Gedanken zu Thilo Sarrazins Buch »Deutschland schafft sich ab« und die Diskussion hierüber
I. Prolog
Auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise, als der Steuerzahler (und nur der!) von der politischen Klasse, die den Staat repräsentiert, zum Bürgen für dessen selbstgemachte und selbstgeduldete Fehler herangezogen wurde, entwarf der Philosoph Peter Sloterdijk in einem sehr kontrovers diskutierten Artikel eine Gegenwelt: »Die einzige Macht, die der Plünderung der Zukunft Widerstand leisten könnte, hätte eine sozialpsychologische Neuerfindung der ‘Gesellschaft’ zur Voraussetzung. Sie wäre nicht weniger als eine Revolution der gebenden Hand.« Eine Gesellschaft, in der fast ausschließlich der fluchtunfähige Einkommensteuerzahler den Staat und damit dessen Ausgaben erwirtschaftet, während die Kaste der Extremverdiener sich mit Hilfe der Politik längst aus der solidarischen Verantwortung entfernt hat und die Unterschicht zu Transferempfängern entmündigt werden, beschreibt Sloterdijk mit drastischen Worten: »So ist aus der selbstischen und direkten Ausbeutung feudaler Zeiten in der Moderne eine beinahe selbstlose, rechtlich gezügelte Staats-Kleptokratie geworden. Ein moderner Finanzminister ist ein Robin Hood, der den Eid auf die Verfassung geleistet hat. Das Nehmen mit gutem Gewissen, das die öffentliche Hand bezeichnet, rechtfertigt sich, idealtypisch wie pragmatisch, durch seine unverkennbare Nützlichkeit für den sozialen Frieden – um von den übrigen Leistungen des nehmend-gebenden Staats nicht zu reden.«
Der »soziale Frieden« – Sloterdijk entlarvt dieses vorwiegend an links-intellektuellen Stammtischen kursierende Letztbegründungsargument. In Wahrheit ist eine menschenverachtendere Sicht als diese kaum denkbar. Leicht und locker konzediert, ja fordert man eine Anhebung der Hartz-IV-Sätze, eines erhöhten Kindergeld oder anderer sozialer Leistungen um damit am Ende Kratzspuren oder Schlimmeres an den eigenen Luxuskarossen unterbleiben. Tatsächlich ist der Zorn der jungen Männer in Deutschland anders als beim Nachbar Frankreich weitgehend ausgeblieben. Den Preis dafür bezahlt man gerne, falls man ihn denn überhaupt noch bezahlt und dies nicht weitgehend einer Mittelschicht überlässt, die von Steuerschlupflöchern und Investitionserleichterungen für Großunternehmen nur aus dem Wirtschaftsteil ihrer Zeitung erfahren.
Wie soll eine »Revolution der gebenden Hand« überhaupt aussehen? Die gebenden Hände sind ohne Spielräume in der platonischen Steuerhöhle gefesselt. Wie romantisch von Sloterdijk, seinerzeit die FDP als Mitregierungspartei zum Revolutionssprecher zu (v)erklären. In tapsiger Manier und unter Ignoranz aller Kommunikationstheorien versuchte sich Amateur-Soziologe Westerwelle tatsächlich im Frühjahr 2010 als Anwalt der Mittelschicht zu gerieren. Die hätte sich lieber jemand anders gewünscht und entzog der mediokren Schnöseltruppe die Zustimmung. Dabei ist tatsächlich seit der sogenannten Weltwirtschaftskrise ein wachsendes Unbehagen an der politischen Kultur festzustellen welches sich – entgegen der Weltuntergangsprophetien des beginnenden 20. Jahrhunderts – nicht so sehr an grundsätzlichen gesellschaftlichen Fragen manifestiert, sondern fundamentale Verteilungsfragen betrifft (freilich nicht im klassischen, sozialdemokratischen Sinn).
II. Der blinde Fleck und die ehrliche Sorge
Die Vorrede ist notwendig, um das Phänomen der Rezeption von Thilo Sarrazins Buch »Deutschland schafft sich ab« verstehen zu können. Sarrazin gelingt in dem Buch das Unbehagen an und – Freud lässt grüßen – in der Kultur die Mittelstandsängste nicht nur gekonnt zu artikulieren, sondern durch direkte, klare und jeglicher Elaboriertheit fast akribisch entkleideter Sprache Ausdruck zu verleihen. Wer beispielsweise die Kommentare unter den entsprechenden F.A.Z.-Artikeln (und deren Kommentarbewertungen) gelesen hat, muss erkennen: Hier spricht – bzw. schreibt – der Messias der Mittelschicht. Einer Mittelschicht, die Sloterdijk nicht verstanden hatte und Westerwelle – zu Recht – als Anbiederung empfand.
Sarrazin erläutert an einer Stelle im Buch, wie befreit er sich fühlt, endlich keine Reden mehr in verbrämendem, ausgewogen politisch-korrekten Politslang schreiben zu müssen. Dennoch will er sich nicht mit dem »einfachen Mann« gemein machen, attackiert auch die deutsche Unterschicht (wohl wissend, dass diese für die Sozialdemokraten eh verloren ist) und erklärt sein Buch zum wissenschaftlichen Werk (rein äußerlich durch Endnoten, Tabellen und Berechnungen) – inklusive garantiertem Sündenbock.
Tatsächlich finden sich in dem Buch informative Ausführungen zu demographischen Entwicklungen, dem deutschen Schul- und Bildungssystem, der Problematik, dass die sogenannten »MINT«-Studiengänge, die den ökonomischen Fortschritt der deutschen Exportindustrie garantieren, extrem rückläufig sind und einigen unleugbaren Äußerungen über die falschen Anreize unseres Sozialsystems. Auch die Einwürfe zur Gerechtigkeitsdiskussion, die zu einem Gleichheits-Mantra führt, das keinerlei Differenz und Unterschiede mehr zulässt, sind durchaus interessant. Den »ZEIT«-Chefredakteur zitierend weist Sarrazin darauf hin, dass der umfangreiche Sozialetat Deutschlands bezahlt werden muss und von wem dies geschieht. Da bekommt die Mittelschicht einen Schulterklopfer.
Aber dann fällt auch schon der erste blinde Fleck auf. Die Asozialität (Peer Steinbrück) einer Oberschicht, die sich immer mehr aus der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung beispielsweise durch (zumeist auch noch legale) Steuertricks entzieht, handelt Sarrazin in nur wenigen Sätzen ab. Kein Wort gegen Bankmanager, die ihre Institute an den Rand des Abgrunds gefahren haben und nun vom Steuerzahler aufgefangen werden sollen. Für jemand, der Deutschland »abgeschafft« sieht, ein erstaunliches Vorgehen. Aber seine Anhänger verzeihen ihm die Einseitigkeit seiner Wahrnehmungen. Sie hegen ja noch unterschwellig die Hoffnung, in die Oberschicht aufsteigen zu können, was natürlich zumeist eine Illusion bleibt. In Wirklichkeit spiegelt sich in der Vehemenz ihrer Zustimmung ihre amorphe Abstiegsangst. Hier hat Ulrike Herrmann in ihrem Pamphlet »Hurra, wir dürfen zahlen – Der Selbstbetrug der Mittelschicht« recht. (Freilich ist ihre Schlussfolgerung, die Mittelschicht sollte sich mit den Hartz-IV-Empfängern gegen die politische und ökonomische Elite in Deutschland verbünden, vollkommen unrealistisch).
Tatsächlich räumt Sarrazin mit altlinkem Sozialromantizismus radikal auf. Seine Thesen über Transferleistungen, die durch ihre nahezu bedingungslose Gewährung zur Entmündigung und Demotivation des Leistungsempfängers führen, sollten ernsthaft diskutiert werden. Seine skurril anmutenden Aussagen bezüglich der für eine vollwertige Ernährung ausreichenden ALG-II-Sätze oder die Anregung, man solle für Transferempfänger lieber Koch- und Hauswirtschaftskurse statt Suppenküchen anbieten, sind allerdings schon pure Provokation in einer Gesellschaft, die in Internetforen darüber diskutiert, ob ein Hartz-IV-Empfänger auch ein Anrecht auf Blumenerde habe. Geradezu emphatisch plädiert Sarrazin für ein Aussteigen aus dem in transferabhängiger Passivität halbwegs komfortabel dahindämmernden Geldempfänger, den er mit dieser Tort auf Dauer gedemütigt sieht. Dieses hier schlummernde Potential will er wecken, um über soziale, künstlerische oder wissenschaftliche Tätigkeit oder die Ausübung von Ehrenämtern Sinn und Struktur in das Leben zu bringen. Die Kritik hieran und an dem Gedanken, dass dauerhaft gewährte Sozialtransfers gewisse Gegenleistungen zur Folge haben könnten ist billige Profilierung, um potentielle Wähler nicht noch mehr in die Arme einer Linkspartei zu treiben, die vor den Herausforderungen einer globalisierten Gesellschaft mit einer Mischung aus vormodernen Abschottungsreflexen und philanthropischem Staatsmäzenatentum antwortet. Vieles spricht dafür, dass die Sorgen, die sich Sarrazin macht, ehrlich gemeint sind – und nicht so falsch.
III. Rekurs bei Enzensberger
Die hilflosen Zwangsabgabenknechte, die eigentlich das Rückgrat des Steuer- und Sozialstaates bilden, längst politisch desillusioniert und sich unrepräsentiert fühlend, haben in Sarrazin einen Diagnostiker ihrer Politdepression gefunden. Um auf die mangelnde Integrationsfähigkeit der dauerhaft bildungsfernen deutschen Unterschicht nicht weiter eingehen zu müssen, fokussiert sich dieser jedoch irgendwann auf die muslimischen Migranten. Ohne ihn zu erwähnen rekurriert Sarrazin dabei auf Hans Magnus Enzensberger, der sich 2006 in »Schreckens Männer« nicht nur der Psychologie des islamistischen Terroristen, des »radikalen Verlierers«, sondern der Muslime generell annahm. Enzensberger psychologisierte »die Araber« als mehr oder weniger frustrierte Völker, die »in den letzten vierhundert Jahren [...] keine nennenswerte Erfindung hervorgebracht« hätten. Die politischen und gesellschaftlichen Eliten in den arabischen Ländern, so Enzensberger damals, hätten selbst Schuld an ihrer so empfundenen Bedeutungslosigkeit. Eine ähnliche Passage findet sich dann tatsächlich bei Sarrazin, der von einer narzisstischen Kränkung bei den islamischen Führungsschichten im Verhältnis zur abendländischen Moderne spricht. An Einzelbeispielen versuchte Enzensberger eine soziale und kulturelle Regression des Islam zu diagnostizieren – beispielsweise in dem er auf die stark unterentwickelte Buchkultur hinwies (nur 0,8% der Weltbuchproduktion werden in der arabischen Welt gedruckt) oder die mangelhaft entwickelten Frauenrechte thematisiert (wobei er sehr wohl auf die Studentinnenquote im Iran hinweist – gleichzeitig aber diese in Saudi-Arabien unterschlägt). Verblüffenderweise haben Enzensberger seine holzschnittartigen Vereinfachungen nicht besonders geschadet; man einigte sich wohl hinter den Kulissen das Buch nach kurzer Diskussion einfach zu »vergessen«.
Hier wie dort ist nicht nur ein Ressentiment gegen vereinzelte Protagonisten und deren fundamentalistische Religionsinterpretation sichtbar, sondern es wird eine ganze Religionsgruppe vereinheitlicht dargestellt. In anderen europäischen Ländern sind die Kampfbewegungen gegen »den« Islam schon längst politischer Alltag. In den Niederlanden lässt sich eine Minderheitsregierung von einer solchen Partei dulden. Es gibt dezidiert antiislamische Parteien in skandinavischen Ländern, die an Einfluss gewinnen. In der Schweiz, Österreich und Frankreich springen rechtsnationale Parteien auf den Zug auf. Daher ist es erstaunlich, dass die antiislamischen Affekte so lange in Deutschland geruht hatten. Tatsächlich brodelte (und broderte) es zwar schon länger in der Bevölkerung – aber gut funktionierende Tabu-Baumeister in den Medien rückten jede auch nur ansatzweise kritische Äußerung sofort in die Region eines rechtsradikalen Gedankenguts. So blieb das teilweise militante antiislamische Bürgertum in der Schmuddelecke eines Internet-Weblogs.
Sarrazins Buch fokussiert sich von Beginn an auf die Gruppe der in Deutschland lebenden muslimischen Migranten, auch wenn die eigentlichen Kapitel hierzu erst auf Seite 255 beginnen. Muslimische Migranten sind für Sarrazin Migranten aus den Herkunftsgebiete[n] Bosnien und Herzegowina, Türkei, Naher und Mittlerer Osten sowie Afrika. Unterschiede macht er nicht. Die überproportional guten Bildungsabschlüsse beispielsweise iranischer Migranten wischt er mit einem Federstrich als eine Art Ausnahme weg. Tatsächlich wäre dies mit der jüngeren Geschichte des Iran zu erklären: So emigrierten zuletzt Ende der 70er Jahre aufgrund der iranischen »Revolution« vorwiegend Hochgebildete und Intellektuelle, die in einem repressiven Gottesstaat nicht leben wollten. Dies könnte Sarrazin auf die türkischen Migranten in Deutschland gewandt durchaus verwenden, stammen diese jedoch zumeist aus eher ärmlichen Milieus aus Anatolien. Ein Faktor, der übrigens in den 60er Jahren von Wirtschaft und Politik in Deutschland gewollt war: Man wollte eine Zuwanderung nur für niedere Arbeiten, um das technologische Know-How bei den Deutschen zu lassen. Weil es nicht in den Kontext seines Thesengebäudes passt, verschweigt Sarrazin so etwas. Dies würde dann nämlich bedeuten, dass es nicht primär um ein Religions‑, sondern um ein Schichtproblem handeln würde.
In Bezug auf die Türkei ignoriert der Autor noch einen zweiten Aspekt. Für ihn handelt es sich um einen durchweg religiös beeinflussten, toleranzlosen Staat. Als Beleg zieht er den aktuellen türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan und dessen sogenannte Assimilations-Rede heran. Den Spagat, den Erdoğan zwischen seinem religiös-fundierten Nationalismus im Inneren und der Öffnung der Türkei zur EU hin erbringt, erwähnt er nicht. Desweiteren suggeriert Sarrazin, dass die Türkei ein religiöser Staat per se sei wie alle anderen »islamischen Länder« auch. Zwar wird einmal nebenbei erwähnt, dass die Türkei immerhin das einzig islamische Land sei, das die politischen Maßstäbe einer westlichen Demokratie halbwegs erfüllt, aber er verschweigt dem Leser, dass der durch Kemal Atatürk in den 1930er Jahren eingeführte Laizismus eine Kontrolle der Religion durch den Staat verfechtet. Damit ist – zumindest formal – die Türkei säkularer als die Bundesrepublik, auch wenn dies durch die Politik von Erdoğan und seiner AKP aufgeweicht zu werden droht, was übrigens durchaus Widerstand in der Türkei hervorruft. Entwicklungen, die Sarrazin ausblendet. Auch die Tatsache, dass die türkischen Einwanderer, die seit den 1960er Jahren nach Deutschland gekommen sind, keine strenggläubigen Muslime waren, kommt bei ihm nicht vor. Er macht sich gar nicht die Mühe, die zweifellos in den letzten Jahrzehnten zunehmende Religiosität der zweiten und dritten Generation der türkischen Migranten in Deutschland (aber nicht nur hier) zu untersuchen.
IV. Der verlorene Muslim
Um nicht ins offene Messer des xenophoben Verdachts zu laufen, wendet Sarrazin zwei Techniken an: Er differenziert da, wo es zu differenzieren seiner These Nahrung gibt. Und er differenziert da nicht, wo es dem Theoriegebäude widersprechen würde. Er differenziert, wenn er die Integrationsfortschritte asiatischer und osteuropäischer Migranten und die hohe Abiturquote bei Vietnamesen und Koreanern hervorhebt. Diese Einwanderung schätzt er. Er differenziert nicht mehr, wenn es um die unterschiedlichen Generationen türkischer Einwanderer geht und wenn er den Begriff des Islam pauschal setzt und negativ konnotiert (bis auf eine Ausnahme).
Für Sarrazin ist jeder Muslim a priori unrettbar verloren. Daher wendet er auch nur sehr eingeschränkt soziologische Erkenntnisse an. Hier (und nur hier) weicht Sarrazin vom sozialdemokratischen Idealbild des sozialen Aufstiegs durch Bildung ab. Die Verlorenheit des Muslims dokumentiert sich für ihn in einer genetischen Determination, die er im Buch sukzessive, aber schleichend entwickelt. Seine Adepten folgen in ihrer Kulturdepression auch dieser These des Autors. Die Versuchung ist zu groß. Schließlich wird seit vielen Jahren in den (populär)wissenschaftlichen Diskursen für nahezu jedes Vorkommnis ein »zuständiges« Gen entdeckt, welches die Verantwortung des Individuums auf behagliche Art minimiert. So gibt es zum Beispiel ein Alkohol-Gen, ein Schwulen-Gen, natürlich ein Alters-Gen und ein Schlaf-Gen. Nichts bleibt vor der genetischen Vereinnahmung durch halbseidene Dispositionsschwadroneure verschont, die zudem hartnäckig Korrelation mit Kausalität verwechseln. Das wird ihnen gestattet, solange sie mit ihrem Vulgär-Biologismus auf dem Niveau der »Apotheken-Rundschau« bleiben. Sogar der freie Wille gilt inzwischen als Schimäre wie Neurobiologen mit bunten Bildchen von Probantengehirnen belegen möchten. In einer vollkommen verwissenschaftlichen Welt wird gerne alles auf mechanisch-medizinische Vorgänge reduziert. Fast könnte man von einer Reanimation des Schicksalsglaubens sprechen.
V. Mediale Verwirrung
Da kommt Sarrazins Diktum zur rechten Zeit. Wer ihm pauschal Rassismus vorwirft übersieht, dass er sein Fremdeln mit biogenetischen Implikationen nur für die Diagnose des Problems einsetzt – nicht für die Problemlösung selber. Auch sein Mantra, die Intelligenz sei zu 50–80% genetisch bedingt, ist bei genauer Sicht etwa so aussagefähig, als beschreibe jemand die Körpergröße eines mutmaßlichen Diebes mit »zwischen 1,50 und 2,00 m«. Die Beteuerungen der Humangenetiker, man sei in Wirklichkeit viel weiter als diese Aussage suggerierten, verpuffen allerdings medial im Nebulösen. Da hat man fast den Verdacht, dass man es so ganz genau dann doch nicht wissen möchte. Oder es nicht weiss.
Sarrazin konnte lange Zeit die mediale Verwirrung, die er antizipiert hatte, ausnutzen um stammtischparolenhaft die bereits durch das föderalistische Bildungssystem ausreichend (und konzise) beschriebene drohende Verdummung des Volkes durch die fortlaufende Senkung der bildungspolitischen Anforderungen mit dem »genetischen« Zusatzargument zu bekräftigen. Blieb die deutsche Unterschicht dumm bzw. wurden die Deutschen immer dümmer, so blieb der muslimische Migrant sozusagen »doppel-dumm«. Sarrazins Regression auf die Eugenik des beginnenden 20. Jahrhunderts fiel dem Gelegenheitsleser kaum auf. Es bedurfte eines Frank Schirrmacher, der »Deutschland schafft sich ab« sortierte wie ein Wertstoffsammler den gelben Sack. So ganz kam die Empörung Schirrmachers (und dann später auch des SPD-Vorsitzenden und Hobby-Biopolitikers Gabriel) nicht an. Hat doch Eugenik über diverse Hintereingänge längst Einzug in die Moderne gefunden: Eltern können aufgrund der Resultate von pränatalen Untersuchungen bestimmen, ob sie ein eventuell behindertes Kind haben wollen oder nicht. Der aktuelle Vorstoß der Bundeskanzlerin, dies bei der künstlichen Befruchtung aus ethischen Gründen zu untersagen (die sogenannte Präimplantationsdiagnostik), ist arg weltfremd, da damit die Zahl der Abtreibungen steigen wird. Tatsächlich gilt die (vermeintlich) psychische Belastung der Schwangeren durch ein behindertes Kind längst als ausreichender Indikationsgrund; übrigens eine heuchlerische Verbrämung der Wahrheit. Adoptionsverfahren bei kinderlosen Eltern werden nach Maßstäben durchgeführt, die durchaus eugenische »Dimensionen« besitzen. Samenbanken in den USA bieten Frauen, hetero- oder homosexuelle Paare an, ihren Nachwuchs nach ihren Wünschen (Aussehen, Intelligenz, künstlerische Begabungen) zu »designen«. Es gibt also längst Auswahlverfahren für bzw. gegen Menschen, die gesellschaftlich akzeptiert sind und umgesetzt werden. Freilich sind wir von umfassenden »Regeln für den Menschenpark« (abermals Sloterdijk), die Grenzen und Möglichkeiten in einer Art Charta festschreibt, noch weit entfernt, da dies zwangsläufig zu einstürzenden Weltbildern führen würde. Warum sich Sarrazin auf das rutschige Terrain der biopolitischen Argumentation begeben hat und beispielsweise nicht die »Mogelpackung« über Richard Dawkins’ Meme gegangen ist, mag in seiner Provokationslust einerseits und in der Uneinigkeit in diesen Fragen in der Wissenschaft andererseits zu suchen sein. Vor allem scheint es jedoch mit fundamentalen Missverständnissen zu tun zu haben.
Die Rezeption des Sarrazin-Buches ist bis auf wenige Ausnahmen kein Ruhmesblatt. Die fast inquisitorischen Fernsehauftritte bei »Beckmann« und »Hart aber fair« förderten in ihrer Unkultiviertheit das Interesse an dem Buch. Mit gleicher Inbrunst, wie sich eine Generation den bösen Einflüssen der Welt durch die Flucht in den Musikantenstadl entzieht, griff auch das linksintellektuelle Bürgertum nach der ersten Schockstarre zum ultimativen Verklärungsinstrumentarium: Man leugnet schlichtweg die dargestellten Probleme, deklariert sie zu »Einzelfällen« um dann seinerseits mit Einzelfällen das Gegenteil zur Regel herbeizumogeln. Die Lektüre des inkriminierenden Buches ersparte man sich weitgehend nonchalant und beließ es bei Zitaten. Das Bad im Drachenblut der richtigen Gesinnung genügte. Eine Frau, die anläßlich einer Lesung Sarrazins protestierte und gefragt wurde, warum sie dies mache, entblödete sich nicht zu sagen, er habe mit dem, was er »über die Juden gesagt« habe, eine Grenze überschritten. Deutlicher kann man seine Ignoranz dem Buch gegenüber nicht artikulieren: Sarrazin erläutert darin, dass Juden in den 1920er Jahren bei Intelligenztests in Deutschland einen IQ von 15 Punkten über dem Durchschnitt aufwiesen. Auch die eher unglückliche Aussage in einem Interview in der »Welt« war von Sarrazin eher philosemitisch gemeint; in keinem Fall jedoch anti-jüdisch. Mit dieser affektgesteuerten Einstellung, von jeglicher Ahnung befreit, kultiviert man seinen Blumenkasten, der dann einfach zum Garten Eden erklärt wird. Die zum Teil hysterischen Debattenbeiträge, die Sarrazins generalisierende Sicht durch Einzelfallbeispiele widerlegen wollten verfingen zunächst nicht. Die Vorzeige-Muslime und ‑Muslima tingelten eine Zeit lang durch alle möglichen Talkshows. Dabei wurde gerne übersehen, dass diese Leute längst das modern-säkulare Diktum der Trennung zwischen Religion und Kultur praktizierten. Einem Depressiven hilft der Hinweis darauf, dass die meisten Menschen glücklich sind, nicht weiter.
Bewies Sarrazin mit seiner Verweigerungshaltung einer differenzierteren Betrachtungsweise schon beträchtliche Argumentationsresistenz, so lieferten die Verfechter des »Es-ist-doch-alles-gar-nicht-so-schlimm« ein fast noch erbärmlicheres Bild. Erst musste die geballte Ladung politisch-korrekter Schöndarstellung zur besten Radio- bzw. Fernsehzeit abgefeuert werden. Inzwischen ist der wohlige Effekt der Stigmatisierung der Sarrazin-Leser wieder konsensuelles Gemeingut des linken Bourgeois, der am liebsten nach einer Lesung ihrer Reizfigur das entsprechende Sitzmöbel in einem separaten Castor-Behälter hätte entsorgen lassen. Ernsthaft gibt es schon wieder besonders progressive Kommentare, die erklären, dass die Beherrschung der Landessprache für Migranten nicht unbedingt so wichtig sei und stimmen das hohe Lied der Parallelgesellschaften an.
Nachträglich ist es für das linksintellektuelle Milieu ein Glücksfall, dass nicht Kirsten Heisigs Buch »Das Ende der Geduld« Gegenstand des Diskurses war. Sarrazin bot viel mehr Angriffsfläche. Weil er sich in einigen Punkten verrannt hat, konnte man in einem Schwung sein ganzes Buch als Sondermüll behandeln. Das wesentlich fundiertere aber in der Sache nicht weniger eindeutige Buch der Jugendrichterin aus Berlin, die, wie es heißt, aus persönlichen Gründen Hand an sich gelegt hatte, hätte zu viel interessanteren Diskussionen führen können. Diese blieben jedoch weitgehend aus. Immerhin stimmten Heisig und Sarrazin im wesentlichen in der Diagnose der Probleme überein, aber die Hau-druff-Rhetorik des ehemaligen Berliner Finanzsenators war viel besser geeignet, Realitäten zu leugnen, die längst nicht mehr zu leugnen sind. Selten versuchte man Sarrazins sozialpolitisches Theoriegebäude argumentativ zu begegnen. Dies geschah teilweise aus Unvermögen, teilweise jedoch aufgrund der beschriebenen Verdrängungsmechanismen. Zumeist begnügte man sich einer großen Portion rhetorischer Empörung (dabei offenbarte sich zuweilen durchaus ein erschreckender Meinungsautoritarismus) und versuchte Sarrazins fragile Statistikgebäude mit reziprok getürkten (!) Werten zu beantworten.
VI. Verirrungen des Bundespräsidenten
Olivier Roy hatte in seiner furiosen religionskritischen Schrift »Heilige Einfalt« auch die Adepten des Multikulturalismus entlarvt. Multikulturalismus sei, so Roy »keineswegs die Anerkennung ursprünglicher Unterschiede, sondern nur Ausdruck dessen, dass sich Kulturen und Religionen an einem gemeinsamen Paradigma ausrichten, und zwar dem Paradigma des kleinsten gemeinsamen Nenners«. Praktisch entstünde eine Art »Kommunitarismus, reduziert auf den Zugewinn«. Multikulturalismus ist also »eine Illusion, denn er zielt auf Gemeinschaften, in denen die Ablösung von religiösen und kulturellen Markern bereits stattgefunden hat: Beim Multikulturalismus wird künstlich etwas als kulturell definiert, was nicht mehr zur Kultur gehört«.
Diese Aussage ist bedeutsam, wenn man sich Bundespräsident Wulffs Diktum vom 3. Oktober vergegenwärtigt. Wulff sagte, der Islam gehöre zu Deutschland. Abgesehen davon, dass Wulff und Sarrazin übereinstimmend von »dem« Islam als homogene Einheit reden, die so gar nicht gibt, gleichen sich die beiden auch noch auf eine andere Weise: Beide ignorieren die kemalistisch-laizistische Tradition der Türkei. Der eine malt die (Re-)Islamisierung der in Deutschland lebenden Türken als eine mögliche Schreckensvision an die Wand – der andere treibt die gleichen Türken erst in die Arme der Religion. Statt den Satz »Die bei uns lebenden Türken gehören zu Deutschland« zu sagen, islamisiert Wulff diese und setzt damit die säkularen Türken ohne Not unter Religionsdruck. Dies entspricht Roys Darstellung des Multikulturalismus – hier wird etwas »künstlich…als kulturell« definiert – nämlich der Islam. Wulffs Rede ist ein Beispiel, dass gut gemeint manchmal das Gegenteil von gut gemacht bedeutet (geradezu anmaßend dann vice versa in der Türkei das Christentum einzuklagen). Noch gravierender offenbart sich die politische Inkomptenz bei der Kanzlerin: Einerseits stimmt sie Wulffs Aussage zu. Andererseits will sie am rechten Rand ihrer verunsicherten Wählerklientel fischen und erklärt »Multikulti« für gescheitert. Im Licht von Olivier Roy sind beide Aussagen unvereinbar. Nur gut, dass keiner nachgedacht hat.
Macht Sarrazin noch (zusammen mit Heinz Buschkowsky) vernünftige (wenn auch nicht durchgängig neue) Vorschläge was die Bildungs- und Schulpolitik angeht (besonders interessant: homogene Lerngruppen in der Schule, die nach Neigung und Leistung zusammengesetzt sind statt starrer Klassenverbände), so muten seine Ideen zur Integrationspolitik eher bescheiden an. Er möchte, dass die aufnehmende Gesellschaft eine klare Erwartungshaltung vermittelt. Angelsächsische Aufnahmemodelle, die nach strengen Kriterien ihre Einwanderer auswählen, stehen hier Pate. Einlass in die Sozialtransfers (beispielsweise für sogenannte Importbräute) will er verunmöglichen, in dem eine längere Zeit nach Einwanderung in die Bundesrepublik keine Leistungen bezahlt werden. Sarrazin nimmt – diese Sicht vermag überraschen – die Feststellung »Deutschland ist ein Einwandererland« ernster als diejenigen, die seit Jahren den ungehinderten und nahezu voraussetzungslosen Familienzuzug goutieren. Seit 1973 hat sich der Zuzug von Migranten weitgehend vom Arbeitsmarkt entkoppelt. Sarrazin will dies aufheben. Sein zwischendurch immer geäußertes Credo, dass Einwanderung die demografischen Probleme nicht löst, ist nur ein scheinbarer Widerspruch: In Wirklichkeit ist er nur an der Zuwanderung ungelernter Kräfte nicht mehr interessiert.
Die gerne vorgebrachte aktuelle Statistik, wonach es derzeit mehr Auswanderer als Einwanderer gibt, widerlegt nicht Sarrazins generellen Befund, dass die Fertilität unter Migranten wesentlich höher ist als in der deutschen Mittel- und Oberschicht. Die verbale Vehemenz, mit der Sarrazin gegen muslimische Transferbezieher vorgeht, lässt er bei der Betrachtung der deutschen Unterschicht vermissen. Dort liegt die sogenannte Nettoreproduktionsrate vermutlich ähnlich hoch (genaue Statistiken gibt es nicht, weshalb Sarrazin Ableitungen vornimmt). Wie bereits erwähnt, tangiert sein Negativbefund in Bezug auf die Zukunft Deutschlands überhaupt nicht die deutsche Oberschicht und deren Verhalten.
VII. Ein sozialdemokratischer Reflex
Sarrazins Sprach- und Hilflosigkeit dem demographischen Phänomen gegenüber ist neben der Ausblendung der gesellschaftsschädigenden Verhaltensweisen der autochthonen Eliten die zweite Enttäuschung des Buches. Nach der Aufzählung gängiger Vorschläge wie bessere Betreuungsangebote für Kinder, Reform des Familienlastenausgleichs, der höheren Wertschätzung dauerhafter Partnerschaften, der Verkürzung von Ausbildungs- und Studienzeiten und der steuerlichen Höherbelastung von Kinderlosen holt Sarrazin zu einem wuchtigen Schlag aus: Gebildeten deutschen Frauen soll eine Art Kinderprämie von 50.000 Euro gezahlt werden. Dieser Vorschlag ist von Gunnar Heinsohn, dem Nestor der deutschen Biopolitik, geklaut. Dieser wollte sogar 130.000 Euro bezahlen (inzwischen ist er von diesem Vorschlag abgerückt). Mit diesem Gedanken ist Sarrazin dann durchaus wieder in einem typisch sozialdemokratischen Reflex aufgesessen: Seit jeher glauben ja Politiker der fünf sozialdemokratischen Parteien mittels Geld jeden und alles steuern zu können – und dies im Guten wie im Schlechten. Dieses Märchen zeigt sich bis in die Umweltgesetzgebung hinein, obwohl man eigentlich wissen müsste, dass wenigstens die Natur unbestechlich ist: Egal wie hoch der Preis für das CO2-Zertifikat ist: der Dreck schert sich nicht darum, ob er teuer war oder nicht – er ist da. Gerade dieser Prämienvorschlag Sarrazins ist unsinnig. Zum einen ist ja mit einer »deutschen«, »gebildeten« Mutter nichts über den Vater des Kindes ausgesagt (Sarrazin widerspricht sich in seiner Abstammungstheorie hier selber) und zum anderen lässt der Vermerk im Buch, der Staat bezahle für ein Kind schätzungsweise 55.000 Euro Kindergeld, den Schluss zu, dass dieses Kindergeld dann nicht mehr gezahlt werde. Die umworbene Akademiker-Mutter hätte keinen Gewinn mehr.
Interessanterweise konzediert Sarrazin allerdings sehr wohl, dass Geld nicht durchgängig der problemlösende Faktor ist. Er weist darauf hin, dass die deutschen Bundesländer mit den höchsten Prokopfausgaben im Bildungswesen die schlechtesten Resultate bei PISA-Tests erreichen. Auch hinsichtlich der demografischen Problematik ist er, was die soziale Versorgung mit Transferleistungen angeht, skeptisch. So hat Frankreich mit einem ähnlichen Sozialsystem eine Nettoreproduktionsrate von 0,91 (im Vergleich Deutschland: 0,67). Die USA und England (konsequent wird die Bezeichnung ‘Großbritannien’ verweigert), Länder mit einer wesentlich restriktiveren Sozialpolitik, weisen den Faktor 1,01 bzw. 0,75 aus.
In einem anderen Punkt ist Sarrazin wieder der typische Volkswirt. Er fragt unverhohlen, welchen volkswirtschaftlichen Nutzen die bisherigen Einwanderer der Bundesrepublik Deutschland erbracht haben. Der Vorwurf, er betreibe damit einen unzulässigen, ja menschenverachtenden Utilitarismus, ist absurd. Wie bereits erwähnt, schimmert in solchen Überlegungen der Gedanke an einer konzisen Einwanderungspolitik durch (beispielsweise wie in Kanada). Er ist aber Realist genug, um zu erkennen, dass Deutschland für die wirklichen Fachkräfte derzeit nicht genügend attraktiv ist. Zu Problemlösungen in dieser Hinsicht schweigt er sich allerdings ebenfalls aus.
VIII. Was bleibt?
Sarrazins Strohfeuer hat einen erschreckenden Blick auf eine hilf‑, sprach- und argumentationslose politische Öffentlichkeit aufgezeigt. Hilflos war man, in dem man dem Buch eine gewisse Souveränität gegenüber hätte zeigen müssen. Sprachlos waren vor allem die Politiker, die in ritualisierten Ablehnungsaffekten verfielen. Die übereilten und repressiven Reaktionen, die sich gegen den Autor richteten (vorzeitige Pensionierung; SPD-Ausschlussverfahren) offenbaren erhebliche Defizite in der politischen Auseinandersetzung auch unangenehmer Problemfelder.
Die Kanzlerin bezeichnete das Buch als »wenig hilfreich« – obwohl sie es nicht gelesen hatte. Dennoch dürfte sie in dieser Einschätzung auf eine andere Weise recht behalten: Wenig hilfreich dürfte es sein, weil es zu einer weiteren Domestizierung des Diskurses um die Themen Sozialpolitik, Demografie, Integration und Einwanderung führen wird.
Das aktuell kontrovers diskutierte Interview des türkischen Botschafters in Wien kann als Gegenstück zu Sarrazins Buch gelesen werden. Ich stimme beiden in vielen Punkten nicht zu. Aber eine öffentliche Diskussion zwischen den beiden Protagonisten, zwischen Thilo Sarrazin und Kadri Ecved Tezcan, zwei Stunden zur besten Sendezeit im Fernsehen, ohne Moderator – das wäre ein Wunsch in den Zeiten, als das Wünschen schon lange nicht mehr geholfen hat.
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus »Deutschland schafft sich ab« von Thilo Sarrazin
Vielen Dank
...namentlich für den Hinweis auf das Tezcan-Interview in der »Presse«, das durch Tacheles beeindruckt, wo offizielle Integrationsgipfel immer nur »wattiert« daherkommen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen Online-Beitrag mit 2348 Kommentaren gesehen zu haben...
Ja, man wünschte sich so eine Diskussion ohne die Eigengesetze und ‑Effekte der Mediengesellschaft, aber trotzdem ohne Blatt vor den Mund. Nur wo und wie soll das möglich sein?
Keine Ahnung
ich glaube ja schon länger, dass die Habermas’schen Diskurstheorie(n) nicht mehr in diesen hysterischen Mediengesellschaften funktionieren. Der herrschaftsfreie Diskurs existiert nicht, weil in ihm immer und letztlich immanent feine Hierarchie-Ebenen eingearbeitet sind, die Tabu-Brüche postulieren, diagnostizieren und auch sanktionieren. Diese Regeln sind nicht nur formaler Natur, sondern schon mit der Sache in Form von unterschwelligen Imperativen verwoben.
Ich habe einige Radiodiskussionen zur Causa Sarrazin gehört, nachdem die Fernsehsendungen, die sich dieses Themas angenommen hatten, unerträglich waren. Aber auch im Radio lief es nicht besser: Wer nur in Nuancen Sarrazins Position(en) darstellen wollte, bekam es mit Moderator und den anderen Diskutanten zu tun – man verstand nichts mehr.
Es ist erstaunlich, welche Angst insbesondere im linksliberalen Bürgertum vor dem freien Wort herrscht und wie wenig Vertrauen man gleichzeitig Meinungsbildungsprozessen hat.
Vermutlich ist Habermas’ Diskurstheorie eher als Ideal zu verstehen, um das man sich bemühen muss, damit es nicht gänzlich verloren geht, obwohl man zugleich weiß, dass man es nicht verwirklichen kann.
[EDIT: 2010-11-15 19:58]
Ein Ideal, dass überhaupt keine Aussicht auf Verwirklichung hat, ist für mich eine Utopie. Und Utopien sollten nicht Basis für politische oder gesellschaftliche Theorieentwürfe sein.
[EDIT: 2010-11-15 20:23]
Ich verstehe es so: Völlige Herrschaftsfreiheit gibt es nicht, aber ein Diskurs der ihr nahe kommt, ist besser geeignet unseren demokratischen Vorstellungen zu genügen. Man kämpft sozusagen gegen die jene Art von Herrschaft die Argument und Kritik zu umgehen versucht, ohne sie je völlig beseitigen zu können (wäre ein herrschaftsfreier Diskurs auch in Ansätzen nicht möglich, sollten wir uns nach einer anderen Staatsform umsehen).
[EDIT: 2010-11-15 20:49]
Ich seh’s leicht anders, gestehe aber, dass ich dieser Form der Betrachtungen – Diskursethik – noch nie etwas abgewinnen konnte, weil sie zuviele Konjunktive enthält. Wenn es ein Organ gibt, wo dies versucht wurde (und wird), so ist das der Rat der Europäischen Union, wo zu bestimmten Fragen das Einstimmigkeitsprinzip praktiziert wird. Das Ergebnis kann man (fast) überall bewundern...
Theoretisch ist es natürlich richtig: Ein Diskurs hat nur Sinn, wenn es a priori keine Hierarchien gibt. Aber spätestens wenn das Prinzip der »Gerechtigkeit« dazukommt, wird’s schin schwierig – siehe EU: Kann Luxemburg gleichberechtigt eine Stimme haben wie Frankreich; Malta wie Polen?
Hinzu kommt, dass der »herrschaftsfreie Diskurs« selbst in demokratischen Staaten vielleicht gar nicht wünschenswert ist – jeder könnte sonst nach Herzenslust beleidigen oder denunzieren. Ich weiss, dass ist alles relativ unwissenschaftlich und die Apel- bzw. Habermas-Adepten werden sich Kugeln vor Lachen: Aber ich halte dieses so hehre Prinzip in der Praxis für undurchführbar – und auch nicht wünschenswert.
[EDIT: 2010-11-18 21:10]
Sarrazin, Messias der Mittelschicht
Mag sein dass er der Mittelschicht die Ängste vorformuliert, von dumm geborenen Muslimen, kinderlosen AkademikerInnen bis zur Apotheose strikt wirtschaftsgläubiger Einwanderungsrhetorik. Das macht sein Geseier aber nicht besser. Auf eine Debatte mit T.S. im Fernsehen zu hoffen kann man wohl nur, wenn man die nationale Idee, der er sich biologistisch-politisch-pseudopsychologisch ergeifert, so viel abgewinnen kann wie Sie es offenbar tun.
Mangels Argumenten folgt sofort der ad-hominem-Angriff. Gehen Sie doch bitte wieder in Ihre Plüschhöhle. Zu mehr reicht es offensichtlich nicht.
Kaffeesatzleserei und die Unmöglichkeit des Diskurses
Lieber RückerS,
Ihren Beißreflex kann ich durchaus nachvollziehen, allerdings ist dies eine etwas ungeeignete Art sich vorzustellen: dem Hausherrn das Hosenbein zu zerfetzen oder gar daran zu urinieren.
Meinen Beißreflex würde ich auf meine ‘linke’ Sozialisation zurückführen und aus diesem Beitrag trieft ja nun einiger Spott und Ironie über jene »Linksintellektuellen«, politisch Korrekten, die die Schaltstellen der Medienanstalten und Politik besetzen sollen (aber es gab doch auch genügend Spitzen gegen Sarrazin, eigentlich bekommt doch fast jeder sein Fett weg) – Diese ‘Verschwörungstheorie’ ließe sich nun ihrerseits verhohnepiepeln, indem man sie als Schimäre so armer Tröpfe wie Jan Fleischhauer (oder Daniel Kehlmann) deutete,... aber wenn ich an die Sprechblasen denke, die von den Diskutanten in den erwähnten Radiogesprächen so ausgestoßen wurden, in welchem horror vacui ich zum Ausschaltknopf sprinten musste, um den Schädel nicht implodieren zu lassen, dann erscheint’s gar nicht mehr so abwegig.
Warum Sie die Verbalkeule so niedrig schwenkten weiß ich nicht, aber Angriffspunkte gibt es doch auf diesem weiten Diskursfeld genug.. ich nehm mal eins:
Wann immer sich einer in die Demographie verliert, diese moderne Form der Kaffeesatzleserei, soll man ihn noch anhören, seine neue Schwarzmalerei, mit dem er die nächste Katastrophe prophezeit, wie einst Nostradamus? Sollte man denjenigen nicht darauf hinweisen, dass Kaffee nun einmal diese Farbe habe?
(So musste ich bei Herrn Schirrmachers erster Einlassung, bei der er verteidigte, man solle Sarrazins Thesen zumindest diskutieren, doch daran denken, dass er doch auch mal ein Buch publizierte, um vor der Überalterung unserer Gesellschaft zu warnen – nicht dass ich jetzt alle Demographen einsperren oder ihnen das Wort verbieten wollte,... aber man sollte ihre Dystopien doch auch mal belachen dürfen – vielleicht sollte man das bei allen Dystopien, die da so produziert werden: die Überwachungsstaatszenarien der Linken, die Kulturdesabendlandsuntergänge der Konservateure, usw..)
Ferner: Es scheint als würden Sie es schon verurteilen, überhaupt sich auf die Diskussion mit ’so einem’ einzulassen. Solch eine Tabuisierung, Ausschluss des Gegners schon vor der Debatte scheint symptomatisch für diese real scheiternden Diskurse. (Freilich scheint es nur solche zu geben oder die gegenseitige Bauchpinselei in Blogkommentarspalten.)
@Phorkyas
Schirrmachers Halb-Halb-Urteil habe ich auch so gelesen: ‘Wenigstens hat da jemand (außer mir) die Demographie mal erwähnt’. Das mit der Kaffeesatzleserei sehe ich nicht ganz so kritisch wie sie. Es gilt vielleicht für die »Modelle«, die Sarrazin da entwirft – die sind hanebüchen, weil er einfach hochrechnet (worauf er allerdings hinweist). Tatsächlich sind die demographischen Implikationen nicht zu leugnen. Insbesondere Gesellschaften mit derart von der Arbeit abhängigen Sozialversicherungssystemen werden Probleme bekommen – und dazu gehört Deutschland.
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Solch eine Tabuisierung, Ausschluss des Gegners schon vor der Debatte scheint symptomatisch für diese real scheiternden Diskurse. (Freilich scheint es nur solche zu geben oder die gegenseitige Bauchpinselei in Blogkommentarspalten.)
Das beobachte ich ja schon lange. Dennoch behaupte ich, dass es hier (aber nicht nur hier) schon sehr nützliche Diskussionen gab.
In der Sarrazin-Kopftuchmädchen-usw-Debatte
kann ich nur weiterempfehlen, mal etwas Erhellendes aus erster Hand zu lesen: Güner Balcis Roman »Arabboy« klärt auf – und womöglich radikaler als dies vielen lieb ist.
Um das Begonnene fortzusetzen...
Ich sehe da folgenden Widerspruch: Wir beklagen einerseits in einer um Aufmerksamkeit haschenden Medienwelt zu leben, in der nur derjenige gehört wird der laut oder schrill genug schreit; und andererseits braucht es (anscheinend) genau diese »diskursive Zuspitzung«, um das schön gezeichnete Abbild der Wirklichkeit auszuhebeln.
Nur: Weder das Eine, noch das Andere befriedigt, weil notwendiger Weise Nuancen unter den Tisch fallen, die entscheidend sind, weil sie zeigen, dass die Realität komplizierter ist, als die verkürzte Botschaft suggeriert. Die Frage ist, ob derartige Wortmeldungen zu einer Verbesserung des Diskurses beitragen können, und zwar nachhaltig, und nicht nur dort, wo darüber ohnehin diskutiert wird. Was erreichen Sarrazin oder Tezcan, was Heisig nicht schafft, und über eine Aufmerksamkeitsspitze hinausgeht?
Den Einwand hatte ich erwartet: Einerseits beklagt man das sensationalistische, hysterische – andererseits plädiert man (=ich) für klare Worte.
Ich sehe darin keinen Widerspruch, zumal es einen Unterscheid macht, ob medien eigentlich normale Ereignisse (bspw. Schnee in Februar) mit einer Rhetorik zu Katastrophen ausblähen oder ob in einer Diskussion ein Protagonist klare, wenn auch zuweilen falsche Töne findet. Ich möchte das an einem Beispiel illustrieren. Sarrazin sagt im berühmt-berüchtigten »Lettre«-Interview im September 2009: »Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert.« Hier lässt sich trefflich die Differenz zeigen. Ich halte den Satz bis zur Passage mit der »Produktion« der neuen »Kopftuchmädchen« für akzeptablen und diskussionswürdigen Klartext. Hätte er also gesagt: »»Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt« wäre dies ein interessanter Diskussionsbeitrag geworden. Das dann folgende Anhängsel ist reine Krawall- und Diffamierungsrhetorik – tauglich vielleicht um an einem Stammtisch zu fortgeschrittener Stunde Zustimmung zu erheischen. Aber für eine Diskussion vollkommen überflüssig.
Aber jetzt wird’s interessant: Wäre diese Aussage in der verkürzten Version in den Medien derart reproduziert worden? Hier sind die Medien in einer selbstgesteckten Falle: EInerseits sensationalisieren sie in der Zwischenheit fast alles zu einer Super-Katastrophe (jeder innerparteiliche Wahlkampf ist ein »Machtkampf«), andererseits herrscht bei bestimmten Themen eine fast ängstliche Zurückhaltung. Ich glaube, dass diese Zurückhaltung fast immer falsch ist: Sie führt zu einer Entfremdung dessen, was der »einfache« Bürger in seinem Umfeld wahrnimmt. Ich selber habe festgestellt, dass Leute »öffentlich« ganz anders reden als beim Bier. Mittelfristig führt dies zu Phänomenen wie bei Euch in Österreich: Jemand wie Haider (und jetzt die Nachfolger), der einen gewissen Nerv trifft, mutiert zum Volkshelden – obwohl dahinter eigentlich nichts ist. Die Formulierer des Unbehagens werden alleine deswegen schon zur Lichtgestalt.
Einige Politkasper in Deutschland versuchten nun Thesen von Sarrazin zu übernehmen bzw. ihm das Wort zu reden. Auch dies funktioniert kaum noch, weil die Leute natürlich die Absicht durchschauen.
Ich schrieb »man«, weil ich mich da selbst nicht unbedingt ausnehme.
Die Frage ist, ob man bereit ist (oder es für legitim hält) Genauigkeit oder Wahrheit zugunsten von Aufmerksamkeit zu opfern, d.h. den Inhalt (maßgeblich) der Form wegen zu entstellen: Dann ist es ein Widerspruch. Ich sehe keinen prinzipiellen Unterschied zwischen dem Aufbauschen eines Wintereinbruchs zu Katastrophe, und einer bewussten Provokation durch stark verkürzte und verfälschte Aussagen. In beiden Fällen handelt man wider besseren Wissens (es geht nicht um Aussagen die sich als falsch herausstellen, sondern solche die das Falsche bewusst in Kauf nehmen).
Dein Sarrazinbeispiel unterschreibe ich. Meine Befürchtung ist, dass ähnliche Provokationen (»Kopftuchmädchen«) im Wesentlichen nicht dazu führen den Diskurs zu verbessern: Im Gegenteil, man diskutiert dann eher darüber ob etwas in dieser Form gesagt werden darf, man erregt sich, oder interpretiert es als »Erlaubnis« sich zu erregen. Die Diskussion wird emotionaler, steigert sich, aber eigentlich wäre eine ruhige, besonnene Betrachtung von Nöten, ein Abwägen und Differenzieren.
Ich schließe mich auch Deinem Urteil an, dass es [...] zu einer Entfremdung dessen, [führt] was der »einfache« Bürger in seinem Umfeld wahrnimmt (siehe auch hier); auch dem was Du über Haider und Strache schreibst, aber ich habe meine Zweifel, ob diese Art der Reproduzierung Sinn hat, selbst wenn sie nur wegen ihres provokativ-emotionalen Gehalts gehört werden sollte? Geht nicht gerade dadurch das unter was noch wichtiger wäre (Heisig, z.B.)?
Rein theoretisch betrachtet sehe ich nicht, warum Sarrazin ohne der Kopftuchmädchenformulierung nicht auch eine fruchtbringende Diskussion hätte auslösen können? Oder hast Du Hinweise, dass das anders gewesen wäre?
Ich sehe generell wenig Sinn darin mein Gegenüber aufzubringen, wenn es um Lösungen geht, die eine gewisse Art von Gemeinsamkeit erfordern (aber ich gebe zu, dass das auch eine persönliche Sicht ist).
Heisig ging aus zwei Gründen unter (ich habe das Buch auch nicht gelesen; nur einen Podcast gehört – mit einem Streetworker, der Heisigs Vorschläge für seine »braven« Buben ganz schrecklich fand): Erstens war sie nicht mehr präsent (weil tot). Und zweitens eben kam das fast parallel mit Sarrazin. Erstens bedingte dann zweitens: Als Sarrazin mit Vorabdrucken glänzte, war Heisig sofort vergessen. Die Reflexe waren bei beiden aber ähnlich; bei Sarrazin natürlich vehementer, weil er auch sehr viel offensiver heranging. Und er war präsent. Vom Marketing war das genial – wenn man es sowas aushalten kann.
Du hast natürlich rect: Es ist ein Spagat zwischen Sensationalisierung und Tabubruch. Manchmal verschwimmt das – manchmal ist es relativ deutlich. Sarrazin hat m. E. bewusst gezielte Provokationen eingebaut. Vielleicht noch nicht mal primär aus Marketingsgründen. Vielleicht kann er nicht anders.
Es gibt eine Szene aus einem Broder-Filmchen, Broder fährt mit einem Araber durch Deutschland, auf »Safari«. Die beiden besuchen eine Neonazi-Versammlung in Berlin. Sie parken ihr Auto und steigen aus. Sie werden sekundiert von Anti-Nazi-Demonstranten, die die beiden irrtümlich auch für Neonazis halten. Broder darauf sinngemäss zu dem arabischen Freund: »So gut bin ich lange nicht mehr empfangen worden.«
Ich bin mir jetzt gar nicht sicher ob wir tatsächlich dasselbe meinen. Ich sehe in einer Erörterung, einer Diskussion, einem argumentativen Austausch keinen Sinn, wenn er nichts nutzt, weil Entscheidungen davon ohnehin unberührt bleiben (generell gesehen), d.h. die besseren Argumente verpuffen (natürlich geschieht das in der Realität auch, aber das »auch« ist wichtig!).
Hierarchien oder Vertreter sind in Ordnung, wenn sie Legitimität besitzen, und sich nicht völlig entkoppeln (man wird nicht für jedes Problemchen eine Volksbefragung initiieren), also Argumente aus dem allgemeinen Diskurs aufnehmen.
Auch Stimmgewichte widersprechen nicht unbedingt: Der Diskurs wird m.E. erst dort verletzt wo ein größerer Staat sein Gewicht nutzt um Interessen durchzusetzen, und nicht das bessere Argument gilt (ich weiß schon, dass das idealisiert ist, aber was soll sonst als Messlatte dienen?).
Im Übrigen eine äußerst gelungene Darstellung, die sich einen Schlussstrich vorbehält.
[EDIT: 2010-11-15]
Den Schlusstrich kenne ich nicht. Sarrazin sagt m. E. einiges Richtige. Anderes ist hanebüchen. Vieles ist auch einfach schludrig. Dann die Gen-Thesen, wo ich – mangels Kenntnis – mal Schirrmacher folge. Obwohl im Trivialdiskurs nahezu alls inzwischen durch Gene geprägt zu sein scheint.
[EDIT: 2010-11-15]
(Unten) Offen
Das ist ja das schöne an den Blogdiskussionen, die Kommentarspalte bleibt (meistens) nach unten offen, auch für Sandkästen. Was dann leider auch das Gefühl befördern kann, dass man ja nicht zum Punkt kommt, bzw. was hat die Diskussion eigentlich ergeben?
(Nebenbei: Die Bauchpinselei in obigem Kommentar war sicherlich nicht auf dieses Blog bezogen – da dachte ich an einen Blogger, der oft volltönend von den tollen Diskursen seiner Kommentarspalte schwärmte.. dabei sind die meisten der hunderte Kommentare doch nur: Ja, toller Beitrag. – Hehe, einen Kommentar ähnlich, positiver Art habe ich bisher nur einmal als Spam bekommen. – Dies ist aber vielleicht etwas anderes: Eine Soziologie von Blogs; dass sich dort Leute schließlich zusammenfinden, die eine bestimmte Diskussionskultur, manchmal sogar Denkungsart teilen – ich meine, jedes Blog hat seine eigene Art und Atmosphäre, die durch die Einträge, wie auch die Kommentarspalte weht..)
Wobei die (Ergebnis-)Offenheit vielleicht neben der Hierarchielosigkeit mir beinahe das Wichtigste für einen Diskurs erscheint, vielleicht diese sogar einfordern muss (denn wenn es eine Autorität gäbe, könnte diese das Ergebnis schon dekretieren bzw. den Diskussionsprozess zementieren) -... aber ich möchte Herrn Keuschnig da doch beipflichten: Was für einen Sinn hat der Diskurs-Begriff, wenn real ein solcher sich nicht verwirklichen lässt? – Ich kenne nicht ein Beispiel, wo sich einer vollzogen hätte.
(Noch nebenbeier: Helmuth Plessner scheint in seiner Anthropologie gerade auch den Menschen als offenes Wesen zu charakterisieren – noch kann ich das nicht sehr gut formulieren, da ich auch noch an der Einführung lese, aber eine spontane Assoziation war auch Max Frischs Anwendung des 2. Gebots auf das Wesen des Menschen: »Du sollst dir kein Bildnis machen« – da ist einfach etwas, das wir nicht fassen können, nicht fassen dürfen!)
[EDIT: 2010-11-15]
Diskursethik zur Zweiten
Die Ergebnisoffenheit geht in die Richtung der Herrschaftsfreiheit, wie ich sie verstehe (wobei ergebnisoffen nicht heißt, dass alles möglich ist): Warum sollte ich mit jemandem diskutieren, der seine Position nicht zumindest formal zu Disposition stellt? Das hat dann tatsächlich keinen Sinn. Und jemand der Herrschaft ausübt und sich nicht oder nur scheinbar der Diskussion stellt, verzichtet auf diese Offenheit, die eine Grundvoraussetzung ist; und ein Machtverzicht; und Ehrlichkeit.
Was für einen Sinn hat der Diskurs-Begriff, wenn real ein solcher sich nicht verwirklichen lässt? Wenn man es als entweder-oder sieht, dann natürlich nicht. Aber realistischer ist doch ein Kontinuum: Wenn wir hier diskutieren, klappt das ganz gut, solange das »Störfeuer« unter einer bestimmten Schranke bleibt. Auf den öffentlichen Diskurs gemünzt: Solange er nicht von Demagogen, Interessensvertretungen, u.a. bestimmt wird, ist er zwar nicht herrschaftsfrei, weil diese ja einen bestimmten Einfluss ausüben, aber er bleibt funktional, weil Kritik und Argument etwas bewirken.
Ich kenne nicht ein Beispiel, wo sich einer vollzogen hätte.
Also ich meine im Netz auch gut Erfahrungen gemacht zu haben, und auch zu machen. Und ja: Diskussionskultur, aber auch Zustimmung und Denkart spielen bei der Vergesellschaftung im Netz eine wichtige Rolle.
Schein-Diskurse
Tatsächlich scheint es eine Verbindung zwischen Ergebnisoffenheit und Hierarchie zu geben. Wenn dies so ist, dann gibt es derzeit mindestens zwei »Diskurse«, die dann nur Schein-Diskurse wären.
I. Beitrittsverhandlungen der Türkei zur EU
Hier von einer Ergebnisoffenheit zu sprechen, erscheint mindestens unter den derzeitigen Bedingungen ein Betrug – nicht zuletzt an den Türken bzw. deren politische Repräsentanten. Die beiden mächtigsten Länder der EU (D und F) sind dezidiert gegen einen Beitritt der EU. Derzeit. Vieles spricht dafür, dass sich diese Haltungen nur ändern, wenn die Regierungen ändern. Dann sind jedoch die Beitrittsverhandlungen nur Beiwerk, die eine Art von Checkliste sicherstellen. Demzufolge ist dies ein Scheindiskurs.
Auch die Herrschaftsfreiheit ist fraglich: Wenn jemand um Aufnahme in einen Verein bittet, hängt dies von Bedingungen ab, die der Verein implementiert hat. Zwar hat man bei der EU in den letzten Jahren manchmal das Gefühl, dass das Gegenteil zutrifft (bspw. Polen), aber generell ist der »Aufnahmediskurs« nicht herrschaftsfrei. Vor allem ist er nicht ergebnisoffen, weil – siehe EU – oft politische Implikationen eine Rolle spielen, die mit den eigentlichen Beitrittskriterien nichts zu tun haben.
II. Verhandlungen um Stuttgart 21
Ein Musterbeispiel für einen Beschwichtigungsdiskurs. Und ein Musterbeispiel, wie so etwas garantiert scheitern muss:
1. Alles ist öffentlich
Das geht normalerweise gar nicht. Verhandlungen müssen zunächst nur im Kreis der Diskutanten geführt werden. Ansonsten drohen sofort Gesichtsverluste und Reden »für die Galerie«.
2. Es gibt keine institutionelle Verankerung
Egal, was dort beschlossen wird: Es hat keine Durchsetzungskraft.
3. Die S21-Gegner haben keine demokratische Legitimation
Die Gruppen der Gegner sind nicht ausreichend institutionell und demokratisch legitimiert. Das führt dazu, dass sie, wenn die Diskussion kritisch wird, von den politischen Repräsentanten nicht anerkannt werden. Die sogenannten Parkschützer haben ja den Verhandlungstisch schon verlassen. Niemand fragt, welche Auswirkungen das hat.
Wie Diskurse regelmässig scheitern, nur weil sie als Diskurse für sich stehen sollen, sieht man an der Nahost-Problematik. Dort kann man sich ja noch nicht einmal über die Bedingungen bzw. die Bedingungslosigkeit von Verhandlungen verständigen.
Damit man mich nicht falsch versteht: Es ist gut, dass man miteinander redet. Aber wenn dies irgendwann zur Folge hat, den Leuten keine Perspektive für einen Diskurs zu bieten, gewinnt (bzw. verliert) man zur Zeit.
Ich dachte oben eher an Diskussionen im öffentlichen Raum (z.B. Zeitungen) oder im Netz, aber selbstverständlich muss das auch für andere Ebenen gelten. Wenn es eine zwingende Verbindung zwischen Offenheit und Herrschaft (vielleicht besser: Beherrschung) im Diskurs gibt, wäre das (gelinde gesagt) ernüchternd; dass man Offenheit aber im Sinne von Herrschaft missbrauchen kann, ist sicher möglich (aber das spricht doch nicht schon dafür dieses Konzept zu verwerfen, ja viel eher führt die Offenlegung dieser Tatsache dazu, dass diese Form der Herrschaft eingeschränkt wird).
Bezüglich des EU-Beitritts der Türkei hast Du nicht unrecht, auch wenn man berücksichtigen sollte, dass Angela Merkel (meines Wissens) von Anfang an eine privilegierte Partnerschaft bevorzugt hat (und das auch ausdrücklich gesagt hat). Entscheidend ist aber, dass die Ergebnisoffenheit hier eben keine echte ist, sondern vorgeschoben wird.
Ich würde Herrschaftsfreiheit nicht in Aufnahmebedingungen oder Regeln suchen (Diskurse brauchen Regeln, und selbst Argumente sind eine Form von Herrschaft – wenn das das Kriterium ist, dann gibt es den herrschaftsfreien Diskurs tatsächlich nicht), sondern darin, ob man das Versprechen der Aufnahme einlöst, wenn die Bedingungen dafür erfüllt sind (Gesellschaften und Gemeinschaften funktionieren ganz ähnlich, auch hier müssen Regeln und Bedingungen erfüllt werden). Wenn nur mehr politische Implikationen eine Rolle spielen (und es ist unbestritten, dass sie zumindest eine spielen), dann ist es fraglich wozu es die Kriterien überhaupt gibt. Ich gebe auch zu, dass es hier viele Unzulänglichkeiten gibt, aber was wäre die Alternative? Nur mehr nach politischer Laue (und Willen) zu entscheiden (jetzt passt es uns noch, und morgen nicht mehr)?
Über Stuttgart 21 weiß ich nicht so gut bescheid, aber das Hauptproblem war doch gerade die Verweigerung des Diskurses durch eine Unterschrift, die ohne Not gegeben wurde, und eine breitere Beteiligung der Bevölkerung verhindert hat (oder habe ich das jetzt falsch im Kopf?). Das wäre dann ein schönes Beispiel dafür, wie durch Herrschaft ein Diskurs sabotiert wird (und zwar sehr offen). Deine drei Punkte könnte man dann als Folge dieser Verweigerung sehen.
Vielleicht ist die Ergebnisoffenheit auch kein gutes Wort, weil sie zu viel Offenheit zu implizieren scheint: Es sollte jedenfalls das Ergebnis nicht im vornherein vorweggenommen werden, oder von einigen Protagonisten vorweggenommen werden wollen. Ein Kompromiss sollte möglich sein, und auch von den Verhandlungspartnern in Betracht gezogen werden – alles andere wäre keine Verhandlung, und die ist doch eine Aufgabe von Politik.
Der Diskurs bei Stuttgart 21 wurde nicht verweigert – er wurde gar nicht geführt. Bzw. er wurde erst dann aufgebracht, als die institutionellen Verfahren bereits vollendete Tatsachen geschaffen hatten. Hier liegt m. E. ein grosses Versagen der Medien vor, die sehr lange von dieser Angelegenheit nichts wissen wollten. Mahner und Warner gibt es schon seit vielen Jahren. Aber niemand nahm sie ernst – übrigens auch die Grünen nicht. 2009 wurden die Grünen zwar stärkste politische Kraft im Gemeinderat – da waren aber die Entscheidungen längst auf der Länder- und Bundesebene festgezurrt.
Sagen wir, er wurde in letzter Konsequenz verweigert, als Schuster ohne Not die Möglichkeit eines Bürgerbegehrens verhinderte (im Zuge solcher Vorhaben spielt die öffentliche Diskussion eine große Rolle).
Besten Dank für den ausführlichen Beitrag und die Diskussion hier! Wenn ich irgendwo Beispiele für gelungene Diskurse sehe, dann oft hier im Begleitschreiben.
Für die Massenmedien trifft der im Beitrag beschriebene, unangemessene Umgang mit dem Buch, dem Autor, dem Thema immer noch zu. Jüngstes Beispiel sind die Sensationsmeldungen zu zwei Korrekturen in Welt und FAZ, dort kommentiert:
http://zettelsraum.blogspot.com/2010/11/notizen-zu-sarrazin-6-distanziert-sich.html
Irgendwo habe ich noch gelesen, dass Sarrazin beim Danken einen Mitarbeiter des Verlages nicht mehr erwähnen soll. Aber wirklich ein schöner Artikel; vielen Dank. Besonders gefällt mir der letzte Satz.
Ich finde ein wenig schade, dass man bei Ihnen nicht »normal« unter einem Beitrag kommentieren kann – wäre es nicht zumindest eine Alternative Kommentare und Forum zuzulassen bzw. zu kombinieren (ein Kommentar erscheint auch im Forum und umgekehrt)?
@Metepsilonema
Wen fragen Sie das?
Hier irrt Metepsilonema wohl: »Zettelraum« ist nicht die Webseite/Weblog von Jürgen Lübeck.
@Jürgen Lübeck/Gregor
Hier irrt Metepsilonema wohl
So ist es, bitte einfach vergessen (dabei sind mir die Arabesken noch aufgefallen...).
»Stammtischparolenhaft«...
...ist m. E. eines der wichtigsten Wörter, welche man im Umgang mit Thilo Sarrazin verwenden sollte.
Ich kenne Sarrazin nicht persönlich und das, was man in den Medien hört, mag sicherlich allzu sehr polarisiert sein, doch mir kommt es vor als würde er wie jene, die ich an dieser Stelle als Stammtischphilosophen bezeichen möchte, anfangen zu reden und ab einem Blutalkoholpegel von rund 1 – 1,5 Promille beginnt der Redeschwall exponentiell zu wachsen und dann wünscht jener sich die Aufmerksamkeit der anderen und sagt etwas, was wir alle im Grunde schon wissen könnten, aber noch nie in derart drastischer Art und Weise gesagt worden ist (die Integrationsfrage). Vor lauter Provokation ist dann bei einem länger anhaltenden »Schaffensrausch« der Inhalt, bzw. die Stringenz etwas vernachlässigt worden und Sarrazin schießt meilenweit über sein Ziel hinaus. Ob er wohl an einem Aufmerksamkeitsdefizit leidet? Dazu würde passen, dass er in der Neuauflage seines Buches einige Passagen etwas abgemildert hat (etwa mit der »genetischen Belastung«), denn nachher ist man sich vielleicht eher im Klaren, was man vorher gesagt hat und wie es auf andere wirkte.
»Spalter der Nation« und ähnliches klingt zwar dramatisch und es wirkt auch so, als Deutschland vor dem sozialen Abgrund der Integrationsfrage stünde, doch denke ich, dass wir mit diesem Rummel nichts verhindern, nichts lösen, nichts vorbeugen können, sondern nur Öl ins Feuer gießen. Andere »Stammtischphilosophen«, bzw. Rechtspopulisten hören das und machen sich die Medienpräsenz Sarrazins zu Nutze, sowie die Fehltritte der prominenten Politiker, wie etwa Wulff und Merkel, indem sie ebenfalls mit »Stammtischparolen« tendenzielle Nationalisten – wobei dieser Begriff durch seine Konnotation schon zu weit geht – hinter sich scharren.
Es drängt sich mir auch das Gefühl auf, als ob in drei bis vier Monaten, vielleicht auch erst in einem halben Jahr Sarrazin wieder »vergessen« sein wird.
[EDIT: 2010-11-16]
Sarrazin ist kein durchgeknaller, gar alkoholisierter Rechter, der irgendwelchen Blödsinn absondert. Er vernachlässigt auch nicht unbedingt eine Stringenz. Dass er sich bestimmte Sachen zurechtbiegt, wie es ihm passt, machen andere auch. Zum Rechtspopulisten taugt er nicht, weil er wenig Charisma hat und noch weniger Rhetorik. Vieles spricht dafür, dass er ernsthaft besorgt ist und hierfür eine drastische Sprache als Kompensation für die jahrelangen verbalen Fesseln finden will. Das feit ihn nicht vor Irrtümern, aber wie man mit ihm umgegangen ist (Zwangspension und SPD-Ausschluss-Androhung) ist unwürdig.
Er mildert übrigens nicht »einige Passagen« ab. Er fügt auf Seite 267 drei (einschränkende) Wörter hinzu, streicht einen Satz auf Seite 370 und bedankt sich bei einem Menschen nicht mehr. Wer betreibt da eigentlich Aufmerksamkeitserheischung – Sarrazin oder seine Kritiker?
[EDIT: 2010-11-16]
Dass er durchgeknallt oder ein Alkoholiker ist wollte ich nicht sagen, das fungierte nur als Vergleich (das »wie« im ersten Satz bezieht sich auf fast den kompletten folgenden Abschnitt). Mir ging es hierbei NUR um den Aufmerksamkeitserlangungsaspekt und das nicht wie bei Kritikern um des Kritisierens Willen, sondern um der Aufmerksamkeit selber Willen. Und um das Aufbäumen der Medien, die ihn zum Rechtspopulisten machen. Er macht einfach nur seinen Mut auf und geht dabei zu weit (dass er sich etwa in bestimmten Formulierungen vergriffen hat, lässt sich nicht bestreiten).
Das Abmildern habe ich übrigens hieraus. Ich glaube, ich kann Ihnen in der Beurteilung dieser Abmilderung mehr vertrauen. Wenn der Webreporter in seinem Artikel das »Abmildern« als derartig schwach, wie Sie es tun, beschrieben hätte, wäre ja auch nicht so ein schöner Artikel entstanden.
[EDIT: 2010-11-16]
Er beschreibt die Genese – warum beschäftigt sich ein Finanzmensch, ein Volkswirt mit diesen Themen? – für mich sehr plausibel im Buch. Es war der »Pisa-Schock« und der daraufhin reflexhaft aufkommende Ruf nach mehr Geld. Dass genau die Bundesländer mit den höchsten Pro-Kopf-Ausgaben für Bildung die schlechtesten Ergebnisse erzielten, deutete nachvollziehbar auf andere Ursachen. Als Finanzsenator wollte er sachlich begründen, dass mehr Geld keineswegs aus dem Dilemma ‘raus führt.
Sarrazin ist Zahlenmensch, Vertreter einer quantitativ orientierten VWL, sieht sich als nüchternen Sozialingenieur. (Was ein Thema für sich ist.) Entsprechend spröde kommt sein Text ‘rüber, macht die Rezeption nicht einfach. Der Sound ist kein Kuschelrock.
Durchaus widersprüchlich zu dieser Methode sehe ich seine teilnehmende Beobachterposition, seine Anekdoten aus der Feldforschung. (Seine Frau ist Grundschullehrerin.)
@Jürgen Lübeck
Das Sarrazin ein Zahlenmensch ist, merkt man dem Buch an. Das ist immer dann ein Problem, wenn er bestimmte Entwicklungen aus lauter Zahlenlust einfach hochzurechnen beginnt. Das bekommt dann abstruse Züge.
Was er noch zu wenig herausstreicht: Geld ist kein Motor, der alles antreibt. Wenn er schon – richtig – feststellt, dass höhere Haushaltsausgaben nicht automatisch zu besseren Bildungserfolgen führen, so ist es absurd, der kinderlosen Akademikerin eine Kinderprämie zahlen zu wollen. Ich hätte von ihm ein Konzept erwartet, wie Transferleistungen von der rein finanziellen Gewährung umgestellt werden können auf Sach- bzw. Infrastrukturleistungen. Darüber sagt er wenig.
[EDIT: 2010-11-17]
Zu Teczan
Zwei Reaktionen, die fast unterschiedlicher nicht sein könnten: Beim Lesen der ersten muss man sich fragen, ob der Autor nicht schon mutwillig jede Möglichkeit zur Kritik übersehen hat; und in der zweiten antwortet einer der vom Botschafter »Angesprochenen« selbst.
[EDIT: 2010-11-16]
Sehr hart finde ich schon diese Feststellung im Beitrag von Güler Alkan: Tezcan und Strache argumentieren auf dieselbe Weise, um eine sich ähnelnde Klientel zu erreichen: Hauptsächlich national-konservativ.
Insofern finde ich eben Tezcans Äusserungen wichtig – auch wenn sie aggressiv daherkommen: Er hat das Recht, auf Aggression ebenso aggressiv zu antworten. Das damit die Probleme nicht gelöst werden ist klar. Aber es kann nicht sein, dass immer eine Seite beschimpft wird und die Beschimpften zu schweigen haben.
Daher finde ich solche Interviews reinigend (was auf seine Art Sarrazin auch war/ist). Sie führen die Diskussion zwar nicht unbedingt sachlich weiter, liefern aber einen Einblick in die Psyche – auch wenn Tezcan natürlich nie für alle Türken spricht (obwohl er es ein bisschen gereneralisierend tut, ja tun muss).
Über die Aufregung bei Euch in den Groschenblättern darf man jedoch m. E. nicht in das Gegenteil verfallen – wie es im ersten verlinkten Beitrag anklingt: In überbordender Höflichkeit und vorauseilender Freundlichkeit alles das, was gesagt wurde, einfach zu akzeptieren und damit in exakt das Muster zu verfallen, was in Deutschland Sarrazin aufgespiesst hat.
Insofern finde ich eben Tezcans Äusserungen wichtig – auch wenn sie aggressiv daherkommen: Er hat das Recht, auf Aggression ebenso aggressiv zu antworten. Das damit die Probleme nicht gelöst werden ist klar. Aber es kann nicht sein, dass immer eine Seite beschimpft wird und die Beschimpften zu schweigen haben.
Völlig richtig: Er hat dieses Recht, und soll es in Anspruch nehmen (auch wenn ich seine Antworten und Feststellungen teilweise ungenügend und problematisch finde, auch im Ton, immerhin ist er Diplomat [selbst wenn er vorher sagt nicht als Diplomat zu antworten, verstehe ich, dass sich mache offizielle Stelle brüskiert fühlt]).
Wahrscheinlich hast Du recht, man sollte nicht immer »kleinlich« sein: Immerhin sieht man wo einige oder viele (Bürger, etc.) stehen, wo Probleme sind – es sollte halt nicht Regelfall werden, weil es dem Diskurs schadet.
Güler Alkan gebe ich insofern recht, dass ich beim Lesen auch diesen national-konservativen Eindruck empfunden habe (etwa Tezcans Bemerkung, er sei Vertreter der hier lebenden Türken, dass Hausfrau zu sein auch ein Job ist, und die Bemerkungen zum Islam). Es ist interessant, dass gerade jene, Dinge übersehen, die sie sonst kritisieren würden (man überlege, wenn ein konservativer Politiker meinte: Hausfrau zu sein ist ein Job).
Um es mal ein wenig pointiert zu sagen: EIn Diplomat muss nicht sein ganzes Leben lang Eunuch sein. Sarrazin beklagt ja in seinem Buch gleich zu Beginn, dass er, der Beamte (kein Diplomat), immer gehalten war, stromlinienförmige und in der Sache wenig aussagefähige Statements für seine Chefs zu formulieren. Diese Haltung Sarrazins imponiert mir übrigens gar nicht: Er hat seine politische Karriere über seine Überzeugungen gestellt (er schildert dies insbesondere, was die Demografie angeht). Teczan nimmt mit diesem Interview sicherlich negative Sanktionen in Kauf; das ist mutig.
Man darf nicht übersehen, dass der Nationalismus in der Türkei immer eine politisch starke Kraft war. Der Kemalismus war immer stark nationalistisch geprägt. Die Problematik der Kurden hat dies in den 80er-Jahren noch verstärkt. Und unter Erdogan ist dies noch einmal deutlicher herausgestellt geworden. Für Nationen mit unterdrücktem bzw. schwach ausgeprägtem Nationalbewusstsein wie Deutschland kommt dies leicht als außergewöhnlich ‘rüber.
Problematisch sind insbesondere seine Äusserungen über den islam als kulturelle Prägung der türkischen Gesellschaft wie z. B. hier: »Unsere Philosophie im Islam lautet anders: Was immer du hast, von Gott gegeben, ist genug für dich. Das Einzige, was du tun musst, ist Gutes für deine Leute in der Familie und in deiner Umgebung«. (Hervorhebung von mir.) Damit unterläuft er eindeutig die laizistische Staatsdoktrin. Dieses Wort fällt nicht einmal; Islam 4 x.
Ich hätte Teczan noch gefragt, wie zur Zypern-Frage steht und warum der türkische Teil der Insel ökonomisch derart abgewirtschaftet ist.
Sehr interessant auch das hier.
Er ist kein Eunuch, mich wundert dann nur, dass sich andere über Gegenwind wundern (Tezcan scheint übrigens Übung zu haben, er hat sich vor Jahren auch einmal bei euch »geäußert«).
Nationalbewusstsein: Ja, es ist nur ein wenig seltsam sich dann quasi über das der anderen zu beklagen (Zustimmung zum Laizismus). Daher kommt wohl Güler Alkans Kritik.