »Augentiere«).
Gregor Keuschnig
Jetzt wo Sie es sagen, ja das war ein tolles Format. Ich glaube, dass ich dort tatsächlich gelernt habe, dass nicht alles einfache Lösungen hat. Man wird nur darauf verzichten müssen, Spitzenpersonal zu involvieren. Schlecht für die Quote, aber gut für das Verfahren.
metepsilonema
Das Ringen um die gute Lösung, stört mich gar nicht so sehr. Auch eher unschöne Kompromisse werden sich nicht vermeiden lassen. Hier hilft nochmal der Blick in die USA. Das amerikanische Verfahren zwischen Kongress, Senat und Präsident scheint für uns unendlich mühsam, war aber auch sehr stabil. Erst durch die zerstörerische Blockadehaltung der Teaparty, da sind wir wieder bei den Populisten, geriet das System ins Wanken. Nur, es muss auch tatsächlich zwischen den Interessengruppen gerungen werden, ohne zu viel Hinterzimmer und Alternativlosigkeit.
Eine Stunde für einen Verwaltungsmenschen ist tatsächlich viel. Ich hatte gehört, das Thema ist in Österreich gerade virulent (man entschuldige meine Unkenntnis)?
Auch den Verweis auf das Radio finde ich zutreffend., kann mir aber kaum vorstellen, dass man größere Anteile der Bevölkerung davon überzeugen kann. Der Marktanteil des Deutschlandfunkes, der Informationskanal des öffentlich rechtlichen Runfunkes in Deutschland, hat einen Marktanteil um 1%.
@Joseph Branco, #125
Das Ringen stört mich auch nicht, ich glaube nur, dass ein föderales System sehr gut durchdacht sein muss und »irgendeines« nicht reichen wird (Ich weiß nicht, kann ein präsidiales System Vorbild für politische Organisation der EU sein?)
Virulent war in Österreich gerade die Kür der Nachfolgerin; die ÖVP hat durch taktisches Agieren ihre Kandidatin durchgebracht und den Koalitionspartner düpiert (der musste zähneknirschend zustimmen, um den Koalitionspakt nicht zu brechen). — Tatsächlich sind das alltagspolitische Spielereinen; man sollte sich eher um die Probleme des Landes kümmern (zur Zeit sieht der sogenannte »new deal« wie alter Wein in neuen Schläuchen aus).
In Österreich ist das ähnlich, auch wenn ich aus dem Stegreif keine Zahlen nennen kann; die größte Reichweite hat der Sender Ö3, der mit dem Begriff »Infotainment« noch freundlich beschrieben ist.
@Joseph Branco und @metepsilonema
Das Radio hat ja längst einen ganz anderen Stellenwert erhalten. Als »Massenmedium« ist es nur noch dahingehend zu bezeichnen, dass es als Musikberieselungsmaschine dient. Anhand des Radiosenders WDR2 kann ich das sehr gut ausmachen. In meiner Kindheit und Jugend gab es dort Magazin-Sendungen, die im Wechsel mit Musik Wortbeiträge zu aktuellen politischen und kulturellen Themen lieferten. Die dauerten auch schon mal fünf oder sechs oder vielleicht auch mal zehn Minuten. Zunächst gab es im Westdeutschen Rundfunk drei Radioprogramme. WDR1 wurde zusammen mit dem NDR produziert. Es gab Hörspiele, Features aber auch Unterhaltung. WDR2 galt als Informationssender mit zumeist populärer Musik. WDR3 war »Kultur«: klassische Musik, Opern, Hochkultur. Irgendwann kamen dann noch WDR4 und WDR5 dazu. Der Infosender ist jetzt WDR5. WDR2 macht nur noch Dudelfunk mit ganz kurzen Beiträgen. Er ist von den lokalen Privatsendern kaum noch zu unterscheiden. WDR1 ist längst vom NDR getrennt und heißt jetzt »1Live« – Popmusik bis zum Abwinken (aktueller als in WDR2). WDR4 bringt Schlagermusik. WDR3 immer noch Klassik, aber da gab/gibt es Bestrebungen, dies aufzuweichen. Immer wenn das Wort »Programmreform« ertönte bedeute dies ein Zurückfahren des anspruchsvollen Programms zu Gunsten massentauglicher »Formate«.
Ähnliches gibt es von allen Landesrundfunkanstalten der ARD. Kein Mensch fragt, ob der BR, WDR oder SWR diese Anzahl von Radiosendern braucht, die sich fast nur dadurch unterscheiden, dass sie eine andere Musik spielen. Die Infokanäle sind übrigens nicht besser. Neulich hörte ich mal einen solchen Sender im Auto: Er brachte alle 15 oder 30 Minuten die mehr oder weniger gleichen Einspieler-Beiträge. DLF und Deutschlandradio Kultur sind die Ausnahmen; das, was ich Nischensender nennen würde.
Ich behaupte, dass einem durch den Dudelfunk das genaue Zuhören ein Stück weit abtrainiert wurde; es ist einfach nicht mehr notwendig. Mein Radiokonsum beschränkt sich inzwischen auf das Abonnieren von Podcasts, die dann je nach Interesse herunterlade und bei Gelegenheit höre. Der Gewinn ist enorm; die Diskussionsendungen, die bspw. auf SWR2 angeboten werden, haben fast immer Substanz. Der Drang der Diskutanten zur Selbstinszenierung ist im Radio praktisch kaum gegeben. Und auch das Wissen, dass die Sendung nur von ein paar Tausend Leuten gehört wird (die sich dann aber wirklich für das Thema interessieren) dürfte zur Versachlichung beitragen. Das Fernsehen »verdirbt« in dieser Hinsicht.
Ein wenig zurück zu Müller. In der LRB schreibt er über den Zustand der EU und Anti-EU-Kampagnen & ihren Hang zum Populismus http://www.lrb.co.uk/v38/n11/jan-werner-muller/europes-sullen-child
Wg. Funk u Fernsehen
Ich gucke schon Talkshows. Oft mit Gewinn.
Das hier immer wieder aufscheinende Kritierium, dass dort nicht argumentiert werde, sondern nur vorgestanzte Statements abgeliefert oder eingeübte PR-Stunts vollzogen würden, trifft einen Aspekt, aber nicht die Sache in ihrer Gänze.
So pauschal vorgebracht, ist die Kritik glaubich auch nicht sehr produktiv.
Deshalb: Die Wahrheit ist immer konkret: Wo werden welche Inhalte gut verhandelt? Und welche Inhalte werden nicht verhandelt – und warum.
Die Idee, man könne die Grenze nicht schützen war für mich ein perfektes Beispiel. Der Fortschritt (ja, der Fortschritt) ist gering, aber ich glaube es gibt einen Fortschritt in dieser Debatte: Dahingehend, dass die anfangs erhobene pauschalen Unmöglichkeitserklärungen nach und nach verschwunden sind.
Wie immer heutzutage: Das mag einem irrelevant, banal, marginal erscheinen, das mag einen anmuten wie die völlige quantité négliable usw. – als vollkommen eitel: Aber doch, aber doch: Diese Bewegung innerhalb des Fernsehdiskurses hat stattgefunden.
SWR 2 Forum höre ich auch gelgentlich.
Der beste Radiosender hier im Süden: DRS II
Schwer abgebaut hat das lange sehr gute Bayern II Kulturjournal (So 18.00 Uhr). Es hängt auch an Personen: Peter Hamm war offenbar nicht zu ersetzen.
@Doktor D
Danke für den Link. Ich habe den Text überflogen; das, was er über den Populismus schreibt, steht ja praktisch alles im Buch. Ansonsten ist eine Mischung aus EG/EWG/EU-Historie und Plädoyer für den Verbleib der Briten in der EU.
Bei solchen Sätzen stolpere ich dann:
In London’s eyes, the EU notion that ‘deepening’ and ‘enlarging’ could be accomplished at the same time was obviously an illusion: enlargement would be at the expense of further integration.
Wieso beschränkt er das auf »London’s eyes«? Bis weit in den 1990er Jahren galt in Frankreich »Vertiefung vor Erweiterung«. Ich kann mich dunkel daran erinnern, dass das auch lange die Position bspw. von Fischer war. Dann kam seine Rede 2000, die er als »Privatmann« gehalten haben wollte, in der er die Erweiterung nicht zuletzt auch als ökonomische Chance für Deutschlands Exportindustrie angesehen hat.
Tricky finde ich Müllers Begründung gegen den Vorwurf des alles berrschenden EU-Monsters (Enzensberger) in Brüssel:
Brussels has very limited legal means of intervening to safeguard democracy and the rule of law in member states, though these are ‘values’ which, according to the Lisbon Treaty, all EU countries have to respect.
Die Beispiele sind Polen und Ungarn – hier muss die EU praktisch zusehen, wie demokratische Standards eingeschränkt werden. Es ist gefährlich, dies indirekt pro-EU zu konnotieren.
Das Drohszenario, dass er dann entwirft (Auseinanderfallen des UK [and especially a former UK], weil Schottland neu abstimmen möchte und dann auch noch Sezessionen in Belgien, Spanien und Italien heraufbeschwört) – und dann die Feststellung, dass Deutschland noch stärker in Europa würde: ist das nicht auch schon verdammt populistisch? (Kein Vorwurf an JWM!)
Über den Brexit ließe sich vieles sagen. Ich glaube, dass es nicht dazu kommen wird. Ehrlich gesagt, wäre es mir aber egal.
Armin Nassehi zum Populismus http://www.welt.de/debatte/kommentare/article156108787/Die-sogenannte-Mitte-ist-ein-unlogischer-Ort.html
Nassehi versucht sich dem Phänomen Populisms funktional zu nähern.
Zum BREXIT:
Ich muss gestehen, dass mich schon interessieren würde, wie die EU mit einer solchen »Erschütterung der Macht« umgehen würde. Aber wenn man Müller Analyse aus dem LRB zustimmt, ist sie ja im Moment schon fast vollkommen dysfunktional. Aber nach dem Mord an Jo Cox gehe ich davon aus, dass Remain gewinnen wird. Aber das Referendum scheint ein gutes Beispiel dafür zu sein, wie wenig Referenda dazu taugen, Demokratien zu stabilisieren.
@Doktor D
Aber das Referendum scheint ein gutes Beispiel dafür zu sein, wie wenig Referenda dazu taugen, Demokratien zu stabilisieren.
Das verstehe ich nicht. Wieso ist denn plötzlich die britische Demokratie instabil geworden, nur weil es ein Referendum über den EU-Austritt gibt? Ist die Schweiz ein instabiles Land wegen ihrer »direkten Demokratie«? Haben die in Norwegen zwei Mal abgehaltenen (und gescheiterten) Referenden zum EG- bzw. EU-Beitritt (1972 und 1994) das Land in demokratische Turbulenzen gestürzt? Oder sind Referenda immer nur dann gut, wenn sie am Ende das »richtige« Ergebnis aufzeigen?
Aus dieser Haltung strömt für mich ein seltsamer politischer »Alternativlos«-Paternalismus, der am Ende zur zu faul ist, vernünftig aufbereitete Argumente für die (vermeintlich) richtige Sache zu finden und entsprechend an den Mann, an die Frau zu bringen. Gestern zu Beginn eines Phoenix-Gesprächs mit Timothy Garton Ash wurde dieser gefragt (ab 05:25): »Was haben wir [die EU] denn eigentlich von England?« (Er verwendete unglücklicherweise »England«). Die Antwort von TGA war bezeichnend: Verdutztes Gesicht, Wiederholung der Frage und dann: »Glauben wir [sic!], die Frage ist notwendig?« Es war für ihn unwürdig, diese Frage auch nur zuzulassen; entsprechend fällt auch die Antwort aus. Referenden könnten, wenn in ihnen klug debattiert wird, solche liefern.
Müller ist langsam Ehre getan.
Die Garton Ash Beobachtung ist interessant.
Die betagte Dame, die hier am See den English Bookshop führt, ist von nix so bewegt wie vom Tod von Jo Cox. Tief bewegt. »Zu viel Emotionen« sagte sie mir heute Nachmittag (cf. Edmund Burke....Nr. ?? – weiß nicht mehr).
Ich blicke auf die bisherige Debatte zurück: Ohne Reue. Ich z. B. fotografiere und habe, wenn ich morgens im ersten Licht meist im Wald unterwegs war, wiederholt den einen oder anderen Satz von hier als fernes Echo im Kopf gehabt – das ist nach meiner Erfahrung sehr viel.
– Viele Grüße an alle! Und vielen Dank an Gregor Keuschnig! Sie haben hier etwas, das mich an einen Salon denken ließ – - naja, auch das im Wald
@gregor keuschnig:
Um die Volksbefragung überhaupt in die Wege leiten zu können, musste das Parlament einige Klimmzüge machen – denn das Konzept passt überhaupt nicht zum sonstigen institutionellen Aufbau in UK. In div. englischen Medien häufen sich die Stimmen, die das – vor allem auch wegen der Verrohung im politischen Diskurs, die man als wichtigstes Ergebnis der ganzen Übung ansieht – für eine absolute Schnappsidee halten, zumal in UK schon relativ lang eine BREXIT-Partei wählen kann, die UKIP.
In der Schweiz sind Volksbefragungen ganz anders institutionell eingebunden – auch weil die Regierung selbst auf dem Proporz- und Konsensprinzip beruht. Da ist die GroKo ja gewissermaßen der Normalzustand, den man mit dem Volksbegehren in Permanenz ausbalanciert. Und ne Menge Schweizer halten das mittlerweile selbst für gar nicht so brillant.
Mehr direkte Demokratie in der Form von Volksbegehren und ‑befragungen wird ja auch in DE gerne als Mittel gegen die Entfremdung zwischen Wahlvolk und Politikern gesehen. Ich halte das für blauäugig und sogar kontraproduktiv: So zu tun, als könne man schwierige Fragen inkl. ihren Folgen per einmaligen Volksbegehren klären und dann müsse man das Ergebnis halt einfach umsetzen – das provoziert ja geradezu die Desillusionierung und Enttäuschung, wenn’s dann halt doch viel komplizierter wird, und diskreditiert und desavouiert den demokratischen Prozess noch ein bisschen mehr. Gerade weil ich dafür bin, dass viel mehr Dinge von den Leuten selbst entschieden werden sollten, stehe ich Volksbegehren und Verwandtem eher kritisch gegenüber. Wenn, muss es so laufen wie in der Schweiz, wo Volksbegehren auf allen Ebenen angestoßen werden können, dass Prozedere gut definiert ist und dieser Ad-Hoc-Status, mal als Politiker eines einzuberufen, wenn’s einem gerade passt, unmöglich ist.
@Dieter Kief
Danke für Ihre Beteiligung und die aufmunternden Worte. Der Salon ist natürlich nur so gut wie die Gäste darin.
@Doktor D
Das Argument, dass die Schweiz das gewohnt ist, kann ja nicht dafür verwendet werden, dass die anderen für immer und ewig zu doof dafür sein sollen. Ja, die Schweiz ist eine Konkordanz-Demokratie, aber eben weil die Parteien alle sehr auf ein Miteinander ausgerichtet sind, werden eben strittige Fragen direkt abgestimmt. Dass das von einigen inzwischen kritisch gesehen wird, ist auch logisch; zumeist sind es diejenigen, die unterlegen waren.
Richtig ist, dass man in jedem Fall auf kommunaler Ebene damit anfangen sollte, was ja auch vielerorts schon geschieht. In Düsseldorf gab es in den 2000er-Jahren einige Entscheidungen, über die abgestimmt wurde. Oftmals erreichte man nicht einmal die Mindestbeteiligung. Mein Eindruck geht dahin – ich wiederhole mich da – dass die meisten eher über Kriegseinsätze, den ESM oder über den Bundespräsidenten abstimmen wollen (alles Punkte, bei denen ich keine Möglichkeiten für eine irgendwie geartete Bürgerbeteiligung sehe) als über eine Umgehungsstrasse oder die Frage, ob ein Gebäudekomplex abgerissen oder saniert werden soll.
(Ich gestehe, dass ich 1989/1990 einer Regelung des Beitritts der DDR nach Art. 146 [neue Verfassung] skeptisch gegenüber stand und den bestrittenen Weg Nach Art 23 besser fand. Aber vielleicht resultierte hieraus auch die Mär vom »Anschluss«.)
Die Verfassungsprobleme im Noch-Vereinigten Königreich (Müller) spielen ja jetzt keine Rolle mehr. Cameron hat das durchgesetzt – ein rein populistischer Akt, denn vorher hatte er einige Konzessionen von Brüssel abgetrotzt und wollte sich als Held zeigen. Diese waren wohl nicht genug, denn seine Rechnung droht nicht aufzugehen. Er ist kein Pro-EU-Mann, aber jemand, der aus opportunistischen Gründen für einen Verbleib ist.
Auch der verrohende politische Diskurs kann kein seriöses Argument gegen solche Abstimmungen sein. Ansonsten müsste man in D auch OB-Wahlen abschaffen (Reker-Attentat; hier gab es übrigens keinen verrohten Diskurs). Habermas selber plädiert ja für die Legitimation der EU durch den Wähler, aber das ist natürlich etwas anderes als eine Brexit- oder Frexit- oder Dexit-Abstimmung.
Die Vorbehalte gegen plebiszitäre Elemente speist sich aus der Furcht der Repräsentanten, dass ihre politische Gestaltungskraft angetastet werden könnte. Genau dies schwingt bei Müller ja auch mit.
@ Doktor & Gregor. Das Prinzip der Basisdemokratie hat in Europa nicht gefruchtet. Bei Verfassungen und Staatsverträgen erhofft man sich doch immer eine »deutliche Mehrheit«, und damit ist noch nicht einmal gesagt, zu welcher Seite hin.
Ich glaube, es ist ein Fehler, die nachhaltigen Umbrüche, die man früher Revolutionen verdankte, nun mit Referenden regulieren zu wollen. Allenfalls reproduziert man doch die »Katerstimmung« von damals. Und siehe, es waren weder damals noch heute alle dafür.
Apropos, dafür. Beobachtung beim Brexit: die sozio-konstruktivistische Option hat eigentlich immer den Anschein des Progressiven, während ein »Nein«, eine Abwehr immer dumm und zerstörerisch erscheint. Psychologie. Nein und Abwehr sind dumm.
*
Die Zeichen innerhalb der EU stehen auf Rückbau. Obwohl wir schon am Ende der Leserunde sind, noch die Frage: gibt es Visionen in der Runde, wie man die Institutionen verändern könnte, dass sie SOWOHL Prinzipien der Gewaltenteilung ALS auch dem Wunsch nach einer Stärkung der nationalen Verfügungsgewalt entsprechen. –Oder ist das die »falsche Synthese«, die ich mit der Beschränkung auf die Gewaltenteilung abfrage?! Gibt es immer noch die Habermas’sche Vorstellung, dass der Wähler die Legitimation für die EU schaffen könnte, wobei Legitimation bei Habermas ja nicht weniger als ein Einvernehmen von politischen Protagonisten und »Multitude« bedeutet?!
Diese Fragen habe ich selbst noch nicht beantworten können, weil ich mit dem Grundgedanken einer »demokratischen Besetzung der EU« (ungeschickt formuliert, ich weiß) aufgewachsen bin. Und ich finde mich doch zunehmend in einem nietzscheanischen Universum der Kräfte und der Illusionen wieder.
Außer Dieter: Wer setzt noch demokratische Hoffnungen in die EU, in der Umfänglichkeit der Bedeutung des Begriffs »Demokratie«?!
@die_kalte_Sophie
Das Prinzip der Basisdemokratie hat in Europa nicht gefruchtet.
Im Prinzip könnte man auch anders herum argumentieren: Das Prinzip der repräsentativen Demokratie hat dahingehend nicht funktioniert, dass es populistische Bewegungen und Parteien nach oben spült. Das Resultat wäre dann, dass man Demokratie per se abschafft bzw. nur noch auf am Ende belanglose Wahlakte reduziert, wie dies m. E. immer dann droht, wenn inzwischen schon Dreierkoalitionen herhalten müssen, um mehrheitsfähige Regierungen zu bilden.
Der Gedanke der »Katerstimmung« ist nicht uninteressant. Ich habe gerade gelesen, dass irgendwelche Brexit-Menschen die aktuelle Abstimmung nur als Zwischenabstimmung betrachten. Danach soll dann Cameron (oder wer auch immer) nochmal neu verhandeln. Das ist natürlich ein absurdes Spiel, aber es ermöglicht einigen Brexit-Phantasten zu suggerieren, dass der Schritt nicht endgültig ist. So wird demokratische Partizipation zur Spielwiese. Dies erzeugt am Ende mehr Politikverdrossenheit.
Neben dem Problem der Gewaltenteilung (die ja nie ganz funktionieren kann) gibt es vor allem das Problem der Repräsentation (noch einmal verweise ich auf diesen Thread hier, der sechs Jahre alt ist). Müller spricht diese Probleme an, die demokratietheoretisch sind, aber doch nicht unwichtig: Ist der/die gewählte Abgeordnete salopp formuliert eine Art Abstimmungsmaschine für die jeweiligen Wähler oder ist er/sie ihrem Gewissen verantwortlich.
Zur EU kann ich keine Prognose abgeben. Imperien bzw. imperienähnliche Gebilde können Rückbau schwer verkraften, schon aus Imagegründen nicht. Tatsächlich droht natürlich eine Art »Domino-Effekt«.
Danke für den Thread, das bestätigt meine Anfangs-Vermutung, dass Demokratien verschiedene Interpretationen erfahren. Es ist schon ohne genauere Analysen (die sehr nötig sind) naheliegend, dass es keinen einhelligen »Europäischen Typ« gibt. Die Unterschiede zwischen Deutschland und den U.S.A. sind vielleicht am größten, wenn man im Westen bleibt.
Wie sehen Sie die historische Kausalität, ist Europa auch ein bisschen über die »Homogenitäts-Hypothese« gestolpert, d.h. ging man mit der Aussicht auf eine »immer engere Verflechtung« der Europäischen Nationen nicht von einer Gleichartigkeit der Demokratie-Interpretation im strukturellen Sinne aus, die nur noch institutionell verbunden werden müssten?!
Ich will nicht sagen, Europa sei über seinen konstruktivistischen Optimismus gestolpert, aber ist es nicht merkwürdig, dass wir erst nach 20 Jahren und massiven Entfremdungen genauer hinschauen?! Ich komme mir jedenfalls gleichermaßen inkompetent wie verspätet vor. Ich komme zu spät zum Unfallort und stelle fest, dass ich als Arzt sehr schlecht ausgebildet wurde... Dennoch kann man mit gründlichen Analysen auch eine Lösungsstrategie für Europa erarbeiten. Auch hinsichtlich der mutmaßlichen Differenzen zwischen den Demokratien ist eine nationale Verankerung vermutlich zielführend, oder?!
@die_kalte_Sophie
Ihre Entfremdungstheorie teile ich. Der Fall der Berliner Mauer in den 1990er Jahren hatte eine gewisse Euphorie ausgelöst. Es gab den Eindruck, dass die Europäer und damit auch das westliche Demokratiemodell homogen und nun allüberall akzeptiert seien. Unterschiede wurden (und werden) wegdiskutiert; wer das Wort »Mentalität« oder »Kultur« verwendet, war und ist Paria. Alle wollen eine »bunte Gesellschaft«, aber bitte in einer Farbe.
Die Ernüchterung in Deutschland in Sachen EU mache ich an zwei Daten fest. Zum einen die Implementierung des Euro. Das andere Datum ist die Griechenland-Krise. Der Euro war mit bestimmten (unhaltbaren) Versprechen eingeführt worden. Verschwiegen wurde, dass er ein politisches Modell war und ist, aber kein wirtschaftliches. Solange die Sache »funktionierte« artikulierte sich kein Unbehagen. Erst als mit der Griechenlandkrise das No-Bail-Out binnen Tagen Makulatur war, kam die alte Skepsis wieder hervor. Ein gerüttelt Anteil an dieser EU-Verdrossenheit hat Merkel, die mit ihrem »Scheitert der Euro, scheitert Europa« und ähnlichem Umfug die Reihen schließen wollte.
Die Fehler innerhalb der EU wurden Ende der 1990er Jahre gemacht. Den Osteuropäern wurden Beitrittsperspektiven eröffnet, die man schnell erfüllte. Auch hier gilt: Politisch waren die Erweiterungen sinnvoll. Aber für das Gebilde der EU war es zu schnell. Als man das erkannte, war es zu spät. Leute wie Fischer köderten die Bevölkerung mit den ökonomischen Vorteilen für Deutschlands Exportindustrie. Das kann man so sehen; andere sehen das durchaus nüchterner. Er und viele andere hatten vorher »Vertiefung vor Erweiterung« gerufen. Einmal in der Regierung musste nicht nur er feststellen, dass die Weichen längst gestellt waren. Es gab kein Zurück mehr. Gipfelpunkt des Wahnsinns waren die durchgewunkenen Beitritte Rumäniens und Bulgariens. Und wenn in der Türkei nicht Erdogan durchgedreht wäre, stünde sie auch schon mit anderthalb Beinen in der EU.
Von da her war die EU ein »Elitenprojekt«. Manche gaben sich nicht mit Fußnoten in späteren Geschichtsbüchern zufrieden. Es sollten Kapitel sein. Noch einmal: Solange dies eine gewisse Stabilität suggerierte, war man nicht dagegen. Auf Feiern zur EU-Jubiläen hoben die meisten Befragten heraus, dass man frei reisen könne. In den Nachrichtensendungen gab es auch »Erfolgsmeldungen« über die EU-Institutionen, etwa wenn die Roaming-Gebühren bei Handys gesenkt wurden.
Auf Dauer reicht das nicht. Und ein Verfassungspatriotismus kommt ja noch nicht einmal für das Grundgesetz auf – wie denn für eine vollkommen abstrakte EU? Und kann man eine Institution Ernst nehmen, die sich noch nicht einmal auf einen gemeinsamen Sitz für ihr Parlament verständigen kann sondern stattdessen immer zwischen zwei Orten hin- und herpendelt?
Niemand der amtierenden Politiker will der- oder diejenige sein, die für einen Rückbau oder ein Moratorium verantwortlich zeichnen. Insofern wird man, nachdem GB vermutlich mit 52% für den Verbleib gestimmt hat, einfach business as usual machen.
Nachtrag wg. Komplexitäts-Störung / Verzwergungs-Kränkung
( – einigen hier wird einiges nicht unbekannt vorkommen , wenn auch ein wenig verhuscht (nicht stringent durchdacht))
Heute auf spon – Francesco Giammarco interviewt die in Lippstadt tätige forensische Psychiaterin Nahlah Saimeh – im Prinzip wg. Enzensbergers »molekularem Bürgerkrieg***« (aktuell Jo Cox et. al.) und – - Komplexitäts-Störung (fast explizit) cf. hier auf dem Blog Nr. 68 et. al.
Ich führe das nicht aus – man kann es aber leicht sehen: Saimeh ist nah dran, trifft aber einige Bezüge nicht genau – wie auch der Interviewer Giammarco.
Aber dennoch (und deswegen...) – -
Saimeh: Diese polemische und stark emotionale Debattenform führt ja zu einer Primitivierung des Denkens. Man zieht sich nur noch auf Schwarz-Weiß-Positionen zurück und tut so, als ob nur eine einzige Perspektive und Ansicht die vollständig richtige sei. Es entsteht ein Wir-gegen-die-Gefühl. Genau diese Mechanismen aber findet man auch bei Radikalisierungsprozessen. Menschen könnten sich so animiert fühlen, Gewalt auszuüben, weil sie die gesellschaftliche Ächtung nicht mehr fürchten. Sie können sich dann auf die Zustimmung zumindest eines Teils der Bevölkerung verlassen.
SPIEGEL ONLINE: Je komplexer die Verhältnisse, umso größer das Bedürfnis nach Radikalität?
Saimeh: Natürlich, denn alles bedingt stets sein Gegenteil. Die Welt ist ungeheuer komplex geworden, und durch die weltweite Verfügbarkeit von Informationen haben wir an dieser Komplexität teil, überschauen die Dinge aber nicht mehr und können vielen Problemen selbst nicht einfach abhelfen. Und je nachdem, wie meine eigene Lebenssituation ist, fühle ich mich vielleicht als Opfer dieser Komplexität. Das macht so anfällig für Radikalisierung oder Verschwörungstheorien. Radikalisierung reduziert Komplexität. Je radikaler ein Ansatz, desto mehr vermeintliche Stabilität und Gewissheit verleiht er. Aber de facto verschwinden differenzierte Lösungsansätze. So, als ob Sie für jede Operation nur ein einziges Instrument haben. Der Begriff »Lügenpresse« zeigt ganz anschaulich so ein sensitiv-paranoides Denkmuster. Es wird vermittelt, dass den Bürgern die eigentliche Wahrheit durch das Zusammenwirken irgendwelcher Verschwörungszirkel vorenthalten wird. Dem muss man entgegenwirken. Polemik ist aber nicht hilfreich, von keiner Seite.
***Noch gibt es in den Industrieländern eine Mehrheit von Zivilisten. Unsere Bürgerkriege haben bisher nicht die Massen ergriffen, sie sind molekular.
@Dieter Kief
Mir sind diese Diagnosen wie »die Welt ist ungeheuer komplex geworden« ein bisschen zu einfach. Erinnert ja fast an »früher war alles besser«. Komplex war die Welt immer; ihre Heterogenität ist nur sichtbarer geworden. Und auch die allseits beklagte Verrohung der Debattenkultur bekommt durch das Internet eine Präsenz, die es eben früher nicht gab. Hier hatte ich schon mal auf eigene Erlebnisse Anfang der 1970er Jahre hingewiesen. Auch damals war das Klima rauh und verletzend. Und man erinnere sich an 1990 und die Attentate auf Schäuble und Lafontaine. Irre gibt es immer wieder; die Frage ist nur, inwiefern man ihnen durch überbordende Aufmerksamkeit auch noch eine Bühne gibt (Breivik) und damit als Verstärker wirkt.
Persönlich glaube ich, dass es zu selten geschieht, dass politische Differenzen in Debatten überführt werden. Das ist meine Kritik nicht zuletzt an den Medien. Nicht die Differenzen erzeugen den beklagenswerten Zustand der Über-Polarisierung, sondern die fehlende Bereitschaft zur sachlichen Auseinandersetzung. Das ist, wie Federmair richtig folgert, auch eine Sache der Bildung, aber nicht nur.
Und wenn Journalisten in schöner Regelmässigkeit bestreiten, dass es eine objektive Berichterstattung geben kann, möchte man eigentlich schon aufhören. Dabei geht es ja nicht um eine im Labor erzeugte Objektivität, sondern um das Bemühen, Fakten von Meinungen zu trennen bzw. zu benennen. Was die Leute zu den »Lügenpresse«-Vorwürfen bringt, ist das Empfinden von bevormundetem Meinungsjournalismus (siehe Köln 31.12., aber das ist nur ein Beispiel), der sich die »Wahrheiten« zurechtbiegt. Dieses Denken radikalisiert sich dann natürlich immer mehr, je mehr solcher Sachen »aufgedeckt« werden.
1 spontane Antwort – ich stimme Ihnen zu – aber ich gewichte Ihr »nur« anders: Ich meine in der Tat, dass daran sehr viel hängt, das einen Unterschied macht – und nach eigenen Antworten verlangt. Kurz gesagt: man muss die Dinge, die öffentlich verhandelt werden, in einer fasslichen Form darbieten. Falls nicht, geht das schief (cf. Védrine, – - nicht allergisch werden, bitte – Enzensberger, – Grimm, di Fabio, Hürlimann...).
Oh je Bildung – ich habe im Lauf der Zeit fast alle unterrichtet – und nicht, weil ich das für sinnlos ansah. Also vom ADHS-geplagten Kevin aus der Unterschicht bis zu Professorentöchtern (Töchter meiner Professoren sogar, das ist irgendwie speziell), vom Migranten, der n u r auf die Frauen in der Abendschulklasse schaute, und fragen Sie lieber nicht wohin, bis zum Knastbruder, der andeutete, er wisse mittlerweile ganz genau, wo ich wohne und...
Ich koche gerade – und hatte wieder eines dieser Begleitschreiben-Echos im Kopf – weshalb ich zwischendrin hierher bin... – ein wenig verrückt schon auch...
@Doktor D
In Österreich gab es 1994 eine Volksabstimmung zum Beitritt zur (damaligen) EG; 66,6% der Wahlberechtigten stimmten mit »ja«. Ich kann an der Entscheidung eine Volksabstimmung abzuhalten (auch im Nachhinein) nichts Schlechtes erkennen. Natürlich waren das andere Zeiten, aber ein Entscheid durch Repräsentanten ist in einer repräsentativen Demokratie ein anderer als einer durch alle Bürger. Man kann das als Zugeständnis an die Fundamentalität einer Entscheidung lesen (und das war der Beitritt zur EG [EU] gewiss). — Abstimmungen können immer, ob sie nun von Repräsentanten oder allen Bürgern getroffen werden, weitgehend auf Inkompetenz fußen; ich glaube aber, dass manche Entscheidung – das kann durchaus nationenspezifisch sein – ein Zurücktreten der Repräsentanten verlangen (die allgemeine Wehrpflicht, wie unlängst geschehen, oder die Neutralität würden in Österreich nicht ohne eine zumindest als verbindlich angesehene Volksbefragung abgeschafft werden).
@Gregor
Das Gewissen ist eine undemokratische Angelegenheit. Ein Entscheid der darauf fußt, hat in Ausnahmesituationen seinen Platz, ansonsten aber sollten Entscheidungen durch Argumente begründet werden (nur so kann ein Abgeordneter seine Verantwortlichkeit gegenüber dem Wähler auch begründen).
@die kalte Sophie
Europa war historisch gesehen nie eine Einheit; diese in so kurzer Zeit auf zumindest einigen Gebieten vorantreiben zu wollen, erscheint mir absurd (Europa und die EU sind ja nicht dasselbe). Mir ist auch unklar auf welcher Basis das gelingen soll; es gibt keinen Gründungsmythos oder etwas ähnliches auf dass man sich berufen könnte, etwas das alle – sozusagen – fesselt (oder begeistert). Europa ist für mich ein geographischer Begriff, vor allem aber eine kulturelle Chiffre, die mich vor große Schwierigkeiten stellt, wenn ich sie zu lesen versuche. Trotzdem: Ein unendlicher kultureller Reichtum, der aus der europäischen Gegenwart und Vergangenheit quillt. Die Ökonomie dagegen für die wir Europa heute brauchen, wenn ich den Worten unserer Politiker folge, vermag doch am Ende eher die Kräfte der Abwehr, als die der Zuneigung zu mobilisieren; und ja, ein europäischer Verfassungspatriotismus ist noch illusorischer als ein nationaler (Carlo Strenger führt dort ein eher wenig beachtetes Argument an, dass einer europäischen Einigung vor allem die sprachliche Vielfalt entgegen stünde; spinnt man das weiter, könnte die europäische Vielfalt im Allgemeinen für ein föderalistisches Projekt sprechen).
[Weil oben, #131, das Interview mit Nassehi erwähnt wurde: Man möchte sein intellektualisiertes Dampfplaudern geradewegs auf den von ihm propagierten Funktionalismus, der natürlich ohne Kausalität auskommt, zurückführen.]
@Dieter Kief
»In einer fasslichen Form anbieten« – einverstanden. Aber eben derart, dass nicht schon vorher die jeweilige Meinung des/der Journalisten alles überlagert. Und »fasslich« kann man auch die Thesen von Védrine, Enzensberger, Grimm, et.al. einbringen. Davon höre und sehe ich aber im Massenmedium Fernsehen nichts.
@metepsilonema
Ob das Gewissen undemokratisch ist, bleibt die Frage. Müller wendet sich bewusst gegen das imperative Mandat. Wobei es hier auch mehrere Interpretationsmöglichkeiten gibt. Zum einen kann ein imperatives Mandat sich denjenigen verpflichtet fühlen, die den Repräsentanten gewählt haben. In Deutschland reicht für ein Bundestagsdirektmandat die einfache Mehrheit der Erststimmen in einem Wahlkreis. Das können auch schon mal nur 35% sein. Sind es nun diese 35%, die ein Abstimmverhalten eines Repräsentanten bestimmen sollten? Oder muss er auch diejenigen berücksichtigen, die ihn nicht gewählt haben? Der Konflikt ist doppelt: Zum einen müsste praktisch ein ständiger Austausch des Gewählten mit seinen Wählern stattfinden (die ja aufgrund der geheimen Wahl gar nicht bekannt sind). Zum anderen müsste er auch die Interessen derjenigen mit berücksichtigen, die ihn nicht gewählt haben (mindestens dann, wenn es um regionale Fragen geht, die verhandelt werden). Andererseits ist er aber keine Abstimmungsmaschine, der einfach einer Fraktions- oder Parteilinie folgen muss. Dann könnte man das Parlament wesentlich kleiner machen. Es bleibt also nur die Gewissensentscheidung, die unabhängig von Vorgaben Dritter (Partei, Fraktion, aber auch Wählern) sozusagen mit sich selber ausgehandelt wird. Das aber wiederum entfernt ihn unter Umständen vom Repräsentationsgedanken.
Zum Gründungsmythos der EU: Einen solchen gibt es nur ex negativo: Nie mehr Krieg in Europa. Für die Gründungsväter (es waren ja nur Männer) war dies das Wichtigste. Heutzutage mutet eine Drohung mit Krieg zwischen europäischen Staaten absurd an.
Der Text von Strenger ist interessant. Aber ein Mythos kann nicht sozusagen in die Welt gesetzt oder geschaffen werden. Er entsteht, teilweise über Jahrhunderte. Und ist auch nicht immer per se friedensstiftend. Mythen sind oft Legenden, »unheilvolle Erzählungen« (Sloterdijk). Und ja, die diversen Sprachen sind womöglich hinderlich. Aber sie zeigen eben auch die Vielfalt an.
Was die EU bräuchte, um auf Dauer in den Köpfen der Leute nicht nur als geldgieriger und regulierungswütiger Moloch zu erscheinen, sind klare institutionelle Strukturen. Aber davon sind wir m. E: sehr weit entfernt.
zu @metepsilonema:
re. Nassehi – ich finde die Idee, sich Zusammenhänge mal in der Persektive »Was leistet das überhaupt für die Beteiligten?« anzuschauen, sehr spannend. Er müsste es halt nur endlich mal machen, als immer weiter fröhlich vor sich hin zu schwafeln.
@Doktor D
Ich hätte das als Aufgabe der Politik verstanden oder für eigentlich selbstverständlich (was mich neben der überladenen und unpräzisen Sprache ärgert, ist, dass da jemand die Funktionalität der Kausalität vorzieht, aber anscheinend nicht begreift, dass erstere ohne letztere gar nicht möglich ist und das zudem noch für Wissenschaftler im Allgemeinen veranschlagt; oder erklärt, dass die Mitte ein unlogischer Ort ist: Aber geh, dass das »tertium non datur«, die Logik also, kein drittes kennt, ist eine großartige Neuigkeit! Ein billiger Strohmann.).
@Gregor
Ich lese Verantwortlichkeit nicht als imperatives Mandat, sondern als Nachvollziehbarkeit (ich möchte wissen warum ein Abgeordneter so und so abgestimmt hat; er muss nicht [immer] meine Meinung vertreten, das kann er auch gar nicht, weil die Meinungen derer, die er vertritt schon zu stark variieren). Das ist ein Gewissensentscheid m.E. nicht, weil er sich einer genauen Begründung entzieht (der daimon, die innere Stimme, die sagt: »Tu das nicht.«).
Ich habe mich gestern beim Schreiben auch gefragt, warum der zweite Weltkrieg oder letztlich »die Krise Europas«, wie ein Propyläen Geschichtsband über das 20. Jahrhundert betitelt ist, nicht einen Mythos hervorgebracht hat; einerseits war diese Krise (und die Teilung Europas) wohl die Ursache des Einigungsgedankens (von dem ich glaube, dass er im Grundsatz vom gesamten politischen Spektrum bejaht wird, die Ausformulierung variiert allerdings) und andererseits, wie Du richtig schreibst: Negativen Erzählungen oder Mythen haftet etwas beliebiges und unglaubwürdiges an.
Zu den Sprachen: Man muss sich einmal vergegenwärtigen, dass das Primärrecht der EU (also die Verträge) in allen 24 Sprachen im gleichen Maß gültig ist.
Die fassliche Form wäre gerade bei europäischen Themen wie den Verträgen sehr wichtig (ich glaube nur, dass das Journalisten nicht leisten können, es sei denn sie hätten eine fundierte juristische Ausbildung).
@ Doctor D, Nr. 146 -«&« @ metepsilonema, Nr. 144 – Amin Nassehi schreibt nicht gut.
Wenn Sie wollen, gucken sie mal bei der FAZ – Peter Graf Kielmannseg hat dort vor ca. einem viertel Jahr einen Nassehi-Text sehr höflich und sehr unnachsichtig – also: perfekt! – auseinandergenommen.
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/peter-graf-kielmansegg-antwortet-armin-nassehi-14099664.html
@ metepsilonema 147
Was kann die Öffentlichkeit leisten und was nicht? – Heute ist in der FAZ nochmal ein Einseiter von Dieter Grimm zu den Hürden des deutschen Verfassungsrechts erschienen.
Naja – und mit den von Ihnen angesprochenen vielen Sprachen kommen auch diverse 24 Rechtstraditionen zum Vorschein – und 24 Arten mit dem, was dann zum positiven Recht geworden ist, im Alltag umzugehen. In Griechenland ist es offenbar immer noch so, dass die Texte und/ oder die Übersetzungen in Mappen von Büro zu Büro wandern...und dass kaum eine(r) Englisch kann.
Dazu kommt der Seufzer, dass weite Teile des EU-Rechts in vielen der 24 Länder insuffizient bis ineffizient implementiert und dann so nachlässig gehandhabt werden, dass viele sich die Haare raufen.
Derlei in öffentlichen Talk-Formaten z. B. zu behandeln, ist aussichtslos. Ansprechen ja, analysieren: nein.
Wo aber werden diese Dinge dann verhandelt?
Gut scheinen mir Orte wie dieser.
Andere publizistische Orte sind in D‑Land die FAZ und die ZEIT. Spiegel ‑s. o. ... Merkur ist in diesen Dingen nicht auf der Höhe der Zeit, Die Blätter (zu) gewerkschaftorientiert – also tendenziell blind (Streek z. B., aber auch Albrecht von Lucke et. al.). Hie und da die NZZ. Das IFO-Institut.
Mein Traum: Unsere Öffentlichkeit nimmt den Antrittsvortrag von IFO-Fuest so ernst – oder wenigstens halb so ernst, wie den neuesten Coen-Film.
Wenn unser Zeitalter wirklich mal als ganzes zur Hölle fahren sollte, dann wegen solcher Defizite bzw. Hypertrophien (obwohl – True Grit/ Inside Llewyn Davis und The Big Lebowski schon tolle Filme sind – aber trotzdem, ich bleib dabei: Wenn unser Zeitalter einmal ... ).
Ichab jetzt noch zweierlei: an metepsilonema: Ich vertiefe das EU-Rechts- und Komplexitätsproblem noch mal in einem gesonderten Kommentar. Ich habe ihn gestern Nacht geschrieben und dann nicht gepostet; und poste ich ihn nun doch.
@ Gregor Keuschnig, Nr. 146
1 einfacher Gedanke: D a s meine ich ist ein guter Sinn von Veranstaltungen wie diesen: Die Leerstellen des Fernsehdiskurses zu benennen. Ein Gedanke, der mir heute im Wald, durch den ich freihändig auf dem Fahrrad rollte, mit unabweisbarer Klarheit vor Augen stand – in Erinnerung an die Diskussion hier. Ich meine wirklich, derlei sei notwendig: Möglichst unaufgeregt und präzise. Das wäre also Ihre Melodie, ein wenig variiert, glaub ich.
Grimm, OMT, EZB, ESM
Das OMT Programm (=O utright M oney T ransfer – Program) der EZB (Geld von uns (= der EU) in j e d e m Fall) dient dazu, die Zinssätze in den Euro-Ländern anzugleichen, indem man durch eine quasi-Defizitgarantie die Bonitätsunterschiede übertüncht .
Die reguläre Risiko-Bewertung wäre dann ausgeschaltet.
Grundlage ist ein entsprechender EuGH-Beschluss, für den aber die Grimm’sche Kautele gilt (s. o., Geyer, FAZ vom 12. 6.)). Haupteinwand: Das Subsidiaritätsprinzip wird erneut ausgehebelt. Wieder mit dem Argument: das ganze sei tendenziell virtuell.
- Insgesamt erscheint mir die Sache weder als wirtschaftlich funktional noch als demokratietechnisch ok an; ich werte den Vorgang als kaum mehr zu rechtfertigendes Muddlin’ through.
Suche ich nach Bildern für die OMT-EWS-Konstruktion, fallen mir simple Entsprechungen ein, die umso unwahrscheinlicher klingen, je besser sie die tatsächlichen Vorgänge abbilden. Man läuft als Kritiker Gefahr, als Dorfdepp zu erscheinen. Verdreht erscheint schnell derjenige, der a u s s p r i c h t dass der Kaiser nackt ist. Oder betrügt. Die Befürworter scheinen Virtuosen der Maxime Frechheit siegt zu sein.
Am interessantesten ist der Betrugs-Vorwurf, weil die OMT-Konstruktion ja bis anhin noch nicht gescheitert ist. Dass etwas auch dann bereits ein Betrug sein kann, wenn man nur zu 85% (sag’ ich mal) damit rechnen muß, dass eine verabredete Sache anders ausgeht, als verabredet, ist offenbar nur schwer zu verteidigen.
Klar ist, dass niemand auch nur in eine Straßenbahn einsteigen würde, wenn die Beantwortung der Frage, ob man unversehrt am Zielort angelangt so unsicher wäre wie die EZB-Prognosen / Maßnahmen der letzten Jahre.
Jetzt ist das Bundesverfassungsgericht mit der Sache befasst.
Die wenigen Watchdogs, die überhaupt noch an Deck sind, hören auf so Namen wie Grimm, Weidel und Gauweiler. Sarrazin sowieso.
Über 99% der in den öffentlich-rechtlichen Sendern Berichtenden geraten hie und da aus dem Takt. Altmeier als quasi höchster Regierungssprecher sagt mit Schmackes: Weiter so! Schäuble läßt den Dingen nach dem Motto »im Krieg war’s schlimmer« ihren Lauf. Kanzlerin Merkel hält sich bedeckt.
Wenn Altmeier als der höchste sprechende Regierungsvertreter in öffentlichen Diskussionen auf jemanden trifft, der den ganzen Verhau durchdringt, zeigt sich regelmäßig, dass er jedenfalls nicht in vollem Umfang versteht, wovon er redet. Altmeier tut noch immer so, als ob es sich bei OMT und anderen ESM-Programmen um ein Konjunkturprogramm für eine vertrauenswürdige Volkswirtschaft handelte. Das ist OMT aber nicht – es ist vielmehr ein va-banque-Ticket. Er übermalt den Wählerinnen und Wählern den Abgrund, über den die Karawane zieht, mit einer sanften Au. Die wacklige Hängebrücke, über die die Tour uns alle führt, ist in Altmeiers Wortmeldungen einem heimeligen Wiesengrund gewichen.
Ich neige Grimm et. al. (Weidel, Gauweiler, Sarrazin usw.) zu: Das OMT-Programm ist hochriskant und hochproblematisch, um es mal sanft auszudrücken.
Und ich glaube zudem, dass die Leute draußen an den Bildschirmen das wie diffus auch immer ebenfalls so sehen oder irgendwie ahnen. Sie begreifen, dass die Zinsen, die die Sparkasse zahlt und die die Bundeskasse nunmehr verlangt, etwas mit derlei Vorgängen zu tun haben – und sie sehen vielleicht obendrein, dass die Idee, den Euro-Raum einfach mit Bargeld zu fluten, keine nachhaltige Vorgehensweise darstellt.
Obwohl das noch einmal ein Abstraktionsniveau höher ist.
Nehme ich alles nur in allem, so lautet auch aus dieser Perspektive mein Enzensberger- und Védrine-Schluß: Wir haben uns verlaufen, und müssen wieder zurück auf Los.
M. a. W. – Rückbau der EU.
Das Bundesverfassungsgericht hat das OMT unter Auflagen zugelassen. Trotzdem teile ich die coole Einschätzung von Prof. Henrik Enderlein nicht, der twitterte:
»Also (...) war OMT ein Bluff, aber legal. Aktivierung unwahrscheinlich, Volumen begrenzt, keine große Sache.«
Keine große Sache, die wie ein rohes Ei zwischen zwei Verfassungsgerichten hin und her gereicht wurde...
Zu Nassehi: @Doktor D, @metepsilonema, @Dieter Kief
Was soll er anders machen als »schwafeln«? Er ist Soziologe und hat dahingehend fast nur beschreibende Funktionen.
Die Überlegungen zur Mitte und deren Unlogik findet ich ein wenig an den Haaren herbei gezogen. Aber diesen Befund finde ich mindestens interessant:
Ich bin davon überzeugt, dass das Publikum selbst nicht an zu simple Lösungen glaubt, aber nach einem politischen Stil sucht, der nicht suggeriert, man sei nur passives Objekt der Verhältnisse, sondern habe die Dinge in der Hand. Es gehört zur Funktion des Politischen, soziologisch unbescheiden zu sein, also mehr Souveränität zu simulieren als möglich ist. Die Flüchtlingskrise wurde auch deshalb zum Katalysator von Protest, weil zwischendurch keiner mehr wusste, wer agiert oder nur auf etwas reagiert, das kaum zu kontrollieren ist.
Ich sehe hier gewisse Parallelen zu unseren Befunden.
@Dieter Kief
Ich möchte mal behaupten, dass 80% aller Menschen »da draußen« nicht wissen, was »OMT« ist. Zur Not wüssten sie noch etwas mit »ESM« anzufangen, weil das damals in öffentlich-rechtlicher Munde war. Aber »OMT«? Ist das nicht ein Film mit Untertiteln?
Vielleicht übertreibe ich auch. Aber ich glaube, dass man insbesondere bei den öffentlich-rechtlichen Massenmedien (Fernsehen, aber auch Radio) in punkto Euro-Krise längst in den Schlafmodus umgeschaltet hat. Hier ist Ruhe die erste Journalistenpflicht, um nicht noch weiteren EU-Überdruss in der Bevölkerung zu erzeugen. Gerade eben hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass das alles rechtens ist. (Was sollen sie auch machen?) Haken dran und heute Länderspiel. Und wer liest denn die FAZ?
(Es waren ja FAZ und FAS, die das Referenzsystem von Sarrazins Euro-Buch mit fast 40% bestimmten – man siehe die Graphiken im verlinkten Text. Dennoch regte man sich auf – nicht über die FAZ und FAS, sondern Sarrazin.)
Wer soll denn Altmeier nach Details befragen? Ich bin sicher, dass er genau weiss, worum es geht (er ist zu intelligent). Aber warum »die Menschen« in unnötige Besorgnisse stürzen? Zumal wir schon wieder im Wahlkampf sind (Bundestagswahl 2017). Die Wahrheit ist ja, dass die Politik nicht weiss, wie sie diese Probleme anders lösen soll. Das ähnelt aus der Ferne an einen Kaufsüchtigen, der die Rechnungen unverschlossen in einen Schuhkarton packt. Journalisten achten dann darauf, dass die Umschläge richtig frankiert sind.
Ein Rückbau der EU ist für die Beteiligten undenkbar. Das ist etwa so, als würden man VW oder Mercedes sagen, sie sollten mal zwei Jahre keine Gewinne machen, um ihre Unternehmensstrukturen zu ordnen. Es gibt seriöse Beitrittsverhandlungen mit Ländern wie Montenegro, Serbien und Albanien. Von der Türkei nicht zu reden. Auch andere Länder wollen aufgenommen werden; man hat ihnen Zusagen über ein geordnetes Verfahren gemacht. Das kann man vielleicht ein, zwei Jahre hinhalten, aber dann?
Wie hätte Großbritannien ohne Schottland dagestanden? Was wäre Spanien, wenn Katalanien sich abspalten würde? Und dann der Brexit. Ich habe gestern gelesen, dass sich bereits in Tschechien die Anti-EU-Kräfte für ein Austrittsreferendum formieren.
In der eigentlich zu vernachlässigenden »heute«-Sendung um 19.00 Uhr gab es gestern einen Beitrag von Christian Sievers. Er zeigte auf verblüffende Art und Weise die Räumlichkeiten in Brüssel, wie man dort arbeitete und in welchen Dimensionen das stattfindet. Der Beitrag zeigte aber auch, wie selbstreferentiell dieses »System« Brüssel agiert. Er zeigte einen Mann, der durch »kilometerlange EU-Gänge« führt und deutsche Schuhe trug (»Europa...für Leute wie ihn, mehr als nur ein Job«, lautete der infantile Kommentar von Sievers hierzu), spürte eine »Mischung aus Sorge und Nervosität«, interviewte EP-Mitglieder, die zugaben, dass es keinen Plan B gibt und befindet: »so dramatisch wie jetzt war es noch nie«. Das kennt man ja. Aber dann wird der Beitrag nachdenklich. Er spricht von einem »geölten Apparat«; der seine Routinen habe und sich »nie wirklich hinterfragte« (das »wirklich« muss jetzt immer sein). Die EU sei so groß geworden, dass die versammelten Minister in einem Konferenzraum sich per Video unterhalten müssten. Oettinger bekommt zwei Sätze und verwehrt sich dagegen, als Eurokrat bezeichnet zu werden, der nicht nicht mehr wisse, was im Volk los sei. Und dann Sievers: »Volksnah wollen sie hier alle sein, betonen das immer wieder, aber das mal jemand an ihren Grundfesten rüttelt, damit hätten sie nie gerechnet.« Das ist fast schon mehr, als man von ARD und ZDF erwarten kann.
Die Brexit-Diskussion zeigt, dass große Teile Großbritanniens immer noch glauben, Weltpolitik (zusammen mit den USA) machen zu können. Sie fühlen sich Transatlantiker, aber nicht als Europäer.
.-.-.-.
Zum Diskursort: Vielen Dank, lieber Dieter Kief, für das Lob. Aber dieser Ort hier kann niemals ein »Verhandlungsort« à la Spiegel, FAZ oder Zeit sein. Und dies aus einem einzigen Grund: Er hat kein entsprechendes Publikum; der Diskurs ist, obwohl er theoretisch allen offen steht, derart hermetisch (begrenzt auf fünf, sechs Teilnehmer und vielleicht noch einmal so vielen Lesern), dass es keine Rolle spielt, außer für die Teilnehmenden selber. (Ich bin bspw. überzeugt, dass Müller keine Ahnung hiervon hat.)
@Gregor
Kurz zu Nassehi noch: Ein Wissenschaftler sollte nicht schwafeln, weil das mehr vortäuscht, als er tatsächlich zu sagen hat; er sollte sich dort wo das möglich ist, klar und präzise äußern (vor allem in der Öffentlichkeit). Das angeführte Zitat ist interessant, aber die Hälfte davon ist eine Binsenweisheit, denn man wählt ja wohl eine andere Regierung, damit die etwas (politisch) anderes tut. — Die Flüchtlingskrise hat noch etwas anders gezeigt: Dass Politik wieder vorausschauend handeln sollte, nicht erst, wenn es fünf vor zwölf ist (auch das wird ein Wunsch nicht weniger Wähler sein).
@Dieter Kief, #149 (und an alle anderen)
Ich habe gerade einen interessanten Text gefunden, der sich der Vorgehensweise der Kommission in Sachen CETA annimmt – ganz wie wir weiter oben befürchtet haben – und zeigt, dass diese rechtswidrig ist. Einerseits ein gutes Beispiel, wie man diese Thematik allgemeinverständlich formulieren kann, andererseits zeigt er beispielhaft, wie berechtigt Elitenkritik bisweilen ist und warum es fast nicht anders sein kann, dass sich allerorten Sezessionsbewegungen formieren. — Und: Eigentlich müssten sich solche Texte an den genannten Orten der Verhandlungen finden.
Die Grimm-Geyer Texte sind nicht online zu finden, oder habe ich sie übersehen?
@ metepsilonema, Nr. 152
Ich habe Christian Geyer über Dieter Grimm am 16. 6. wie auch Dieter Grimm selbst am 20. 6. auf Papier gelesen, kann Ihnen daher nur helfen mit dem allgemeinen Hinweis, dass man FAZ-Artikel online einzeln kaufen kann. Ja und man kann auf Blendle nachsehen, ob sich da etwas findet.
Ihrem Ceta-Hinweis gehe ich gerne nach.
@ die_kalte_sophie, Nr. 150
Wg. Enderlein aus Reutlingen – er ist ein Berufs-Europäer und ich meine, da gilt über weite Strecken der Wohlfühl-Faktor: Hauptsache, alle, denen ich auf meinen Reisen/Konferenzen und bei meinen Geldgebern begegne, sind gut drauf, dann bin ich auch gut drauf. Außerdem hat er ein Fernziel, das auf den ersten Blick plausibel erscheint: Europäische Konvergenz. – Der eigentliche Gegner von Enderlein scheint mir neben Sarrazin Sedlacek zu sein: Die beiden schütten andauernd Wasser in den Wunder-Kelch, aus dem sich dermaleinst die Konvergenz ergießen soll.
Im Vergleich zu solchen Leuten wie Enderlein sind Figuren wie Gauweiler oder Grimm fast so etwas wie eine andere Spezies.
Ein typischer Vertreter dieser Funktionseliten-Zombies oder Global-Trottel, wie ich manchmal boshafterweise sage, ist hier im Detail zu besichtigen: http://www.srf.ch/sendungen/sternstunde-philosophie/europa-alles-was-recht-ist
Es handelt sich um den vormaligen Präsidenten des EuGH, der an entscheidenden Stellen des Gesprächs erkennen läßt, dass er eigentlich nur aus der Sicht der winzigen Klasse der oberen Funktionsträger heraus seinen Frame of Mind zusammenschustert. Es zählt für diesen Mann nur seine Peer-Group, so will es mir scheinen, und seine Fähigkeit, in diesem Soziotop nicht anzuecken. Bernhard Schlink erklärt im Juni- Merkur, warum eine solche Haltung Sinn und Zweck des Rechts zumindest nicht richtig trifft, wenn nicht gleich ganz desavouiert.
@ Gregor Keuschnig, Nr. 151 – Das folgende folgt der Melodie des Gassenhausers: »Auch Zwerge haben klein angefangen« ... aus der Operette »Der schöne Müllersmann«...
Die Anekdote über Hegel , der sich schon hingelegt hat zum Sterben und flüsternd auf sein Philosophen-Leben zurückblickt, kennen Sie: »Einer hat mich angeblich verstanden, aber auch der nicht richtig.«
Praktisch auf der gleichen Ebene liegt die verbürgte Geschichte, dass Habermas Dahrendorf außerordentlich gram war wg. der bevorstehenden Veröffentlichung eines Merkur-Artikels (!!!!), in welchem sich Dahrendorf für Kohls Variante der deutschen Einheit auszusprechen gedachte. Habermas meinte damals, der richtige Weg führe über eine vor der Vereinigung durchzuführende öffentliche Verfassungsdiskussion in beiden deutschen Staatshälften, und er muss in diesem Moment tatsächlich geglaubt haben, die Chancen seines Vorschlags würden sinken, sobald Lord Dahrendorf sich im Merkur würde haben vernehmen lassen... – unglaublich, eigentlich. Aber irschndwie doch auch schön!
Wegen Altmaier – ich habe das selbst verfolgt, er war sich letzten Sommer über die tatsächlichen Folgen für den deutschen Bundeshaushalt in Sachen Griechenland nicht im Klaren. – By the way, die Stones variierend: The truth, children, is just a shot away, shot away (und das war schon der vielfache Schriftsinn: wg. Schuß und Wahrheit – - mindestens dreierlei Schüsse sind auf der Welt (der aus der Waffe, der aus der Spritze und der aus dem Zeugungswerkzeug***) – (das wußte glaubich Wolfgang Welt schon auch... – mochte er eigentlich die Stones? – (müsste nachdenken – oder in Peggy Sue gucken)) – aber zurück zu Altmaier und den Griechen und den Stones. My example is just a click away: http://www.zdf.de/maybrit-illner/griechen-zwangsgerettet-europa-gespalten-39290642.html – es ist Hans Werner Sinn, den Altmaier argumentativ in Sachen Griechenland-Kalamitäten definitiv nicht packt. Keine Ahnung, ob das an seiner Intelligenz liegt: In Sachen Intelligenz halte ichs nämlich auch mit – - – Enzensberger: Es langt, dass man halbwegs bei Groschen ist, der Rest ist Futter für die Regressiven: »Intelligenz – Ein Idiotenführer« – ich geb’s ja zu, das ist ein wenig heftig bei mir mit dem Enzensberger, aber ich kann mir nicht helfen: Wo er recht hat, hat er recht.
Als ich vorhin (natürlich wieder: im Wald!) Rad fuhr, habe ich am meisten um meine Behauptung über die öffentlich-rechtlichen Journalisten gebangt: Dass die hier nicht standhielte.
Nun sehe ich aber, wie Sie diesen Gedanken deutlich plastischer erscheinen lassen als ich und: Wie er mir dadurch noch besser (richtiger) zu sein scheint.
Ich halte ja nicht hinterm Berg damit, dass ich erhebliche Lese- und Lebenszeit in den Versuch gesteckt habe, die Faust-Frage in einer speziellen Modifikation zu durchdringen: Erkennen, was die soziale Welt im Innersten zusammenhält.
Vielleicht deshalb – bin ich unter dem Strich mit weniger zufrieden als Sie. Da die Beantwortung solcher Fragen, wie ich glaube verstanden zu haben, voraussetzungsreich ist, betrachte ich Erkenntnisfortschritte auf diesem Gebiet egalweg mit Freude.
Sie sind so häufig nicht.
Es braucht natürlich Tanker – aber die kleinen Forschungsschiffe haben durchaus ihre Berechtigung, selbst dann noch, wenn sich zeigen sollte, dass die Forschungschiffe, nachdem der Nebel gschwunden ist, als veritable Ruderboote dahingleiten. Hauptsache es schippert überhaupt eine(r).
Ob die Kunde von solchen Forschungsfahrten dann z. B. Müller erreicht, ist mir fast ganz gleichgültig.
Sie werden lachen: Ich halte Müller für nicht so wichtig.
Und naja: Ich jetzt ganz persönlich rede mit ein paar Leuten und schreibe mit dem einen oder der anderen – - – und da merke ich auch Resonanz, wenn ich die Begleitschreiben-Diskussion (ausschnittsweise bisher – was die ganze lange Liste angeht, so denke ich an Hesse: Eintritt nur für Verrückte...) herumreiche.
Ansonsten ist ja immer die Frage: Was macht man sonst: Ich z. b. kann nicht immer fotografieren. Und ich will auch, wenn ich nicht fotografiere, nicht ständig lesen oder an den Aufnahmen herumfeilen. Das gleiche habe ich vor vierzehn Tagen an anderer Stelle bereits vorgebracht: Ich habe schon erheblich mehr Zeit als hier auf erheblich drögere Weise beim Verstreichen zugesehen.
Fazit: Nochmal vielen Dank an Sie und alle Foristen für die wahrhaft zivilisierte und profunde Runde!
*** cf. The Beatles: REVOLVER, bzw. Happiness is a Warm Gun auf jenem Album, das haargenau so benannt war wie – eine Nanoweltsekunde danach, ein in der Tat den Geist stärkendes Kunterbunt von tatsächlich Hans Magnus Enzensberger – - – nämlich: Weißes Album – - – Allright, that’s enough – so gemahnt mich eine – öhöööö: Geisterstimme (Enzensberger) auf dem letzten der offiziellen Beatles-Alben: »Allright, that’s enough!«. Und die habbich seit 1970ff. offenbar auf immer als – so leben die Zwerge! – kleinen Mann im Ohr – - -
@metepsilonema
Das mit dem »schwafeln« war halbironisch gemeint. Aber vielleicht ist einer der Gründe, warum sich Müller mit der Soziologie zur Erforschung des Populismus-Phänomens nicht abgibt (sondern sie in ein, zwei Sätzen wegwischt) damit zu erklären, dass sie ihm zu beliebig, zu beschreibend ist.
Nassehi antwortet in Wirklichkeit gar nicht auf die Frage, was »die Mitte« ist. Meint er »Mitte« der Gesellschaft (Mittelstand; Mittelschicht) oder meint er die »politische Mitte«. Er poltert gleich los und nennt »die Mitte« einen »unlogischen Ort«. Ich stelle mir gerade den Journalisten vor, der das womöglich zum ersten Mal hört. Darüber muss man erst einmal nachdenken, was aber nicht möglich ist, weil ja das Gespräch weitergehen muss.
Im weiteren Verlauf erklärt Nassehi »die Mitte« so bisschen wie ein Prinzip kommunizierender Röhren: Wenn aus der Mitte heraus die politischen Ränder gewählt werden, dann wird die Mitte »weniger«. Sodann spricht er von einer »angsthasigen Klientel«, nimmt also Wertungen vor und ruft Weber und Freud als Kronzeugen. Das ist nichts anderes als hübsch formulierte Aufgeblasenheit. Er schaut dann noch ein bisschen aus dem Fenster und auf Berlin und unterstellt dann schließlich Andersdenkenden Denkfaulheit. Das kommt einem dann ein bisschen vor wie die Geschichte mit dem Splitter und dem Balken.
@Dieter Kief
Ob die Kunde von solchen Forschungsfahrten dann z. B. Müller erreicht, ist mir fast ganz gleichgültig.
Ehrlich gesagt: Mir nicht. Und das nicht nur etwas mit Eitelkeit zu tun, sondern auch mit dem inzwischen landläufigen Muster: Internet = Quatschbude, Hasspostings, Anonymität; im günstigsten Fall Unsinn. Schließlich ist die These immer noch virulent, dass das Medium die Botschaft ist (was ich für zu deterministisch halte). Wenn ich Bekannten sage, ich habe ein politisches Buch in meinem Blog diskutiert, denken sie sofort an einen enthemmten, obszönen Diskurs oder an Oberflächlichkeiten mit ganz viel Smileys. Dass es auch anders geht kommt den meisten gar nicht mehr in den Sinn.
Ehrlich gesagt: Mir nicht.
Ich hatte auf Ihren Vorschlag hin der Redaktion vom Philosophischen Radio einen Hinweis auf die Sendung geschickt. Gundi Große hat sich auch artig bedankt und darauf hingewiesen, dass auch tatsächlich JWM der Gast sein wird. Die Sendung wurde dann aber nur mit einem aus Princeton zugeschaltetem Müller absolviert. Ob die Redaktion ihm solchen Hinweis hat zukommen lassen? Wer weiss.
Zeit, die Wetten abzuschließen. Ich sage ebenfalls »Remain« voraus, vielleicht mit 55%. Selbst die Sklaverei wurde in England (Stichwort: westindische Handelskompanie) zu Beginn des 19.Jahrhunderts noch mit ökonomischen Gründen verteidigt. Das sind immer überzeugende Gründe. Remain for slavery!
Die existenzielle Krise der EU (Martin Schulz) ist damit nicht überwunden. Die Antagonisten der Veränderung, die Statthalter des Bundesstaatlichen Projekts werden sich gegen den Rückbau wehren, aber das liegt in der Natur der Dinge. Es muss weiter gestritten werden.
@Joseph Branco
Vielen Dank.
Früher hatte ich gelegentlich versucht, die Autoren direkt zu benachrichtigen. Anfangs kamen auch noch zuweilen Antworten, aber inzwischen geht so etwas unter. Das Philosophische Radio hat sicherlich einen um Faktor 1000 grösseren Resonanzraum als ein Blog.
@die_kalte_Sophie
Schulz drohte schon Schweizern, Griechen und Österreichern. Jetzt auch Briten. Wer nicht so abstimmt wie Schulz bekommt keinen Nachtisch und ist mindestens ein Antidemokrat oder noch etwas Schlimmeres. Solche Leute sind Unmutsbescheuniger par excellence.
Ja, »it’s the economy, stupid« wie schon Clinton seinen Wahlkampfmanagern gesagt haben soll. Auch hier also Drohgebärden. Ein Wahlkampf, der Schlimmeres verhindern soll. EU-Euphorie ist das nicht. Aber ein 1:0‑Sieg reicht ja.
Ich weiß nicht, ob schon jemand den Link gepostet hat. Auf dem Theorieblog wurde der Essay auch diskutiert und Müller antwortet – zum Teil auch auf Einwände, die hier vorgebracht wurden. http://www.theorieblog.de/index.php/2016/06/und-was-ist-nun-populismus-die-replik-von-jan-werner-mueller/
Danke, Doktor. Ich habe sogar eine Stelle gefunden, die sich auf meine Einwände bezieht, Müller sagt:
Aber mein Begriffsangebot soll ja gerade vermeiden, unterkomplexe Politik und Fremdenfeindlichkeit mit Populismus in eins zu setzen
Dagegen hatte ich den Populismus als den »Willen der Politik« der einfachen Leute auf der Basis von verdrängten Themen von vitaler Bedeutung definiert.
Das heißt: ganz ohne Frage kann man »unterkomplexe Politik und Fremdenfeindlichkeit mit (Rechts)Populismus in eines setzen«.
Ich musste jedenfalls lächeln. Meiner Meinung nach gehen Müllers Begriffsangebote doch stark mit den Verdrängungsangeboten der konventionellen Politik konform.
Wir lesen die Forschungsergebnisse von Putnam, Collier, etc. Naja, irgendwie bedauerlich.
Wir lesen die Jahreswirtschaftsberichte des ifo-Instituts. Naja, irgendwie bedauerlich.
Dass nur ja nicht jemand auf die Idee kommt, ein unterkomplexes Politikangebot zu diesen bedauerlichen Entwicklungen zu formulieren...
Das darf nicht.
@ Doctor D »&« die_kalte_sophie
Paul Collier, Robert D. Putnam, Ruud Koopmans – alles müllersche Leerstellen.
Auch Dieter Grimm und Di Fabio.
(Bei Putnam ist es mittlerweile so, dass er in den USA mit seinen sozialpsychologischen Vorbehalten gegen den Multikulturalismus fast nur noch von Aussenseitern oder explizit rechten SchreiberInnen zitiert wird).
Ich will den Schlink-Bezug von weiter oben noch durch ein Zitat verdeutlichen:
Zitat zur EU – Verfassung aus dem Merkur Nr. 6 / 2016, S. 15, in dem Artikel »Grechtigkeit«
»Bei der europäischen Union führen die beiden gegenläufigen Prinzipien der Gleichheit der Mitgliedsstaaten und der Gleichheit der Bürger und Bürgerinnen zu Kompromissen, die für beide Seiten begründbar und vermittelbar sein sollen, aber nicht sind, und halten damit ein ungelöstes Verfassungsproblem virulent.«
Das schließt nahtlos an Grimm und Di Fabio an, wie ich finde, auch wenn es auf extrem leisen Sohlen daherkommt. Der Artikel klingt dann aus mit einem Appell an die Barmherzigkeit gegenüber Flüchtlingen; also: Allein Flüchtlinge werden da erwähnt. Schlink wird sich, wie ich wohl zurecht annehme, etwas dabei gedacht haben.
@die_kalte_Sophie
UK/Brexit: Ja, so kann man (= wir) sich täuschen...
Bingo. Da kann ich nur Uli Jörges (Stern) zitieren: Vorsicht bei allen Umfragen, die mit dem Thema »Migration« zu tun haben.
Ich bin über die Maßen überrascht, verärgert, fühle mich gleichzeitig bestätigt und ratlos, was die Zukunft der EU anbelangt.
Einen wunderbaren Satz habe ich übrigens aus dem Netz gefischt.
Es war Christian Nitsche, Chef-Redakteur auf Tagesschau.de, der seinen Kommentar zum Brexit allen Ernstes mit dem Satz beginnt:
»Dies ist der deprimierendste Tag seit der Deutschen Wiedervereinigung.«
[Inzwischen wurde der Wortlaut geändert, man hört es selbst in der Verbesserung noch Holpern, aber heute mittag stand der Satz im Netz.]
Die zweifellos wichtigste Frage, die sich durch den Brexit stellt, findet man dort.
@ mete, guter Gag. Billig-Unterhaltung für Pay-TV-Konsumenten gesichert.
Inzwischen nimmt die Katastrophe, die Timothy Garton Ash angekündigt hat, ihren Lauf. Schottland bereitet ein zweites Unabhängigkeits-Referendum vor. Ein Alptraum, der in der politischen Presse nicht im Entferntesten mit der Deutschen Regierung in Verbindung gebracht wird. Ich beantrage, in ein künstliches Koma versetzt zu werden. Weckt mich, wenn die EU Geschichte ist.
die_kalte_Sophie
Diese Form des Linkspopulismus kommt ja bei den Europäern sehr gut an. Endlich zeigt ihnen mal jemand, dass man sie mag. Wie das ökonomisch funktionieren soll, weiss niemand (Britisches £ oder ein eigenes, Schottisches £ oder Modell Montenegro, also den € ohne Mitsprache?). Demnächst noch Katalanien.
@die_kalte_sophie 162
guter Gag – hat schon für viele verblüffte Gesichter gesorgt. Grazie!
– Der Gedanke, wie er wahrscheinlich gemeint war:
»Der Tag fühlt sich so schlecht an wie der Tag des Mauerfalls gut.«
T G Ash
Perfekt auch die öffentliche Stellungnahme eines linken regionalen Kulturexponenten gestern Nacht hier am See: Katastrophe, taruriger Tag usw.
Jetzt muß man noch dazu sagen, dass er sich privat dazu entschlossen hat, ein paar Kilometer jenseits der Grenze in der steuergünstigen und bestens regierten EU-fernen Schweiz zu logieren, vor Jahren schon.
Mein Wunsch: Dass man derlei gedankenloses Linkssein per Gesetz regelt. So 500 Euro Geldstrafe fürs erste wären schön. Von mir aus auch über den EuGH.
Ebenfalls gut, aber von heute, Mann Mittelschicht aus Chicago: Nun ja, man braucht sich nur klarzumachen, dass Trump dafür ist, dann weiß man genug.
Wg. Brexit und Populismus
Hier geht das Populismus-Thema weiter im Gespräch zwischen Gastgeber Stefan Klapproth, dem englischen Journalisten Haig Simonian (The Economist) und der Politologin Ulrike Guérot (ehedem Fraktions-Assistentin der CDU im Bundestag) in der Sendung Sternstunde Philosophie im Schweizerischen Fernsehen.
Der systematisch wichtige Punkt, auf den Guérot ausführlich zu sprechen kommt, ist die Tatsache, dass die EU k e i n e angemessene demokratische Struktur habe. Guérot begreift, dass es deshalb nicht gescheit ist, zwischen Farage, Wilders, Le Pen und Habermas einen grundsätzlichen Unterschied zu machen, was diese Kritk an der EU angeht.
Die weithin gesungene Melodie lautet: Die Bösen entlarven, die konstruktiven Kritiker hofieren. Habermas kriegt Preise, die europäische Rechte kriegt Haue. Die Pointe, die Müller entgeht: Es besteht zwischen den rechten Kritikern der EU und den linken wie Habermas (oder Gimm – oder Schlink) k e i n substantieller Unterschied.
Insofern ist es fast ein wenig schade, dass wir unsere langen Episteln letzte und vorletzte Woche schon geschrieben haben: Heute bräuchte man vieles gar nicht mehr erörtern, sondern könnte gleich auf diesen Link verweisen***:
http://www.srf.ch/sendungen/sternstunde-philosophie/ein-koenigreich-fuer-ein-neues-europa
*** Die allergleiche Geschichte würde ich persönlich aber lieber in dieser Fassung erzählen: Lieber Herr Keuschnig: Besser hätten Sie unsere Debatte nicht initiieren und terminieren können. Wahrscheinlich auch deswegen war sie so fruchtbringend!
@Dieter Kief
Guérot ist eine Ideologin; ich kann ihr nicht einmal mehr zuhören. Sie plädiert für eine Europäische Republik (wenn auch als Vision). Hier wird ihr diesbezügliches Buch vorgestellt (das Cover ist allerdings genial), übrigens nicht ohne darauf hinzuweisen, dass sie bei ihren Reisen festgestellt hat, dass 70% der Leute »Europa« wollen. Leider wird dabei immer vergessen, dass sich jeder unter »Europa« etwas anderes vorstellt.
@ Gregor Keuschnig
Ja, das Buch zielt systemtheoretisch abgefedert auf das Jahr 2045. Das ist soweit in Ordnung.
Und ja: Sie hat in Sachen Einwanderung immer noch die rosa Brille auf.
Bleibt nur noch, was sie heute in Bezug auf die Legitimationslücken der EU gesagt hat. Auch mit Bezug auf ihr Buch.
Was Sie weiter oben schon angesprochen haben – hier wurde ja praktisch alles bereits angesprochen... dass die Eliten mit dem strukturellen Legitimationsdefizit auch ganz fröhlich ackerten, nach dem Motto: Dann redet uns der Plebs wenigsten nicht rein, hat Guérot heute konzediert. Und das schöne ist dann ja bei solchen Leuten, die den ganzen Tag nichts anderes machen, als diese paar Fragen hin- und he zu wenden, dass sie, wenn sie nur einmal soweit sind, bestimmte Thesen zu akzeptieren: Handkehrum, wie die Schweizerin sagt, die allerbesten Beispiele parat haben. Heute für mich neu in diesem Angebotskoffer: Die ganzen UTB-Taschenbücher »Einführung in die EU« usw. tradieren die Formel: Die EU sei eine Körperschaft »sui generis«. Und nun lässt Guérot den Vorhang hoch: Damit drücke man nichts anderes aus, als dass die Macht des sanften Monsters – eine Kopfgeburt ohne hinreichende demokratische Kontrolle ist.
Der Moderator Klapproth war in dieser Situation geistesgegenwärtig und erinnerte sich, diesen Punkt gegenüber Joschka Fischer angesprochen zu haben, worauf dieser zu seinem (des Moderators) Erstaunen einräumte, dass es nicht das schlechteste sei, dass man auf EU-Ebene hie und da habe schalten und walten können, ohne dass einem groß einer dazwischenredete. Demokratiedefizit: Nunja. Aber anders geht es nicht.
Da war die Guérot dann wieder ziemlich hilflos, weil sie Beschleunigungsklagen (also Kulturkritik) mit der Sphäre des Demokratiedefizits zusammenbrachte. Das gibt zwar schöne Geschichten über die Sorgen der medizinischen Forschung angesichts schwangerer Frauen in Eisenbahnen um die Jahrhundertwende, hat aber eigentlich nichts mehr mit Politik zu tun. Allenfalls eine Sachzwang-Metapher würde man hier noch gelten lassen wollen. Aber Guérot meinte das irgendwie Substantialistisch. Da war dann der wirklich trockene Haig Simonian am Zug, und ließ der dampfplauderin die Luft raus. Zischsch.
Ich habe auch fast einmal eine Guérot-Allergie entwickelt, bin aber mittlerweile davon wenigstens kuriert.
Ach noch eine Fußnote wg. Brexit: Georg Diez (ich weiß, ich weiß – aber man soll sich über das Gefieder des Vögelchens im Medien-Bergwerk nicht soviele Gedanken machen, so ermuntere ich mich von Zeit zu Zeit) – Diez also ist ernsthaft gekränkt, und zeigt sich damit einverstanden, dass Europa ganz den Bach runter geht – heute auf spon:
»Wenn Europa seine eigenen Werte verrät, ist es nicht Wert zu überleben.«
Ein Blitz und Donnerhall! »Georg« Zeus »Diez«.
@Dieter Kief
Eher Georg ‘Adolf’ Diez, oder?
@ Gregor Keuschnig
Call me crazy – aber ich finde da eine Parallele zu Schäuble.
Meinen gesunden Nachtschlaf rettet wie so oft ein kanonischer Geist: Heute: Nikolaus von Kues.
zu #167. Danke für die »Sternstunde«. Diesen Vogel Guérot wollte ich mir mal aus der Nähe anschauen. Aus einem Artikel in der FAZ hatte ich schon einen ersten Eindruck... Idealistin, vollgestopft mit Versatzstücken aus Sekundär-Literatur und Presse, will die üblichen Belohnungen für Demokratie-Begründer und Verteidiger abgreifen. Sie schreibt besser als sie spricht, denn das Gerüst der Grammatik beim Schreiben hat so ein loses Denken dringend nötig.
In der österreichischen Zeitung »Die Presse« kann man die bereits angesprochene Diskrepanz (Enttäuschung oder Entfremdung) zwischen Politik und Bürgern bzw. Journalisten und Bürgern beobachten (ein fürchterlicher Artikel und einige Kommentare dazu). — Ob die affirmative Nähe mancher Journalisten zu Politik und Macht diesen nicht irgendwann einmal peinlich wird?
Okay, dann hab’ ich auch noch einen Link: Tim Parks, ein Brite in Italien, in der Süddeutschen Zeitung über das wohlfeile Brexit- und Briten-Bashing.
Der EU das Nichterreichen illusionärer Ziele vorzuwerfen, ist jetzt aber eher das Problem des Autors. Einfach damit zu leben, wie Botswana behandelt zu werden, wäre ja OK. Die Brextiteers haben aber versprochen alle Vorteile zu behalten und die Nachteile abzugeben. Cherry picking sehe ich nicht als vertretbare Alternative und sollte auch so genannt werden. Wohlfeil ist das nicht, zumal die Briten schon einen ganzen Sack voll Sonderregeln ausgehandelt hatten.
@Joseph Branco
Naja, so schlimm wie Botswana wird’s wohl nicht werden. Eher wie Norwegen und die Schweiz: Man sitzt nicht mehr am Tisch und kann nur zustimmen oder ablehnen. Wohlfeil ist das Bashing dahingehend, dass man den Briten per se unterstellt, sie seien zu dumm gewesen. Parks hat dahingehend Recht, dass die EU (nicht nur un GB) für nichts Positives steht. Das »Friedensmodell« wird als solches nicht mehr wahrgenommen; die Frieden ist sozusagen selbstverständlich geworden.
Dass es die Briten selber waren, die Gestaltung einer weitergehenden Integration verhindert haben, müsste man vielleicht auch einmal erwähnen. Lässt man die Osteuropäer Rumänien und Bulgarien mal weg, war GB das einzige Land, dass weder im Euro- noch im Schengen-Raum aktiv war. Selbst Irland (Nicht-Schengen) hat den Euro. GB war immer sehr weit weg und war, um Merkel zu zitieren, immer schon ein Rosinenpicker gewesen. Aber es war ein großer Skalp am Gürtel der Europäischen Union.
Einige Brexiter hatten ja schon vorher als Möglichkeit angekündigt, das Votum in neue Verhandlungen einzubringen. Daher sagte Cameron im Wahlkampf ja, dass es nur diese eine Chance gebe. Aber das schreckte eben nicht ab.
Wir werden sehen, ob den Briten nicht wieder einmal Sonderkonditionen eingeräumt werden: Freier Zugang zum Markt ohne den Punkt Niederlassungsfreiheit zum Beispiel. Im Moment übt man sich noch in Abschreckung und es wird jetzt heftig dementiert, aber zu Beginn der Griechenland-Krise beispielsweise wurden ebenfalls Aktionen ausgeschlossen, die man einige Monate später als alternativlos darstellte. Natürlich sind beide Ereignisse nicht zu vergleichen, aber es war ja immer eine Eigenschaft der Eurokraten, dass sie flexibel reagieren konnten.
Also, ich sehe die Situation nach dem BREXIT als unzweideutig. Die oberflächlichen Kommentare von Politikern (keine Rosinen) sind doch nur publizierte Antworten auf extrem zugespitzte Fragen. Nein, GB wird einen »Sonderstatus« erhalten, und der dürfte den Zugang zum Binnenmarkt wohl einschließen. Die Freizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit fällt weg, aber das war ja auch der Sinn der Sache.
@ Joseph. Die Kränkung zielt natürlich genau auf diese letzten beide Punkte. Die Polen. Die illegalen Einwanderer. Das ist zwar nur das Feld »Arbeit & Soziales«, aber die Ablehnung der Vorgaben aus Brüssel bezieht sich direkt auf die Frage der Kompentenzen. Und die seit Maastricht offene Frage der Subsidiarität. Das wurde nie gelöst, die Frage: Wenn die nationale Ebene entscheidet, und die Kommission eine Klage vor dem EUGh einreicht, wie ist das Urteil dann zu bewerten?! D.h. die Interdependenz von Exekutive und Legislative ist bis auf den heutigen Tag offen. Ich kann mir vorstellen, dass viele Briten genau wie einige Deutsche dieses Roh-Gebilde der Gewaltenteilung (naja!) albern finden. Es entspricht eigentlich nicht dem Entwicklungsstand der Nationalstaaten, strukturell gesehen, ist das ein »Entwicklungsgebiet«.
Und wer heute noch die Chuzpe hätte zu sagen: Naja, das ist ja gerade der Prozess der vertieften Einigung, der wäre meines Erachtens fast schon ein Lügner. Will sagen, ich sehe durchaus ordnungspolitische Gründe, die EU zu verlassen.
@die_kalte_Sophie
Die ordnungspolitischen Gründe, die EU zu verlassen, kann man sehen. Aber die spielten in dem Wahlkampf keine Rolle. Stattdessen wurde das hier plakatiert.
Die Entscheidung, aus der EU auszutreten, ist zu respektieren, aber sie ist auf die Zukunft gesehen eine große politische Dummheit. Gerade für eine Volkswirtschaft die auf Globalisierung angewiesen ist, dürfte es ein Rückschritt sein. Die Frage ist jetzt, ob man von seiten der EU den notwendigen Schnitt unternimmt. Und da habe ich meine Zweifel. Und damit würde der Brexit nachträglich legitimiert.
@Gregor Keuschnig
Was ich auch gesehen habe, ist, dass z.B. Gisela Stuart, vorher gern gesehener Interviewpartner, plötzlich nicht mehr vorkam. Wahrscheinlich dass gleich Problem, wie mit Luke etc. bei uns. Man hatte wohl Angst Farage immer im Hinterkopf mitzudenken.
Und die Frage der Dummheit sehe ich etwas anders. Hätten 2% der Briten anders abgestimmt, wäre die Lage anders. Wie hoch ist der Anteil derer, die sich durch Lügen (NHS) haben ködern lassen, wieviele haben den Versprechen geglaubt, dass die Polen am nächsten Tag nach Hause geschickt werden und noch schlimmer die angeblich europafreundliche Jugend, die es aber nicht in die Wahllokale geschafft hat. Da war Dummheit dann vielleicht doch letztendlich der ausschlaggebende Faktor.
Nicht dass ich auf die Briten nicht verzichten könnte, wahrscheinlich waren sie in Summe mehr Störfaktor als hilfreich. Etwas mehr guter Willen, hätte aber sicherlich nicht geschadet. Ein Herzensprojekt wird Europa wohl nie werden.
@die_kalte_Sophie
Die Situation sehe ich momentan sehr offen, praktisch Spieltheorie. Die Briten können durch das Triggern nur verlieren, weil sie dann jeden Tag stärker unter Druck geraten, Kompromisse schließen zu müssen. Daher die Zögerlichkeit. Die EU darf unter keinen Umständen anfangen zu verhandeln, bevor der Prozess begonnen hat. Daher das Verbot von Juncker. Das hat Merkel dann ein paar Tage später auch verstanden, oder verstanden bekommen. Nervensache.
Auch wenn Deutschland wegen Autos und so massiv Einfluss nehmen wird , kann ich mir nicht vorstellen, dass auf Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit verzichtet wird. Dass hat Norwegen nicht und die Schweiz spürt gerade die Konsequenzen ihrer Volksabstimmung. Auch da hat Merkel sich so in Pose gestellt, dass es kaum einen Weg ohne Gesichtsverlust zurück gibt.
Das größte Problem bleibt in der Tat das Verhältnis zwischen EuGH und den nationalen Verfassungsgerichten. Seit das italienische Verfassungsgericht in einem (ökonomischen) Streit gegen den EuGH den Kürzeren gezogen hat, belauert man sich wie zwei Panther im Käfig, die sich nicht trauen ein Ergebnis zu erzwingen (gerade wieder gesehen, wegen OMT).
Das hört sich vielleicht so an, dass mich das »euopäische Projekt« weiter begeistern würde, aber das war einmal. Heute bin ich nur noch pragmatisch, sehe schlicht mehr Vor- als Nachteile. Merkels überhebliches »Wir schaffen das« hat die Axt an die Basis Europas gelegt, quasi »Am deutschen Wesen soll die Welt genesen«. Das hat zu einem unglaublichen Unmut in Europa geführt, der in unseren Medien praktisch nicht vorkam (s. Indexing bei Uwe Krüger). In GB wurde da schon nicht mehr zwischen Polen und Syrern unterschieden. Wenn ich jetzt Juncker höre, der die Abstimmung über CETA als EU only deklariert, dann aber lässig ein »mir doch schnurzpiep egal« nachschiebt, kann man schon verweifeln.
@Joseph Branco
Nur kurz: Mit Dummheit meint ist nicht die Wähler, sondern die strategische Dummheit aus einem Verein auszutreten, statt ihn ihm zu bleiben, um ihn zu verändern. Dass 51,9% der Briten nicht so strategisch gedacht haben, wird ihnen vielleicht einmal auf die Füße fallen.
Als ich das Plakat von Nigel Farage um ersten Mal in einem TV-Bericht aus London gesehen habe, riesig, geklebt auf einem Lkw, war ich schockiert. Andererseits habe ich im letzten Jahr sehr wohl zur Kenntnis genommen, dass immer die »richtigen Bilder« den Boulevard und die politische Öffentlichkeit in Deutschland erreicht haben. Das ist ja auch nicht ganz ohne Rücksicht auf die Emotionen geschehen.
Ich muss sagen, im Moment weigere ich mich so gut es geht, politische Emotionen an mich ranzulassen. Ich sage mir: beide Lager haben recht. Die Menschenfreunde, die das Dilemma zwischen »Kontrolle« und »Integrationspolitik« möglichst weiträumig umgehen, in dem sie auf Kontrolle verzichten.
Und die Nationalisten haben auch recht: Politik setzt Bündnisse voraus, die in der Lebenswelt verankert sind. Und da sortieren sich nun mal die Kulturen. Am Ende rührt eine völlige Vermischung der Kulturen sogar an einen Pol des Politischen als solchem. Es ist (glaube ich) nicht falsch wenn auch theoretisch immer noch umstritten, wenn man sagt, dass nur eine streng ideologisch orientierte Politik in der Lage ist, diese atavistischen Voraussetzungen zu überschreiten. Das sind Verhältnisse wie bei Pest und Cholera. Natürlich wechseln die Profi-Politiker die Argumentationen wie ihre Hemden, aber ein Skandal entsteht erst durch die Vereinseitigung.
Um nicht missverstanden zu werden: ich meine nicht nur die Sozis. Ich halte auch den Liberalismus für eine Ideologie, dessen Wert gewissermaßen in der Überwindung der atavistischen Voraussetzungen beruht, und dessen Utopie sogar in einem Verschwinden der Macht gipfelt, zugunsten einer Gesellschaft des reinen Funktionierens. Eine durch und durch lebendige Ideologie...
@ Joseph. Richtig, die einzige vernünftige Form der Politik besteht in Abwägungen und Fragen der Praxis. Die Gesetze müssen aus der Praxis kommen. Auf der ideologischen Ebene (gerne auch »Narrativ« genannt«) gibt es nichts zu lösen und nichts zu gewinnen.
@die_kalte_Sophie
»Narrativ« kann man zweideutig lesen. Zum einen als »ideologisch«. Aber ich würde es eher als den Wunsch sehen, eine emotionale Basis zu erzeugen. Das ist bei einem solchen Projekt wie der EU sehr schwierig, weil sich immer nur die Nachteile zeigen (dumme Verordnungen, Regulierungswut). Die Nachbesserungen auf das Positive erschöpft sich in den gefallenen Roaming-Tarifen. Alles andere wird wie selbstverständlich aufgenommen.
Das Problem der EU-Ideologie ist darin zu sehen, dass kulturelle Unterschiede, die ja bereichernd sein können, nivelliert werden. Statt die ökonomischen Ungleichheiten zu beseitigen wurden und werden die kulturellen Eigenheiten sozusagen von oben abgeschafft. Dies bringt Nationalisten auf den Plan, die nun leidlich gegen Brüssel wettern können.
Die Polen, die in GB leben, arbeiten dort auch alle; die Werbung mit der Schlange von Flüchtlingen von Farrage war daher nichts anderes als Volksverhetzung.
»EU-Ideologie« gefällt mir. Ich sehe keinen eindeutigen funktionalen Unterschied zwischen der Bemühung eines Narrativs und der ständigen Wiederholung von Kampfbegriffen bzw. unrealistischen Phrasen. Genau deshalb reagiere auf die Verführungs-Versuche allergisch. Das will Zustimmung, Fraternität, ohne Sinn und Ziel. Sieht verdammt wie eine Ideologie aus, wenn ihr mich fragt...
Und ja, wir drehen uns im Kreis, aber es bleibt auch nichts anderes übrig: die Kulturen sind national oder regional verankert, da hat die EU nichts verloren. Allenfalls bewirkt sie Zerstörungen. »Kultur ist Ländersache«, sagt man in Deutschland ganz probat. Das wäre subsidiär zu respektieren.
Ich muss noch was zu dem Vermischungsproblem sagen: irgendwie werde ich den Eindruck nicht los, dass man in Deutschland Kultur und Religion als Privatbesitz betrachtet, der friktionsfrei den »Mobilitätsaxiomen der Globalisierung« gehorcht. Will heißen: nimm deine Kultur, nimm deine Religion, und geh’ wohin Du willst, mutmaßlich aus ökonomischen Gründen. Interessanterweise geht beides nicht: die Immigranten verkümmern in einem fremdartigen Milieu, die Söhne werden Salafisten, und die Europäischen Auswanderer nehmen (in der Einzelbetrachtung) so gut wie nichts mit, es sei denn, sie sammeln sich in Kolonien und Communities (siehe U.S.A.), was auch wieder den Bestand sichert. Es gibt m.M.n. weder ein Mischungsproblem noch ein Zugehörigkeitsproblem zwischen den Kulturen. Aber eine Verarmung gibt es durchaus, und diese wiederum wird von dieser Besitzstands-Rucksack-Mentalität sogar befeuert, indem man den Leuten weismacht: ökonomische Vorteile gibt’s ohne Nachteil in anderen Lebensbereichen. Das wäre freilich schön.
Zynisch: Kommt alle nach Europa, wenn ihr vergessen wollt, wer ihr seid...
@die_kalte_Sophie
irgendwie werde ich den Eindruck nicht los, dass man in Deutschland Kultur und Religion als Privatbesitz betrachtet, der friktionsfrei den »Mobilitätsaxiomen der Globalisierung« gehorcht.
Das ist eine gute und wie ich glaube richtige Beobachtung. Sie zeigt sich u. a. auch darin, dass man keinerlei moralische Skrupel im Handel mit bestimmten Staaten und/oder anderen zweifelhaften Systemen kennt. Alles ist »Privatsache«; wird am Rand vielleicht einmal erwähnt, hat aber keine Auswirkungen.
Alles wird der Maxime des Wirtschaftswachstums, der einzig legitimen Religion im säkularen Wirtschaftswunderland, untergeordnet. Der Schock ist nun, wenn jemand »seine« Kultur als nicht verhandelbar ansieht. Auch da zuckt man in Deutschland gerne zunächst einmal die Schultern und rühmt sich seiner Toleranz.
@Gregor
Du schriebst weiter oben, #137: »Zur EU kann ich keine Prognose abgeben. Imperien bzw. imperienähnliche Gebilde können Rückbau schwer verkraften, schon aus Imagegründen nicht. Tatsächlich droht natürlich eine Art Domino-Effekt«. Ähnliche Überlegungen spielten beim Brxit wohl auch eine Rolle: Lohnt es sich zu bleiben und etwas zu verändern zu versuchen? Ist das möglich und realistisch? Vielleicht wurden ökonomische Überlegungen und Konsequenzen hintangestellt, weil man anderes für wichtiger erachtete.
@die kalte Sophie
Atavismen lassen sich m.E. nicht überwinden, weil sie in der menschlichen Natur verankert sind (und daher immer wieder auftreten werden); Gruppenbindungen und Zusammengehörigkeitsgefühle finden wohl verschiedene Formen und Formulierungen, waren aber immer vorhanden (Stamm, Familie, Reich, Nation, Religion, Kultur, Staat, Region, etc.)
Ich finde die Spannung zwischen der Moderne und den Atavismen viel interessanter und wichtiger, als die Überwindung des je einen. Ein Selbstverständnis, etwas »Eigenes«, eine Gruppenrepräsentation, ist ja nicht notwendiger Weise unkompatibel mit einer modernen Lebensweise und bedeutet nicht, dass man deswegen alles andere gering schätzt; man könnte sogar sagen: Ein Selbstbild inklusive seiner Wertsetzungen machen den Zugang und das Verstehen Anderer (Fremder) überhaupt erst möglich (mir scheint, dass wir da eher zwischen den Extremen schwanken, als einen vernünftigen, entspannten Zugang zu finden).
Ein Narrativ hat im Gegensatz zu Phrasen und Kampfbegriffen immerhin einen Zusammenhang, eine Form, Ganzheit, selbst wenn sie fragmentarisch ist.
@metepsilonema
Es gibt m. E. keine Alternative zum Bleiben. Die Frage ist nur, ob man mit dem aktuell zur Verfügung stehenden Personal eine Art Neuanfang überhaupt erreichen kann. Und natürlich wie dieser Neuanfang aussieht.
Ich sehe derzeit weder in Frankreich noch in Deutschland hinreichendes Interesse ein neues »Narrativ« für die EU einzubringen. Frankreich ist politisch praktisch gelähmt durch den FN. Und auch in Deutschland wird Merkel ein Jahr vor der Bundestagswahl nicht das eigentlich doch eher unbeliebte EU-Thema forcieren. Sie ist in den letztem 12 Monaten in Umfragen dramatisch abgestürzt. Erst einmal wird man weiterwursteln. Ein Austritt mag für die Briten (weder Schengen noch Euro) möglich, vielleicht sogar attraktiv gewesen sein. Für andere Länder wäre es vor allem auch ökonomisch unsinnig. Es sei denn, man gewährt den Briten Sonderkonditionen. Dann ist alles möglich.
@Gregor, #187
Ja, das ist das Dilemma: Der Austritt ist nicht unbedingt sinnvoll, zumindest sehr riskant, im Gegenzug sind nicht ansatzweise irgendwelche Bestrebungen nach Veränderungen oder Diskussionsansätze sichtbar. — Letztlich ist die Frage nach den Austrittskonditionen (Verhandlungen) bereits mit der Zukunft der EU verknüpft: Will man einen anderen Weg bestreiten, sollte man die Briten nicht verprellen; will man den jetzigen weitergehen, kann man sie ruhig »davonjagen« und damit ein Exempel statuieren.
Wortmächtig, polemisch, fast wütend: Wolfgang Streeck.
Der ganze Text hier.
Zu Streeck. Das Zitat ist ein Highlight, mit großer Verve wird hier polemisiert, dass man fast erschrickt. Aber der Text hat noch mehr zu bieten.
Er findet eine Antwort auf die Frage »Wie kommen wir aus den Strukturen raus, ohne dass es zu ungeregelten Brüchen kommt?«.
Die prozedurale Idee nennt er die »EU-Light«. Eine Konföderation wäre zu planen, die Länder mit hohem Autonomie-Anspruch bedient, und die als Ausstiegs-Plattform für die bereits Unwilligen attraktiv sein könnte.
Das könnte eine neu konzipierte EFTA leisten.
Zitat. »Ein solcher Rahmen könnte auch für viele derzeitige Vollmitglieder attraktiv sein und sollte deshalb als Auffanglager einer geordneten Auswanderung aus der alten, gescheiterten EU allen offenstehen, nicht nur den Briten...«.
Exzellenter Gedanke! Ein Sprungbrett für Einsteiger (das leidige Thema Türkei) und ein Auffanglager für Aussteiger... Der Sezessionsprozess könnte dem UMBAU nämlich förderlich sein. Ganz im Gegensatz zur landläufigen Funktionärs-Denke unter deutscher Führung!
Spill Some Water in The (Streeck-) Vine
Auch Streeck fordert nun den EU-Rückbau. Es werden immer mehr (s. o. als ERSTER Enzensberger, als dittletzter Védrine)).
Auch Streeck sagt – wie zuletzt hier im Blog zitiert in dieser Sache, Guérot: Das anti-Populisten-Schwert ist krumm.
Was mich leider nicht wundert: Dass Streeck sich quasi auf niemanden von denen bezieht, die ihm den Weg gebahnt haben oder mit ihm an einem Strang ziehen; so ist halt Streeck (es muss auch solche Leute geben...). Stattdessen der fast komplett sinnfreie Verweis auf den greisen Allan H. Melzer, nach dem längst kein Hahn mehr kräht, als einzige, angeblich dicke u fette Ökonomie-Referenz.
Fazit: Streeck denkt nach wie vor mit Streeck. So kennt man ihn: Pro bono, contra malum. Und was darunter jeweilen zu verstehn sei – bestimmt einzig u allein: Wolfgang Streeck.
Und er ist komplett gespalten: Weil er jetzt nicht nur die EU zurückbauen will, sondern gleichzeitig die EU-Maximalintervention in Sachen Griechenland für zu mickrig ansieht, nach wie vor. Motto: da wurden die Banken gerettet. puh – und wem haben die Banken das Geld zuvor gegeben – den Türken? Großer Gott!
Lothar Struck – nur fürs Protokoll: Haben Sie nicht genau hier im Blog g e g e n den Rückbau angeschrieben, weiter oben. Und jetzt sind Sie aber für Streeck?
Oder sind Sie gar nicht für Streeck, sondern fanden das nur einen beeindruckenden Text – dann hätte ich mich freilich getäuscht – was freilich nichts besonderes ist.
@Dieter Kief
Streeck fordert etwas mehr als nur einen Rückbau. Es ist ein Umbau; eine »EU-lite« (sic!). Eine EU, die mehrere Ebenen hat, in sich unterschiedliche Levels.
Ich sage nicht, dass das geht. Eher im Gegenteil: Gebilde wie die EU machen freiwillig keinen Rückbau, geschweige denn einen Umbau, weil sich ihre Protagonisten eingestehen müssten, falsch oder überhastet gehandelt zu haben. Sie betrachten solche Veränderungen wie Nationalstaaten Sezessionen ansehen: als Beschädigung ihrer Identität. Genauso reagieren Schulz und Juncker – beleidigte Leberwürste, die angeblich keine Zeit verlieren wollen, dabei sind sie es Jahren, die die Zeit aufs Spiel setzen.
Streecks These des dominierenden Deutschland und der Schuld der Kanzlerin an dem Brexit-Ergebnis halte ich für diskussionswürdig, aber falsch. Auch die linke Kritik am Austeritätskurs ist sehr kurzsichtig. Sicherlich, man hört jetzt aus Italien und Frankreich, dass man die Konvergenzkriterien lockerer handhaben will, was bedeutet, dass man mit Schulden Konjunkturprogramme auflegt. Das ist so, als wenn ich Kopfschmerzen damit bekämpfe, dass ich mir mit dem Hammer auf den Fuß schlage – dann vergesse ich den Kopf, weil der Fuß jetzt schmerzt.
Treffend finde ich ihn, wenn er die Arroganz derer geißelt, die glauben zu wissen, was für Briten gut ist und was nicht. Heute musste ich den »Presseclub« abschalten, weil dort deutsche Journalisten aus ihrer Filterblase erklärten, was britisch und vor allem was »unbritisch« ist. Das ist derart widerlich gewesen, dass es schmerzte. Briten selber einzuladen hatte man vermieden (eben: Blase).
Stunden später erklärt Schäuble, dass er den Menschen zeigen will, was Europa leisten kann. Und schlägt – womöglich nicht mehr im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte? – eine Art europäischer Armee vor. Ich sehe schon den FN, die FPÖ und all die Kadetten kapitulieren, weil die Wähler jetzt jubeln, dass sie endlich eine gemeinsame europäische Armee bestücken dürfen. Nicht? Oh.
Die Lehre aus dem Brexit-Votum ist nicht nur (wie Streeck sagt), dass die Ökonomie nicht mehr zählt (Stupid Clinton). Sondern eben auch, dass Drohungen nicht mehr verfangen – seien sie auch noch so rational begründet. Wenn Ehepartner sich nicht mehr verstehen, ist die Drohung, den Partner zu verlassen nicht mehr zündend.
Selbst ein Einfrieren der Aktivitäten ist ja nicht möglich. Denken Sie an Griechenland und Spanien. Und was, wenn Frankreich nicht mehr nur taumelt, sondern droht zu fallen? Es ist also nicht mehr nur ein Image-Problem, dass die EU sich nicht einfach mal für ein, zwei Jahre absentieren kann. Während ich dies schreibe, liegt Island gegen Frankreich 0:4 zurück. Aber die Isländer können nicht einfach aufhören. Sie müssen weitermachen. Genau so geht es der EU.
@ Gregor Keuschnig (ah, jetzt stimmt es wieder)
Just for the record: Die Papier-Zeit hat Streecks Artikel so ins Inhaltsverzeichnis gesetzt: Wolfgang Streeck fordert einen Rückbau der EU.
Da ich annehmen darf, dass Sie gestatten: Ich habe eine unserer? – jedenfalls: meiner – zentralen Thesen im Blick: Dass die EU so wie sie ist in unserer Medienlandschaft, wie sie nun einmal ist, nicht gut kommunizierbar ist.
Was ginge wäre die stockkonservative Demokratie-Auslegung à la Burke: Die Leute können mich wählen oder nicht, beides ist ok.
Aber wenn ich gewählt bin, mache ich, was ich für richtig halte. Andernfalls würden wir alle verrückt.
Was die Populismus-These angeht: Diese traditionale Auffassung des Wählermandats zu verabschieden i s t bereits ein Keim des »Populismus«. Zugleich gilt aber auch: Eine Rückkehr zu Burke ist versperrt. Das ist knifflig.
Schäuble probiert alles mögliche durch. Aber er wirkt nicht vergnügt dabei, sondern zunehmend hart, unfroh. Und das passt überhaupt nicht zu seinem Naturell. Also, was findet hier statt: Eine Selbstdemontage?
Ich würde mir wünschen, dass Sie sich wie beim Brexit, auch im Hinblick auf das, was die EU als komplexe Köperschaft kann, täuschen würden.
Aber im Grunde ist das solange egal, wie es noch so oder so ausgehen kann, solange man argumentativ für alle Varianten offen bleibt.
Presseclub hab ich mir gespart. – War stattdessen bei der öffentlichen Begehung des 85. Gebrutstagsfestes eines hiesigen Regionalschreibers und Regionalmalers von ausgesuchter Höflichkeit und Delikatesse im Umgang: Die perfekte Erfrischung!
Die Fußball-Isen oder wie man die nennt, sind mir schon egal. Es ist aber wieder himmlisch ruhig. Das liebe ich an der EM!
@Dieter Kief
Der Keim für das, was man »Missverständnis der EU« nennen könnte, ist tatsächlich ein Kommunikationsproblem. Nehmen wie die osteuropäischen Länder, die gar nicht schnell genug in die EU kommen konnten. Sie (bzw. ihre politischen Repräsentanten) glaubten, die EU sei eine Art eierlegende Wollmilchsau, der man sich anschließen, deren Fördermittel man in Anspruch nehmen und mit den anderen dann auf gleicher Augenhöhe über die Zukunft des Kontinents entscheiden kann. Sie haben, um es altmodisch formuliert, auf ihre Rechte geschaut und diese für gut befunden. Dass die Mitgliedschaft in einem solchen »Verein« auch Pflichten voraussetzt, wurde »vergessen«.
Auf dieser Ebene – wir nehmen das Gute, vernachlässigen das Unangenehme – wurde auch für die EU geworben. Zwar hat keines der Länder einen Volksentscheid über die Mitgleidschaft abgehalten, aber es war schon klar, dass ein Großteil der Bevölkerung von Tschechien, der Slowakei, Polens, Ungarns, usw. dieser Mitgliedschaft positiv gegenüber eingestellt waren. Dabei stand auch immer ein Versprechen wie selbstverständlich im Raum: Die nationale Souveränität unserer Länder – man hatte erst 1989/90 die subkutane Herrschaft der Sowjetunion abschütteln können – bleibt unangetastet. Diese Form der Schmackhaftmachung nenne ich EU-Populismus.
Jetzt ist klar: Die EU ist mehr als nur die Wollmilchsau von oben. Sie ist ein Staatenbund, der bestrebt ist (war?), einheitliche politische Lösungen auch dort zu finden, wo sie die nationalen Souveränitäten tangieren oder gar aushebeln. Der nach dem Griechenland-Bail-Out vorläufige Höhepunkt dieser Desillusionierung war – und da komme ich auf Streeck – die Flüchtlingssituation im September 2015. Verkürzt gesagt lautete die Botschaft von Merkel: »Ich lasse – aus humanitären und für D wichtigen demographischen Gründen – die Flüchtlinge entgegen der vereinbarten Abkommen in das Land und anschließend werden diese prozentual in der EU verteilt«.
Und dann waren die Reaktionen der sichtbaren EU-Funktionäre interessant. Beide – Schulz und Juncker – unterstützten Merkels Position und übten Druck auf die anderen EU-Staaten aus. Einige wehrten sich, andere, die es eleganter machten (wie Frankreich) ignorierten das Ansinnen und verwiesen auf diejenigen, die sich wehrten. Man kennt das: Wenn man selber nicht handeln möchte, es sich aber nicht verscherzen will mit dem Chef verweist man auf diejenigen, die alles blockieren.
Daher meine These, dass ein Brexit-Referendum vor einem Jahr (also vor der eigenmächtigen Aussetzung von Dublin II durch Merkel) gescheitert wäre.
Gerade lese ich die Schlagzeile, dass nun ausgerechnet dieser Martin Schulz eine »europäische Regierung« fordert. In dieser Forderung zeigt sich die Ignoranz und Arroganz eines Parallelwelt-Bewohners. Nicht, dass so etwas undenkbar wäre. Aber es ist eben nur eine Schlagzeile, die mit nichts, rein gar nichts intellektuell unterfüttert ist. Ein Affekt eines Trotzkopfs, der mit dem Fuß aufstampft, weil die Welt nicht so ist, wie er sie sich vorstellt.
Danke, Gregor. Ich vermisse die (sagen wir) regelmäßige Wiederholung dieser nicht historisch nicht ganz unbedeutenden »politischen Willensäußerung« der Bundesregierung auch immerzu in der Presse.
Die Verteilungs-Idee (Sarkozy’s Vergleich mit einem Wasserrohrbruch, wo der Hausherr versuche, das Wasser in alle Räume zu verteilen, statt das Leck zu flicken) machte deshalb einen so irritierenden Eindruck auf die EU-Länder, weil den Vorschlägen nicht zu entnehmen war, WER verteilt.
Das mag in der Sachpolitik normalerweise keine Rolle spielen, da allein das Reglement entscheidet, aber in diesem prekären Fall hatte »Madame« gerade die Regeln außer Kraft gesetzt. Damit war der Eindruck entstanden: die Verteilung erfolgt nach deutschen Anerkennungsregeln (Nein, die sind nicht harmonisiert!), aus dem Binnenland heraus und im Zweifelsfall nach humanitären Gutdünken.
Ich glaube, gröber kann man bei Einwanderungsfragen die Souveränität seiner Partner nicht diskreditieren.
Aus einem mir unerfindlichen Grund wird Angela Merkel immer noch »frei gesprochen« von jeglichem Missgeschick, um es freundlich auszudrücken. Und deshalb hat sie auch nichts mit dem BREXIT zu tun.
@die_kalte_Sophie
Der Punkt ist, dass man Merkel noch das humanitäre Moment zu Beginn abgenommen hätte. Aber weil sie dann dies zum Regelfall erklärte, sich immer weiter und entschiedener festlegte (»Asyl kennt keine Obergrenze«) und die Folgen dieser von ihr nicht vorhandenen Obergrenze auf andere (de facto und de jure) souveräner Staaten im Rahmen der Europäischen Union abwälzen wollte entstand diese brüsk abwehrende Haltung vor allem in den osteuropäischen Ländern (aber auch Dänemark und sogar am Ende Schweden), die zum Teil ja Regierungen haben, die Freizügigkeit nur als Einbahnstrasse begreifen (wie man jetzt in Polen sieht).
Publizistisch ist Streeck ja der Antipode zu Münkler, der Deutschland alleine schon aus geographischen Erwägungen heraus als treibende Kraft in der EU sieht; ein bisschen auch nach dem Motto: Wenn man schon Nettozahler ist, muss man auch mehr zu sagen haben (das ist nur ein Teil seiner Position).
Und an Stelle irgendwelchen Einsehens begann dann die große Drittstaaten-Initiative. Neu in der Geschichte, zweifellos innovativ die »Dame«. Jetzt müssen alle Anrainer-Staaten, sei es zu Land oder zur See, überzeugt werden, dass fremde Bürger, die sich den Transit erschlichen haben, zurückgenommen werden.
Der Gedanke dabei (ich vermag es nur zu rekonstruieren): wenn diese Staaten in die Rückführung einwilligen, »erkennen sie ihre Zuständigkeit«, und verhindern auch weitere Migrationen. Ich frage Sie, was mischt man den Berlinern ins Trinkwasser?!
Das Abkommen mit der Türkei wird als Paradigma für die Europäische Umgebung, sprich den Nahen Osten und Nordafrika betrachtet.
Notiz: die Irritation der Osteuropäer besteht bis auf den heutigen Tag. Der Vorschlag der EU-Kommission vom 04. Mai zur Reform von Dublin-III hin zu einer strikten Kontrolle der Binnenmigration wird immer noch mit Schweigen bedacht. Das Misstrauen ist gewaltig, das Griechische Versagen lastet auf jeder neuen Vertragsbindung.
Wenn der Telegraph Recht hat, zeigt die »Dame« gerade wo der Hammer hängt. Juncker heißt nur so, Merkel beliebt es so zu handeln.
@Joseph Branco
Ah: Merkel will Juncker absägen, damit es dann doch noch Verhandlungen mit Großbritannien geben kann. Privilegierte Partnerschaft sozusagen. Danke für den Link.
Deutscher Rechtspopulismus aus Sicht der Adenauer-Stiftung
(Gefunden auf Michael Klonovskys acta diurna blog:
http://www.michael-klonovsky.de/acta-diurna)
Focus-online interviewt diese Woche Nico Lange, der für die Adenauer-Stiftung das Parteiprogramm der AfD untersucht hat:
»Nehmen Sie das Thema Demokratie. Das nimmt im Programm weit vorn viel Raum ein. Die AfD stellt sich da gegen die Tradition der parlamentarischen repräsentativen Demokratie in Deutschland. Sie versucht, das Bild einer direkten Demokratie nach Schweizer Vorbild zu entwickeln. Das ist typisch für rechtspopulistische Parteien. Diese gehen zumeist davon aus, dass in Volksabstimmungen die Mehrheit so abstimmt, wie sie es für richtig halten. Darin steckt ein anti-pluralistischer Geist. Das Bild, das hier gezeichnet wird, entspricht nicht dem der parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik.«
In dem Heftchen, das wir früher nach dem Kindergottesdienst bekamen, gab es die Suchbild-Rubrik. Überschrift: »Wer findet die Fehler?«
Warum soll eine deutsche Partei sich nicht für die direkte Demokratie nach Schweizer Vorbild aussprechen dürfen?
Wer sagt, die Volksabstimmungen in der Schweiz entsprächen einem Bild, das mit dem Bild der parlamentarischen Demokratie in der Bundesrepublik nicht übereinstimme?
Welches richtige Bild zeigt die parlamentarische Demokratie der Bundesrepublik?
Wie unterscheidet sich dieses vom falschen Bild der parlamentarischen Demokratie in der Bundesrepublik?
Inwiefern kann man behaupten, wer für Volksabstimmungen eintritt will, dass die Menschen so abstimmen, wie er es für richtig hält?
Wieso ist eine Partei nicht mit dem Bild einer parlamentarischen Demokratie nach bundesrepublikanischem Muster kompatibel, die davon ausgeht, dass sie Abstimmungen gewinnen könnte?
Wo im AfD-Programm steht, dass die AfD nicht damit rechnet, Volksabstimmungen zu verlieren?
Inwiefern ist es typisch für rechtspopulistische Parteien, sich am Schweizer Vorbild zu orientieren?
Wieso zieht Nico Lange dieses unglaubliche Interview nicht zurück?
Will er uns eine zweifelhafte Freude machen?
Oder doch nur Ärger?
Ich kenne Lange nicht. Vielleicht ist alles nur Unvermögen. Vielleicht aber auch Panik, Angst vor dem Kontroll- bzw. Machtverlust. Simpler Schuss: Je zurechnungsfähiger Lange an sich ist, desto wahrscheinlicher wird die Panik-Variante.
@Dieter Kief
Die Diskussion um Populismus bekommt inzwischen skurrile Züge. Im verlinkten Text gibt es ja sogar eine Pointe:
Auf den ersten Blick mag man das für Ironie oder Sarkasmus halten, aber ich fürchte, dass das ernst gemeint ist. Der Tenor ist, dass die repräsentative Demokratie immer dann am besten funktioniert, wenn sie nicht durch den dummen Wähler gestört werden kann. Als Rechtfertigung dafür wird dann »das Tätervolk« herangezogen.
Auch in »Ihrer« Leib-und-Magenpublikation, der FAZ, gab es einige bemerkenswerte Äußerungen. So wurde ein gewisser Klaus-Peter Hufer (»Experte für Stammtischparolen«) im Stile der Sendung mit der Maus herangezogen, um dem dummen Rezipienten zu erklären, woran man denn die Bösen erkennt.
Es gibt ja die These, dass einander rivalisierende Lager im Laufe ihrer Auseinandnersetzung immer ähnlicher werden. Das ist u. a. einer der Begleiterscheinungen des RAF-Terrorismus gewesen. Erst die zuweilen hysterische anmutenden Polizei- und Gesetzesvorgaben haben dazu mindestens teilweise dazu geführt, dass der Staat zu den Repressionen griff, die die RAF-Leute ihm schon vorher attestierten. In Bushs USA nach dem 11. September zeigt sich diese Annäherung ebenfalls – wie der große Gegner kannte man nur noch Freund oder Feind. Die Populismus-Diskussion ist auf einem ähnlichen Weg. Sie verlagert sich zunächst auf das Gebiet der Volkspädagogik. Wer den verordneten Erklärungsbrei nicht bis zum Bodensatz ausgelöffelt hat, kommt unter Verdachtsquarantäne. Wer dann nicht abschwört, wird gebannt.
Es gibt Beispiele aus den sozialen Netzwerken, die nach diesem Mechanismus funktionieren. Journalisten – zum Teil sehr bekannte und angesehene – verlangten praktisch von ihren Facebook-»Freunden« eine bedingungslose Akzeptanz ihrer Position in Bezug auf die AfD. Wer beispielsweise nach Gründen für den Zulauf fragte, die radikale Dämonisierung der Partei kritisierte und stattdessen einen argumentative Auseinandersetzung in den Raum stellte, wurde »entfreundet«. Totalitarismus gebiert scheinbar ebenfalls Totalitarismus.
Oh – Ihr Zitat ist auch ein Stück fürs Tollhaus.
Schon allein der Asudruck »Repräsen-Tanten«.
Vielleicht hängt die Chose wirklich an der Person Langes – irgndwelche Probleme...Gesundheitliches...
Naja – auch so ein ganz wacher ehemaliger DDR-Bauhilfsarbeiter wie Klonovsky ist mittlerweile an vielen Orten off limits.
Nicht bei Ihnen hier – zu meiner tiefsten Zufriedenheit und einiger Erleichterung sogar.
PS – Naja, mit der FAZ kann ich immer noch was anfangen. Oder mit der NZZ. Letzte Woche der Psychoanlytiker im Spiegel-Essay war auch nicht schlecht – auf einmal geht es eben doch: Zu viele Islamgläubige laufen leider neben der Spur.
@Dieter Kief
Irgendwie scheint mir das eine neue Methode zu sein, terroristische oder halb-terroristische Akte (sogenannte Einzelaktionen) nicht mehr als solche deklarieren zu müssen, sondern in Krankenakten zu entsorgen. Versteht es sich nicht von selber, dass zum Beispiel bei den Attentätern des 11. September eben auch psychische Störungen vorhanden gewesen sein müssen? Ist ein Selbstmordattentäter, der seine Aktionen bewusst und mit politischen Botschaften versieht, nicht eben auch deformiert? Das Problem ist, dass eine solche Diagnose an die juristische Schuldfrage andockt. Bescheinigt man ihnen psychische Defekte sind so womöglich gar nicht verantwortlich zu machen? Damit hätte man mindestens zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Die Täter würden sozusagen pathologisiert (wären damit »entschuldigt« bzw. aus dem Menschengeschlecht verdammt) und die Komponente des Islam an den »islamistischen« Taten würde abermals eine Nuance abgeschwächt. Drittens würde das böse T‑Wort in den Medien sparsamer verwendet.
(Zur Beliebtheit der NZZ in D ist das hier vielleicht interessant.)
http://www.eurozine.com/articles/2007–09-18-dahrendorf-de.html
Das sind Dahrendorfs acht Anmerkungen zum Populismus – mit dem Datterich zu reden: Fer de Aafang wer’s vielleischt bessergewese, awwer am Schluss iss besser wie wie nix!
@Dieter Kief
Wenn Dahrendorf auf das Parlament als »Schutzschild der Demokratie« gegen den Populismus zu sprechen kommt, steht dort ein interessanter Satz:
Sofort wird man erinnert an die diversen Euro-Rettungspakete und ‑schirme, die binnen weniger Tage durchgepaukt wurden. Über die Flüchtlingspolitik wurde erst nachträglich eine parlamentarischen Debatte eingerichtet – vom Prinzip her waren sich sowieso alle im Bundestag vertretenen Parteien einig. Man mag jetzt dahingehend argumentieren, dass die Dramatik der Zeitläufte oft eine parlamentarische Anhörung mit all ihren Voraussetzungen unmöglich macht. Dabei wird dann häufig vergessen, dass Indikatoren für eine bestimmte Entwicklung allzu häufig ignoriert werden und der Zeitdruck damit praktisch selbst erzeugt wird. Wieder fällt einem da die Griechenland-Politik ein. Zunächst wurden die Auswirkungen der griechischen Wirtschaftskrise auf den Euroraum verharmlost und dann musste plötzlich alles ganz schnell gehen. Man fragt sich dann, ob dieser Zeitdruck nicht auch erwünscht ist, damit die später dann so soft festgestellten »handwerklichen Fehler« nicht entdeckt werden.
Meine These geht dahin, dass es tatsächlich eine Art von Autoritarismus in den westlichen Demokratien gibt. Verkürzt gesagt: Regierungen misstrauen zusehends mehr dem Parlament, d. h. also auch den eigenen Fraktionen. Noch krasser ist das Misstrauen Referenden oder Volksabstimmungen gegenüber; hier wird sofort blockiert. Dahrendorfs Punkte hierzu überzeugen mich auch nicht. Statt die Furcht vor der »Stimme des Bürgers« mittels Argumenten abzumildern, wird ihm per se ein Hang zum Populismus, also zur »falschen Meinung« unterstellt. Dies wiederum erzeugt genau das, was eigentlich verhindert werden soll.
.-.-.-
Ich hatte übrigens zwischenzeitlich die Sendung des »Philosophischen Radios« auf WDR 5 mit Müller gehört. Leider wurden m. E. nicht die richtigen Fragen an ihn gestellt; war sehr affirmativ.
Oh – wie erfrischend!
Ich stimme rundum zu.
Aber, sag ich dann vielleicht ein wenig anders als Sie: Dahrendorf hatte – 2003 erschienen seine Thesen einer Quelle zufolge zum ersten Mal, eine andere sagt 2008 – die Nase im Wind. Dafür posthum ein von Herzen kommendes Hut-ab!
Zudem war er immer offen für Gegenargumente.
Ja und Müller surft auf der großen Angstwelle als Stichwortgeber. Keine Ahnung, ob er einfach vorsichtig ist – er hat immer noch keine feste Stelle, soviel ich zuletzt schaute – oder ob er auch dann nicht mehr zu sagen hat, wenn er dereinst fest im Sattel sitzt. Vorerst bleib ich dabei: Müller ist ein wenig obenhin.
Ist aber eh wurscht, solange wir hier so schöne Fortschritte machen.
Die Gesamtlage ist nach meinem Empfinden angespannt.
Das irrste, was ich in der vergangenen Woche hörte, stand auf iSteve – demnach soll Juncker gesagt haben, die schlechteste Erfindung aller Zeiten seien Grenzen. Wenn er es nicht angeschickert gesagt hat oder im Karneval oder nach 4 Uhr morgens oder so: Dann ist der Satz wohl einer von denen, die man sich merken sollte.
Die FAZ zeigt ihn ja auf einer sehr schönen Aufnahme doppelseitig an einem griechischen Strand. Sollten sie es tatsächlich schaffen, die Griechen irgendwie einzunorden, hätten sie tatsächlich was geschafft. Bisher sehe ich das kaum irgendwo aufscheinen.
Erstmal muß der ex-Chef des dortigen Statistikamts vor Gericht wg. Landeschädigung: Das ist an sich ein sehr sprechender Vorgang. Ich nehme zudem an: Eine weltgeschichtliche Novität. – So gesehen viel zu wenig beachtet...
Ebenso brillant die Giordano Bruno Stiftung, die sich zum Lutherjahr die Idee ausgedacht hat, es führe vom Reformator eine direkte Linie in die Gaskammern Nazideutschlands – über satte vierhundert Jahre hinweg.
Und wo sind die Schweizer Gaskammern, und die Dänischen und die Schwedischen usw. – da müssen sich die Reformierten vonseiten dieser formidablen Sextanerstiftung jetzt noch auf einiges gefasst machen!
Nun gut: Das war jetzt die letzte Woche. Fünftklässler aller Länder – vereinigt Euch!