An­drzej Sta­si­uk: Der Osten

Andrzej Stasiuk: Der Osten

An­drzej Sta­si­uk: Der Osten

»Der Osten«, das neue­ste Buch von An­drzej Sta­si­uk, be­ginnt da­mit, dass die Ein­rich­tung ei­nes al­ten »LPG«-La­dens Stück für Stück zum Ab­trans­port auf­ge­la­den wird. Da­bei ent­zün­den sich beim mit­hel­fen­den Ich-Er­zäh­ler Er­in­ne­run­gen aus den 1970er Jah­ren, als er als Kind vor ei­nem sol­chen La­den mit an­de­ren Men­schen auf Le­bens­mit­tel in ei­ner Schlan­ge war­te­te. Als das Fahr­zeug mit der Wa­re ein­traf, ver­nahm er den Ben­zin­ge­ruch, den er so­fort mit »Frei­heit, Ge­heim­nis und Ver­lan­gen«. Beim Weg­räu­men die­ser al­ten Mö­bel über­kommt ihm nun fast so et­was wie ei­ne Epi­pha­nie über die Din­ge, in de­nen Ge­schich­te und Ge­schich­ten ab­ge­spei­chert sind: »Das Le­ben war in sie [die Din­ge] ein­ge­drun­gen und er­starrt«. Im Ge­gen­stand be­fin­det sich so­zu­sa­gen Ge­schich­te aus mehr als hun­dert Jah­ren in­ku­biert: »Die Zeit der Lem­ken, der Kom­mu­nis­mus und jetzt wir, schwit­zend un­ter der Last«.

Man denkt an Hof­mannst­hals Ro­man »Brie­fe des Zu­rück­ge­kehr­ten«. Der Brief­ro­man spielt An­fang des 20. Jahr­hun­derts. Ein Kauf­mann kommt nach fast zwan­zig Jah­ren nach Deutsch­land zu­rück. Er er­kennt das in­zwi­schen mo­der­ni­sier­te und in­du­stria­li­sier­te Land nicht mehr wie­der. Ein mehr als nur dif­fu­ses Un­be­ha­gen er­greift ihn. Die Men­schen hat­ten sich ver­än­dert, sie wa­ren zu­se­hends ge­prägt »von dem Geld, das sie hat­ten, oder von dem Geld, das and­re hat­ten.« So­gar die Din­ge er­schie­nen ihm ver­wan­delt, durch in­du­stri­el­le Fer­ti­gung kon­tur­los und pro­fa­ni­siert (was man spä­ter »For­dis­mus« nen­nen wird). Be­vor mit Hus­s­erl und Heid­eg­ger die phi­lo­so­phi­sche Phä­no­me­no­lo­gie ent­stand und Ri­chard Sen­nett Be­trach­tun­gen zur fort­schrei­ten­den De­ge­ne­ra­ti­on des Hand­werks (oder, bes­ser, des Wer­kens mit der Hand) vor­nahm, deu­te­te Hof­manns­thal in die­sem Ro­man an, dass Ge­gen­stän­de ih­re Ent­ste­hung und da­mit auch ei­ne Epo­che spie­geln kön­nen. Und so er­geht es auch An­drzej Sta­si­uk, der von sol­chen Din­gen fas­zi­niert ist und sich auf die Rei­se macht und Men­schen trifft, die de­ren Ge­schich­ten er­zäh­len kön­nen.

Ro­bu­ste Me­lan­cho­lie

Das ist nicht ganz neu. Schon seit Jah­ren er­schei­nen die­se manch­mal ber­ser­ker­haft da­her­kom­men­den Bü­cher von An­drzej Sta­si­uk, in die man sich be­reit­wil­lig hin­ein­be­gibt, weil man froh ist, dass da je­mand so er­zäh­len kann (und ei­nem, ne­ben­bei, die Last der Rei­sen ab­ge­nom­men hat, ob­schon man ahnt, dass man das, was Sta­si­uk wahr­ge­nom­men hat, nie­mals so ge­se­hen hät­te). Die­se Bü­cher sind schwer in ein Gen­re ein­zu­ord­nen. Es ist na­tür­lich Li­te­ra­tur (und was für wel­che), aber auch Rei­se­re­por­ta­ge und, manch­mal so­gar, Pam­phlet. Da­bei wer­den die geo­gra­phi­schen Krei­se des Er­zäh­lers im­mer wei­ter ge­zo­gen. Längst hält es ihn nicht mehr in Po­len, ob­wohl, wenn er dort ist und über die Land­schaft sin­niert, sei­ne Mut­ter be­sucht oder ir­gend­ei­ne ka­tho­li­sche Wall­fahrts­stät­te, die er skep­tisch be­äugt, dann be­kommt man ganz ge­nau sei­ne Fahr­we­ge er­zählt und die Tri­stesse der pol­ni­schen Au­to­bah­nen ist plötz­lich auf wun­der­sa­me Wei­se kei­ne mehr, weil er dar­aus ein Aben­teu­er macht. 2013, im »Ta­ge­buch, da­nach ge­schrie­ben« (Über­set­zung Olaf Kühl), durch­quer­te Sta­si­uk den Bal­kan in ei­ner Mi­schung aus Fas­zi­na­ti­on und Wi­der­wil­le die­sen ar­chai­schen Struk­tu­ren ge­gen­über, der Ver­göt­te­rung der Ge­walt und dem nach­läs­sig-sou­ve­rä­nen Le­bens­stil der Men­schen. Im letz­ten Jahr er­schie­nen die gro­ßen klei­nen Rei­se-Feuil­le­tons (»Der Stich im Her­zen«; aus dem Pol­ni­schen von Re­na­te Schmid­gall), wo­bei merk­wür­di­ger­wei­se das schön­ste Stück in die­ser rei­chen Samm­lung je­nes ist, in dem er ein­fach in sei­nem Haus sitzt und aus dem Fen­ster den Mei­sen im Win­ter zu­schaut; viel­leicht, weil der Le­ser end­lich auch ein­mal zur Ru­he kom­men und die Ein­drücke nun sel­ber mit sei­nem Mei­sen­schau­en ver­glei­chen kann.

Aber es deu­te­ten sich die exo­ti­schen Rei­se­zie­le sei­nes »Ex­trem­tou­ris­mus« (die­se Zu­schrei­bung über­nimmt er schein­bar ger­ne) schon an. Und jetzt, im neue­sten Buch, aber­mals wun­der­bar über­setzt von Re­na­te Schmid­gall, wer­den die Be­ob­ach­tun­gen zu ei­nem epi­schen As­so­zia­ti­ons­ge­spinst ver­floch­ten (was man dann als »Ro­man« be­zeich­net). Es geht un­ter an­de­rem in die Mon­go­lei (dem »Land der Kno­chen«), nach Nord­chi­na (bis nach Bei­jing so­gar), Si­bi­ri­en und Ost-Russ­land, an die Rän­der von »Im­pe­ri­en«; Im­pe­ri­en, die bis auf ei­nes ih­ren Glanz im Lau­fe der Ge­schich­te ver­lo­ren ha­ben und es ist die­ser ver­lo­ren ge­gan­ge­ne Glanz (der viel­leicht zu oft ei­ne op­ti­sche Täu­schung war), dem Sta­si­uk nach­spürt, um durch die­sen Blick in die Ver­gan­gen­heit die Zu­kunft er­ken­nen zu kön­nen.

Par­al­le­len zu dem, was man ge­mein­hin so Rei­se­be­rich­te nennt, à la Gerd Ru­ge, Klaus Bednarz und Fritz Pleit­gen bei­spiels­wei­se, grei­fen fehl. Es gibt kei­ne Ba­busch­ka-Se­lig­keit, kei­ne Put­zig­kei­ten, kei­ne Na­tur­wun­der; nie tappt Sta­si­uk in die Fal­le des Er­zäh­l­on­kels. Statt­des­sen fällt der Blick auf das Un­för­mi­ge, Häß­li­che, sich Auf­lö­sen­de, auf das, was ei­nem schein­bar un­ab­läs­si­gen Nie­der­gang ge­weiht ist. Sta­si­uk be­sucht Or­te, die nie­mand kennt, die in Rei­se­füh­rern wenn über­haupt nur der Voll­stän­dig­keit hal­ber auf­ge­führt sind. Er über­nach­tet un­ter frei­em Him­mel, in schä­bi­gen Ab­stei­gen, die er ein­mal nachts auch noch ver­las­sen muss oder, sel­te­ner, in ob­sku­ren Lu­xus­ho­tels, stürzt sich in das »trä­ge, il­le­ga­le Ge­wim­mel« von Bil­lig­märk­ten, schaut skur­ri­len Be­stat­tungs­ri­tua­len zu (die er ve­he­ment ge­gen west­li­che Vor­be­hal­te ver­tei­digt), lauscht in der Wü­ste dem »Klang der rie­seln­den Sand­kör­ner, wenn ein In­sekt an den Rand sei­nes In­sek­ten­ho­ri­zonts klet­ter­te«, un­ter­nimmt in Kras­no­ka­mensk ei­ne Spitz­tour mit ei­nem Ta­xi oder zel­tet auf 4362m Hö­he.

Die Men­schen, auf die der Ich-Er­zäh­ler, der na­tür­lich Sta­si­uk ist (und auch nicht), trifft, hält er sich, so­fern es nicht Mit­glie­der sei­ner Rei­se­crew sind, mit Vor­lie­be auf Di­stanz. Er kommt sich als Ein­dring­ling vor, be­merkt die Blicke von Neu­gier und Ab­leh­nung der Ein­hei­mi­schen und fin­det das in Ord­nung. Er will nicht stö­ren, so we­nig wie mög­lich be­merkt wer­den. Aber es gibt nie ei­nen eth­no­lo­gi­schen Blick oder, das Ge­gen­teil, Hel­den­ge­schich­ten. Die Men­schen in­ter­es­sie­ren ihn, sie blei­ben je­doch, so­fern sie es wün­schen, un­ver­ein­nahmt. Mit die­ser selbst­ver­ord­ne­ten Neu­tra­li­tät kann er das ein­sau­gen, was er sei­ne »nai­ve Ost-Nost­al­gie« nennt. Nur wenn es Rich­tung Lu­b­lin und da­mit eben auch nach Bełżec und So­bi­bor geht, weicht der ro­bust-me­lan­cho­li­sche Ton ei­nem wuch­ti­gen, fast pa­the­ti­schen Ex­pres­sio­nis­mus, als sei er, Sta­si­uk, sel­ber bei die­sen Schrecken da­bei ge­we­sen.

Zeit­rei­se und Er­kun­dung

»Der Osten« ist ei­ne Rei­se in die Ver­gan­gen­heit, die Ju­gend; Si­bi­ri­en sei 6000 km ent­fernt – und 30 Jah­re. Sta­si­uk ver­or­tet sei­ne Ge­ne­ra­ti­on als Kin­der »des Man­gels und der Re­gle­men­tie­rung«. Aber er trau­ert kei­nes­falls der Ideo­lo­gie des Kom­mu­nis­mus nach. Fast ver­stö­rend für ihn, als man nach dem Tod des On­kels des­sen Par­tei­aus­weis in ei­ner Schub­la­de fin­det. »Das Kol­lek­ti­ve hat­te das In­di­vi­du­el­le auf­ge­fres­sen«, so sein Be­fund über die da­ma­li­ge Zeit. Und jetzt? Chi­na ist im­mer noch ein kom­mu­ni­sti­sches Land – und doch hat es nichts mit dem Chi­na zu tun, in dem die Men­schen zu Sta­si­uks Kind­heit Sand und Lehm aßen (oder, wie man bei Mo Yan nach­le­sen kann, Koh­len) wäh­rend bei ihm zu Hau­se die Groß­el­tern die Vor­rä­te sorg­sam ver­wal­te­ten. Aber es ist eben nicht nur ei­ne Rei­se in die Ver­gan­gen­heit son­dern Er­kun­dung »wie sich jetzt der Kom­mu­nis­mus ver­wan­del­te«, denn »sein En­de in mei­nem Land er­schien mir zu be­lang­los, zu ba­nal, als dass dar­aus ei­ne Er­zäh­lung hät­te ent­ste­hen kön­nen. Ich muss­te mich über­zeu­gen, dass mei­ne Ge­schich­te Teil ei­nes grö­ße­ren Gan­zen war.« Und so ist der Kom­mu­nis­mus in Chi­na nichts an­de­res als ei­ne Va­ri­an­te des von ihm eben­falls so ver­ab­scheu­ten, all­ge­gen­wär­ti­gen Ka­pi­ta­lis­mus. Statt ver­ord­ne­tem Kol­lek­ti­vis­mus nun ein In­di­vi­dua­lis­mus, der sich im Kon­sum der glei­chen Wa­ren Sinn­haf­tig­keit vor­gibt: »Die Ge­hir­ne wer­den sich ver­än­dern. Wir wer­den nur dar­an den­ken, was wir uns noch kau­fen kön­nen.«

Zu­sam­men mit die­sem glo­ba­len, sub­ku­tan in Ge­sell­schaf­ten ein­sickern­den Kon­su­mis­mus ist Sta­si­uk, der pol­ni­sche Pa­tri­ot (was man nicht mit Na­tio­na­list ver­wech­seln darf), auch de­zi­diert ge­gen ei­ne vor­aus­ei­len­de An­pas­sung des Ostens an den all­seits ge­prie­se­nen west­li­chen po­li­ti­schen Li­be­ra­lis­mus, der suk­zes­si­ve al­les aus­löscht, was nicht in sei­ne Welt­an­schau­ung passt: »Es wird kei­ne Gei­ster, kei­ne Er­in­ne­run­gen, kein Ge­dächt­nis, kei­ne Ge­schich­te mehr ge­ben.« Er ist hin- und her­ge­ris­sen »zwi­schen Angst und Ver­ach­tung«. Angst vor die­sen von au­ßen ein­drin­gen­den Ver­än­de­run­gen. Und Ver­ach­tung vor de­nen, die sich das ge­fal­len las­sen. Die­se Sicht kor­re­spon­diert mit Sta­si­uks po­li­tisch-es­say­isti­schen Tex­ten, in de­nen er fast ent­schul­di­gend er­klärt, war­um der ge­sell­schaft­li­che Um­schwung von 1990 für die Jahr­zehn­te hin­ter »Gar­di­nen« le­ben­den Men­schen im Osten wo­mög­lich zu schnell kam. Ziem­lich am En­de von »Der Osten« steht der wuch­ti­ge Satz, dass man Men­schen we­der zu Un­ter­wür­fig­keit noch zur Frei­heit zwin­gen kön­ne. Sta­si­uk plä­diert für ei­nen drit­ten Weg, oh­ne frei­lich ganz ge­nau zu wis­sen, was das ist (was er auch ein­ge­steht).

Be­son­ders deut­lich wird die­se The­ma­tik im Ro­man, wenn der Er­zäh­ler sei­ne be­tag­te Mut­ter be­sucht. An ihr zeigt sich ex­em­pla­risch die Über­for­de­rung von Tei­len der Be­völ­ke­rung, die Sta­si­uk in sei­nen Es­says kon­sta­tiert. Ihr schau­dert vor Asia­ten, vor den »Dun­kel­häu­ti­gen«, »ih­rem Sprach­ge­wirr, ih­rer Fremd­heit«. Zit­ternd kommt sie zu­rück, wenn ein Schwar­zer ih­ren Arzt ver­tritt. Da hel­fen auch kei­ne Be­schwich­ti­gun­gen des Soh­nes.

Die Mut­ter ist die ein­zi­ge Fi­gur, die ei­nen brei­te­ren Raum in dem Ro­man ein­nimmt. An ihr ent­deckt er je­ne Un­ru­he, die sich auch auf ihn, den Sohn, ver­erbt hat. Aber es ist ei­ne Un­rast, die in ih­ren en­gen Gren­zen der Woh­nung und des Dor­fes bleibt. Sie kann nicht ver­ste­hen, was ihr Sohn auf dem Bal­kan, in der Mon­go­lei oder in Si­bi­ri­en sucht, macht ihm Vor­hal­tun­gen. Aber der Sohn wie­gelt die­se Ein­wän­de ab, »möch­te, dass sie von frü­her er­zählt«, er will er­in­nert wer­den, be­vor die­se Stim­me ver­siegt. Und wenn er ei­nen Bis­sen ei­nes von ihr ge­koch­ten Ge­richts im Mund hat, ist er »um Jahr­zehn­te zu­rück­ver­setzt«. Kaum bei ihr ein­ge­trof­fen, macht er sich auch schon wie­der auf dem Weg in sei­nen lieb­ge­hass­ten Osten, der ir­gend­wo an deutsch-pol­ni­schen Gren­ze an­fängt und in Wla­di­wo­stok auf­hört und viel­leicht ist die­se Un­ru­he der Sor­ge ge­schul­det, bald könn­te die­se Welt ver­schwun­den sein.

Sta­si­uks Er­zäh­len ver­wei­gert sich be­harr­lich ei­ner Chro­no­lo­gie, ist manch­mal red­un­dant und zu­wei­len sprung­haft, im ein oder an­de­ren Fall un­ge­recht und recht­ha­be­risch – kurz: »Der Osten« ist ein mit­rei­ßen­des, oft herz­zer­rei­ßen­des, ho­ri­zont­er­wei­tern­des, bu­ko­lisch-ele­gi­sches Buch; ein fun­keln­des Schmuck­stück.

3 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Ich wür­de Sta­si­uks Bü­cher so ger­ne mö­gen, aber bis­her bin ich im­mer ge­schei­tert. Aber viel­leicht ist es jetzt so­weit. Dan­ke für die­se schö­ne Re­zen­si­on!

  2. Es viel­leicht erst noch ein­mal mit der Feuil­le­ton-Samm­lung »Der Stich im Her­zen« ver­su­chen? (»Der Osten« ist dann so­zu­sa­gen wie­der »Hardcore«-Stasiuk.)

  3. Dan­ke für den Tipp! Das wer­de ich mal ver­su­chen. Ich möch­te die Es­says im Lett­re In­ter­na­tio­nal im­mer sehr.