»Auf einem dunklen See« spielt unter einer Touristengruppe in Ägypten. Die Protagonisten, mehrheitlich aus angelsächsischen Ländern stammend, werden fragmentarisch skizziert. Zunächst erscheint alles harmlos: Da stürzen sich einige Westler in den ganz normalen Ägypten-Rundreise-Wahnsinn inklusive Fahrt auf halbluxuriösem Schiff auf dem Nil. Plötzlich stirbt eine Reisende und die Gruppe wird nun gezeigt, wie sie zwischen »business as usual«, Exaltiertheit und Trauerbewältigung (Hilfe für den Ehemann) laviert. Am Ende der Geschichte kontrastiert das Bild des ausgiebig fotografierten Sonnenaufgangs über Abu Simbel mit dem des Hubschraubers, der kurz danach über das Schiff kreist und den Sarg der verstorbenen Janet abtransportiert. Auch ohne dieses Ereignis fällt das Fazit ernüchternd aus: Wie Wüste und See hier eng zusammen und gleichzeitig scharf getrennt nebeneinander her existieren, so haben wir nie gewagt, dieses Land wirklich zu betreten. Und der sehr zurückhaltende Ich-Erzähler, der eher eine Berichterstatterfunktion übernommen hat, will zur Todesgeschichte unbedingt noch Genaueres erfahren, im Bus oder im Flugzeug, auf jeden Fall bevor wir nach Hause kommen und…mit dem wachsenden Abstand von Ägypten beginnen, die Geschichte auszuschmücken.
Kaurismäki-Atmosphäre und Wortklauber
Die anderen beiden Erzählungen spielen in London bzw. Umgebung. In »Die Luft in deinen Knochen« wird das Liebesverhältnis der glücklosen Buchhändlerin Astrid mit dem Zahnarzt Lawrence erzählt. Lawrence ist ein Nischenmensch, ein Hüne mit extrem weißer Hautfarbe und erstaunlicher Maulfaulheit. Wenn die beiden zusammensitzen, entsteht zuweilen ein Wettkampf des Schweigens, von Ferne erinnernd an die Schweigelakonik von Kaurismäki-Figuren. Auch ihr Sex ist still und direkt, aber immerhin voller gegenseitiger Überzeugungskraft, eben starke und echte Schauspielerei. Beim ersten Mal sind sie nach weniger als 20 Minuten fertig. Danach stand Astrid nicht vom Fußboden auf, um ihn an die Tür zu bringen. Eine seltsame Müdigkeit, die nicht mit Vertrautheit oder falscher Coolness verwechselt werden darf.
Wenn Lawrence im Schwimmbad seine Bahnen zieht tritt eine Verwandlung ein. Er wird zum Menschen mit Luft in den Knochen und erreicht eine Geschmeidigkeit und Grazie, die er ansonsten vermissen lässt. Hier entflammt Astrid für den Mann, wenn auch immer nur kurz. Ansonsten wirkt diese Beziehung äußerst pragmatisch und man hat man das Gefühl, die beiden gestalten ihr Leben nicht, sondern es gestaltet sie. Lediglich die gelegentlichen Einmischversuche von Astrids Mutter, die Lawrence als ideale Versorgung für ihre Tochter sieht, konterkariert diese fast dumpf-gleichgültige Stimmung. Zum Lebenswendepunkt für Astrid wird der Tod ihres Hundes, den Lawrence mitverursacht, in dem er ihn leinenlos und unbeaufsichtigt über die Straße laufen lässt. Ihre zunächst noch stärkere Flucht in die Teilnahmslosigkeit lässt sich nicht mehr lange aufrecht erhalten: Sie ist gezwungen ihren Buchladen aufzugeben, der schon lange nur noch Verluste produziert und die vorwitzige und längst überflüssig gewordene Angestellte Ines zu entlassen, mit der sie vorher noch in einer urkomischen Szene den Hund in einem Park begräbt. Direkt nach der Auktion, mit der ihr Laden liquidiert wurde, geht Astrid schwimmen und versucht das Gefühl, dass sie bei Lawrence’ Anschauung herbeiphantasiert, für sich selbst zu erzeugen. »Dies könnte der Beginn einer ungeheuer wichtigen Schwimmphase in meinem Leben sein«, dachte sie an die unterschiedlichen »Lebensphasen« ihres verstorbenen Vaters erinnernd und nun derart versuchend, ihr Leben zu strukturieren. Eine Phase, mit der sie die Buchladen-Mutter-Ines-Hund-und-Beerdigungsphase ersetzen würde. Beim Abendessen dann zeigt sich Lawrence erstaunt ob der Initiative Astrids, wird vollkommen überraschend zum Wortklauber und bricht in vorher nicht für möglich gehaltene Wut aus, als sie davon berichtet, wie sie durch das Wasser gestoßen sei: Man stößt nicht durchs Wasser….man arbeitet immer mit dem Wasser. Dieses eine falsche Wort macht ihn rasend. Dessen ungeachtet bietet er Astrid am nächsten Tag an, dass sie bei ihm einziehen soll, denn sie gehörten doch zusammen und könnten etwas wirklich Wertvolles aufbauen. Die Umzugskisten werden gepackt und sie sitzt mit ihm im Auto. Die Erzählung endet mit einem halb kryptisch, halb desillusionierenden Satz, der zur Programmatik des Rest-Lebens wird: Und in dem Moment, als ihre Gedanken sich von ihm ab- und der Straße zuwandten, wo ein rotes Postauto aus einer Parklücke geschossen kam und sich direkt vor sie positionierte, begann die Phase, die Lawrence irgendwann in jene Ablenkung verwandeln würden, die er immer für sie gewesen war.
Kleeberg und Bertolucci
In der dritten Geschichte, »Die Möglichkeiten der Liebe«, wird der Leser in eine Welt entführt, die von Ferne an eine Mischung aus Michael Kleebergs Novelle »Barfuß« und Bertoluccis Film »Der letzte Tango von Paris« erinnert. Ein Ich-Erzähler begegnet auf der Toilette der Nationalgalerie dem Mittfünfziger Jacob Trip und seiner jüngeren Partnerin Jane Wheeler. Man trifft sich jeden Mittwochnachmittag um sich für ein paar Stunden Sex, postkoitalem Geschichtenerzählen, Alkohol und einem Light Supper hinzugeben. Die beiden verfallen diesem Mann bis hin zur sexuellen Hörigkeit. Und wie Jeanne (Maria Schneider) im berühmten Film begnügen sie sich irgendwann nicht mehr nur mit diesem einen Termin in der Woche, der längst den gesamten Lebensrhythmus strukturiert, es stellt sich auch Eifersucht ein und man beginnt, das »Privatleben« Trips systematisch auszuforschen.
»Die Möglichkeiten der Liebe« ist die stärkste und dichteste Erzählung des Bandes. Immer tiefer taucht in Leser in diese Recherchen um die Figur Trip ein, wobei dessen Faszination unklar bleibt – und damit verblüffenderweise fast noch geheimnisvoller wird. Auf eine ausgiebige Schilderung der sexuellen Erlebnisse verzichtet von Haaren; mehr als sehr dezente Andeutungen gibt es nicht. Dies ist durchaus wohltuend, weil der Leser nicht zum billigen Voyeur degradiert wird. Gleichzeitig wird er auch ein wenig aus der Geschichte gehalten und eine klarere Sicht auf das Verhalten der Protagonisten ermöglicht.
Irgendwann entdecken die beiden Trips beeindruckende Galerie von Liebhabern und Liebhaberinnen, die sich in Jahrzehnten angesammelt hat – alles hübsch dokumentiert auf Fotos (man erinnert sich, dass Trip auch den Erzähler am Anfang auf der Toilette fotografiert hatte). Und als die beiden an einem Freitag in die Wohnung kommen, lebt dort der 14jährige Danny mit seinem gleichaltrigen Freund Victor. Merkwürdig, wie sie sich von den Teenagern sogar erpressen lassen, damit diese nicht Trip Bescheid über ihre Nachforschungen geben. In einer skurrilen Aktion gelingt es schließlich, die Jungen zu vertreiben (wenn auch nur für kurze Zeit und mit beträchtlichen Spätfolgen, als diese wiederkommen).
Die sicheren Umgebungsanker der Alltäglichkeit (Arbeitsplatz, finanzielle Sicherheiten) erodieren. Des Erzählers anderes Leben (er ist Abteilungsleiter in einem Verlag und lektoriert Reiseführer), die Termine mit den Gewohnheitsfreunden – alles wird vernachlässigt. Unheilvolle Vorboten werden zusätzlich noch auf zwei Nebenschauplätzen platziert: Ein Investment droht zu scheitern; am Ende saß man einem Betrüger auf (der ein Freund Trips war). Und wie weiland in Hitchcocks »Psycho« bedrohen plötzlich Möwen die Vogel- und Zoowelt Londons. Den entscheidenden Moment der sich schleichend anbahnenden Zerstreuung der ménage-à-trois schildert Hinrich von Haaren knapp, aber dennoch mit großer Intensität und Könnerschaft und schließlich konstatiert der Ich-Erzähler: während ich ihn weiter anblickte, konnte ich nichts mehr von dem sehen, wofür ich gestern noch verrückt gespielt hätte, nichts von seiner unschlagbaren Selbstsicherheit, nichts von Jane und mir. Wir hatten einander mitgerissen und hinuntergezogen…[…] wir brauchten keine Geheimnisse mehr, keine Geschichten…Wir waren verbraucht.
Die Unmöglichkeit des Weiterlebens
Spätestens hier wird die Intention des Titels »Die Überlebten« deutlich: Es handelt sich ja nicht, wie man vielleicht im ersten, oberflächlichen Lesen meinen könnte, um »Überlebende«, sondern tatsächlich um »Überlebte« – Menschen, die durch ein (Liebes-)Ereignis »überlebt« werden. Menschen, deren Welt nie mehr so sein wird wie sie war und die an der Unmöglichkeit der Katharsis durch die Beschwörung des Vergangenen wenn nicht zerbrechen, so doch leiden. »Überlebt« sind sie, weil sie unwiderruflich aus einer Zeit der Sicherheit, Geborgenheit, Aufgehobenheit gefallen sind, ohne dass sie einen Einfluss darauf gehabt hätten. »Überlebte« sind sie, weil sie wie griechische Figuren ihre Vorbestimmtheit nicht abzuschütteln vermögen, obwohl sie ihnen jederzeit präsent ist.
Wie der Ehemann von Janet weitermacht und wie Astrid bei ihrem weißhäutigen Zahnarzt bleibt, weil sie dort bleiben muss, so übergibt sich auch der Erzähler in der Liebesgeschichte seinem Schicksal, wohl wissend, dass die einige der Verschwundenen schon morgen…zufällig an der Bushaltestelle wieder auftauchen könnten. Und wie ein Vermächtnis erträgt diese Figur die Möglichkeiten der Liebe, wie wir sie von Trip gelernt haben, nämlich nichts und niemandem nachzutrauen, sondern so schnell wie möglich und mit der allergrößten Überzeugung weiterzuleben.
Ein Weiterleben freilich, das entkernt ist. »Die Überlebten« vollziehen die unabänderliche Verwandlung vom Dasein zum nur noch Seienden, weil sie ihre Liebesfähigkeit eingebüßt haben. Von Haarens Kunst liegt darin, diese Metamorphose so subtil zu erzählen, dass der Schrecken nicht sofort offenbar wird. Und dies trotz zahlreicher Anspielungen, die jedoch weder aufdringlich werden, noch den Erzählfluss über Gebühr hemmen. Erst im Nachhall entwickeln sich beim Leser die wahren Dimensionen; am nachhaltigsten hier auch die dritte Geschichte.
Es gibt in diesen Novellen auch Verbindendes über das Leitmotiv hinaus. Beispielsweise sind fast alle Protagonisten zum Zeitpunkt des sie auf immer verändernden Ereignisses nicht mehr in »normale« Arbeitsprozesse eingebunden (außer Lawrence, der Zahnarzt). Selbst wenn sie arbeiten, haben sie entweder kaum noch zu tun oder gestalten ihre Arbeit weitgehend autonom, was dann zu Schwierigkeiten führt (Entlassungen, Intrigen innerhalb eines Unternehmens oder schlichtweg die Aufgabe der Selbständigkeit). Arbeit erscheint als eher lästige Notwendigkeit, die den Menschen nur noch als Mittel zum Zweck dient. Die Erfüllung, das Leben, wird im anderen gesucht – und dann nicht gefunden.
Das alles wird ohne Klageton, Larmoyanz oder auch »Message« erzählt. Ab und zu würzt Hinrich von Haaren seine zuweilen lakonische Prosa mit kleinen, unaufdringlichen Wortspielen. Die Erzählungen sind auf eine berückende Art komponiert und das ohne sicht- und lesbar irgendwelchen Schreibschulen nachzueifern. Ein beachtliches Talent zeigt sich hier. Man wünscht sich mehr.
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
Mäkeleien
In der neuen edit (Heft 53) ist eine Geschichte von H.v.H, »Kriemhilds Helm«, die mir eigentlich gut gefällt. Doch brauchte ich eine Zeit, mir das zugeben zu können, und könnte – außer, dass sie auf eigene Weise dicht geschrieben ist, was einen gewissen Sog an sich erzeugt – nicht sagen, warum. Man unterhält sich gut – aber ein bisschen ist es auch, als würde man ins Leere laufen. Und wenn man die Stilmittel dann etwas genauer untersucht, sind sie eigentlich nicht neu, auch nicht »eigen«, sondern nur in einer (vermutlich dahin entwickelten) Ingredienzenmischung gut gesetzt.
Ich selber brauche auch keine Aufdringlichkeiten, keine »message«, aber empfinde solche Intentionslosigkeit, die vornehme Abwesenheit jeglichen spürbaren Interesses, diese letztliche Dranglosigkeit (oder mir eben als solche erscheinende) dann als eine l’art pour l’art... die dann doch keinen Mehrwert erzeugt. Insgesamt etwas blutleer.
Womöglich passt diese Haltung zu dem besprochenen Erzählband – aber ich frage mich, ob mich solches »Überlebte«, das tatsächlich fast etwas Altmodische seiner Prosaqualitäten, auf eine längere Strecke interessieren würde?
UND ich frage mich, ob diese gleichfalls etwas altmodischen, in manchen Zügen sogar vielleicht nabokov’schen Qualitäten (etwa in den Personenzeichnungen: Genauigkeit einerseits, Unbestimmtheit andererseits) nicht längst wieder eine angepeilte, sogar durch die angesprochenen Schreibschulen re-animierte sind. (Die »Technik« eines Textes wieder bis zur Unkenntlichkeit aufzulösen – und man landet bei arg klassischer Literatur à la Flaubert.) Und man genießt das, weil man zumindest die Texttiefe bei den anderen eher vermisst?
Aber vielleicht sind das auch nur Mäkeleien, wenn’s schön zu lesen ist. Ich denke, ich sehe mir das Buch mal an.
Tja, vielleicht rühren sie in einer kleinen Wunde. Es ist vielleicht wirklich etwas »Altmodisches«, aber so, dass es mir eigentlich ganz gut zu tun scheint, wil es nicht ganz geheimnislos und nicht ganz so vordergründig ist wie bspw. die Popliteraten agi(ti)eren. Das empfände ich als viel blutleerer, vor allem in der Nachwirkung: Man ist noch berauscht während des Lesens, amüsiert sich köstlich – aber nach zwei Tagen weiss man nicht mehr, was man gelesen hat.
Mein Schreibschulpassus ist da vermutlich tatsächlich ein Unfall – ich weiss in Wirklichkeit ja gar nicht, was da so gelehrt wird.