Der Mes­si­as der Mit­tel­schicht

Ge­dan­ken zu Thi­lo Sar­ra­zins Buch »Deutsch­land schafft sich ab« und die Dis­kus­si­on hier­über

Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab

Thi­lo Sar­ra­zin:
Deutsch­land schafft sich ab

I. Pro­log

Auf dem Hö­he­punkt der Wirt­schafts­kri­se, als der Steu­er­zah­ler (und nur der!) von der po­li­ti­schen Klas­se, die den Staat re­prä­sen­tiert, zum Bür­gen für des­sen selbst­ge­mach­te und selbst­ge­dul­de­te Feh­ler her­an­ge­zo­gen wur­de, ent­warf der Phi­lo­soph Pe­ter Slo­ter­di­jk in ei­nem sehr kon­tro­vers dis­ku­tier­ten Ar­ti­kel ei­ne Ge­gen­welt: »Die ein­zi­ge Macht, die der Plün­de­rung der Zu­kunft Wi­der­stand lei­sten könn­te, hät­te ei­ne so­zi­al­psy­cho­lo­gi­sche Neu­erfin­dung der ‘Ge­sell­schaft’ zur Vor­aus­set­zung. Sie wä­re nicht we­ni­ger als ei­ne Re­vo­lu­ti­on der ge­ben­den Hand.« Ei­ne Ge­sell­schaft, in der fast aus­schließ­lich der flucht­un­fä­hi­ge Ein­kom­men­steu­er­zah­ler den Staat und da­mit des­sen Aus­ga­ben er­wirt­schaf­tet, wäh­rend die Ka­ste der Ex­trem­ver­die­ner sich mit Hil­fe der Po­li­tik längst aus der so­li­da­ri­schen Ver­ant­wor­tung ent­fernt hat und die Un­ter­schicht zu Trans­fer­emp­fän­gern ent­mün­digt wer­den, be­schreibt Slo­ter­di­jk mit dra­sti­schen Wor­ten: »So ist aus der selbsti­schen und di­rek­ten Aus­beu­tung feu­da­ler Zei­ten in der Mo­der­ne ei­ne bei­na­he selbst­lo­se, recht­lich ge­zü­gel­te Staats-Klep­to­kra­tie ge­wor­den. Ein mo­der­ner Fi­nanz­mi­ni­ster ist ein Ro­bin Hood, der den Eid auf die Ver­fas­sung ge­lei­stet hat. Das Neh­men mit gu­tem Ge­wis­sen, das die öf­fent­li­che Hand be­zeich­net, recht­fer­tigt sich, ide­al­ty­pisch wie prag­ma­tisch, durch sei­ne un­ver­kenn­ba­re Nütz­lich­keit für den so­zia­len Frie­den – um von den üb­ri­gen Lei­stun­gen des neh­mend-ge­ben­den Staats nicht zu re­den.«

Der »so­zia­le Frie­den« – Slo­ter­di­jk ent­larvt die­ses vor­wie­gend an links-in­tel­lek­tu­el­len Stamm­ti­schen kur­sie­ren­de Letzt­be­grün­dungs­ar­gu­ment. In Wahr­heit ist ei­ne men­schen­ver­ach­ten­de­re Sicht als die­se kaum denk­bar. Leicht und locker kon­ze­diert, ja for­dert man ei­ne An­he­bung der Hartz-IV-Sät­ze, ei­nes er­höh­ten Kin­der­geld oder an­de­rer so­zia­ler Lei­stun­gen um da­mit am En­de Kratz­spu­ren oder Schlim­me­res an den ei­ge­nen Lu­xus­ka­ros­sen un­ter­blei­ben. Tat­säch­lich ist der Zorn der jun­gen Män­ner in Deutsch­land an­ders als beim Nach­bar Frank­reich weit­ge­hend aus­ge­blie­ben. Den Preis da­für be­zahlt man ger­ne, falls man ihn denn über­haupt noch be­zahlt und dies nicht weit­ge­hend ei­ner Mit­tel­schicht über­lässt, die von Steu­er­schlupf­lö­chern und In­ve­sti­ti­ons­er­leich­te­run­gen für Groß­un­ter­neh­men nur aus dem Wirt­schafts­teil ih­rer Zei­tung er­fah­ren.

Wie soll ei­ne »Re­vo­lu­ti­on der ge­ben­den Hand« über­haupt aus­se­hen? Die ge­ben­den Hän­de sind oh­ne Spiel­räu­me in der pla­to­ni­schen Steu­er­höh­le ge­fes­selt. Wie ro­man­tisch von Slo­ter­di­jk, sei­ner­zeit die FDP als Mit­re­gie­rungs­par­tei zum Re­vo­lu­ti­ons­spre­cher zu (v)erklären. In tap­si­ger Ma­nier und un­ter Igno­ranz al­ler Kom­mu­ni­ka­ti­ons­theo­rien ver­such­te sich Ama­teur-So­zio­lo­ge We­ster­wel­le tat­säch­lich im Früh­jahr 2010 als An­walt der Mit­tel­schicht zu ge­rie­ren. Die hät­te sich lie­ber je­mand an­ders ge­wünscht und ent­zog der me­dio­kren Schnö­sel­trup­pe die Zu­stim­mung. Da­bei ist tat­säch­lich seit der so­ge­nann­ten Welt­wirt­schafts­kri­se ein wach­sen­des Un­be­ha­gen an der po­li­ti­schen Kul­tur fest­zu­stel­len wel­ches sich – ent­ge­gen der Welt­un­ter­gangs­pro­phe­ti­en des be­gin­nen­den 20. Jahr­hun­derts – nicht so sehr an grund­sätz­li­chen ge­sell­schaft­li­chen Fra­gen ma­ni­fe­stiert, son­dern fun­da­men­ta­le Ver­tei­lungs­fra­gen be­trifft (frei­lich nicht im klas­si­schen, so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen Sinn).

II. Der blin­de Fleck und die ehr­li­che Sor­ge

Die Vor­re­de ist not­wen­dig, um das Phä­no­men der Re­zep­ti­on von Thi­lo Sar­ra­zins Buch »Deutsch­land schafft sich ab« ver­ste­hen zu kön­nen. Sar­ra­zin ge­lingt in dem Buch das Un­be­ha­gen an und – Freud lässt grü­ßen – in der Kul­tur die Mit­tel­stands­äng­ste nicht nur ge­konnt zu ar­ti­ku­lie­ren, son­dern durch di­rek­te, kla­re und jeg­li­cher Ela­bo­riert­heit fast akri­bisch ent­klei­de­ter Spra­che Aus­druck zu ver­lei­hen. Wer bei­spiels­wei­se die Kom­men­ta­re un­ter den ent­spre­chen­den F.A.Z.-Artikeln (und de­ren Kom­men­tar­be­wer­tun­gen) ge­le­sen hat, muss er­ken­nen: Hier spricht – bzw. schreibt – der Mes­si­as der Mit­tel­schicht. Ei­ner Mit­tel­schicht, die Slo­ter­di­jk nicht ver­stan­den hat­te und We­ster­wel­le – zu Recht – als An­bie­de­rung emp­fand.

Sar­ra­zin er­läu­tert an ei­ner Stel­le im Buch, wie be­freit er sich fühlt, end­lich kei­ne Re­den mehr in ver­brä­men­dem, aus­ge­wo­gen po­li­tisch-kor­rek­ten Po­lit­slang schrei­ben zu müs­sen. Den­noch will er sich nicht mit dem »ein­fa­chen Mann« ge­mein ma­chen, at­tackiert auch die deut­sche Un­ter­schicht (wohl wis­send, dass die­se für die So­zi­al­de­mo­kra­ten eh ver­lo­ren ist) und er­klärt sein Buch zum wis­sen­schaft­li­chen Werk (rein äu­ßer­lich durch End­no­ten, Ta­bel­len und Be­rech­nun­gen) – in­klu­si­ve ga­ran­tier­tem Sün­den­bock.

Tat­säch­lich fin­den sich in dem Buch in­for­ma­ti­ve Aus­füh­run­gen zu de­mo­gra­phi­schen Ent­wick­lun­gen, dem deut­schen Schul- und Bil­dungs­sy­stem, der Pro­ble­ma­tik, dass die so­ge­nann­ten »MINT«-Studiengänge, die den öko­no­mi­schen Fort­schritt der deut­schen Ex­port­in­du­strie ga­ran­tie­ren, ex­trem rück­läu­fig sind und ei­ni­gen un­leug­ba­ren Äu­ße­run­gen über die fal­schen An­rei­ze un­se­res So­zi­al­sy­stems. Auch die Ein­wür­fe zur Ge­rech­tig­keits­dis­kus­si­on, die zu ei­nem Gleich­heits-Man­tra führt, das kei­ner­lei Dif­fe­renz und Un­ter­schie­de mehr zu­lässt, sind durch­aus in­ter­es­sant. Den »ZEIT«-Chefredakteur zi­tie­rend weist Sar­ra­zin dar­auf hin, dass der um­fang­rei­che So­zi­al­etat Deutsch­lands be­zahlt wer­den muss und von wem dies ge­schieht. Da be­kommt die Mit­tel­schicht ei­nen Schul­ter­klop­fer.

Aber dann fällt auch schon der er­ste blin­de Fleck auf. Die Aso­zia­li­tät (Peer Stein­brück) ei­ner Ober­schicht, die sich im­mer mehr aus der ge­samt­ge­sell­schaft­li­chen Ver­ant­wor­tung bei­spiels­wei­se durch (zu­meist auch noch le­ga­le) Steu­er­tricks ent­zieht, han­delt Sar­ra­zin in nur we­ni­gen Sät­zen ab. Kein Wort ge­gen Bank­ma­na­ger, die ih­re In­sti­tu­te an den Rand des Ab­grunds ge­fah­ren ha­ben und nun vom Steu­er­zah­ler auf­ge­fan­gen wer­den sol­len. Für je­mand, der Deutsch­land »ab­ge­schafft« sieht, ein er­staun­li­ches Vor­ge­hen. Aber sei­ne An­hän­ger ver­zei­hen ihm die Ein­sei­tig­keit sei­ner Wahr­neh­mun­gen. Sie he­gen ja noch un­ter­schwel­lig die Hoff­nung, in die Ober­schicht auf­stei­gen zu kön­nen, was na­tür­lich zu­meist ei­ne Il­lu­si­on bleibt. In Wirk­lich­keit spie­gelt sich in der Ve­he­menz ih­rer Zu­stim­mung ih­re amor­phe Ab­stiegs­angst. Hier hat Ul­ri­ke Herr­mann in ih­rem Pam­phlet »Hur­ra, wir dür­fen zah­len – Der Selbst­be­trug der Mit­tel­schicht« recht. (Frei­lich ist ih­re Schluss­fol­ge­rung, die Mit­tel­schicht soll­te sich mit den Hartz-IV-Emp­fän­gern ge­gen die po­li­ti­sche und öko­no­mi­sche Eli­te in Deutsch­land ver­bün­den, voll­kom­men un­rea­li­stisch).

Tat­säch­lich räumt Sar­ra­zin mit alt­lin­kem So­zi­al­ro­man­ti­zis­mus ra­di­kal auf. Sei­ne The­sen über Trans­fer­lei­stun­gen, die durch ih­re na­he­zu be­din­gungs­lo­se Ge­wäh­rung zur Ent­mün­di­gung und De­mo­ti­va­ti­on des Lei­stungs­emp­fän­gers füh­ren, soll­ten ernst­haft dis­ku­tiert wer­den. Sei­ne skur­ril an­mu­ten­den Aus­sa­gen be­züg­lich der für ei­ne voll­wer­ti­ge Er­näh­rung aus­rei­chen­den ALG-II-Sät­ze oder die An­re­gung, man sol­le für Trans­fer­emp­fän­ger lie­ber Koch- und Haus­wirt­schafts­kur­se statt Sup­pen­kü­chen an­bie­ten, sind al­ler­dings schon pu­re Pro­vo­ka­ti­on in ei­ner Ge­sell­schaft, die in In­ter­net­fo­ren dar­über dis­ku­tiert, ob ein Hartz-IV-Emp­fän­ger auch ein An­recht auf Blu­men­er­de ha­be. Ge­ra­de­zu em­pha­tisch plä­diert Sar­ra­zin für ein Aus­stei­gen aus dem in trans­fer­ab­hän­gi­ger Pas­si­vi­tät halb­wegs kom­for­ta­bel da­hin­däm­mern­den Geld­emp­fän­ger, den er mit die­ser Tort auf Dau­er ge­de­mü­tigt sieht. Die­ses hier schlum­mern­de Po­ten­ti­al will er wecken, um über so­zia­le, künst­le­ri­sche oder wis­sen­schaft­li­che Tä­tig­keit oder die Aus­übung von Eh­ren­äm­tern Sinn und Struk­tur in das Le­ben zu brin­gen. Die Kri­tik hier­an und an dem Ge­dan­ken, dass dau­er­haft ge­währ­te So­zi­al­trans­fers ge­wis­se Ge­gen­lei­stun­gen zur Fol­ge ha­ben könn­ten ist bil­li­ge Pro­fi­lie­rung, um po­ten­ti­el­le Wäh­ler nicht noch mehr in die Ar­me ei­ner Links­par­tei zu trei­ben, die vor den Her­aus­for­de­run­gen ei­ner glo­ba­li­sier­ten Ge­sell­schaft mit ei­ner Mi­schung aus vor­mo­der­nen Ab­schot­tungs­re­fle­xen und phil­an­thro­pi­schem Staats­mä­ze­na­ten­tum ant­wor­tet. Vie­les spricht da­für, dass die Sor­gen, die sich Sar­ra­zin macht, ehr­lich ge­meint sind – und nicht so falsch.

III. Re­kurs bei En­zens­ber­ger

Die hilf­lo­sen Zwangs­ab­ga­ben­knech­te, die ei­gent­lich das Rück­grat des Steu­er- und So­zi­al­staa­tes bil­den, längst po­li­tisch des­il­lu­sio­niert und sich un­re­prä­sen­tiert füh­lend, ha­ben in Sar­ra­zin ei­nen Dia­gno­sti­ker ih­rer Po­lit­de­pres­si­on ge­fun­den. Um auf die man­geln­de In­te­gra­ti­ons­fä­hig­keit der dau­er­haft bil­dungs­fer­nen deut­schen Un­ter­schicht nicht wei­ter ein­ge­hen zu müs­sen, fo­kus­siert sich die­ser je­doch ir­gend­wann auf die mus­li­mi­schen Mi­gran­ten. Oh­ne ihn zu er­wäh­nen re­kur­riert Sar­ra­zin da­bei auf Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger, der sich 2006 in »Schreckens Män­ner« nicht nur der Psy­cho­lo­gie des is­la­mi­sti­schen Ter­ro­ri­sten, des »ra­di­ka­len Ver­lie­rers«, son­dern der Mus­li­me ge­ne­rell an­nahm. En­zens­ber­ger psy­cho­lo­gi­sier­te »die Ara­ber« als mehr oder we­ni­ger fru­strier­te Völ­ker, die »in den letz­ten vier­hun­dert Jah­ren [...] kei­ne nen­nens­wer­te Er­fin­dung her­vor­ge­bracht« hät­ten. Die po­li­ti­schen und ge­sell­schaft­li­chen Eli­ten in den ara­bi­schen Län­dern, so En­zens­ber­ger da­mals, hät­ten selbst Schuld an ih­rer so emp­fun­de­nen Be­deu­tungs­lo­sig­keit. Ei­ne ähn­li­che Pas­sa­ge fin­det sich dann tat­säch­lich bei Sar­ra­zin, der von ei­ner nar­ziss­ti­schen Krän­kung bei den is­la­mi­schen Füh­rungs­schich­ten im Ver­hält­nis zur abend­län­di­schen Mo­der­ne spricht. An Ein­zel­bei­spie­len ver­such­te En­zens­ber­ger ei­ne so­zia­le und kul­tu­rel­le Re­gres­si­on des Is­lam zu dia­gno­sti­zie­ren – bei­spiels­wei­se in dem er auf die stark un­ter­ent­wickel­te Buch­kul­tur hin­wies (nur 0,8% der Welt­buch­pro­duk­ti­on wer­den in der ara­bi­schen Welt ge­druckt) oder die man­gel­haft ent­wickel­ten Frau­en­rech­te the­ma­ti­siert (wo­bei er sehr wohl auf die Stu­den­tin­nen­quo­te im Iran hin­weist – gleich­zei­tig aber die­se in Sau­di-Ara­bi­en un­ter­schlägt). Ver­blüf­fen­der­wei­se ha­ben En­zens­ber­ger sei­ne holz­schnitt­ar­ti­gen Ver­ein­fa­chun­gen nicht be­son­ders ge­scha­det; man ei­nig­te sich wohl hin­ter den Ku­lis­sen das Buch nach kur­zer Dis­kus­si­on ein­fach zu »ver­ges­sen«.

Hier wie dort ist nicht nur ein Res­sen­ti­ment ge­gen ver­ein­zel­te Prot­ago­ni­sten und de­ren fun­da­men­ta­li­sti­sche Re­li­gi­ons­in­ter­pre­ta­ti­on sicht­bar, son­dern es wird ei­ne gan­ze Re­li­gi­ons­grup­pe ver­ein­heit­licht dar­ge­stellt. In an­de­ren eu­ro­päi­schen Län­dern sind die Kampf­be­we­gun­gen ge­gen »den« Is­lam schon längst po­li­ti­scher All­tag. In den Nie­der­lan­den lässt sich ei­ne Min­der­heits­re­gie­rung von ei­ner sol­chen Par­tei dul­den. Es gibt de­zi­diert an­ti­is­la­mi­sche Par­tei­en in skan­di­na­vi­schen Län­dern, die an Ein­fluss ge­win­nen. In der Schweiz, Öster­reich und Frank­reich sprin­gen rechts­na­tio­na­le Par­tei­en auf den Zug auf. Da­her ist es er­staun­lich, dass die an­ti­is­la­mi­schen Af­fek­te so lan­ge in Deutsch­land ge­ruht hat­ten. Tat­säch­lich bro­del­te (und bro­der­te) es zwar schon län­ger in der Be­völ­ke­rung – aber gut funk­tio­nie­ren­de Ta­bu-Bau­mei­ster in den Me­di­en rück­ten je­de auch nur an­satz­wei­se kri­ti­sche Äu­ße­rung so­fort in die Re­gi­on ei­nes rechts­ra­di­ka­len Ge­dan­ken­guts. So blieb das teil­wei­se mi­li­tan­te an­ti­is­la­mi­sche Bür­ger­tum in der Schmud­del­ecke ei­nes In­ter­net-Web­logs.

Sar­ra­zins Buch fo­kus­siert sich von Be­ginn an auf die Grup­pe der in Deutsch­land le­ben­den mus­li­mi­schen Mi­gran­ten, auch wenn die ei­gent­li­chen Ka­pi­tel hier­zu erst auf Sei­te 255 be­gin­nen. Mus­li­mi­sche Mi­gran­ten sind für Sar­ra­zin Mi­gran­ten aus den Herkunftsgebiete[n] Bos­ni­en und Her­ze­go­wi­na, Tür­kei, Na­her und Mitt­le­rer Osten so­wie Afri­ka. Un­ter­schie­de macht er nicht. Die über­pro­por­tio­nal gu­ten Bil­dungs­ab­schlüs­se bei­spiels­wei­se ira­ni­scher Mi­gran­ten wischt er mit ei­nem Fe­der­strich als ei­ne Art Aus­nah­me weg. Tat­säch­lich wä­re dies mit der jün­ge­ren Ge­schich­te des Iran zu er­klä­ren: So emi­grier­ten zu­letzt En­de der 70er Jah­re auf­grund der ira­ni­schen »Re­vo­lu­ti­on« vor­wie­gend Hoch­ge­bil­de­te und In­tel­lek­tu­el­le, die in ei­nem re­pres­si­ven Got­tes­staat nicht le­ben woll­ten. Dies könn­te Sar­ra­zin auf die tür­ki­schen Mi­gran­ten in Deutsch­land ge­wandt durch­aus ver­wen­den, stam­men die­se je­doch zu­meist aus eher ärm­li­chen Mi­lieus aus Ana­to­li­en. Ein Fak­tor, der üb­ri­gens in den 60er Jah­ren von Wirt­schaft und Po­li­tik in Deutsch­land ge­wollt war: Man woll­te ei­ne Zu­wan­de­rung nur für nie­de­re Ar­bei­ten, um das tech­no­lo­gi­sche Know-How bei den Deut­schen zu las­sen. Weil es nicht in den Kon­text sei­nes The­sen­ge­bäu­des passt, ver­schweigt Sar­ra­zin so et­was. Dies wür­de dann näm­lich be­deu­ten, dass es nicht pri­mär um ein Religions‑, son­dern um ein Schicht­pro­blem han­deln wür­de.

In Be­zug auf die Tür­kei igno­riert der Au­tor noch ei­nen zwei­ten Aspekt. Für ihn han­delt es sich um ei­nen durch­weg re­li­gi­ös be­ein­fluss­ten, to­le­ranz­lo­sen Staat. Als Be­leg zieht er den ak­tu­el­len tür­ki­schen Mi­ni­ster­prä­si­den­ten Er­doğan und des­sen so­ge­nann­te As­si­mi­la­ti­ons-Re­de her­an. Den Spa­gat, den Er­doğan zwi­schen sei­nem re­li­gi­ös-fun­dier­ten Na­tio­na­lis­mus im In­ne­ren und der Öff­nung der Tür­kei zur EU hin er­bringt, er­wähnt er nicht. Des­wei­te­ren sug­ge­riert Sar­ra­zin, dass die Tür­kei ein re­li­giö­ser Staat per se sei wie al­le an­de­ren »is­la­mi­schen Län­der« auch. Zwar wird ein­mal ne­ben­bei er­wähnt, dass die Tür­kei im­mer­hin das ein­zig is­la­mi­sche Land sei, das die po­li­ti­schen Maß­stä­be ei­ner west­li­chen De­mo­kra­tie halb­wegs er­füllt, aber er ver­schweigt dem Le­ser, dass der durch Ke­mal Ata­türk in den 1930er Jah­ren ein­ge­führ­te Lai­zis­mus ei­ne Kon­trol­le der Re­li­gi­on durch den Staat ver­fech­tet. Da­mit ist – zu­min­dest for­mal – die Tür­kei sä­ku­la­rer als die Bun­des­re­pu­blik, auch wenn dies durch die Po­li­tik von Er­doğan und sei­ner AKP auf­ge­weicht zu wer­den droht, was üb­ri­gens durch­aus Wi­der­stand in der Tür­kei her­vor­ruft. Ent­wick­lun­gen, die Sar­ra­zin aus­blen­det. Auch die Tat­sa­che, dass die tür­ki­schen Ein­wan­de­rer, die seit den 1960er Jah­ren nach Deutsch­land ge­kom­men sind, kei­ne streng­gläu­bi­gen Mus­li­me wa­ren, kommt bei ihm nicht vor. Er macht sich gar nicht die Mü­he, die zwei­fel­los in den letz­ten Jahr­zehn­ten zu­neh­men­de Re­li­gio­si­tät der zwei­ten und drit­ten Ge­ne­ra­ti­on der tür­ki­schen Mi­gran­ten in Deutsch­land (aber nicht nur hier) zu un­ter­su­chen.

IV. Der ver­lo­re­ne Mus­lim

Um nicht ins of­fe­ne Mes­ser des xe­no­pho­ben Ver­dachts zu lau­fen, wen­det Sar­ra­zin zwei Tech­ni­ken an: Er dif­fe­ren­ziert da, wo es zu dif­fe­ren­zie­ren sei­ner The­se Nah­rung gibt. Und er dif­fe­ren­ziert da nicht, wo es dem Theo­rie­ge­bäu­de wi­der­spre­chen wür­de. Er dif­fe­ren­ziert, wenn er die In­te­gra­ti­ons­fort­schrit­te asia­ti­scher und ost­eu­ro­päi­scher Mi­gran­ten und die ho­he Ab­itur­quo­te bei Viet­na­me­sen und Ko­rea­nern her­vor­hebt. Die­se Ein­wan­de­rung schätzt er. Er dif­fe­ren­ziert nicht mehr, wenn es um die un­ter­schied­li­chen Ge­ne­ra­tio­nen tür­ki­scher Ein­wan­de­rer geht und wenn er den Be­griff des Is­lam pau­schal setzt und ne­ga­tiv kon­no­tiert (bis auf ei­ne Aus­nah­me).

Für Sar­ra­zin ist je­der Mus­lim a prio­ri un­rett­bar ver­lo­ren. Da­her wen­det er auch nur sehr ein­ge­schränkt so­zio­lo­gi­sche Er­kennt­nis­se an. Hier (und nur hier) weicht Sar­ra­zin vom so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen Ide­al­bild des so­zia­len Auf­stiegs durch Bil­dung ab. Die Ver­lo­ren­heit des Mus­lims do­ku­men­tiert sich für ihn in ei­ner ge­ne­ti­schen De­ter­mi­na­ti­on, die er im Buch suk­zes­si­ve, aber schlei­chend ent­wickelt. Sei­ne Adep­ten fol­gen in ih­rer Kul­tur­de­pres­si­on auch die­ser The­se des Au­tors. Die Ver­su­chung ist zu groß. Schließ­lich wird seit vie­len Jah­ren in den (populär)wissenschaftlichen Dis­kur­sen für na­he­zu je­des Vor­komm­nis ein »zu­stän­di­ges« Gen ent­deckt, wel­ches die Ver­ant­wor­tung des In­di­vi­du­ums auf be­hag­li­che Art mi­ni­miert. So gibt es zum Bei­spiel ein Al­ko­hol-Gen, ein Schwu­len-Gen, na­tür­lich ein Al­ters-Gen und ein Schlaf-Gen. Nichts bleibt vor der ge­ne­ti­schen Ver­ein­nah­mung durch halb­sei­de­ne Dis­po­si­ti­ons­schwa­dro­neu­re ver­schont, die zu­dem hart­näckig Kor­re­la­ti­on mit Kau­sa­li­tät ver­wech­seln. Das wird ih­nen ge­stat­tet, so­lan­ge sie mit ih­rem Vul­gär-Bio­lo­gis­mus auf dem Ni­veau der »Apo­the­ken-Rund­schau« blei­ben. So­gar der freie Wil­le gilt in­zwi­schen als Schi­mä­re wie Neu­ro­bio­lo­gen mit bun­ten Bild­chen von Pro­ban­ten­ge­hir­nen be­le­gen möch­ten. In ei­ner voll­kom­men ver­wis­sen­schaft­li­chen Welt wird ger­ne al­les auf me­cha­nisch-me­di­zi­ni­sche Vor­gän­ge re­du­ziert. Fast könn­te man von ei­ner Re­ani­ma­ti­on des Schick­sals­glau­bens spre­chen.

V. Me­dia­le Ver­wir­rung

Da kommt Sar­ra­zins Dik­tum zur rech­ten Zeit. Wer ihm pau­schal Ras­sis­mus vor­wirft über­sieht, dass er sein Frem­deln mit bio­ge­ne­ti­schen Im­pli­ka­tio­nen nur für die Dia­gno­se des Pro­blems ein­setzt – nicht für die Pro­blem­lö­sung sel­ber. Auch sein Man­tra, die In­tel­li­genz sei zu 50–80% ge­ne­tisch be­dingt, ist bei ge­nau­er Sicht et­wa so aus­sa­ge­fä­hig, als be­schrei­be je­mand die Kör­per­grö­ße ei­nes mut­maß­li­chen Die­bes mit »zwi­schen 1,50 und 2,00 m«. Die Be­teue­run­gen der Hu­man­ge­ne­ti­ker, man sei in Wirk­lich­keit viel wei­ter als die­se Aus­sa­ge sug­ge­rier­ten, ver­puf­fen al­ler­dings me­di­al im Ne­bu­lö­sen. Da hat man fast den Ver­dacht, dass man es so ganz ge­nau dann doch nicht wis­sen möch­te. Oder es nicht weiss.

Sar­ra­zin konn­te lan­ge Zeit die me­dia­le Ver­wir­rung, die er an­ti­zi­piert hat­te, aus­nut­zen um stamm­tisch­pa­ro­len­haft die be­reits durch das fö­de­ra­li­sti­sche Bil­dungs­sy­stem aus­rei­chend (und kon­zi­se) be­schrie­be­ne dro­hen­de Ver­dum­mung des Vol­kes durch die fort­lau­fen­de Sen­kung der bil­dungs­po­li­ti­schen An­for­de­run­gen mit dem »ge­ne­ti­schen« Zu­satz­ar­gu­ment zu be­kräf­ti­gen. Blieb die deut­sche Un­ter­schicht dumm bzw. wur­den die Deut­schen im­mer düm­mer, so blieb der mus­li­mi­sche Mi­grant so­zu­sa­gen »dop­pel-dumm«. Sar­ra­zins Re­gres­si­on auf die Eu­ge­nik des be­gin­nen­den 20. Jahr­hun­derts fiel dem Ge­le­gen­heits­le­ser kaum auf. Es be­durf­te ei­nes Frank Schirr­ma­cher, der »Deutsch­land schafft sich ab« sor­tier­te wie ein Wert­stoff­samm­ler den gel­ben Sack. So ganz kam die Em­pö­rung Schirr­ma­chers (und dann spä­ter auch des SPD-Vor­sit­zen­den und Hob­by-Bio­po­li­ti­kers Ga­bri­el) nicht an. Hat doch Eu­ge­nik über di­ver­se Hin­ter­ein­gän­ge längst Ein­zug in die Mo­der­ne ge­fun­den: El­tern kön­nen auf­grund der Re­sul­ta­te von prä­na­ta­len Un­ter­su­chun­gen be­stim­men, ob sie ein even­tu­ell be­hin­der­tes Kind ha­ben wol­len oder nicht. Der ak­tu­el­le Vor­stoß der Bun­des­kanz­le­rin, dies bei der künst­li­chen Be­fruch­tung aus ethi­schen Grün­den zu un­ter­sa­gen (die so­ge­nann­te Prä­im­plan­ta­ti­ons­dia­gno­stik), ist arg welt­fremd, da da­mit die Zahl der Ab­trei­bun­gen stei­gen wird. Tat­säch­lich gilt die (ver­meint­lich) psy­chi­sche Be­la­stung der Schwan­ge­ren durch ein be­hin­der­tes Kind längst als aus­rei­chen­der In­di­ka­ti­ons­grund; üb­ri­gens ei­ne heuch­le­ri­sche Ver­brä­mung der Wahr­heit. Ad­op­ti­ons­ver­fah­ren bei kin­der­lo­sen El­tern wer­den nach Maß­stä­ben durch­ge­führt, die durch­aus eu­ge­ni­sche »Di­men­sio­nen« be­sit­zen. Sa­men­ban­ken in den USA bie­ten Frau­en, he­te­ro- oder ho­mo­se­xu­el­le Paa­re an, ih­ren Nach­wuchs nach ih­ren Wün­schen (Aus­se­hen, In­tel­li­genz, künst­le­ri­sche Be­ga­bun­gen) zu »de­si­gnen«. Es gibt al­so längst Aus­wahl­ver­fah­ren für bzw. ge­gen Men­schen, die ge­sell­schaft­lich ak­zep­tiert sind und um­ge­setzt wer­den. Frei­lich sind wir von um­fas­sen­den »Re­geln für den Men­schen­park« (aber­mals Slo­ter­di­jk), die Gren­zen und Mög­lich­kei­ten in ei­ner Art Char­ta fest­schreibt, noch weit ent­fernt, da dies zwangs­läu­fig zu ein­stür­zen­den Welt­bil­dern füh­ren wür­de. War­um sich Sar­ra­zin auf das rut­schi­ge Ter­rain der bio­po­li­ti­schen Ar­gu­men­ta­ti­on be­ge­ben hat und bei­spiels­wei­se nicht die »Mo­gel­packung« über Ri­chard Daw­kins’ Me­me ge­gan­gen ist, mag in sei­ner Pro­vo­ka­ti­ons­lust ei­ner­seits und in der Un­ei­nig­keit in die­sen Fra­gen in der Wis­sen­schaft an­de­rer­seits zu su­chen sein. Vor al­lem scheint es je­doch mit fun­da­men­ta­len Miss­ver­ständ­nis­sen zu tun zu ha­ben.

Die Re­zep­ti­on des Sar­ra­zin-Bu­ches ist bis auf we­ni­ge Aus­nah­men kein Ruh­mes­blatt. Die fast in­qui­si­to­ri­schen Fern­seh­auf­trit­te bei »Beck­mann« und »Hart aber fair« för­der­ten in ih­rer Un­kul­ti­viert­heit das In­ter­es­se an dem Buch. Mit glei­cher In­brunst, wie sich ei­ne Ge­ne­ra­ti­on den bö­sen Ein­flüs­sen der Welt durch die Flucht in den Mu­si­kan­ten­stadl ent­zieht, griff auch das links­in­tel­lek­tu­el­le Bür­ger­tum nach der er­sten Schock­star­re zum ul­ti­ma­ti­ven Ver­klä­rungs­in­stru­men­ta­ri­um: Man leug­net schlicht­weg die dar­ge­stell­ten Pro­ble­me, de­kla­riert sie zu »Ein­zel­fäl­len« um dann sei­ner­seits mit Ein­zel­fäl­len das Ge­gen­teil zur Re­gel her­bei­zu­mo­geln. Die Lek­tü­re des in­kri­mi­nie­ren­den Bu­ches er­spar­te man sich weit­ge­hend non­cha­lant und be­ließ es bei Zi­ta­ten. Das Bad im Dra­chen­blut der rich­ti­gen Ge­sin­nung ge­nüg­te. Ei­ne Frau, die an­läß­lich ei­ner Le­sung Sar­ra­zins pro­te­stier­te und ge­fragt wur­de, war­um sie dies ma­che, ent­blö­de­te sich nicht zu sa­gen, er ha­be mit dem, was er »über die Ju­den ge­sagt« ha­be, ei­ne Gren­ze über­schrit­ten. Deut­li­cher kann man sei­ne Igno­ranz dem Buch ge­gen­über nicht ar­ti­ku­lie­ren: Sar­ra­zin er­läu­tert dar­in, dass Ju­den in den 1920er Jah­ren bei In­tel­li­genz­tests in Deutsch­land ei­nen IQ von 15 Punk­ten über dem Durch­schnitt auf­wie­sen. Auch die eher un­glück­li­che Aus­sa­ge in ei­nem In­ter­view in der »Welt« war von Sar­ra­zin eher phi­lo­se­mi­tisch ge­meint; in kei­nem Fall je­doch an­ti-jü­disch. Mit die­ser af­fekt­ge­steu­er­ten Ein­stel­lung, von jeg­li­cher Ah­nung be­freit, kul­ti­viert man sei­nen Blu­men­ka­sten, der dann ein­fach zum Gar­ten Eden er­klärt wird. Die zum Teil hy­ste­ri­schen De­bat­ten­bei­trä­ge, die Sar­ra­zins ge­ne­ra­li­sie­ren­de Sicht durch Ein­zel­fall­bei­spie­le wi­der­le­gen woll­ten ver­fin­gen zu­nächst nicht. Die Vor­zei­ge-Mus­li­me und ‑Mus­li­ma tin­gel­ten ei­ne Zeit lang durch al­le mög­li­chen Talk­shows. Da­bei wur­de ger­ne über­se­hen, dass die­se Leu­te längst das mo­dern-sä­ku­la­re Dik­tum der Tren­nung zwi­schen Re­li­gi­on und Kul­tur prak­ti­zier­ten. Ei­nem De­pres­si­ven hilft der Hin­weis dar­auf, dass die mei­sten Men­schen glück­lich sind, nicht wei­ter.

Be­wies Sar­ra­zin mit sei­ner Ver­wei­ge­rungs­hal­tung ei­ner dif­fe­ren­zier­te­ren Be­trach­tungs­wei­se schon be­trächt­li­che Ar­gu­men­ta­ti­ons­re­si­stenz, so lie­fer­ten die Ver­fech­ter des »Es-ist-doch-al­les-gar-nicht-so-schlimm« ein fast noch er­bärm­li­che­res Bild. Erst muss­te die ge­ball­te La­dung po­li­tisch-kor­rek­ter Schön­dar­stel­lung zur be­sten Ra­dio- bzw. Fern­seh­zeit ab­ge­feu­ert wer­den. In­zwi­schen ist der woh­li­ge Ef­fekt der Stig­ma­ti­sie­rung der Sar­ra­zin-Le­ser wie­der kon­sen­su­el­les Ge­mein­gut des lin­ken Bour­geois, der am lieb­sten nach ei­ner Le­sung ih­rer Reiz­fi­gur das ent­spre­chen­de Sitz­mö­bel in ei­nem se­pa­ra­ten Ca­stor-Be­häl­ter hät­te ent­sor­gen las­sen. Ernst­haft gibt es schon wie­der be­son­ders pro­gres­si­ve Kom­men­ta­re, die er­klä­ren, dass die Be­herr­schung der Lan­des­spra­che für Mi­gran­ten nicht un­be­dingt so wich­tig sei und stim­men das ho­he Lied der Par­al­lel­ge­sell­schaf­ten an.

Nach­träg­lich ist es für das links­in­tel­lek­tu­el­le Mi­lieu ein Glücks­fall, dass nicht Kir­sten Hei­sigs Buch »Das En­de der Ge­duld« Ge­gen­stand des Dis­kur­ses war. Sar­ra­zin bot viel mehr An­griffs­flä­che. Weil er sich in ei­ni­gen Punk­ten ver­rannt hat, konn­te man in ei­nem Schwung sein gan­zes Buch als Son­der­müll be­han­deln. Das we­sent­lich fun­dier­te­re aber in der Sa­che nicht we­ni­ger ein­deu­ti­ge Buch der Ju­gend­rich­te­rin aus Ber­lin, die, wie es heißt, aus per­sön­li­chen Grün­den Hand an sich ge­legt hat­te, hät­te zu viel in­ter­es­san­te­ren Dis­kus­sio­nen füh­ren kön­nen. Die­se blie­ben je­doch weit­ge­hend aus. Im­mer­hin stimm­ten Hei­sig und Sar­ra­zin im we­sent­li­chen in der Dia­gno­se der Pro­ble­me über­ein, aber die Hau-druff-Rhe­to­rik des ehe­ma­li­gen Ber­li­ner Fi­nanz­se­na­tors war viel bes­ser ge­eig­net, Rea­li­tä­ten zu leug­nen, die längst nicht mehr zu leug­nen sind. Sel­ten ver­such­te man Sar­ra­zins so­zi­al­po­li­ti­sches Theo­rie­ge­bäu­de ar­gu­men­ta­tiv zu be­geg­nen. Dies ge­schah teil­wei­se aus Un­ver­mö­gen, teil­wei­se je­doch auf­grund der be­schrie­be­nen Ver­drän­gungs­me­cha­nis­men. Zu­meist be­gnüg­te man sich ei­ner gro­ßen Por­ti­on rhe­to­ri­scher Em­pö­rung (da­bei of­fen­bar­te sich zu­wei­len durch­aus ein er­schrecken­der Mei­nungs­au­tori­ta­ris­mus) und ver­such­te Sar­ra­zins fra­gi­le Sta­ti­stik­ge­bäu­de mit re­zi­prok ge­türk­ten (!) Wer­ten zu be­ant­wor­ten.

VI. Ver­ir­run­gen des Bun­des­prä­si­den­ten

Oli­vi­er Roy hat­te in sei­ner fu­rio­sen re­li­gi­ons­kri­ti­schen Schrift »Hei­li­ge Ein­falt« auch die Adep­ten des Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus ent­larvt. Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus sei, so Roy »kei­nes­wegs die An­er­ken­nung ur­sprüng­li­cher Un­ter­schie­de, son­dern nur Aus­druck des­sen, dass sich Kul­tu­ren und Re­li­gio­nen an ei­nem ge­mein­sa­men Pa­ra­dig­ma aus­rich­ten, und zwar dem Pa­ra­dig­ma des klein­sten ge­mein­sa­men Nen­ners«. Prak­tisch ent­stün­de ei­ne Art »Kom­mu­ni­ta­ris­mus, re­du­ziert auf den Zu­ge­winn«. Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus ist al­so »ei­ne Il­lu­si­on, denn er zielt auf Ge­mein­schaf­ten, in de­nen die Ab­lö­sung von re­li­giö­sen und kul­tu­rel­len Mar­kern be­reits statt­ge­fun­den hat: Beim Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus wird künst­lich et­was als kul­tu­rell de­fi­niert, was nicht mehr zur Kul­tur ge­hört«.

Die­se Aus­sa­ge ist be­deut­sam, wenn man sich Bun­des­prä­si­dent Wulffs Dik­tum vom 3. Ok­to­ber ver­ge­gen­wär­tigt. Wulff sag­te, der Is­lam ge­hö­re zu Deutsch­land. Ab­ge­se­hen da­von, dass Wulff und Sar­ra­zin über­ein­stim­mend von »dem« Is­lam als ho­mo­ge­ne Ein­heit re­den, die so gar nicht gibt, glei­chen sich die bei­den auch noch auf ei­ne an­de­re Wei­se: Bei­de igno­rie­ren die ke­ma­li­stisch-lai­zi­sti­sche Tra­di­ti­on der Tür­kei. Der ei­ne malt die (Re-)Islamisierung der in Deutsch­land le­ben­den Tür­ken als ei­ne mög­li­che Schreckens­vi­si­on an die Wand – der an­de­re treibt die glei­chen Tür­ken erst in die Ar­me der Re­li­gi­on. Statt den Satz »Die bei uns le­ben­den Tür­ken ge­hö­ren zu Deutsch­land« zu sa­gen, is­la­mi­siert Wulff die­se und setzt da­mit die sä­ku­la­ren Tür­ken oh­ne Not un­ter Re­li­gi­ons­druck. Dies ent­spricht Roys Dar­stel­lung des Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus – hier wird et­was »künstlich…als kul­tu­rell« de­fi­niert – näm­lich der Is­lam. Wulffs Re­de ist ein Bei­spiel, dass gut ge­meint manch­mal das Ge­gen­teil von gut ge­macht be­deu­tet (ge­ra­de­zu an­ma­ßend dann vice ver­sa in der Tür­kei das Chri­sten­tum ein­zu­kla­gen). Noch gra­vie­ren­der of­fen­bart sich die po­li­ti­sche In­komp­tenz bei der Kanz­le­rin: Ei­ner­seits stimmt sie Wulffs Aus­sa­ge zu. An­de­rer­seits will sie am rech­ten Rand ih­rer ver­un­si­cher­ten Wäh­ler­kli­en­tel fi­schen und er­klärt »Mul­ti­kul­ti« für ge­schei­tert. Im Licht von Oli­vi­er Roy sind bei­de Aus­sa­gen un­ver­ein­bar. Nur gut, dass kei­ner nach­ge­dacht hat.

Macht Sar­ra­zin noch (zu­sam­men mit Heinz Busch­kow­sky) ver­nünf­ti­ge (wenn auch nicht durch­gän­gig neue) Vor­schlä­ge was die Bil­dungs- und Schul­po­li­tik an­geht (be­son­ders in­ter­es­sant: ho­mo­ge­ne Lern­grup­pen in der Schu­le, die nach Nei­gung und Lei­stung zu­sam­men­ge­setzt sind statt star­rer Klas­sen­ver­bän­de), so mu­ten sei­ne Ideen zur In­te­gra­ti­ons­po­li­tik eher be­schei­den an. Er möch­te, dass die auf­neh­men­de Ge­sell­schaft ei­ne kla­re Er­war­tungs­hal­tung ver­mit­telt. An­gel­säch­si­sche Auf­nah­me­mo­del­le, die nach stren­gen Kri­te­ri­en ih­re Ein­wan­de­rer aus­wäh­len, ste­hen hier Pa­te. Ein­lass in die So­zi­al­trans­fers (bei­spiels­wei­se für so­ge­nann­te Im­port­bräu­te) will er ver­un­mög­li­chen, in dem ei­ne län­ge­re Zeit nach Ein­wan­de­rung in die Bun­des­re­pu­blik kei­ne Lei­stun­gen be­zahlt wer­den. Sar­ra­zin nimmt – die­se Sicht ver­mag über­ra­schen – die Fest­stel­lung »Deutsch­land ist ein Ein­wan­de­rer­land« ern­ster als die­je­ni­gen, die seit Jah­ren den un­ge­hin­der­ten und na­he­zu vor­aus­set­zungs­lo­sen Fa­mi­li­en­zu­zug gou­tie­ren. Seit 1973 hat sich der Zu­zug von Mi­gran­ten weit­ge­hend vom Ar­beits­markt ent­kop­pelt. Sar­ra­zin will dies auf­he­ben. Sein zwi­schen­durch im­mer ge­äu­ßer­tes Cre­do, dass Ein­wan­de­rung die de­mo­gra­fi­schen Pro­ble­me nicht löst, ist nur ein schein­ba­rer Wi­der­spruch: In Wirk­lich­keit ist er nur an der Zu­wan­de­rung un­ge­lern­ter Kräf­te nicht mehr in­ter­es­siert.

Die ger­ne vor­ge­brach­te ak­tu­el­le Sta­ti­stik, wo­nach es der­zeit mehr Aus­wan­de­rer als Ein­wan­de­rer gibt, wi­der­legt nicht Sar­ra­zins ge­ne­rel­len Be­fund, dass die Fer­ti­li­tät un­ter Mi­gran­ten we­sent­lich hö­her ist als in der deut­schen Mit­tel- und Ober­schicht. Die ver­ba­le Ve­he­menz, mit der Sar­ra­zin ge­gen mus­li­mi­sche Trans­fer­be­zie­her vor­geht, lässt er bei der Be­trach­tung der deut­schen Un­ter­schicht ver­mis­sen. Dort liegt die so­ge­nann­te Net­to­re­pro­duk­ti­ons­ra­te ver­mut­lich ähn­lich hoch (ge­naue Sta­ti­sti­ken gibt es nicht, wes­halb Sar­ra­zin Ab­lei­tun­gen vor­nimmt). Wie be­reits er­wähnt, tan­giert sein Ne­ga­tiv­be­fund in Be­zug auf die Zu­kunft Deutsch­lands über­haupt nicht die deut­sche Ober­schicht und de­ren Ver­hal­ten.

VII. Ein so­zi­al­de­mo­kra­ti­scher Re­flex

Sar­ra­zins Sprach- und Hilf­lo­sig­keit dem de­mo­gra­phi­schen Phä­no­men ge­gen­über ist ne­ben der Aus­blen­dung der ge­sell­schafts­schä­di­gen­den Ver­hal­tens­wei­sen der au­to­chtho­nen Eli­ten die zwei­te Ent­täu­schung des Bu­ches. Nach der Auf­zäh­lung gän­gi­ger Vor­schlä­ge wie bes­se­re Be­treu­ungs­an­ge­bo­te für Kin­der, Re­form des Fa­mi­li­en­la­sten­aus­gleichs, der hö­he­ren Wert­schät­zung dau­er­haf­ter Part­ner­schaf­ten, der Ver­kür­zung von Aus­bil­dungs- und Stu­di­en­zei­ten und der steu­er­li­chen Hö­her­be­la­stung von Kin­der­lo­sen holt Sar­ra­zin zu ei­nem wuch­ti­gen Schlag aus: Ge­bil­de­ten deut­schen Frau­en soll ei­ne Art Kin­der­prä­mie von 50.000 Eu­ro ge­zahlt wer­den. Die­ser Vor­schlag ist von Gun­nar Hein­sohn, dem Ne­stor der deut­schen Bio­po­li­tik, ge­klaut. Die­ser woll­te so­gar 130.000 Eu­ro be­zah­len (in­zwi­schen ist er von die­sem Vor­schlag ab­ge­rückt). Mit die­sem Ge­dan­ken ist Sar­ra­zin dann durch­aus wie­der in ei­nem ty­pisch so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen Re­flex auf­ge­ses­sen: Seit je­her glau­ben ja Po­li­ti­ker der fünf so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei­en mit­tels Geld je­den und al­les steu­ern zu kön­nen – und dies im Gu­ten wie im Schlech­ten. Die­ses Mär­chen zeigt sich bis in die Um­welt­ge­setz­ge­bung hin­ein, ob­wohl man ei­gent­lich wis­sen müss­te, dass we­nig­stens die Na­tur un­be­stech­lich ist: Egal wie hoch der Preis für das CO2-Zer­ti­fi­kat ist: der Dreck schert sich nicht dar­um, ob er teu­er war oder nicht – er ist da. Ge­ra­de die­ser Prä­mi­en­vor­schlag Sar­ra­zins ist un­sin­nig. Zum ei­nen ist ja mit ei­ner »deut­schen«, »ge­bil­de­ten« Mut­ter nichts über den Va­ter des Kin­des aus­ge­sagt (Sar­ra­zin wi­der­spricht sich in sei­ner Ab­stam­mungs­theo­rie hier sel­ber) und zum an­de­ren lässt der Ver­merk im Buch, der Staat be­zah­le für ein Kind schät­zungs­wei­se 55.000 Eu­ro Kin­der­geld, den Schluss zu, dass die­ses Kin­der­geld dann nicht mehr ge­zahlt wer­de. Die um­wor­be­ne Aka­de­mi­ker-Mut­ter hät­te kei­nen Ge­winn mehr.

In­ter­es­san­ter­wei­se kon­ze­diert Sar­ra­zin al­ler­dings sehr wohl, dass Geld nicht durch­gän­gig der pro­blem­lö­sen­de Fak­tor ist. Er weist dar­auf hin, dass die deut­schen Bun­des­län­der mit den höch­sten Pro­kopf­aus­ga­ben im Bil­dungs­we­sen die schlech­te­sten Re­sul­ta­te bei PI­SA-Tests er­rei­chen. Auch hin­sicht­lich der de­mo­gra­fi­schen Pro­ble­ma­tik ist er, was die so­zia­le Ver­sor­gung mit Trans­fer­lei­stun­gen an­geht, skep­tisch. So hat Frank­reich mit ei­nem ähn­li­chen So­zi­al­sy­stem ei­ne Net­to­re­pro­duk­ti­ons­ra­te von 0,91 (im Ver­gleich Deutsch­land: 0,67). Die USA und Eng­land (kon­se­quent wird die Be­zeich­nung ‘Groß­bri­tan­ni­en’ ver­wei­gert), Län­der mit ei­ner we­sent­lich re­strik­ti­ve­ren So­zi­al­po­li­tik, wei­sen den Fak­tor 1,01 bzw. 0,75 aus.

In ei­nem an­de­ren Punkt ist Sar­ra­zin wie­der der ty­pi­sche Volks­wirt. Er fragt un­ver­hoh­len, wel­chen volks­wirt­schaft­li­chen Nut­zen die bis­he­ri­gen Ein­wan­de­rer der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land er­bracht ha­ben. Der Vor­wurf, er be­trei­be da­mit ei­nen un­zu­läs­si­gen, ja men­schen­ver­ach­ten­den Uti­li­ta­ris­mus, ist ab­surd. Wie be­reits er­wähnt, schim­mert in sol­chen Über­le­gun­gen der Ge­dan­ke an ei­ner kon­zi­sen Ein­wan­de­rungs­po­li­tik durch (bei­spiels­wei­se wie in Ka­na­da). Er ist aber Rea­list ge­nug, um zu er­ken­nen, dass Deutsch­land für die wirk­li­chen Fach­kräf­te der­zeit nicht ge­nü­gend at­trak­tiv ist. Zu Pro­blem­lö­sun­gen in die­ser Hin­sicht schweigt er sich al­ler­dings eben­falls aus.

VIII. Was bleibt?

Sar­ra­zins Stroh­feu­er hat ei­nen er­schrecken­den Blick auf ei­ne hilf‑, sprach- und ar­gu­men­ta­ti­ons­lo­se po­li­ti­sche Öf­fent­lich­keit auf­ge­zeigt. Hilf­los war man, in dem man dem Buch ei­ne ge­wis­se Sou­ve­rä­ni­tät ge­gen­über hät­te zei­gen müs­sen. Sprach­los wa­ren vor al­lem die Po­li­ti­ker, die in ri­tua­li­sier­ten Ab­leh­nungs­af­fek­ten ver­fie­len. Die über­eil­ten und re­pres­si­ven Re­ak­tio­nen, die sich ge­gen den Au­tor rich­te­ten (vor­zei­ti­ge Pen­sio­nie­rung; SPD-Aus­schluss­ver­fah­ren) of­fen­ba­ren er­heb­li­che De­fi­zi­te in der po­li­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zung auch un­an­ge­neh­mer Pro­blem­fel­der.

Die Kanz­le­rin be­zeich­ne­te das Buch als »we­nig hilf­reich« – ob­wohl sie es nicht ge­le­sen hat­te. Den­noch dürf­te sie in die­ser Ein­schät­zung auf ei­ne an­de­re Wei­se recht be­hal­ten: We­nig hilf­reich dürf­te es sein, weil es zu ei­ner wei­te­ren Do­me­sti­zie­rung des Dis­kur­ses um die The­men So­zi­al­po­li­tik, De­mo­gra­fie, In­te­gra­ti­on und Ein­wan­de­rung füh­ren wird.

Das ak­tu­ell kon­tro­vers dis­ku­tier­te In­ter­view des tür­ki­schen Bot­schaf­ters in Wien kann als Ge­gen­stück zu Sar­ra­zins Buch ge­le­sen wer­den. Ich stim­me bei­den in vie­len Punk­ten nicht zu. Aber ei­ne öf­fent­li­che Dis­kus­si­on zwi­schen den bei­den Prot­ago­ni­sten, zwi­schen Thi­lo Sar­ra­zin und Kadri Ec­ved Tez­can, zwei Stun­den zur be­sten Sen­de­zeit im Fern­se­hen, oh­ne Mo­de­ra­tor – das wä­re ein Wunsch in den Zei­ten, als das Wün­schen schon lan­ge nicht mehr ge­hol­fen hat.


Die kur­siv ge­setz­ten Pas­sa­gen sind Zi­ta­te aus »Deutsch­land schafft sich ab« von Thi­lo Sar­ra­zin

40 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Vie­len Dank
    ...na­ment­lich für den Hin­weis auf das Tez­can-In­ter­view in der »Pres­se«, das durch Ta­che­les be­ein­druckt, wo of­fi­zi­el­le In­te­gra­ti­ons­gip­fel im­mer nur »wat­tiert« da­her­kom­men. Ich kann mich nicht er­in­nern, je­mals ei­nen On­line-Bei­trag mit 2348 Kom­men­ta­ren ge­se­hen zu ha­ben...

    Ja, man wünsch­te sich so ei­ne Dis­kus­si­on oh­ne die Ei­gen­ge­set­ze und ‑Ef­fek­te der Me­di­en­ge­sell­schaft, aber trotz­dem oh­ne Blatt vor den Mund. Nur wo und wie soll das mög­lich sein?

  2. Kei­ne Ah­nung
    ich glau­be ja schon län­ger, dass die Habermas’schen Diskurstheorie(n) nicht mehr in die­sen hy­ste­ri­schen Me­di­en­ge­sell­schaf­ten funk­tio­nie­ren. Der herr­schafts­freie Dis­kurs exi­stiert nicht, weil in ihm im­mer und letzt­lich im­ma­nent fei­ne Hier­ar­chie-Ebe­nen ein­ge­ar­bei­tet sind, die Ta­bu-Brü­che po­stu­lie­ren, dia­gno­sti­zie­ren und auch sank­tio­nie­ren. Die­se Re­geln sind nicht nur for­ma­ler Na­tur, son­dern schon mit der Sa­che in Form von un­ter­schwel­li­gen Im­pe­ra­ti­ven ver­wo­ben.

    Ich ha­be ei­ni­ge Ra­dio­dis­kus­sio­nen zur Cau­sa Sar­ra­zin ge­hört, nach­dem die Fern­seh­sen­dun­gen, die sich die­ses The­mas an­ge­nom­men hat­ten, un­er­träg­lich wa­ren. Aber auch im Ra­dio lief es nicht bes­ser: Wer nur in Nu­an­cen Sar­ra­zins Position(en) dar­stel­len woll­te, be­kam es mit Mo­de­ra­tor und den an­de­ren Dis­ku­tan­ten zu tun – man ver­stand nichts mehr.

    Es ist er­staun­lich, wel­che Angst ins­be­son­de­re im links­li­be­ra­len Bür­ger­tum vor dem frei­en Wort herrscht und wie we­nig Ver­trau­en man gleich­zei­tig Mei­nungs­bil­dungs­pro­zes­sen hat.

  3. Ver­mut­lich ist Ha­ber­mas’ Dis­kurs­theo­rie eher als Ide­al zu ver­ste­hen, um das man sich be­mü­hen muss, da­mit es nicht gänz­lich ver­lo­ren geht, ob­wohl man zu­gleich weiß, dass man es nicht ver­wirk­li­chen kann.

    [EDIT: 2010-11-15 19:58]

  4. Ein Ide­al, dass über­haupt kei­ne Aus­sicht auf Ver­wirk­li­chung hat, ist für mich ei­ne Uto­pie. Und Uto­pien soll­ten nicht Ba­sis für po­li­ti­sche oder ge­sell­schaft­li­che Theo­rie­ent­wür­fe sein.

    [EDIT: 2010-11-15 20:23]

  5. Ich ver­ste­he es so: Völ­li­ge Herr­schafts­frei­heit gibt es nicht, aber ein Dis­kurs der ihr na­he kommt, ist bes­ser ge­eig­net un­se­ren de­mo­kra­ti­schen Vor­stel­lun­gen zu ge­nü­gen. Man kämpft so­zu­sa­gen ge­gen die je­ne Art von Herr­schaft die Ar­gu­ment und Kri­tik zu um­ge­hen ver­sucht, oh­ne sie je völ­lig be­sei­ti­gen zu kön­nen (wä­re ein herr­schafts­frei­er Dis­kurs auch in An­sät­zen nicht mög­lich, soll­ten wir uns nach ei­ner an­de­ren Staats­form um­se­hen).

    [EDIT: 2010-11-15 20:49]

  6. Ich seh’s leicht an­ders, ge­ste­he aber, dass ich die­ser Form der Be­trach­tun­gen – Dis­kurs­ethik – noch nie et­was ab­ge­win­nen konn­te, weil sie zu­vie­le Kon­junk­ti­ve ent­hält. Wenn es ein Or­gan gibt, wo dies ver­sucht wur­de (und wird), so ist das der Rat der Eu­ro­päi­schen Uni­on, wo zu be­stimm­ten Fra­gen das Ein­stim­mig­keits­prin­zip prak­ti­ziert wird. Das Er­geb­nis kann man (fast) über­all be­wun­dern...

    Theo­re­tisch ist es na­tür­lich rich­tig: Ein Dis­kurs hat nur Sinn, wenn es a prio­ri kei­ne Hier­ar­chien gibt. Aber spä­te­stens wenn das Prin­zip der »Ge­rech­tig­keit« da­zu­kommt, wird’s schin schwie­rig – sie­he EU: Kann Lu­xem­burg gleich­be­rech­tigt ei­ne Stim­me ha­ben wie Frank­reich; Mal­ta wie Po­len?

    Hin­zu kommt, dass der »herr­schafts­freie Dis­kurs« selbst in de­mo­kra­ti­schen Staa­ten viel­leicht gar nicht wün­schens­wert ist – je­der könn­te sonst nach Her­zens­lust be­lei­di­gen oder de­nun­zie­ren. Ich weiss, dass ist al­les re­la­tiv un­wis­sen­schaft­lich und die Apel- bzw. Ha­ber­mas-Adep­ten wer­den sich Ku­geln vor La­chen: Aber ich hal­te die­ses so heh­re Prin­zip in der Pra­xis für un­durch­führ­bar – und auch nicht wün­schens­wert.

    [EDIT: 2010-11-18 21:10]

  7. Sar­ra­zin, Mes­si­as der Mit­tel­schicht
    Mag sein dass er der Mit­tel­schicht die Äng­ste vor­for­mu­liert, von dumm ge­bo­re­nen Mus­li­men, kin­der­lo­sen Aka­de­mi­ke­rIn­nen bis zur Apo­theo­se strikt wirt­schafts­gläu­bi­ger Ein­wan­de­rungs­rhe­to­rik. Das macht sein Ge­sei­er aber nicht bes­ser. Auf ei­ne De­bat­te mit T.S. im Fern­se­hen zu hof­fen kann man wohl nur, wenn man die na­tio­na­le Idee, der er sich bio­lo­gi­stisch-po­li­tisch-pseu­do­psy­cho­lo­gisch er­gei­fert, so viel ab­ge­win­nen kann wie Sie es of­fen­bar tun.

  8. Kaf­fee­satz­le­se­rei und die Un­mög­lich­keit des Dis­kur­ses
    Lie­ber RückerS,

    Ih­ren Beiß­re­flex kann ich durch­aus nach­voll­zie­hen, al­ler­dings ist dies ei­ne et­was un­ge­eig­ne­te Art sich vor­zu­stel­len: dem Haus­herrn das Ho­sen­bein zu zer­fet­zen oder gar dar­an zu uri­nie­ren.

    Mei­nen Beiß­re­flex wür­de ich auf mei­ne ‘lin­ke’ So­zia­li­sa­ti­on zu­rück­füh­ren und aus die­sem Bei­trag trieft ja nun ei­ni­ger Spott und Iro­nie über je­ne »Links­in­tel­lek­tu­el­len«, po­li­tisch Kor­rek­ten, die die Schalt­stel­len der Me­di­en­an­stal­ten und Po­li­tik be­set­zen sol­len (aber es gab doch auch ge­nü­gend Spit­zen ge­gen Sar­ra­zin, ei­gent­lich be­kommt doch fast je­der sein Fett weg) – Die­se ‘Ver­schwö­rungs­theo­rie’ lie­ße sich nun ih­rer­seits ver­hoh­ne­pie­peln, in­dem man sie als Schi­mä­re so ar­mer Tröp­fe wie Jan Fleisch­hau­er (oder Da­ni­el Kehl­mann) deu­te­te,... aber wenn ich an die Sprech­bla­sen den­ke, die von den Dis­ku­tan­ten in den er­wähn­ten Ra­dio­ge­sprä­chen so aus­ge­sto­ßen wur­den, in wel­chem hor­ror va­cui ich zum Aus­schalt­knopf sprin­ten muss­te, um den Schä­del nicht im­plo­die­ren zu las­sen, dann erscheint’s gar nicht mehr so ab­we­gig.

    War­um Sie die Ver­bal­keu­le so nied­rig schwenk­ten weiß ich nicht, aber An­griffs­punk­te gibt es doch auf die­sem wei­ten Dis­kurs­feld ge­nug.. ich nehm mal eins:

    Wann im­mer sich ei­ner in die De­mo­gra­phie ver­liert, die­se mo­der­ne Form der Kaf­fee­satz­le­se­rei, soll man ihn noch an­hö­ren, sei­ne neue Schwarz­ma­le­rei, mit dem er die näch­ste Ka­ta­stro­phe pro­phe­zeit, wie einst Nost­rad­amus? Soll­te man den­je­ni­gen nicht dar­auf hin­wei­sen, dass Kaf­fee nun ein­mal die­se Far­be ha­be?
    (So muss­te ich bei Herrn Schirr­ma­chers er­ster Ein­las­sung, bei der er ver­tei­dig­te, man sol­le Sar­ra­zins The­sen zu­min­dest dis­ku­tie­ren, doch dar­an den­ken, dass er doch auch mal ein Buch pu­bli­zier­te, um vor der Über­al­te­rung un­se­rer Ge­sell­schaft zu war­nen – nicht dass ich jetzt al­le De­mo­gra­phen ein­sper­ren oder ih­nen das Wort ver­bie­ten woll­te,... aber man soll­te ih­re Dys­to­pien doch auch mal be­la­chen dür­fen – viel­leicht soll­te man das bei al­len Dys­to­pien, die da so pro­du­ziert wer­den: die Über­wa­chungs­staat­sze­na­ri­en der Lin­ken, die Kul­tur­des­abend­lands­un­ter­gän­ge der Kon­ser­va­teu­re, usw..)

    Fer­ner: Es scheint als wür­den Sie es schon ver­ur­tei­len, über­haupt sich auf die Dis­kus­si­on mit ’so ei­nem’ ein­zu­las­sen. Solch ei­ne Ta­bui­sie­rung, Aus­schluss des Geg­ners schon vor der De­bat­te scheint sym­pto­ma­tisch für die­se re­al schei­tern­den Dis­kur­se. (Frei­lich scheint es nur sol­che zu ge­ben oder die ge­gen­sei­ti­ge Bauch­pin­se­lei in Blog­kom­men­tar­spal­ten.)

  9. @Phorkyas
    Schirr­ma­chers Halb-Halb-Ur­teil ha­be ich auch so ge­le­sen: ‘We­nig­stens hat da je­mand (au­ßer mir) die De­mo­gra­phie mal er­wähnt’. Das mit der Kaf­fee­satz­le­se­rei se­he ich nicht ganz so kri­tisch wie sie. Es gilt viel­leicht für die »Mo­del­le«, die Sar­ra­zin da ent­wirft – die sind ha­ne­bü­chen, weil er ein­fach hoch­rech­net (wor­auf er al­ler­dings hin­weist). Tat­säch­lich sind die de­mo­gra­phi­schen Im­pli­ka­tio­nen nicht zu leug­nen. Ins­be­son­de­re Ge­sell­schaf­ten mit der­art von der Ar­beit ab­hän­gi­gen So­zi­al­ver­si­che­rungs­sy­ste­men wer­den Pro­ble­me be­kom­men – und da­zu ge­hört Deutsch­land.

    Solch ei­ne Ta­bui­sie­rung, Aus­schluss des Geg­ners schon vor der De­bat­te scheint sym­pto­ma­tisch für die­se re­al schei­tern­den Dis­kur­se. (Frei­lich scheint es nur sol­che zu ge­ben oder die ge­gen­sei­ti­ge Bauch­pin­se­lei in Blog­kom­men­tar­spal­ten.)
    Das be­ob­ach­te ich ja schon lan­ge. Den­noch be­haup­te ich, dass es hier (aber nicht nur hier) schon sehr nütz­li­che Dis­kus­sio­nen gab.

  10. In der Sar­ra­zin-Kopf­tuch­mäd­chen-usw-De­bat­te
    kann ich nur wei­ter­emp­feh­len, mal et­was Er­hel­len­des aus er­ster Hand zu le­sen: Gü­ner Bal­cis Ro­man »Ar­ab­boy« klärt auf – und wo­mög­lich ra­di­ka­ler als dies vie­len lieb ist.

  11. Um das Be­gon­ne­ne fort­zu­set­zen...
    Ich se­he da fol­gen­den Wi­der­spruch: Wir be­kla­gen ei­ner­seits in ei­ner um Auf­merk­sam­keit ha­schen­den Me­di­en­welt zu le­ben, in der nur der­je­ni­ge ge­hört wird der laut oder schrill ge­nug schreit; und an­de­rer­seits braucht es (an­schei­nend) ge­nau die­se »dis­kur­si­ve Zu­spit­zung«, um das schön ge­zeich­ne­te Ab­bild der Wirk­lich­keit aus­zu­he­beln.

    Nur: We­der das Ei­ne, noch das An­de­re be­frie­digt, weil not­wen­di­ger Wei­se Nu­an­cen un­ter den Tisch fal­len, die ent­schei­dend sind, weil sie zei­gen, dass die Rea­li­tät kom­pli­zier­ter ist, als die ver­kürz­te Bot­schaft sug­ge­riert. Die Fra­ge ist, ob der­ar­ti­ge Wort­mel­dun­gen zu ei­ner Ver­bes­se­rung des Dis­kur­ses bei­tra­gen kön­nen, und zwar nach­hal­tig, und nicht nur dort, wo dar­über oh­ne­hin dis­ku­tiert wird. Was er­rei­chen Sar­ra­zin oder Tez­can, was Hei­sig nicht schafft, und über ei­ne Auf­merk­sam­keits­spit­ze hin­aus­geht?

  12. Den Ein­wand hat­te ich er­war­tet: Ei­ner­seits be­klagt man das sen­sa­tio­na­li­sti­sche, hy­ste­ri­sche – an­de­rer­seits plä­diert man (=ich) für kla­re Wor­te.

    Ich se­he dar­in kei­nen Wi­der­spruch, zu­mal es ei­nen Un­ter­scheid macht, ob me­di­en ei­gent­lich nor­ma­le Er­eig­nis­se (bspw. Schnee in Fe­bru­ar) mit ei­ner Rhe­to­rik zu Ka­ta­stro­phen aus­blä­hen oder ob in ei­ner Dis­kus­si­on ein Prot­ago­nist kla­re, wenn auch zu­wei­len fal­sche Tö­ne fin­det. Ich möch­te das an ei­nem Bei­spiel il­lu­strie­ren. Sar­ra­zin sagt im be­rühmt-be­rüch­tig­ten »Lettre«-Interview im Sep­tem­ber 2009: »Ich muss nie­man­den an­er­ken­nen, der vom Staat lebt, die­sen Staat ab­lehnt, für die Aus­bil­dung sei­ner Kin­der nicht ver­nünf­tig sorgt und stän­dig neue klei­ne Kopf­tuch­mäd­chen pro­du­ziert.« Hier lässt sich treff­lich die Dif­fe­renz zei­gen. Ich hal­te den Satz bis zur Pas­sa­ge mit der »Pro­duk­ti­on« der neu­en »Kopf­tuch­mäd­chen« für ak­zep­ta­blen und dis­kus­si­ons­wür­di­gen Klar­text. Hät­te er al­so ge­sagt: »»Ich muss nie­man­den an­er­ken­nen, der vom Staat lebt, die­sen Staat ab­lehnt, für die Aus­bil­dung sei­ner Kin­der nicht ver­nünf­tig sorgt« wä­re dies ein in­ter­es­san­ter Dis­kus­si­ons­bei­trag ge­wor­den. Das dann fol­gen­de An­häng­sel ist rei­ne Kra­wall- und Dif­fa­mie­rungs­rhe­to­rik – taug­lich viel­leicht um an ei­nem Stamm­tisch zu fort­ge­schrit­te­ner Stun­de Zu­stim­mung zu er­hei­schen. Aber für ei­ne Dis­kus­si­on voll­kom­men über­flüs­sig.

    Aber jetzt wird’s in­ter­es­sant: Wä­re die­se Aus­sa­ge in der ver­kürz­ten Ver­si­on in den Me­di­en der­art re­pro­du­ziert wor­den? Hier sind die Me­di­en in ei­ner selbst­ge­steck­ten Fal­le: EI­ner­seits sen­sa­tio­na­li­sie­ren sie in der Zwi­schen­heit fast al­les zu ei­ner Su­per-Ka­ta­stro­phe (je­der in­ner­par­tei­li­che Wahl­kampf ist ein »Macht­kampf«), an­de­rer­seits herrscht bei be­stimm­ten The­men ei­ne fast ängst­li­che Zu­rück­hal­tung. Ich glau­be, dass die­se Zu­rück­hal­tung fast im­mer falsch ist: Sie führt zu ei­ner Ent­frem­dung des­sen, was der »ein­fa­che« Bür­ger in sei­nem Um­feld wahr­nimmt. Ich sel­ber ha­be fest­ge­stellt, dass Leu­te »öf­fent­lich« ganz an­ders re­den als beim Bier. Mit­tel­fri­stig führt dies zu Phä­no­me­nen wie bei Euch in Öster­reich: Je­mand wie Hai­der (und jetzt die Nach­fol­ger), der ei­nen ge­wis­sen Nerv trifft, mu­tiert zum Volks­hel­den – ob­wohl da­hin­ter ei­gent­lich nichts ist. Die For­mu­lie­rer des Un­be­ha­gens wer­den al­lei­ne des­we­gen schon zur Licht­ge­stalt.

    Ei­ni­ge Po­lit­kas­per in Deutsch­land ver­such­ten nun The­sen von Sar­ra­zin zu über­neh­men bzw. ihm das Wort zu re­den. Auch dies funk­tio­niert kaum noch, weil die Leu­te na­tür­lich die Ab­sicht durch­schau­en.

  13. Ich schrieb »man«, weil ich mich da selbst nicht un­be­dingt aus­neh­me.

    Die Fra­ge ist, ob man be­reit ist (oder es für le­gi­tim hält) Ge­nau­ig­keit oder Wahr­heit zu­gun­sten von Auf­merk­sam­keit zu op­fern, d.h. den In­halt (maß­geb­lich) der Form we­gen zu ent­stel­len: Dann ist es ein Wi­der­spruch. Ich se­he kei­nen prin­zi­pi­el­len Un­ter­schied zwi­schen dem Auf­bau­schen ei­nes Win­ter­ein­bruchs zu Ka­ta­stro­phe, und ei­ner be­wuss­ten Pro­vo­ka­ti­on durch stark ver­kürz­te und ver­fälsch­te Aus­sa­gen. In bei­den Fäl­len han­delt man wi­der bes­se­ren Wis­sens (es geht nicht um Aus­sa­gen die sich als falsch her­aus­stel­len, son­dern sol­che die das Fal­sche be­wusst in Kauf neh­men).

    Dein Sar­ra­zin­bei­spiel un­ter­schrei­be ich. Mei­ne Be­fürch­tung ist, dass ähn­li­che Pro­vo­ka­tio­nen (»Kopf­tuch­mäd­chen«) im We­sent­li­chen nicht da­zu füh­ren den Dis­kurs zu ver­bes­sern: Im Ge­gen­teil, man dis­ku­tiert dann eher dar­über ob et­was in die­ser Form ge­sagt wer­den darf, man er­regt sich, oder in­ter­pre­tiert es als »Er­laub­nis« sich zu er­re­gen. Die Dis­kus­si­on wird emo­tio­na­ler, stei­gert sich, aber ei­gent­lich wä­re ei­ne ru­hi­ge, be­son­ne­ne Be­trach­tung von Nö­ten, ein Ab­wä­gen und Dif­fe­ren­zie­ren.

    Ich schlie­ße mich auch Dei­nem Ur­teil an, dass es [...] zu ei­ner Ent­frem­dung des­sen, [führt] was der »ein­fa­che« Bür­ger in sei­nem Um­feld wahr­nimmt (sie­he auch hier); auch dem was Du über Hai­der und Stra­che schreibst, aber ich ha­be mei­ne Zwei­fel, ob die­se Art der Re­pro­du­zie­rung Sinn hat, selbst wenn sie nur we­gen ih­res pro­vo­ka­tiv-emo­tio­na­len Ge­halts ge­hört wer­den soll­te? Geht nicht ge­ra­de da­durch das un­ter was noch wich­ti­ger wä­re (Hei­sig, z.B.)?

    Rein theo­re­tisch be­trach­tet se­he ich nicht, war­um Sar­ra­zin oh­ne der Kopf­tuch­mäd­chen­for­mu­lie­rung nicht auch ei­ne frucht­brin­gen­de Dis­kus­si­on hät­te aus­lö­sen kön­nen? Oder hast Du Hin­wei­se, dass das an­ders ge­we­sen wä­re?

    Ich se­he ge­ne­rell we­nig Sinn dar­in mein Ge­gen­über auf­zu­brin­gen, wenn es um Lö­sun­gen geht, die ei­ne ge­wis­se Art von Ge­mein­sam­keit er­for­dern (aber ich ge­be zu, dass das auch ei­ne per­sön­li­che Sicht ist).

  14. Hei­sig ging aus zwei Grün­den un­ter (ich ha­be das Buch auch nicht ge­le­sen; nur ei­nen Pod­cast ge­hört – mit ei­nem Street­wor­ker, der Hei­sigs Vor­schlä­ge für sei­ne »bra­ven« Bu­ben ganz schreck­lich fand): Er­stens war sie nicht mehr prä­sent (weil tot). Und zwei­tens eben kam das fast par­al­lel mit Sar­ra­zin. Er­stens be­ding­te dann zwei­tens: Als Sar­ra­zin mit Vor­ab­drucken glänz­te, war Hei­sig so­fort ver­ges­sen. Die Re­fle­xe wa­ren bei bei­den aber ähn­lich; bei Sar­ra­zin na­tür­lich ve­he­men­ter, weil er auch sehr viel of­fen­si­ver her­an­ging. Und er war prä­sent. Vom Mar­ke­ting war das ge­ni­al – wenn man es so­was aus­hal­ten kann.

    Du hast na­tür­lich rect: Es ist ein Spa­gat zwi­schen Sen­sa­tio­na­li­sie­rung und Ta­bu­bruch. Manch­mal ver­schwimmt das – manch­mal ist es re­la­tiv deut­lich. Sar­ra­zin hat m. E. be­wusst ge­ziel­te Pro­vo­ka­tio­nen ein­ge­baut. Viel­leicht noch nicht mal pri­mär aus Mar­ke­tings­grün­den. Viel­leicht kann er nicht an­ders.

    Es gibt ei­ne Sze­ne aus ei­nem Bro­der-Film­chen, Bro­der fährt mit ei­nem Ara­ber durch Deutsch­land, auf »Sa­fa­ri«. Die bei­den be­su­chen ei­ne Neo­na­zi-Ver­samm­lung in Ber­lin. Sie par­ken ihr Au­to und stei­gen aus. Sie wer­den se­kun­diert von An­ti-Na­zi-De­mon­stran­ten, die die bei­den irr­tüm­lich auch für Neo­na­zis hal­ten. Bro­der dar­auf sinn­ge­mäss zu dem ara­bi­schen Freund: »So gut bin ich lan­ge nicht mehr emp­fan­gen wor­den.«

  15. Ich bin mir jetzt gar nicht si­cher ob wir tat­säch­lich das­sel­be mei­nen. Ich se­he in ei­ner Er­ör­te­rung, ei­ner Dis­kus­si­on, ei­nem ar­gu­men­ta­ti­ven Aus­tausch kei­nen Sinn, wenn er nichts nutzt, weil Ent­schei­dun­gen da­von oh­ne­hin un­be­rührt blei­ben (ge­ne­rell ge­se­hen), d.h. die bes­se­ren Ar­gu­men­te ver­puf­fen (na­tür­lich ge­schieht das in der Rea­li­tät auch, aber das »auch« ist wich­tig!).

    Hier­ar­chien oder Ver­tre­ter sind in Ord­nung, wenn sie Le­gi­ti­mi­tät be­sit­zen, und sich nicht völ­lig ent­kop­peln (man wird nicht für je­des Pro­blem­chen ei­ne Volks­be­fra­gung in­iti­ie­ren), al­so Ar­gu­men­te aus dem all­ge­mei­nen Dis­kurs auf­neh­men.

    Auch Stimm­ge­wich­te wi­der­spre­chen nicht un­be­dingt: Der Dis­kurs wird m.E. erst dort ver­letzt wo ein grö­ße­rer Staat sein Ge­wicht nutzt um In­ter­es­sen durch­zu­set­zen, und nicht das bes­se­re Ar­gu­ment gilt (ich weiß schon, dass das idea­li­siert ist, aber was soll sonst als Mess­lat­te die­nen?).

  16. Den Schluss­trich ken­ne ich nicht. Sar­ra­zin sagt m. E. ei­ni­ges Rich­ti­ge. An­de­res ist ha­ne­bü­chen. Vie­les ist auch ein­fach schlud­rig. Dann die Gen-The­sen, wo ich – man­gels Kennt­nis – mal Schirr­ma­cher fol­ge. Ob­wohl im Tri­vi­al­dis­kurs na­he­zu alls in­zwi­schen durch Ge­ne ge­prägt zu sein scheint.

    [EDIT: 2010-11-15]

  17. (Un­ten) Of­fen
    Das ist ja das schö­ne an den Blog­dis­kus­sio­nen, die Kom­men­tar­spal­te bleibt (mei­stens) nach un­ten of­fen, auch für Sand­kä­sten. Was dann lei­der auch das Ge­fühl be­för­dern kann, dass man ja nicht zum Punkt kommt, bzw. was hat die Dis­kus­si­on ei­gent­lich er­ge­ben?

    (Ne­ben­bei: Die Bauch­pin­se­lei in obi­gem Kom­men­tar war si­cher­lich nicht auf die­ses Blog be­zo­gen – da dach­te ich an ei­nen Blog­ger, der oft voll­tö­nend von den tol­len Dis­kur­sen sei­ner Kom­men­tar­spal­te schwärm­te.. da­bei sind die mei­sten der hun­der­te Kom­men­ta­re doch nur: Ja, tol­ler Bei­trag. – He­he, ei­nen Kom­men­tar ähn­lich, po­si­ti­ver Art ha­be ich bis­her nur ein­mal als Spam be­kom­men. – Dies ist aber viel­leicht et­was an­de­res: Ei­ne So­zio­lo­gie von Blogs; dass sich dort Leu­te schließ­lich zu­sam­men­fin­den, die ei­ne be­stimm­te Dis­kus­si­ons­kul­tur, manch­mal so­gar Den­kungs­art tei­len – ich mei­ne, je­des Blog hat sei­ne ei­ge­ne Art und At­mo­sphä­re, die durch die Ein­trä­ge, wie auch die Kom­men­tar­spal­te weht..)

    Wo­bei die (Ergebnis-)Offenheit viel­leicht ne­ben der Hier­ar­chie­lo­sig­keit mir bei­na­he das Wich­tig­ste für ei­nen Dis­kurs er­scheint, viel­leicht die­se so­gar ein­for­dern muss (denn wenn es ei­ne Au­to­ri­tät gä­be, könn­te die­se das Er­geb­nis schon de­kre­tie­ren bzw. den Dis­kus­si­ons­pro­zess ze­men­tie­ren) -... aber ich möch­te Herrn Keu­sch­nig da doch bei­pflich­ten: Was für ei­nen Sinn hat der Dis­kurs-Be­griff, wenn re­al ein sol­cher sich nicht ver­wirk­li­chen lässt? – Ich ken­ne nicht ein Bei­spiel, wo sich ei­ner voll­zo­gen hät­te.

    (Noch ne­benb­ei­er: Hel­muth Pless­ner scheint in sei­ner An­thro­po­lo­gie ge­ra­de auch den Men­schen als of­fe­nes We­sen zu cha­rak­te­ri­sie­ren – noch kann ich das nicht sehr gut for­mu­lie­ren, da ich auch noch an der Ein­füh­rung le­se, aber ei­ne spon­ta­ne As­so­zia­ti­on war auch Max Frischs An­wen­dung des 2. Ge­bots auf das We­sen des Men­schen: »Du sollst dir kein Bild­nis ma­chen« – da ist ein­fach et­was, das wir nicht fas­sen kön­nen, nicht fas­sen dür­fen!)

    [EDIT: 2010-11-15]

  18. Dis­kurs­ethik zur Zwei­ten
    Die Er­geb­nis­of­fen­heit geht in die Rich­tung der Herr­schafts­frei­heit, wie ich sie ver­ste­he (wo­bei er­geb­nis­of­fen nicht heißt, dass al­les mög­lich ist): War­um soll­te ich mit je­man­dem dis­ku­tie­ren, der sei­ne Po­si­ti­on nicht zu­min­dest for­mal zu Dis­po­si­ti­on stellt? Das hat dann tat­säch­lich kei­nen Sinn. Und je­mand der Herr­schaft aus­übt und sich nicht oder nur schein­bar der Dis­kus­si­on stellt, ver­zich­tet auf die­se Of­fen­heit, die ei­ne Grund­vor­aus­set­zung ist; und ein Macht­ver­zicht; und Ehr­lich­keit.

    Was für ei­nen Sinn hat der Dis­kurs-Be­griff, wenn re­al ein sol­cher sich nicht ver­wirk­li­chen lässt? Wenn man es als ent­we­der-oder sieht, dann na­tür­lich nicht. Aber rea­li­sti­scher ist doch ein Kon­ti­nu­um: Wenn wir hier dis­ku­tie­ren, klappt das ganz gut, so­lan­ge das »Stör­feu­er« un­ter ei­ner be­stimm­ten Schran­ke bleibt. Auf den öf­fent­li­chen Dis­kurs ge­münzt: So­lan­ge er nicht von Dem­ago­gen, In­ter­es­sens­ver­tre­tun­gen, u.a. be­stimmt wird, ist er zwar nicht herr­schafts­frei, weil die­se ja ei­nen be­stimm­ten Ein­fluss aus­üben, aber er bleibt funk­tio­nal, weil Kri­tik und Ar­gu­ment et­was be­wir­ken.

    Ich ken­ne nicht ein Bei­spiel, wo sich ei­ner voll­zo­gen hät­te.
    Al­so ich mei­ne im Netz auch gut Er­fah­run­gen ge­macht zu ha­ben, und auch zu ma­chen. Und ja: Dis­kus­si­ons­kul­tur, aber auch Zu­stim­mung und Denk­art spie­len bei der Ver­ge­sell­schaf­tung im Netz ei­ne wich­ti­ge Rol­le.

  19. Schein-Dis­kur­se
    Tat­säch­lich scheint es ei­ne Ver­bin­dung zwi­schen Er­geb­nis­of­fen­heit und Hier­ar­chie zu ge­ben. Wenn dies so ist, dann gibt es der­zeit min­de­stens zwei »Dis­kur­se«, die dann nur Schein-Dis­kur­se wä­ren.

    I. Bei­tritts­ver­hand­lun­gen der Tür­kei zur EU
    Hier von ei­ner Er­geb­nis­of­fen­heit zu spre­chen, er­scheint min­de­stens un­ter den der­zei­ti­gen Be­din­gun­gen ein Be­trug – nicht zu­letzt an den Tür­ken bzw. de­ren po­li­ti­sche Re­prä­sen­tan­ten. Die bei­den mäch­tig­sten Län­der der EU (D und F) sind de­zi­diert ge­gen ei­nen Bei­tritt der EU. Der­zeit. Vie­les spricht da­für, dass sich die­se Hal­tun­gen nur än­dern, wenn die Re­gie­run­gen än­dern. Dann sind je­doch die Bei­tritts­ver­hand­lun­gen nur Bei­werk, die ei­ne Art von Check­li­ste si­cher­stel­len. Dem­zu­fol­ge ist dies ein Scheindis­kurs.

    Auch die Herr­schafts­frei­heit ist frag­lich: Wenn je­mand um Auf­nah­me in ei­nen Ver­ein bit­tet, hängt dies von Be­din­gun­gen ab, die der Ver­ein im­ple­men­tiert hat. Zwar hat man bei der EU in den letz­ten Jah­ren manch­mal das Ge­fühl, dass das Ge­gen­teil zu­trifft (bspw. Po­len), aber ge­ne­rell ist der »Auf­nah­me­dis­kurs« nicht herr­schafts­frei. Vor al­lem ist er nicht er­geb­nis­of­fen, weil – sie­he EU – oft po­li­ti­sche Im­pli­ka­tio­nen ei­ne Rol­le spie­len, die mit den ei­gent­li­chen Bei­tritts­kri­te­ri­en nichts zu tun ha­ben.

    II. Ver­hand­lun­gen um Stutt­gart 21
    Ein Mu­ster­bei­spiel für ei­nen Be­schwich­ti­gungs­dis­kurs. Und ein Mu­ster­bei­spiel, wie so et­was ga­ran­tiert schei­tern muss:

    1. Al­les ist öf­fent­lich
    Das geht nor­ma­ler­wei­se gar nicht. Ver­hand­lun­gen müs­sen zu­nächst nur im Kreis der Dis­ku­tan­ten ge­führt wer­den. An­son­sten dro­hen so­fort Ge­sichts­ver­lu­ste und Re­den »für die Ga­le­rie«.

    2. Es gibt kei­ne in­sti­tu­tio­nel­le Ver­an­ke­rung
    Egal, was dort be­schlos­sen wird: Es hat kei­ne Durch­set­zungs­kraft.

    3. Die S21-Geg­ner ha­ben kei­ne de­mo­kra­ti­sche Le­gi­ti­ma­ti­on
    Die Grup­pen der Geg­ner sind nicht aus­rei­chend in­sti­tu­tio­nell und de­mo­kra­tisch le­gi­ti­miert. Das führt da­zu, dass sie, wenn die Dis­kus­si­on kri­tisch wird, von den po­li­ti­schen Re­prä­sen­tan­ten nicht an­er­kannt wer­den. Die so­ge­nann­ten Park­schüt­zer ha­ben ja den Ver­hand­lungs­tisch schon ver­las­sen. Nie­mand fragt, wel­che Aus­wir­kun­gen das hat.

    Wie Dis­kur­se re­gel­mä­ssig schei­tern, nur weil sie als Dis­kur­se für sich ste­hen sol­len, sieht man an der Nah­ost-Pro­ble­ma­tik. Dort kann man sich ja noch nicht ein­mal über die Be­din­gun­gen bzw. die Be­din­gungs­lo­sig­keit von Ver­hand­lun­gen ver­stän­di­gen.
    Da­mit man mich nicht falsch ver­steht: Es ist gut, dass man mit­ein­an­der re­det. Aber wenn dies ir­gend­wann zur Fol­ge hat, den Leu­ten kei­ne Per­spek­ti­ve für ei­nen Dis­kurs zu bie­ten, ge­winnt (bzw. ver­liert) man zur Zeit.

  20. Ich dach­te oben eher an Dis­kus­sio­nen im öf­fent­li­chen Raum (z.B. Zei­tun­gen) oder im Netz, aber selbst­ver­ständ­lich muss das auch für an­de­re Ebe­nen gel­ten. Wenn es ei­ne zwin­gen­de Ver­bin­dung zwi­schen Of­fen­heit und Herr­schaft (viel­leicht bes­ser: Be­herr­schung) im Dis­kurs gibt, wä­re das (ge­lin­de ge­sagt) er­nüch­ternd; dass man Of­fen­heit aber im Sin­ne von Herr­schaft miss­brau­chen kann, ist si­cher mög­lich (aber das spricht doch nicht schon da­für die­ses Kon­zept zu ver­wer­fen, ja viel eher führt die Of­fen­le­gung die­ser Tat­sa­che da­zu, dass die­se Form der Herr­schaft ein­ge­schränkt wird).

    Be­züg­lich des EU-Bei­tritts der Tür­kei hast Du nicht un­recht, auch wenn man be­rück­sich­ti­gen soll­te, dass An­ge­la Mer­kel (mei­nes Wis­sens) von An­fang an ei­ne pri­vi­le­gier­te Part­ner­schaft be­vor­zugt hat (und das auch aus­drück­lich ge­sagt hat). Ent­schei­dend ist aber, dass die Er­geb­nis­of­fen­heit hier eben kei­ne ech­te ist, son­dern vor­ge­scho­ben wird.

    Ich wür­de Herr­schafts­frei­heit nicht in Auf­nah­me­be­din­gun­gen oder Re­geln su­chen (Dis­kur­se brau­chen Re­geln, und selbst Ar­gu­men­te sind ei­ne Form von Herr­schaft – wenn das das Kri­te­ri­um ist, dann gibt es den herr­schafts­frei­en Dis­kurs tat­säch­lich nicht), son­dern dar­in, ob man das Ver­spre­chen der Auf­nah­me ein­löst, wenn die Be­din­gun­gen da­für er­füllt sind (Ge­sell­schaf­ten und Ge­mein­schaf­ten funk­tio­nie­ren ganz ähn­lich, auch hier müs­sen Re­geln und Be­din­gun­gen er­füllt wer­den). Wenn nur mehr po­li­ti­sche Im­pli­ka­tio­nen ei­ne Rol­le spie­len (und es ist un­be­strit­ten, dass sie zu­min­dest ei­ne spie­len), dann ist es frag­lich wo­zu es die Kri­te­ri­en über­haupt gibt. Ich ge­be auch zu, dass es hier vie­le Un­zu­läng­lich­kei­ten gibt, aber was wä­re die Al­ter­na­ti­ve? Nur mehr nach po­li­ti­scher Laue (und Wil­len) zu ent­schei­den (jetzt passt es uns noch, und mor­gen nicht mehr)?

    Über Stutt­gart 21 weiß ich nicht so gut be­scheid, aber das Haupt­pro­blem war doch ge­ra­de die Ver­wei­ge­rung des Dis­kur­ses durch ei­ne Un­ter­schrift, die oh­ne Not ge­ge­ben wur­de, und ei­ne brei­te­re Be­tei­li­gung der Be­völ­ke­rung ver­hin­dert hat (oder ha­be ich das jetzt falsch im Kopf?). Das wä­re dann ein schö­nes Bei­spiel da­für, wie durch Herr­schaft ein Dis­kurs sa­bo­tiert wird (und zwar sehr of­fen). Dei­ne drei Punk­te könn­te man dann als Fol­ge die­ser Ver­wei­ge­rung se­hen.

    Viel­leicht ist die Er­geb­nis­of­fen­heit auch kein gu­tes Wort, weil sie zu viel Of­fen­heit zu im­pli­zie­ren scheint: Es soll­te je­den­falls das Er­geb­nis nicht im vorn­her­ein vor­weg­ge­nom­men wer­den, oder von ei­ni­gen Prot­ago­ni­sten vor­weg­ge­nom­men wer­den wol­len. Ein Kom­pro­miss soll­te mög­lich sein, und auch von den Ver­hand­lungs­part­nern in Be­tracht ge­zo­gen wer­den – al­les an­de­re wä­re kei­ne Ver­hand­lung, und die ist doch ei­ne Auf­ga­be von Po­li­tik.

  21. Der Dis­kurs bei Stutt­gart 21 wur­de nicht ver­wei­gert – er wur­de gar nicht ge­führt. Bzw. er wur­de erst dann auf­ge­bracht, als die in­sti­tu­tio­nel­len Ver­fah­ren be­reits voll­ende­te Tat­sa­chen ge­schaf­fen hat­ten. Hier liegt m. E. ein gro­sses Ver­sa­gen der Me­di­en vor, die sehr lan­ge von die­ser An­ge­le­gen­heit nichts wis­sen woll­ten. Mah­ner und War­ner gibt es schon seit vie­len Jah­ren. Aber nie­mand nahm sie ernst – üb­ri­gens auch die Grü­nen nicht. 2009 wur­den die Grü­nen zwar stärk­ste po­li­ti­sche Kraft im Ge­mein­de­rat – da wa­ren aber die Ent­schei­dun­gen längst auf der Län­der- und Bun­des­ebe­ne fest­ge­zurrt.

  22. Be­sten Dank für den aus­führ­li­chen Bei­trag und die Dis­kus­si­on hier! Wenn ich ir­gend­wo Bei­spie­le für ge­lun­ge­ne Dis­kur­se se­he, dann oft hier im Be­gleit­schrei­ben.
    Für die Mas­sen­me­di­en trifft der im Bei­trag be­schrie­be­ne, un­an­ge­mes­se­ne Um­gang mit dem Buch, dem Au­tor, dem The­ma im­mer noch zu. Jüng­stes Bei­spiel sind die Sen­sa­ti­ons­mel­dun­gen zu zwei Kor­rek­tu­ren in Welt und FAZ, dort kom­men­tiert:
    http://zettelsraum.blogspot.com/2010/11/notizen-zu-sarrazin-6-distanziert-sich.html

  23. Ir­gend­wo ha­be ich noch ge­le­sen, dass Sar­ra­zin beim Dan­ken ei­nen Mit­ar­bei­ter des Ver­la­ges nicht mehr er­wäh­nen soll. Aber wirk­lich ein schö­ner Ar­ti­kel; vie­len Dank. Be­son­ders ge­fällt mir der letz­te Satz.

  24. Ich fin­de ein we­nig scha­de, dass man bei Ih­nen nicht »nor­mal« un­ter ei­nem Bei­trag kom­men­tie­ren kann – wä­re es nicht zu­min­dest ei­ne Al­ter­na­ti­ve Kom­men­ta­re und Fo­rum zu­zu­las­sen bzw. zu kom­bi­nie­ren (ein Kom­men­tar er­scheint auch im Fo­rum und um­ge­kehrt)?

  25. »Stamm­tisch­pa­ro­len­haft«...
    ...ist m. E. ei­nes der wich­tig­sten Wör­ter, wel­che man im Um­gang mit Thi­lo Sar­ra­zin ver­wen­den soll­te.
    Ich ken­ne Sar­ra­zin nicht per­sön­lich und das, was man in den Me­di­en hört, mag si­cher­lich all­zu sehr po­la­ri­siert sein, doch mir kommt es vor als wür­de er wie je­ne, die ich an die­ser Stel­le als Stamm­tisch­phi­lo­so­phen be­zei­chen möch­te, an­fan­gen zu re­den und ab ei­nem Blut­al­ko­hol­pe­gel von rund 1 – 1,5 Pro­mil­le be­ginnt der Re­de­schwall ex­po­nen­ti­ell zu wach­sen und dann wünscht je­ner sich die Auf­merk­sam­keit der an­de­ren und sagt et­was, was wir al­le im Grun­de schon wis­sen könn­ten, aber noch nie in der­art dra­sti­scher Art und Wei­se ge­sagt wor­den ist (die In­te­gra­ti­ons­fra­ge). Vor lau­ter Pro­vo­ka­ti­on ist dann bei ei­nem län­ger an­hal­ten­den »Schaf­fens­rausch« der In­halt, bzw. die Strin­genz et­was ver­nach­läs­sigt wor­den und Sar­ra­zin schießt mei­len­weit über sein Ziel hin­aus. Ob er wohl an ei­nem Auf­merk­sam­keits­de­fi­zit lei­det? Da­zu wür­de pas­sen, dass er in der Neu­auf­la­ge sei­nes Bu­ches ei­ni­ge Pas­sa­gen et­was ab­ge­mil­dert hat (et­wa mit der »ge­ne­ti­schen Be­la­stung«), denn nach­her ist man sich viel­leicht eher im Kla­ren, was man vor­her ge­sagt hat und wie es auf an­de­re wirk­te.

    »Spal­ter der Na­ti­on« und ähn­li­ches klingt zwar dra­ma­tisch und es wirkt auch so, als Deutsch­land vor dem so­zia­len Ab­grund der In­te­gra­ti­ons­fra­ge stün­de, doch den­ke ich, dass wir mit die­sem Rum­mel nichts ver­hin­dern, nichts lö­sen, nichts vor­beu­gen kön­nen, son­dern nur Öl ins Feu­er gie­ßen. An­de­re »Stamm­tisch­phi­lo­so­phen«, bzw. Rechts­po­pu­li­sten hö­ren das und ma­chen sich die Me­di­en­prä­senz Sar­ra­zins zu Nut­ze, so­wie die Fehl­trit­te der pro­mi­nen­ten Po­li­ti­ker, wie et­wa Wulff und Mer­kel, in­dem sie eben­falls mit »Stamm­tisch­pa­ro­len« ten­den­zi­el­le Na­tio­na­li­sten – wo­bei die­ser Be­griff durch sei­ne Kon­no­ta­ti­on schon zu weit geht – hin­ter sich schar­ren.

    Es drängt sich mir auch das Ge­fühl auf, als ob in drei bis vier Mo­na­ten, viel­leicht auch erst in ei­nem hal­ben Jahr Sar­ra­zin wie­der »ver­ges­sen« sein wird.

    [EDIT: 2010-11-16]

  26. Sar­ra­zin ist kein durch­ge­knal­ler, gar al­ko­ho­li­sier­ter Rech­ter, der ir­gend­wel­chen Blöd­sinn ab­son­dert. Er ver­nach­läs­sigt auch nicht un­be­dingt ei­ne Strin­genz. Dass er sich be­stimm­te Sa­chen zu­recht­biegt, wie es ihm passt, ma­chen an­de­re auch. Zum Rechts­po­pu­li­sten taugt er nicht, weil er we­nig Cha­ris­ma hat und noch we­ni­ger Rhe­to­rik. Vie­les spricht da­für, dass er ernst­haft be­sorgt ist und hier­für ei­ne dra­sti­sche Spra­che als Kom­pen­sa­ti­on für die jah­re­lan­gen ver­ba­len Fes­seln fin­den will. Das feit ihn nicht vor Irr­tü­mern, aber wie man mit ihm um­ge­gan­gen ist (Zwangs­pen­si­on und SPD-Aus­schluss-An­dro­hung) ist un­wür­dig.

    Er mil­dert üb­ri­gens nicht »ei­ni­ge Pas­sa­gen« ab. Er fügt auf Sei­te 267 drei (ein­schrän­ken­de) Wör­ter hin­zu, streicht ei­nen Satz auf Sei­te 370 und be­dankt sich bei ei­nem Men­schen nicht mehr. Wer be­treibt da ei­gent­lich Auf­merk­sam­keits­er­hei­schung – Sar­ra­zin oder sei­ne Kri­ti­ker?

    [EDIT: 2010-11-16]

  27. Dass er durch­ge­knallt oder ein Al­ko­ho­li­ker ist woll­te ich nicht sa­gen, das fun­gier­te nur als Ver­gleich (das »wie« im er­sten Satz be­zieht sich auf fast den kom­plet­ten fol­gen­den Ab­schnitt). Mir ging es hier­bei NUR um den Auf­merk­sam­keits­er­lan­gungs­aspekt und das nicht wie bei Kri­ti­kern um des Kri­ti­sie­rens Wil­len, son­dern um der Auf­merk­sam­keit sel­ber Wil­len. Und um das Auf­bäu­men der Me­di­en, die ihn zum Rechts­po­pu­li­sten ma­chen. Er macht ein­fach nur sei­nen Mut auf und geht da­bei zu weit (dass er sich et­wa in be­stimm­ten For­mu­lie­run­gen ver­grif­fen hat, lässt sich nicht be­strei­ten).

    Das Ab­mil­dern ha­be ich üb­ri­gens hier­aus. Ich glau­be, ich kann Ih­nen in der Be­ur­tei­lung die­ser Ab­mil­de­rung mehr ver­trau­en. Wenn der Web­re­por­ter in sei­nem Ar­ti­kel das »Ab­mil­dern« als der­ar­tig schwach, wie Sie es tun, be­schrie­ben hät­te, wä­re ja auch nicht so ein schö­ner Ar­ti­kel ent­stan­den.

    [EDIT: 2010-11-16]

  28. Er be­schreibt die Ge­ne­se – war­um be­schäf­tigt sich ein Fi­nanz­mensch, ein Volks­wirt mit die­sen The­men? – für mich sehr plau­si­bel im Buch. Es war der »Pi­sa-Schock« und der dar­auf­hin re­flex­haft auf­kom­men­de Ruf nach mehr Geld. Dass ge­nau die Bun­des­län­der mit den höch­sten Pro-Kopf-Aus­ga­ben für Bil­dung die schlech­te­sten Er­geb­nis­se er­ziel­ten, deu­te­te nach­voll­zieh­bar auf an­de­re Ur­sa­chen. Als Fi­nanz­se­na­tor woll­te er sach­lich be­grün­den, dass mehr Geld kei­nes­wegs aus dem Di­lem­ma ‘raus führt.
    Sar­ra­zin ist Zah­len­mensch, Ver­tre­ter ei­ner quan­ti­ta­tiv ori­en­tier­ten VWL, sieht sich als nüch­ter­nen So­zi­al­in­ge­nieur. (Was ein The­ma für sich ist.) Ent­spre­chend sprö­de kommt sein Text ‘rü­ber, macht die Re­zep­ti­on nicht ein­fach. Der Sound ist kein Ku­schel­rock.
    Durch­aus wi­der­sprüch­lich zu die­ser Me­tho­de se­he ich sei­ne teil­neh­men­de Be­ob­ach­ter­po­si­ti­on, sei­ne An­ek­do­ten aus der Feld­for­schung. (Sei­ne Frau ist Grund­schul­leh­re­rin.)

  29. @Jürgen Lü­beck
    Das Sar­ra­zin ein Zah­len­mensch ist, merkt man dem Buch an. Das ist im­mer dann ein Pro­blem, wenn er be­stimm­te Ent­wick­lun­gen aus lau­ter Zah­len­lust ein­fach hoch­zu­rech­nen be­ginnt. Das be­kommt dann ab­stru­se Zü­ge.

    Was er noch zu we­nig her­aus­streicht: Geld ist kein Mo­tor, der al­les an­treibt. Wenn er schon – rich­tig – fest­stellt, dass hö­he­re Haus­halts­aus­ga­ben nicht au­to­ma­tisch zu bes­se­ren Bil­dungs­er­fol­gen füh­ren, so ist es ab­surd, der kin­der­lo­sen Aka­de­mi­ke­rin ei­ne Kin­der­prä­mie zah­len zu wol­len. Ich hät­te von ihm ein Kon­zept er­war­tet, wie Trans­fer­lei­stun­gen von der rein fi­nan­zi­el­len Ge­wäh­rung um­ge­stellt wer­den kön­nen auf Sach- bzw. In­fra­struk­tur­lei­stun­gen. Dar­über sagt er we­nig.

    [EDIT: 2010-11-17]

  30. Zu Tec­zan
    Zwei Re­ak­tio­nen, die fast un­ter­schied­li­cher nicht sein könn­ten: Beim Le­sen der er­sten muss man sich fra­gen, ob der Au­tor nicht schon mut­wil­lig je­de Mög­lich­keit zur Kri­tik über­se­hen hat; und in der zwei­ten ant­wor­tet ei­ner der vom Bot­schaf­ter »An­ge­spro­che­nen« selbst.

    [EDIT: 2010-11-16]

  31. Sehr hart fin­de ich schon die­se Fest­stel­lung im Bei­trag von Gü­ler Al­kan: Tez­can und Stra­che ar­gu­men­tie­ren auf die­sel­be Wei­se, um ei­ne sich äh­neln­de Kli­en­tel zu er­rei­chen: Haupt­säch­lich na­tio­nal-kon­ser­va­tiv.

    In­so­fern fin­de ich eben Tez­cans Äu­sse­run­gen wich­tig – auch wenn sie ag­gres­siv da­her­kom­men: Er hat das Recht, auf Ag­gres­si­on eben­so ag­gres­siv zu ant­wor­ten. Das da­mit die Pro­ble­me nicht ge­löst wer­den ist klar. Aber es kann nicht sein, dass im­mer ei­ne Sei­te be­schimpft wird und die Be­schimpf­ten zu schwei­gen ha­ben.

    Da­her fin­de ich sol­che In­ter­views rei­ni­gend (was auf sei­ne Art Sar­ra­zin auch war/ist). Sie füh­ren die Dis­kus­si­on zwar nicht un­be­dingt sach­lich wei­ter, lie­fern aber ei­nen Ein­blick in die Psy­che – auch wenn Tez­can na­tür­lich nie für al­le Tür­ken spricht (ob­wohl er es ein biss­chen ger­e­n­e­ra­li­sie­rend tut, ja tun muss).

    Über die Auf­re­gung bei Euch in den Gro­schen­blät­tern darf man je­doch m. E. nicht in das Ge­gen­teil ver­fal­len – wie es im er­sten ver­link­ten Bei­trag an­klingt: In über­bor­den­der Höf­lich­keit und vor­aus­ei­len­der Freund­lich­keit al­les das, was ge­sagt wur­de, ein­fach zu ak­zep­tie­ren und da­mit in ex­akt das Mu­ster zu ver­fal­len, was in Deutsch­land Sar­ra­zin auf­ge­spiesst hat.

  32. In­so­fern fin­de ich eben Tez­cans Äu­sse­run­gen wich­tig – auch wenn sie ag­gres­siv da­her­kom­men: Er hat das Recht, auf Ag­gres­si­on eben­so ag­gres­siv zu ant­wor­ten. Das da­mit die Pro­ble­me nicht ge­löst wer­den ist klar. Aber es kann nicht sein, dass im­mer ei­ne Sei­te be­schimpft wird und die Be­schimpf­ten zu schwei­gen ha­ben.

    Völ­lig rich­tig: Er hat die­ses Recht, und soll es in An­spruch neh­men (auch wenn ich sei­ne Ant­wor­ten und Fest­stel­lun­gen teil­wei­se un­ge­nü­gend und pro­ble­ma­tisch fin­de, auch im Ton, im­mer­hin ist er Di­plo­mat [selbst wenn er vor­her sagt nicht als Di­plo­mat zu ant­wor­ten, ver­ste­he ich, dass sich ma­che of­fi­zi­el­le Stel­le brüs­kiert fühlt]).

    Wahr­schein­lich hast Du recht, man soll­te nicht im­mer »klein­lich« sein: Im­mer­hin sieht man wo ei­ni­ge oder vie­le (Bür­ger, etc.) ste­hen, wo Pro­ble­me sind – es soll­te halt nicht Re­gel­fall wer­den, weil es dem Dis­kurs scha­det.

    Gü­ler Al­kan ge­be ich in­so­fern recht, dass ich beim Le­sen auch die­sen na­tio­nal-kon­ser­va­ti­ven Ein­druck emp­fun­den ha­be (et­wa Tez­cans Be­mer­kung, er sei Ver­tre­ter der hier le­ben­den Tür­ken, dass Haus­frau zu sein auch ein Job ist, und die Be­mer­kun­gen zum Is­lam). Es ist in­ter­es­sant, dass ge­ra­de je­ne, Din­ge über­se­hen, die sie sonst kri­ti­sie­ren wür­den (man über­le­ge, wenn ein kon­ser­va­ti­ver Po­li­ti­ker mein­te: Haus­frau zu sein ist ein Job).

  33. Um es mal ein we­nig poin­tiert zu sa­gen: EIn Di­plo­mat muss nicht sein gan­zes Le­ben lang Eu­nuch sein. Sar­ra­zin be­klagt ja in sei­nem Buch gleich zu Be­ginn, dass er, der Be­am­te (kein Di­plo­mat), im­mer ge­hal­ten war, strom­li­ni­en­för­mi­ge und in der Sa­che we­nig aus­sa­ge­fä­hi­ge State­ments für sei­ne Chefs zu for­mu­lie­ren. Die­se Hal­tung Sar­ra­zins im­po­niert mir üb­ri­gens gar nicht: Er hat sei­ne po­li­ti­sche Kar­rie­re über sei­ne Über­zeu­gun­gen ge­stellt (er schil­dert dies ins­be­son­de­re, was die De­mo­gra­fie an­geht). Tec­zan nimmt mit die­sem In­ter­view si­cher­lich ne­ga­ti­ve Sank­tio­nen in Kauf; das ist mu­tig.

    Man darf nicht über­se­hen, dass der Na­tio­na­lis­mus in der Tür­kei im­mer ei­ne po­li­tisch star­ke Kraft war. Der Ke­ma­lis­mus war im­mer stark na­tio­na­li­stisch ge­prägt. Die Pro­ble­ma­tik der Kur­den hat dies in den 80er-Jah­ren noch ver­stärkt. Und un­ter Er­do­gan ist dies noch ein­mal deut­li­cher her­aus­ge­stellt ge­wor­den. Für Na­tio­nen mit un­ter­drück­tem bzw. schwach aus­ge­präg­tem Na­tio­nal­be­wusst­sein wie Deutsch­land kommt dies leicht als au­ßer­ge­wöhn­lich ‘rü­ber.

    Pro­ble­ma­tisch sind ins­be­son­de­re sei­ne Äu­sse­run­gen über den is­lam als kul­tu­rel­le Prä­gung der tür­ki­schen Ge­sell­schaft wie z. B. hier: »Un­se­re Phi­lo­so­phie im Is­lam lau­tet an­ders: Was im­mer du hast, von Gott ge­ge­ben, ist ge­nug für dich. Das Ein­zi­ge, was du tun musst, ist Gu­tes für dei­ne Leu­te in der Fa­mi­lie und in dei­ner Um­ge­bung«. (Her­vor­he­bung von mir.) Da­mit un­ter­läuft er ein­deu­tig die lai­zi­sti­sche Staats­dok­trin. Die­ses Wort fällt nicht ein­mal; Is­lam 4 x.

    Ich hät­te Tec­zan noch ge­fragt, wie zur Zy­pern-Fra­ge steht und war­um der tür­ki­sche Teil der In­sel öko­no­misch der­art ab­ge­wirt­schaf­tet ist.

  34. Sehr in­ter­es­sant auch das hier.

    Er ist kein Eu­nuch, mich wun­dert dann nur, dass sich an­de­re über Ge­gen­wind wun­dern (Tez­can scheint üb­ri­gens Übung zu ha­ben, er hat sich vor Jah­ren auch ein­mal bei euch »ge­äu­ßert«).

    Na­tio­nal­be­wusst­sein: Ja, es ist nur ein we­nig selt­sam sich dann qua­si über das der an­de­ren zu be­kla­gen (Zu­stim­mung zum Lai­zis­mus). Da­her kommt wohl Gü­ler Al­kans Kri­tik.