Hel­mut Böt­ti­ger: Die Jah­re der wah­ren Emp­fin­dung

Helmut Böttiger: Die Jahre der wahren Empfindung
Hel­mut Böt­ti­ger: Die Jah­re der wah­ren Emp­fin­dung

Es gibt in­zwi­schen un­zähl­ba­re ana­ly­tisch-hi­sto­ri­sche Be­trach­tun­gen zu der Epo­che, die all­ge­mein ver­kür­zend mit »1968« be­zeich­net wird (und die ei­gent­lich 1966 be­gann). In den letz­ten Jah­ren sind nun ver­mehrt Pu­bli­ka­tio­nen er­schie­nen, die ein­zel­ne Jah­re aus dem 1970er-Jahr­zehnt un­ter­su­chen und hi­sto­ri­sche Zä­su­ren ent­deck­ten, die maß­geb­lich den Vor­gang der Ge­schich­te be­stimm­ten. So ana­ly­sier­te Kar­sten Kram­pitz das Jahr 1976 als An­fang vom En­de der DDR (und so­mit in­di­rekt auch des »re­al exi­stie­ren­den So­zia­lis­mus«) . Der Hi­sto­ri­ker Frank Bösch li­ste­te in Zei­ten­wen­de 1979: Als die Welt von heu­te be­gann wich­ti­ge welt­po­li­ti­sche Er­eig­nis­se des Jah­res 1979 als rich­tungs­wei­send auf. Und der Kul­tur­wis­sen­schaft­ler Phil­ipp Sa­ras­sin un­ter­such­te un­längst mit 1977- Ei­ne kur­ze Ge­schich­te der Ge­gen­wart, die »tie­fen ge­sell­schaft­li­chen, po­li­ti­schen, kul­tu­rel­len, wis­sen­schaft­li­chen und tech­no­lo­gi­schen Ver­schie­bun­gen und Brü­che in West­eu­ro­pa und den USA«, die sich, so die The­se »im Jahr 1977 bün­deln las­sen« (das Er­geb­nis über­zeugt eher we­ni­ger).

Der Li­te­ra­tur­kri­ti­ker Hel­mut Böt­ti­ger nimmt sich nun auf fast 500 Sei­ten (mit 37 Ab­bil­dun­gen) des gan­zen Jahr­zehnts an. In Die Jah­re der wah­ren Emp­fin­dung (an­ge­lehnt an den Ti­tel ei­ner Er­zäh­lung von Pe­ter Hand­ke) re­sü­miert er die 1970er-Jah­re als ei­ne »wil­de Blü­te­zeit der deut­schen Li­te­ra­tur« (so der Un­ter­ti­tel). Im Un­ter­schied zu den oben ge­nann­ten Bü­chern sucht Böt­ti­ger nicht zwang­haft nach hi­sto­ri­schen Wen­de­punk­ten, son­dern ver­sucht zu be­schrei­ben, wie die 68er-»Revolution« und ih­re Aus­wir­kun­gen in die Li­te­ra­tur po­li­tisch und vor al­lem äs­the­tisch über­führt wur­de.

Wei­ter­le­sen ...

Ar­beit am Le­bens­ro­man

Ei­ni­ge Be­mer­kun­gen über Paul Ni­zon

Nein, er sei kein Er­zäh­ler. So Paul Ni­zon, un­ter an­de­rem im Au­gust die­ses Jah­res, im Ge­spräch mit Pe­ter Ste­phan Jungk. Als Ver­fas­ser von »Ak­ti­ons­pro­sa« möch­te sich der mitt­ler­wei­le 92jährige Ni­zon se­hen. Man nennt ihn Sprach­künst­ler oder Sprach­ma­gi­er. Und das ist er ja auch. Aber eben nicht nur.

So as­so­zia­tiv-spie­le­risch, bis­wei­len her­me­tisch die Ro­ma­ne an­mu­ten – in sei­nen Jour­na­len ist das an­ders. Seit 1993 er­schei­nen sie, zu­nächst mit Auf­zeich­nun­gen aus den Jah­ren 1980–89. 2002 folg­te der Jour­nal­band der Jah­re 1961–72. Zwei Jah­re spä­ter dann die Auf­zeich­nun­gen von 1973–79. 2008 wer­den die Jah­re 1990–99 be­han­delt, be­vor 2012 der Band Ur­kun­den­fäl­schung mit den No­ta­ten von 2000–2010 er­scheint. Die Ein­tra­gun­gen sind nie apho­ri­stisch, son­dern kon­zi­piert wie klei­ne Feuil­le­tons oder Er­zäh­lun­gen. Aus­lö­ser sind An­läs­se wie Le­sun­gen, Rei­sen oder Be­su­che. Aber auch Nach­be­trach­tun­gen von Lek­tü­ren, Aus­stel­lun­gen (Ni­zon, der ehe­ma­li­ge Kunst­kri­ti­ker, bleibt hier hell­wach), Spiel­fil­men (Ki­no-Be­su­che wer­den sel­te­ner; er schätzt Fer­ra­ra und Felli­ni) und in jüng­ster Zeit vor al­lem (Fernseh-)Dokumentationen. Den Kern bil­den je­doch Re­fle­xio­nen und As­so­zia­tio­nen aus sei­nem (Schriftsteller-)Leben, ins­be­son­de­re der Kind­heit und der (län­ge­ren) In­itia­ti­on zum Schrift­stel­ler und ak­tu­el­le Schreib­vor­ha­ben.

Ni­zon hat­te frü­her sei­ne Tex­te zu­nächst auf Band ge­spro­chen. In­zwi­schen tippt er sie so­fort in ei­ne Schreib­ma­schi­ne, was bis­wei­len zu Pro­ble­men führt, da sei­ne Ap­pa­ra­te oft de­fekt sind. Er sucht stän­dig nach neu­en al­ten Ma­schi­nen, ist dann ir­gend­wann glück­lich, ei­ne Oli­vet­ti Let­te­ra 32 zu be­kom­men. Er braucht den »Krach« der Schreib­ma­schi­nen­an­schlä­ge; mit dem ver­gleichs­wei­se lei­sen Com­pu­ter kommt er nicht zu­recht. Ihm ist be­wusst, dass der Ge­brauch der Schreib­ma­schi­ne von ei­ni­gen Au­gu­ren als Sym­ptom sei­ner Pro­sa ge­se­hen wird. Aber Ni­zon hat sich nie um die Ur­tei­le an­de­rer ge­schert.

Paul Nizon: Der Nagel im Kopf
Paul Ni­zon:
Der Na­gel im Kopf

So­eben ist nun sein Jour­nal­band von Auf­zeich­nun­gen zwi­schen 2011 und 2020 mit dem viel­deu­ti­gen Ti­tel Der Na­gel im Kopf er­schie­nen. Viel­deu­tig des­halb, weil es ei­nen Do­ku­men­tar­film über Paul Ni­zon von Chri­stoph Kühn aus dem Jahr 2020 glei­chen Na­mens gibt. Und weil es der Ti­tel ei­nes jah­re­lan­gen Ro­man­pro­jekts von Ni­zon ist, dass nicht rea­li­siert wur­de. Be­reits in Ur­kun­den­fäl­schung, dem Band der 2000er-Jah­re, kann man die An­fän­ge die­ser Idee nach­le­sen, wel­che rasch in Stocken kommt. Par­al­lel zur Na­gel-Idee gibt es das zä­he­re, wie Wend Kä­s­sens im Nach­wort er­läu­tert, seit Jahr­zehn­ten im­mer neu auf­flam­men­de, Ma­ria-Pro­jekt. Ni­zon er­schafft su­chend ste­tig neue Be­trach­tun­gen und Text­frag­men­te, die sich im neu­en Band fort­set­zen. Im­mer­hin ist es 2004 zu­sam­men mit Co­let­te Fell­ous zu ei­nem Ge­mein­schafts­ro­man mit dem Ti­tel Ma­ria Ma­ria ge­kom­men, der bis­her (war­um ei­gent­lich?) nur auf fran­zö­sisch er­schie­nen ist. Im vor­he­ri­gen Jour­nal­band wird die Ge­ne­se die­ses Ro­mans ver­blüf­fend we­nig aus­ge­führt. Ins­ge­samt scheint Ni­zon mit die­sem Buch nicht zu­frie­den zu sein.

Wei­ter­le­sen ...

Hand­kes Ra­che

Peter Handke: Das zweite Schwert
Pe­ter Hand­ke:
Das zwei­te Schwert

» ‘Das al­so ist das Ge­sicht ei­nes Rä­chers!’ sag­te ich zu mir, als ich mich an dem be­wuß­ten Mor­gen, be­vor ich mich auf den Weg mach­te, im Spie­gel an­sah.«

Mit die­sem Satz be­ginnt Pe­ter Hand­kes Er­zäh­lung Das zwei­te Schwert, und als Le­ser könn­te man nun an­neh­men, die im Un­ter­ti­tel ver­spro­che­ne »Mai­ge­schich­te« wer­de als­bald los­ge­hen. Der ent­schlos­se­ne Ge­stus des An­fan­gens er­in­nert an be­kann­te Er­zähl­werk der Li­te­ra­tur­ge­schich­te, wo der Au­tor gleich zu Be­ginn ei­ni­ge wich­ti­ge Mit­tei­lun­gen über die Haupt­fi­gur und die Si­tua­ti­on macht, in der er sich be­fin­det. »Je­mand muß­te Jo­sef K. ver­leum­det ha­ben, denn oh­ne daß er et­was Bö­ses ge­tan hät­te, wur­de er ei­nes Mor­gens ver­haf­tet.« Tat­säch­lich geht die­se Ge­schich­te so­gleich los, die bei­den Scher­gen bre­chen in K.s Le­ben ein, doch be­kannt­lich ver­wickelt sich die Ge­schich­te im­mer mehr, sie fin­det kein En­de, und wenn es ei­nes gibt – Kaf­ka hat es skiz­ziert –, so weiß man nicht, wie die Er­zäh­lung dort­hin ge­lan­gen kann. Der Ro­man ist Frag­ment ge­blie­ben.

Hand­ke hat die Wer­ke, die wir von ihm ken­nen, al­le­samt ab­ge­schlos­sen, doch im Ver­lauf sei­nes Schrift­stel­ler­le­bens hat er die Di­rekt­heit mit der er in frü­hen Er­zäh­lun­gen in me­di­as res ging, ver­lo­ren oder be­wußt ab­ge­legt. Der Wech­sel er­folg­te in et­wa zu der Zeit, in der Hand­ke sich von Kaf­ka als Vor­bild los­sag­te. Die Angst des Tor­manns beim Elf­me­ter zum Bei­spiel be­ginnt so: »Dem Mon­teur Jo­sef Bloch der frü­her ein be­kann­ter Tor­mann ge­we­sen war, wur­de, als er sich am Vor­mit­tag zur Ar­beit mel­de­te, mit­ge­teilt, daß er ent­las­sen sei.« Kom­pak­te Syn­tax und viel (für not­wen­dig ge­hal­te­ne) Mit­tei­lung, wie in den Ge­schich­ten Kleists. Un­ver­mit­telt er­fah­ren wir Na­men, Be­ruf, sport­li­che Ak­ti­vi­tät und die Si­tua­ti­on, in die sich der Held ge­wor­fen sieht. In ei­nem spä­te­ren Werk, in dem Hand­ke die Ge­schich­te des »ge­glück­ten Tags« zu er­zäh­len ver­sucht, fragt sich der Er­zäh­ler selbst, wes­halb er den ei­gent­li­chen Be­ginn im­mer wie­der ver­schiebt.

Wei­ter­le­sen ...

Boxing Week auf Si­zi­li­en

TAGEBUCHAUFZEICHNUNGEN PETER STEPHAN JUNGK, ENDE DEZEMBER 1998

Sams­tag, 26. 12.1998 Un­se­re Ab­rei­se nach Pa­ler­mo über­aus an­stren­gend, weil wir via Rom flie­gen, dort das Um­stei­gen. Der Ver­lust des Kof­fers, den Lil­li­an1 dann in ei­nem Ab­stell­raum des Flug­ha­fens Pa­ler­mo wie­der­fin­det. An­kunft um ca. 21h im Ho­tel Vil­la Igiea – ei­gen­ar­ti­ges Ho­tel! Pe­ter, So­phie, Lé­o­ca­die2 er­war­ten uns im Re­stau­rant.

Ver­brin­gen schwie­ri­ge, aber in­ten­si­ve Ta­ge in Pa­ler­mo, vom 26.12. bis zum 1.1.1999.

Un­ser Zim­mer sehr schön, mit Aus­sicht auf den Ha­fen und das Meer. Die Hei­zung funk­tio­nier­te nicht gut, aber man gab uns ei­nen Elek­tro-Ofen. Der wun­der­schö­ne Ho­tel-Park der Vil­la Igiea!

Lé­o­ca­die krank, So­phie krank, als wir an­ka­men. So­phie die er­sten zwei Ta­ge kaum ge­se­hen, sie liegt im Bett. Ich ge­be Pe­ter mein Buch3 zu le­sen, zu die­sem Zeit­punkt war der Schluss al­ler­dings noch ein ganz an­de­rer, als der, den ich heu­te vor 4 Ta­gen4 nach Mün­chen sand­te.

Pro­fes­sor Co­me­ta, der Ger­ma­nist, der Pe­ter be­su­chen kommt, un­ter­rich­tet deutsch­spra­chi­ge Li­te­ra­tur in Pa­ler­mo, ein run­der, jo­via­ler Mensch, der uns viel über die Stadt er­zählt. Er hat­te auch mit der Auf­füh­rung des Thea­ter­stücks von Pe­ter zu tun, vor kur­zer Zeit, »Das Spiel vom Fra­gen«, das er für das Thea­ter in Pa­ler­mo über­setzt hat.

Ein er­ster Spa­zier­gang, al­lein mit Lil­li­an und Adah5, am 27.12., in der Nä­he des Ho­tels. Die ver­kom­me­nen Gas­sen, die schmut­zi­gen Hin­ter­hö­fe, die trau­ri­gen Ge­bäu­de. Die er­folg­lo­se Su­che nach dem Ha­fen. Hun­de­schei­ße, auf Schritt und Tritt.

Die Piaz­za Aqua­san­ta, na­he dem Ho­tel, als ei­ner der be­sten, schön­sten Punk­te der gan­zen Stadt. Das Lo­kal dort, am Platz – wie rei­zend man zu uns war. Der Be­sit­zer, ehe­mals Kell­ner und Koch in gro­ßen eu­ro­päi­schen Ho­tels, u.a. in St. Mo­ritz, der uns zeigt, was er kann. (Als Koch.) Wir re­ser­vie­ren dort für den 31. 12. – vor lau­ter Sym­pa­thie.

Ich se­he Pe­ter gleich­sam beim Le­sen mei­nes Ma­nu­skripts zu, 3 Ta­ge lang – 27., 28., 29. – be­mer­ke, wie sehr es ihn zu in­ter­es­sie­ren scheint, ein­mal sagt er so­gar: »kaf­ka­esk…« Sit­zen ei­nes Abends bei­sam­men, füh­ren ei­nes der in­ten­siv­sten Ge­sprä­che je­mals, aber es ist wie im Traum: Ha­be bei­na­he ALLES ver­ges­sen. Weiß nur, dass es nach 23h war, Lil­li­an und Adah schlie­fen, So­phie ih­rer Krank­heit we­gen so­wie­so, auch Lé­o­ca­die na­tür­lich, und Pe­ter und ich sa­ßen an ei­nem Tisch­chen in ei­ner Art klei­nen Bi­blio­thek, vis à vis von sei­ner Suite, ein Raum über dem gro­ßen Fest­saal mit den fin-de-siè­cle-Wand­ma­le­rei­en. Er hat­te ca. die Hälf­te des Ma­nu­skripts gelesen…schien recht an­ge­tan zu sein, woll­te aber, na­tur­ge­mäß, noch nichts End­gül­ti­ges sa­gen. Und wir ge­rie­ten vom 100. ins 1000., ad Ser­bi­en so­gar. Dass er glau­be, vie­les sei pas­siert, im Krieg in Ju­go­sla­wi­en, weil vor lau­ter Zorn und Wut et­was, was nur zur Hälf­te im Ar­gen lag, dann zer­schmet­tert wur­de, mit al­ler Ge­walt. Se­he sei­ne Hand­be­we­gung des Schla­gens vor mir, von oben nach un­ten, als Zei­chen des Zer­schla­gens, vor lau­ter Wut. / Wir spre­chen da­von, dass vie­le Be­rei­che des Zwi­schen­mensch­li­chen im Grun­de nie be­schrie­ben wor­den sei­en. Ich le­se zur Zeit ge­ra­de den »Zau­ber­berg« neu, aber Pe­ter lehnt Tho­mas Mann ab, da die Spra­che ihm ein­fach un­er­träg­lich sei. Die Spra­che Kaf­kas, Ro­bert Walsers, die kön­ne er er­tra­gen, sie sei REIN, WAHR, ECHT, auch er schrei­be so, und er ver­gleicht sich durch­aus mit Kaf­ka und Ro­bert Wal­ser. »Auch bei mir«, sagt er, »hat die Spra­che die­se Klar­heit – das kommt aus dem Traum. Traum­spra­che…« / Mehr als 1 Stun­de sa­ßen wir da – und wie im Traum: mein Mir-Vor­neh­men, mir al­les, al­les ex­akt mer­ken zu müs­sen, zu wol­len…

Wei­ter­le­sen ...


  1. Lillian Birnbaum, die Frau des Autors, Fotografin und Filmproduzentin 

  2. Gemeint sind Peter Handke, seine Frau Sophie Semin und ihre damals 7-jährige Tochter 

  3. Es handelte sich um die 1. Fassung meines Romans "Die Erbschaft", der im Herbst 1999 im Ullstein Verlag erschienen ist. Die Geschichte eines Dichters, Daniel Löw, der in Südamerika einer Erbschaft nachjagt, die ihm der Cousin seines Vaters hinterlassen hat, ist heute als Nachdruck erhältlich: https://www.fischerverlage.de/buch/peter-stephan-jungk-die-erbschaft-9783596317592
     

  4. Die vorliegenden Aufzeichnungen entstanden rückblickend, etwa vier Wochen später. 

  5. Die 1994 geborene Tochter des Autors. 

Me­di­en­a­vant­gar­de bei der Ar­beit

Ge­stern um 20.00 Uhr wa­ren es 1076. Heu­te, 02.04.2020, 10.30 Uhr, sind es 2679 Fol­lower, die dem »of­fi­ci­al ac­count« von Pe­ter Hand­ke auf Twit­ter fol­gen. Nicht, dass es der er­ste Ac­count »von« Hand­ke ist. Es gibt min­de­stens ein hal­bes Dut­zend al­lei­ne auf Twit­ter. Hier ist es schein­bar neu, weil je­mand »of­fi­ci­al« drü­ber­ge­schrie­ben hat. Dann muss ...

Wei­ter­le­sen ...

Fab­jan Haf­ner: Er­ste und letz­te Ge­dich­te

[...] Pe­ter Hand­ke fin­det in sei­nem Vor­wort den Be­griff des »Zun­gen­re­dens« (ei­ne Art ly­ri­scher Écri­tu­re au­to­ma­tique, wel­ches Her­an­wach­sen­den so­zu­sa­gen ge­schieht). Er schreibt von Ar­thur Rim­baud – um dann schnell die­se Par­al­le­le zu ver­wer­fen und Haf­ners Ge­dich­te als ein­zig­ar­tig zu be­schrei­ben: »Die­se Ge­dich­te da sind ernst; der Mensch, der sich dar­in äu­ßert, das Ich, wel­ches da, ...

Wei­ter­le­sen ...

Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑6/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

(← 5/8)

Pe­ter Hand­ke ge­hört zu den Au­toren, von de­nen ich je­de Neu­erschei­nung frü­her oder spä­ter le­se; manch­mal spä­ter, wenn die Er­schei­nung nicht mehr ganz neu ist, als Nicht-Kri­ti­ker kann ich mir das er­lau­ben. Den Ak­tua­li­täts­streß, die Hy­ste­rie des Pu­bli­zie­rens, den mar­tia­li­schen Kon­kur­renz­kampf um Auf­merk­sam­keit, all das ha­be ich in mei­nem Sayon­a­ra-Es­say be­schrie­ben. Ich le­se im­mer wie­der mal die »User­kom­men­ta­re« in den Fo­ren von Ta­ges­zei­tun­gen und stel­le dann fest, wie sehr ein Teil des Pu­bli­kums die­se Hy­ste­rie ver­in­ner­licht hat: Jour­na­li­sten sind beim klei­nen Mann un­ten durch, wenn sie ein, zwei Stun­den spä­ter als an­de­re Jour­na­li­sten in an­de­ren Me­di­en an ei­nem »Er­eig­nis« dran sind. Als gin­ge es ih­nen nicht um den In­halt ei­ner Nach­richt, son­dern dar­um, er­ster zu sein, der das Ding – meist feh­ler­haft in der On­line-Aus­ga­be – in die Ta­sta­tur klap­pert. Und dar­um geht es dem User auch, die Nach­richt selbst er kaum, nur den Reiz der Groß­buch­sta­ben nimmt er auf. Das In­ter­net, die di­gi­ta­le Ver­füg­bar­keit, po­ten­ziert sol­ches Ver­hal­ten, da je­der je­der­zeit ALLES »ver­glei­chen« kann.

Ge­nau das sind die neur­al­gi­schen Punk­te, an de­nen un­ser­eins Ab­stand und Lang­sam­keit ein­for­dern müß­te (Stif­ter- oder Hand­ke-Lek­tü­re kann Be­reit­wil­li­ge ein we­nig da­für schu­len). Ich konn­te mich nach der spät ge­wor­de­nen Lek­tü­re der Obst­die­bin nicht dar­an hin­dern, doch wie­der mal ei­ne Art Kri­tik zu schrei­ben, als Nicht­kri­ti­ker so­zu­sa­gen. Ge­nau ge­nom­men ist es je­doch ein iro­nisch-dia­lek­ti­scher Es­say ge­wor­den, den man in der Li­te­ra­tur­zeit­schrift ma­nu­skrip­te (Heft 224) nach­le­sen kann – ei­ne In­halts­an­ga­be will ich hier nicht lie­fern. Als Ti­tel hat­te ich mir »Im Wech­sel­bad der Ge­füh­le« ein­fal­len las­sen, und ha­be da­mit zwei Be­deu­tungs­ebe­nen ein­ge­zo­gen: die er­ste be­trifft den Text und sei­ne Mach­art, die zwei­te mei­ne Ge­füh­le bei der Lek­tü­re. Zwei Flie­gen auf ei­nen Schlag so­zu­sa­gen.

Der Sittich der spanischen Übersetzerin dieeses Buchs hat hier seine Spuren hinterlassen © Leopold Federmair
Der Sit­tich der spa­ni­schen Über­set­ze­rin die­ses Bu­ches hat hier sei­ne Spu­ren hin­ter­las­sen © Leo­pold Fe­der­mair

Es kommt beim Le­sen nicht sel­ten vor, daß die Ge­füh­le un­si­cher und wech­sel­haft sind; gu­te, ris­kan­te, her­aus­for­dern­de oder neu­ar­ti­ge Li­te­ra­tur ruft sie eher her­vor als ge­fäl­li­ge, die be­strebt ist, den Le­ser zu »packen«. Das Buch, das ich jetzt, wäh­rend ich die­sen Text ab­schrei­be, le­se, Der Riß der Zeit geht durch mein Herz von Her­tha Pau­li, ein Er­in­ne­rungs­buch an den An­schluß Öster­reichs an Deutsch­land, an Ödön von Hor­vath und Jo­seph Roth, an Flucht und Exil in Pa­ris, ist ge­fäl­lig, span­nend, jung­mäd­chen­haft, gut­ge­launt trotz al­ler Schick­sals­schlä­ge. Ich le­se es gern, wiß­be­gie­rig, mit Zu­nei­gung zu den mei­sten Fi­gu­ren, aber ins Schwan­ken bringt es mei­ne Ge­füh­le und Ur­tei­le nicht.1) Li­te­ra­tur­kri­ti­ker ver­schwei­gen sol­che Ge­füh­le in der Re­gel, sie müs­sen zu ei­ner Be­wer­tung kom­men, drei Ster­ne von fünf, oder doch drei­ein­halb… Bei an­de­ren Au­toren ist der Wech­sel der Le­se­ge­füh­le über die lan­ge Rei­he ih­rer Bü­cher ver­teilt, ei­ni­ge da­von ge­fal­len mir, an­de­re nicht. Bei Ha­ru­ki Mu­ra­ka­mi ist die­se Un­si­cher­heit selbst ein Grund, im­mer wie­der et­was von ihm zu le­sen. Kaf­ka am Strand fand ich sehr gut, ein post­mo­der­ner, viel­schich­ti­ger und trotz­dem leicht­le­bi­ger Mix, pu­ber­tä­re Li­te­ra­tur à la Her­mann Hes­se, mag sein (Mu­ra­ka­mis Held ist der Pu­ber­tät ge­ra­de eben ent­wach­sen); Karl-Mar­kus Gauß, ei­ner der tap­fer­sten und aus­dau­ernd­sten Li­te­ra­tur­kri­ti­ker, hat sich in die­sem Sinn ge­äu­ßert, aber ich ha­be mich bei der Lek­tü­re gut un­ter­hal­ten und Zu­nei­gung zu ein­zel­nen Fi­gu­ren ge­faßt.2 Gut mög­lich, daß Mu­ra­ka­mi sei­ne Fi­gu­ren, auch die Bö­se­wich­te, zu sehr liebt, daß er sie ver­hät­schelt und manch­mal ver­dirbt: ty­pi­scher Fall von amay­a­ka­su, von ka­wai­ga­ru – bei­de Wör­ter ver­wei­sen auf ja­pa­ni­sche Stär­ken, die sich un­merk­lich in Übel ver­wan­delt ha­ben: ka­waii und amae, die klei­nen hüb­schen Din­ge und das Lieb-und-an­ge­paßt-Sein. Die Lek­tü­re von Kaf­ka am Strand hat mir durch­aus Mo­men­te der Er­kennt­nis ge­währt, in de­nen Zu­sam­men­hän­ge auf­ge­gan­gen sind, ja, so­gar et­was wie Er­leuch­tung ahn­bar ge­wor­den ist.

Wei­ter­le­sen ...


  1. Von Anfang an hörte ich aus diesem Buch einen bestimmten Ton, der sich bis zum Ende durchzieht: den fast mädchenhaften Ton der guten Laune, der selbstständigen, lebensfrohen jungen. Hertha Pauli hat das Buch im Alter von sechzig Jahren geschrieben, die "Erlebnisse" – sie nennt es tatsächlich "Erlebnisbuch" –, von denen die Rede ist, zeigen sie um 1938/39 im Alter von 31, 33 Jahren, da ist sie wirklich frei und ungebunden, doch als Halbjüdin und österreichische Patriotin auch bedroht, ohne Zukunftsaussichten. Der Widerspruch – Elend und Gefälligkeit – ist in diesem Fall nicht wirklich produktiv, die Erzählung zu linear und einsinnig, um mehr entstehen zu lassen als einen Bericht, den man gern verschlingt, weil man natürlich wissen will, wie die Geschichte einer Flucht ausgeht, und zweitens, weil die Frau so viele interessante Bekannte hatte, die meisten von ihnen Schriftsteller. Hier ein Beispiel für den unbekümmerten Ton. Pauli beschreibt eine Kellnerin in einem Dorf in Südwestfrankreich: "Da ihre Oberlippe zu kurz war, um über die vorstehenden Zähne zu reichen, blieb ihr Mund stets wie fragend offen. Auch Sanftmut und Wehrlosigkeit hatte sie mit einem Kaninchen gemein. So war Paulette die allgemeine Jagdbeute des Ortes, und als sie schließlich ein Kind gebar, war wohl der ganze Burschenstammtisch der Papa." In Zeiten von Me too kaum vorstellbar, daß eine emanzipierte Frau und Anftifaschistin so naiv und spaßhaft über die sexuellen Umtriebe einer Dorfjugend und so "lookistisch" über eine hart arbeitende junge Kellnerin schreibt. Da könnten glatt Rufe nach Zensur und Ächtung laut werden… Lest dieses Buch, das in der Reihe "Die Frau in der Literatur" – 1990, lang ist's her – neu aufgelegt wurde, bloß nicht! Aber nein, Frauensolidarität geht vor, lest es oder kauft es zumindest. Dank Google – danke! – erfahre ich, daß erst vor kurzem ein Roman von Hertha Pauli über ein Mädchen, welches das KZ überlebt hat, erschienen ist, und zwar in einem sogenannten Frauenverlag. Die Geschichte erinnert ein wenig an die von Ariel Magnus' Großmutter. (Inzwischen habe ich sie zu lesen begonnen. Der Riß der Zeit lohnt die Lektüre unbedingt; Jugend nachher, Paulis Nachkriegsroman über die Schicksale eines Mädchens, das das KZ überlebt hat, eher nicht. Der Titel verweist ungeschickt auf Jugend ohne Gott von Ödön von Horvath, den die Autorin in jungen Jahren heiß geliebt hatte. Einiges über diese alles in allem unglückliche Liebe kann man in Der Riß der Zeit erfahren. 

  2. Daß Hesse von den Snobs mit größter Hartnäckigkeit niedergemacht wird, ist eine andere Geschichte. Meine Tochter liest gerade Unterm Rad, das allein ist für mich ein Grund, meinen sicherlich verschmutzten Wertungsfilter wieder einmal zu reinigen. Ich erinnere mich an eine sehr ferne Lektüre von Narziß und Goldmund. Auch dieses Buch hat in meinem Tiefengedächtnis Spuren hinterlassen und erinnert mich immer – besser: für immer – an den unauflösbaren Konflikt mit meinem Bruder. "Erinnert mich", heißt in diesem Fall: beeinflußt meine Art, mit diesem Konflikt umzugehen. Überhaupt kriege ich Lust, das Pubertäre, Unreife in Schutz zu nehmen – und denke auch gleich an einen Vorläufer, Witold Gombrowicz, den Verfechter der Unreife. 

Pe­ter Hand­kes An­ti­fa­schis­mus

Im Ju­li 1989 schrieb Pe­ter Hand­ke ei­ne »Epo­pöe«, ei­ne ganz kur­ze Er­zäh­lung, die am Bahn­hof Per­rache in Ly­on spielt. So wie Hand­ke es ge­braucht, be­deu­tet das ur­sprüng­lich grie­chi­sche Wort »klei­nes Epos« (ob­wohl dies nicht den Aus­künf­ten der Wör­ter­bü­cher ent­spricht). Wir be­geg­nen hier dem Er­zäh­ler in ei­nem Ho­tel­zim­mer und er­fah­ren, was er beim Blick aus dem Fen­ster sieht: ein gro­ßes Gleis­feld, die blas­se Mond­schei­be, Schwal­ben, ei­nen Wohn­block, zu­letzt ei­nen blau­en Fal­ter. We­ni­ge Men­schen, al­le­samt Ei­sen­bah­ner mit Ak­ten­ta­sche auf dem Heim­weg. Nach ei­ner Wei­le fällt dem Er­zäh­ler ein, daß es das Ho­tel Ter­mi­nus ist, in dem er sich ein­ge­mie­tet hat, und er er­in­nert sich, daß Klaus Bar­bie sei­ner­zeit hier sein Un­we­sen ge­trie­ben hat­te. Es war noch nicht so lan­ge her, daß in Ly­on ein Pro­zeß ge­gen den deut­schen Fol­ter­herrn statt­ge­fun­den hat­te, bei dem er we­gen Ver­bre­chen ge­gen die Mensch­lich­keit an­ge­klagt war. Hand­ke hat­te die Un­ta­ten, über die 1987 viel be­rich­tet wor­den war, zwei­fel­los noch frisch im Sinn.

Pe­ter Hand­ke, in Grif­fen ge­bo­ren, Sohn ei­nes deut­schen Wehr­machts­sol­da­ten, ver­brach­te als Klein­kind ei­ni­ge Zeit in Ber­lin und er­leb­te Bom­ben­an­grif­fe auf die Stadt so­wie die Trüm­mer­land­schaft nach dem Krieg. Ei­gent­lich hat­te er so­gar zwei deut­sche Vä­ter; über den Zieh­va­ter, mit dem er in Kärn­ten auf­wuchs, kann man in Wunsch­lo­ses Un­glück ei­ni­ges nach­le­sen (das nicht voll­stän­dig der bio­gra­phi­schen Wirk­lich­keit ent­spricht, wie Mal­te Her­wig in sei­ner Hand­ke-Bio­gra­phie zei­gen konn­te). In sei­ner Ju­gend stell­te sich Hand­ke ge­gen die­sen Va­ter, er war ihm schon früh gei­stig über­le­gen und ver­ach­te­te ihn. Die spä­te­re Be­geg­nung mit dem er­sten, dem leib­li­chen Va­ter, im Ver­such über die Juke­box ge­schil­dert, ver­lief an­ge­spannt, die bei­den konn­ten nichts mit­ein­an­der an­fan­gen. Als Pe­ter dann be­rühmt wur­de – »weltbe­rühmt«, wie er es vor­hat­te, wur­de er et­was spä­ter –, ging er aus Öster­reich nach Deutsch­land, doch schon da­mals lieb­äu­gel­te er mit Pa­ris als Wohn­ort. Erst nach sei­ner sprach­ex­pe­ri­men­tel­len und pop­li­te­ra­ri­schen Pha­se be­gann Hand­ke, sich mit sei­ner slo­we­ni­schen Fa­mi­li­en­ge­schich­te aus­ein­an­der­set­zen. Die­se Wen­dung oder Rück­wen­dung zum Slo­we­ni­schen ist nicht zu­letzt be­dingt durch sein schwie­ri­ges und küh­les Ver­hält­nis, das er zu Deutsch­land hat­te, auch und be­son­ders zur na­hen deut­schen Ver­gan­gen­heit, zum so­ge­nann­ten Drit­ten Reich. Die pro­non­cier­te Ab­leh­nung des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus und die ih­rer­seits iden­ti­täts­bil­den­de Fra­ge nach der Ver­ant­wor­tung der Vä­ter für die Ver­bre­chen teil­te Hand­ke frei­lich mit den mei­sten jun­gen Leu­ten sei­ner Ge­ne­ra­ti­on, sie spielt bei vie­len deut­schen und öster­rei­chi­schen Schrift­stel­lern ei­ne wich­ti­ge Rol­le; bei Hand­ke je­doch auf ei­ne ei­gen­tüm­li­che Wei­se, we­ni­ger in po­li­ti­schen State­ments als in ei­ner tief­grei­fen­den li­te­ra­ri­schen Re­ak­ti­on auf die krie­ge­ri­sche Ge­schich­te des 20. Jahr­hun­derts.

Als Hand­ke im Zug sei­ner Wen­de zum Klas­si­schen, zu Goe­the, Cé­zan­ne und Stif­ter, zur ge­las­se­nen Er­for­schung der For­men und schließ­lich zu dem fand, was Scho­pen­hau­er als »rei­ne An­schau­ung« be­zeich­ne­te, stell­te das »Neun­te Land« aus dem slo­we­ni­schen Mär­chen für ihn ei­ne kon­kre­te Uto­pie dar, und es zog ihn wie selbst­ver­ständ­lich nach Sü­den, über die Gren­ze, nach Slo­we­ni­en, das zu Ju­go­sla­wi­en ge­hör­te, ein po­li­ti­sches Ge­bil­de, für das Hand­kes Groß­va­ter bei der Kärnt­ner Ab­stim­mung 1920 op­tiert hat­te. Noch in dem In­ter­view, das Ul­rich Grei­ner un­längst für die ZEIT ge­führt hat, be­tont Hand­ke die­se slo­we­ni­sche Her­kunft: »Ich bin Ju­go­sla­we von mei­ner Mut­ter her und vom Bru­der mei­ner Mut­ter, der in Ma­ri­bor stu­diert hat­te«, und er er­in­nert an die Hal­tung des Groß­va­ters nach dem er­sten Welt­krieg, als das Kö­nig­reich Ju­go­sla­wi­en ge­grün­det wor­den war. Der Weg des jun­gen Filip Ko­bal im Ro­man Die Wie­der­ho­lung (1986), der ihn auf den Spu­ren sei­nes äl­te­ren Bru­ders (der On­kel in Hand­kes Bio­gra­phie) in den slo­we­ni­schen Karst und nach Ma­ri­bor führt, hat in­so­fern sinn­bild­li­che, sinn­stif­ten­de Be­deu­tung. Die ju­go­sla­wi­sche Tra­di­ti­on in der Fa­mi­lie Hand­ke bzw. Si­utz bzw. Sivec reicht al­so weit zu­rück, bis zu den An­fän­gen des in­zwi­schen ver­flos­se­nen Staa­ten­bun­des. Beim jun­gen Schrift­stel­ler Hand­ke ver­bin­det sie sich dann mit ei­ner en­er­gi­schen Kri­tik am Deutsch­tum der er­sten Jahr­hun­dert­hälf­te. Die Deut­schen hat­ten Ju­go­sla­wi­en er­obert, aus Sa­lo­ni­ki hat­ten sie quer durch den Bal­kan Ju­den nach Ausch­witz trans­por­tiert; Hand­kes Be­kennt­nis zu Ju­go­sla­wi­en, das in spä­te­ren Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit Tei­len des deut­schen und fran­zö­si­schen Jour­na­lis­mus in ei­nem Kampf wie von Da­vid ge­gen Go­li­ath auf ei­ne kaum zu mei­stern­de Pro­be ge­stellt wur­de, die­ses Be­kennt­nis ist zu­gleich Aus­druck sei­nes An­ti­fa­schis­mus. Als er 2006 zum Be­gräb­nis von Slo­bo­dan Mi­lo­se­vic ging und dort ei­ne kur­ze, zu­rück­hal­ten­de, de­zi­diert »schwa­che« Re­de hielt, war das für ihn we­ni­ger das Be­gräb­nis ei­ner Per­son als das ei­ner Ära, ei­ner Idee, ei­nes nun­mehr ver­flos­se­nen Ide­als. Aus­ge­hend von der Kriegs­er­fah­rung, die die Ab­leh­nung je­des Mi­li­ta­ris­mus und be­son­ders der Deut­schen Wehr­macht be­wirkt hat­te, die sei­nen idea­li­sier­ten, im Feld ge­fal­le­nen On­kel Gre­gor in den Krieg gewun­gen hat­te, ent­wickel­te er im Zug sei­ner klas­si­schen Wen­de das Kon­zept ei­ner Frie­dens­epik, die, auch wenn sich die Fi­gu­ren, oft­mals Rei­sen­de, weit von der deut­schen Ge­schich­te ent­fer­nen, an­ti­fa­schi­stisch grun­diert bleibt und so et­was wie ei­nen äs­the­ti­schen »Bal­kan« – mit al­len Am­bi­va­len­zen, die die­sem Wort durch die Ge­schich­te sei­nes Ge­brauchs an­haf­ten – zu er­rich­ten trach­te­te.

Wei­ter­le­sen ...