Ar­beit am Le­bens­ro­man

Ei­ni­ge Be­mer­kun­gen über Paul Ni­zon

Nein, er sei kein Er­zäh­ler. So Paul Ni­zon, un­ter an­de­rem im Au­gust die­ses Jah­res, im Ge­spräch mit Pe­ter Ste­phan Jungk. Als Ver­fas­ser von »Ak­ti­ons­pro­sa« möch­te sich der mitt­ler­wei­le 92jährige Ni­zon se­hen. Man nennt ihn Sprach­künst­ler oder Sprach­ma­gi­er. Und das ist er ja auch. Aber eben nicht nur.

So as­so­zia­tiv-spie­le­risch, bis­wei­len her­me­tisch die Ro­ma­ne an­mu­ten – in sei­nen Jour­na­len ist das an­ders. Seit 1993 er­schei­nen sie, zu­nächst mit Auf­zeich­nun­gen aus den Jah­ren 1980–89. 2002 folg­te der Jour­nal­band der Jah­re 1961–72. Zwei Jah­re spä­ter dann die Auf­zeich­nun­gen von 1973–79. 2008 wer­den die Jah­re 1990–99 be­han­delt, be­vor 2012 der Band Ur­kun­den­fäl­schung mit den No­ta­ten von 2000–2010 er­scheint. Die Ein­tra­gun­gen sind nie apho­ri­stisch, son­dern kon­zi­piert wie klei­ne Feuil­le­tons oder Er­zäh­lun­gen. Aus­lö­ser sind An­läs­se wie Le­sun­gen, Rei­sen oder Be­su­che. Aber auch Nach­be­trach­tun­gen von Lek­tü­ren, Aus­stel­lun­gen (Ni­zon, der ehe­ma­li­ge Kunst­kri­ti­ker, bleibt hier hell­wach), Spiel­fil­men (Ki­no-Be­su­che wer­den sel­te­ner; er schätzt Fer­ra­ra und Felli­ni) und in jüng­ster Zeit vor al­lem (Fernseh-)Dokumentationen. Den Kern bil­den je­doch Re­fle­xio­nen und As­so­zia­tio­nen aus sei­nem (Schriftsteller-)Leben, ins­be­son­de­re der Kind­heit und der (län­ge­ren) In­itia­ti­on zum Schrift­stel­ler und ak­tu­el­le Schreib­vor­ha­ben.

Ni­zon hat­te frü­her sei­ne Tex­te zu­nächst auf Band ge­spro­chen. In­zwi­schen tippt er sie so­fort in ei­ne Schreib­ma­schi­ne, was bis­wei­len zu Pro­ble­men führt, da sei­ne Ap­pa­ra­te oft de­fekt sind. Er sucht stän­dig nach neu­en al­ten Ma­schi­nen, ist dann ir­gend­wann glück­lich, ei­ne Oli­vet­ti Let­te­ra 32 zu be­kom­men. Er braucht den »Krach« der Schreib­ma­schi­nen­an­schlä­ge; mit dem ver­gleichs­wei­se lei­sen Com­pu­ter kommt er nicht zu­recht. Ihm ist be­wusst, dass der Ge­brauch der Schreib­ma­schi­ne von ei­ni­gen Au­gu­ren als Sym­ptom sei­ner Pro­sa ge­se­hen wird. Aber Ni­zon hat sich nie um die Ur­tei­le an­de­rer ge­schert.

Paul Nizon: Der Nagel im Kopf

Paul Ni­zon:
Der Na­gel im Kopf

So­eben ist nun sein Jour­nal­band von Auf­zeich­nun­gen zwi­schen 2011 und 2020 mit dem viel­deu­ti­gen Ti­tel Der Na­gel im Kopf er­schie­nen. Viel­deu­tig des­halb, weil es ei­nen Do­ku­men­tar­film über Paul Ni­zon von Chri­stoph Kühn aus dem Jahr 2020 glei­chen Na­mens gibt. Und weil es der Ti­tel ei­nes jah­re­lan­gen Ro­man­pro­jekts von Ni­zon ist, dass nicht rea­li­siert wur­de. Be­reits in Ur­kun­den­fäl­schung, dem Band der 2000er-Jah­re, kann man die An­fän­ge die­ser Idee nach­le­sen, wel­che rasch in Stocken kommt. Par­al­lel zur Na­gel-Idee gibt es das zä­he­re, wie Wend Kä­s­sens im Nach­wort er­läu­tert, seit Jahr­zehn­ten im­mer neu auf­flam­men­de, Ma­ria-Pro­jekt. Ni­zon er­schafft su­chend ste­tig neue Be­trach­tun­gen und Text­frag­men­te, die sich im neu­en Band fort­set­zen. Im­mer­hin ist es 2004 zu­sam­men mit Co­let­te Fell­ous zu ei­nem Ge­mein­schafts­ro­man mit dem Ti­tel Ma­ria Ma­ria ge­kom­men, der bis­her (war­um ei­gent­lich?) nur auf fran­zö­sisch er­schie­nen ist. Im vor­he­ri­gen Jour­nal­band wird die Ge­ne­se die­ses Ro­mans ver­blüf­fend we­nig aus­ge­führt. Ins­ge­samt scheint Ni­zon mit die­sem Buch nicht zu­frie­den zu sein.

Es geht um je­ne Ma­ria, die Ni­zon einst in Rom, in den 1960er Jah­ren auf der Stra­ße, nach ei­nem Ki­no­be­such be­geg­ne­te. Es war der Film Ka­po, ein Ho­lo­caust-Me­lo­dram, was ihn, Ni­zon, be­ein­flusst und ge­hemmt ha­be. Die­se Be­geg­nung lässt ihn nicht los und die­se Ma­ria-Epi­so­den zäh­len zu den schön­sten Stel­len im Band. Im­mer wie­der wer­den die­se we­ni­gen Ta­ge be­schwo­ren (oder war es nur ei­ner?), und es kommt zu zahl­rei­chen As­so­zia­tio­nen. Da­bei geht es nicht um die Auf­fül­lung feh­len­der Er­in­ne­rung. Viel­mehr lie­gen die­se Dif­fe­ren­zen in Ni­zons Ver­ständ­nis von au­to­fik­tio­na­lem Schrei­ben, wel­ches er be­reits prak­ti­zier­te, als es noch nicht gän­gig war. Im Ge­gen­satz zum au­to­bio­gra­phi­schen Schrei­ben gibt es in der Au­to­fik­ti­on Aus­schmückung, Zu­spit­zung, Weg­las­sen. Ein­mal spricht Ni­zon von der Mög­lich­keit (und Not­wen­dig­keit), sich »das ei­ge­ne Le­ben zurecht[zu]lügen«, Er­in­ne­rungs­lücken aus­zu­fül­len, Va­ria­tio­nen zu ent­wickeln oder auch die Ge­schich­te sel­ber, die Er­eig­nis­se, zu leug­nen, als blo­ße Epi­so­de ab­zu­tun – um sich ihr dann wie­der neu zu wid­men und sie plötz­lich als zen­tra­len Le­bens­ab­schnitt zu se­hen. Das ei­ge­ne Le­ben, das ei­ge­ne Er­le­ben ist nur Aus­gangs­punkt für ei­ne »Sel­ber­dich­tung« (Wend Kä­s­sens), in der dann das Fik­tio­na­le das Au­to­bio­gra­phi­sche so­zu­sa­gen ver­wan­delt zu et­was Neu­em. Es wä­re grund­falsch, Ni­zons Er­zäh­lun­gen au­to­bio­gra­phisch zu deu­ten.

Paul Nizon: Urkundenfälschung

Paul Ni­zon:
Ur­kun­den­fäl­schung

So ist Ma­ria, 20 jäh­rig, mit vier­jäh­ri­gem Kind (oder auch nicht), die in ei­ner Bar be­dient (wirk­lich?), mal Ge­lieb­te, mal »Im­ma­cu­la­ta«. Viel­leicht auch Mu­se. Mal wa­ren es rausch­haf­te Mo­men­te, dann wie­der­um nur ein schüch­ter­nes Abend­essen und es sei es nicht zum Äu­ßer­sten ge­kom­men – ei­ne Va­ri­an­te, die Ni­zon schein­bar fa­vo­ri­siert: er, der Frau­en­schwarm, schwärmt von der As­ke­se mit der Lie­be des Le­bens (da­mals war er be­reits ver­hei­ra­tet und hat­te Kin­der). Und dann lässt sich all dies doch nicht »li­te­r­a­ri­sie­ren«, we­nig­stens nicht so, wie es der Au­tor wünscht und die Epi­so­den bre­chen ab – um dann wie­der, ein paar Wo­chen oder Mo­na­te spä­ter, von Neu­em zu be­gin­nen.

Paul Nizon: Canto

Paul Ni­zon: Can­to

Ni­zon haf­tet prak­tisch von Be­ginn an das Eti­kett des »Ero­to­ma­nen« an. In Can­to (1963), je­ner Mi­schung aus rausch­voll-sur­rea­lem Rom-Ge­bet, in dem ein Ich-Er­zäh­ler mit der Stadt und der Welt ver­schmel­zen möch­te (»ich will auf die Welt«), bei­ßen­der Sti­pen­dia­ten-Sa­ti­re und Va­ter­be­schwö­rung, be­kennt der Ich-Er­zäh­ler ein »Hu­ren­hirt« zu sein, mit ei­nem »Hang zur Un­ter­welt der Hu­ren« (in Ur­kun­den­fäl­schung weist er al­ler­dings auf die oft schwie­ri­gen Le­bens­um­stän­de von Pro­sti­tu­ier­ten hin). In sei­nen drei Ehen war er, wie er sel­ber ein biss­chen ko­kett an­gibt, nicht im­mer treu. Er hei­ra­tet zum er­sten Mal 1953, mit 24 Jah­ren, als Stu­dent der Kunst­ge­schich­te in Mün­chen. 1957 Pro­mo­ti­on über Vin­cent van Gogh (ei­ne Le­bens­be­schäf­ti­gung). Er geht in ein Mu­se­um in Bern, spä­ter zur Neu­en Zür­cher Zei­tung, wo er Kunst­kri­ti­ken zu Aus­stel­lun­gen schreibt und die Schwei­zer Kunst­sze­ne ken­nen­lernt. Er be­schließt An­fang der 1960er Jah­re Schrift­stel­ler zu wer­den; Max Frisch för­dert ihn an­fangs, bringt ihn mit Sieg­fried Un­seld in Kon­takt, der von Can­to be­gei­stert ist.

Mit sei­ner er­sten Frau Bri­git­te, ei­ner Deut­schen, de­ren Va­ter noch die Kai­ser­zeit mit­be­kom­men hat­te (Ni­zon fürch­te­te sich fast vor ihm), hat er drei Kin­der (Va­len­tin 1954, Va­lé­rie 1956, Bo­ris 1963). 1966 Schei­dung. Ni­zon zieht durch Eu­ro­pa, Lon­don, Pa­ris, Ita­li­en. In den 1970ern hei­ra­tet er die Ma­le­rin Ma­ri­an­ne Wyd­ler. Die Ehe hält nur kurz. Schließ­lich 1980 die Hei­rat mit Odi­le Ro­quet (sie ist 26 Jah­re jün­ger als er). 1990 kommt Igor zur Welt. Schei­dung von Odi­le 2003; aber die bei­den blei­ben ver­bun­den.

Die­se per­sön­li­chen Da­ten sind wich­tig (und im An­mer­kungs­ap­pa­rat gut auf­ge­ar­bei­tet), weil Ni­zon im Jour­nal im­mer wie­der auf die­se Per­so­na­li­en re­kur­riert. Zu Odi­le hat er ein gu­tes Ver­hält­nis, ver­däch­tigt sie je­doch, eher aus Mit­leid den Kon­takt mit ihm, dem al­ten Mann am Stock, zu pfle­gen. Be­son­ders an­ge­tan ist er von Igor; die ge­le­gent­li­chen Tref­fen mit ihm (und Odi­le) ge­nießt er. Es trifft ihn, als Bri­git­te, die in »ei­ner Art Ein­sam­keits­ver­wir­rung« in ei­nem Al­ters­heim lebt, 2013 stirbt. Drei Jah­re spä­ter der Tod von Ma­ri­an­ne.

Aber Sen­ti­men­ta­li­tät ist Ni­zon fremd. Er schont we­der sich noch an­de­re, wie auch sei­ne drei Jah­re äl­te­re Schwe­ster Eli­sa­beth Ber­ti-Ni­zon, ei­ne Kon­zert­pia­ni­stin, sei­ne »Ver­bün­de­te der Kind­heit«, schon ein­mal er­fah­ren muss­te, der er »Grö­ßen­wahn« at­te­stier­te. Die Fi­gu­ren­zeich­nun­gen und Re­fle­xio­nen von Freun­den oder ehe­ma­li­gen Weg­ge­fähr­ten wie Erich Wolf­gang Skwa­ra, Eli­as Ca­net­ti (be­son­ders in Ur­kun­den­fäl­schung), Hans Manz, Fré­dé­ric Pa­jak, Ger­hard Hoeh­me oder Lou­is Jent (um nur ei­ni­ge zu nen­nen) sind kur­ze, bril­lan­te, ra­di­kal-ehr­li­che Por­traits. Sei­nen Kin­dern be­geg­net er mit Lie­be, den Ex-Ehe­frau­en mit Gü­te und er zeigt auf­rich­ti­ge Be­wun­de­rung für die bis­wei­len von Stim­mungs­schwan­kun­gen heim­ge­such­te Odi­le, die ein neu­es Le­ben oh­ne ihn be­ginnt.

Spo­ra­disch be­rich­tet Ni­zon von Lek­tü­re­ein­drücken zeit­ge­nös­si­scher Wer­ke, wie Car­rè­res Li­mo­now, Fe­li­ci­tas Hop­pe oder John Ir­ving. Haupt­an­ker­punk­te für ihn blei­ben je­doch Au­toren wie Lou­is-Fer­di­nand Cé­li­ne, Mal­colm Lo­wry und vor al­lem Ro­bert Wal­ser, den er zu­sam­men mit Vin­cent van Gogh als sei­nen »künst­le­ri­schen Pa­ten« sieht. Re­ser­viert da­ge­gen die Ur­tei­le zu Frisch und Dür­ren­matt; mit de­ren »Stil­ge­ha­be« kann er we­nig an­fan­gen, mehr schon mit Her­mann Bur­ger.

Die Haupt­fi­gur in sei­nem neue­sten Jour­nal­band ist der Va­ter, ein aus Russ­land in die Schweiz emi­grier­ter Che­mi­ker und Er­fin­der, der kei­nen Er­folg hat­te. Zu­sam­men mit Ni­zons Mut­ter be­trieb man in Bern ei­ne Art Pen­si­on, die das Aus­kom­men ge­ra­de­so si­cher­te. Der Va­ter starb als Paul 12 Jah­re alt war, mit­ten im Krieg, von dem man in der Schweiz al­les mit­be­kam, aber nicht mit­be­kom­men woll­te (hier­über be­kommt sein Schweiz-Bild spä­ter Ris­se). Be­reits Jah­re zu­vor war der Va­ter an das Bett ge­fes­selt und ver­fiel zu­se­hends. Zum er­sten Mal schreibt Ni­zon im neu­en Band über die jü­di­schen Wur­zeln des Va­ters. Al­ler­dings kon­ver­tier­te die­ser noch vor Pauls Ge­burt zum Pro­te­stan­tis­mus, ei­ne Kon­ver­si­on, die in der Fa­mi­lie als Er­leuch­tung er­zählt wur­de wie es über­haupt dort ei­ne Ten­denz zum re­li­giö­sen Sek­tie­rer­tum gab (Pfingst­be­we­gung).

Kurz nach dem Tod des Va­ter star­ben die Groß­mutter müt­ter­li­cher­seits, ei­ne en­ge Be­zugs­per­son des klei­nen Paul, und ei­ne Tan­te. Um­so kost­ba­rer die Er­in­ne­run­gen des Kin­des, die im­mer wie­der be­schwo­ren wer­den. Aber auch hier gibt es Va­ri­an­ten (was vor er un­ter an­de­rem dar­an be­merkt, dass sei­ne Schwe­ster ganz an­de­re Er­in­ne­run­gen hat). Ni­zon re­flek­tiert und be­schwört na­he­zu je­der Nu­an­ce des vä­ter­li­chen Ver­hal­tens. Es wird ge­wo­gen, ge­deu­tet und so­gar kri­ti­siert. Et­wa die »vä­ter­li­che Straf­lo­sig­keit«, das er Paul nie ge­züch­tigt ha­be. Ein­mal ha­be er den be­reits kran­ken Va­ter so­gar pro­vo­ziert – oh­ne Er­geb­nis. Ni­zon sah dies als Be­weis für man­geln­de Lie­be, die er auch Zeit des Le­bens bei sei­ner Mut­ter ver­miss­te. »Va­ter war tot, Groß­mutter ver­stor­ben, die Schwe­ster ei­gen­süch­tig, die Mut­ter? ver­schüch­tert?«, so heißt es in Ur­kun­den­fäl­schung, in der die Mut­ter als lie­bes- und le­bens­un­tüch­tig ge­schil­dert wird.

Ni­zon er­zählt und er­zählt, sucht in der Kind­heit nach Grün­den für al­le mög­li­chen Äng­ste und Le­bens­un­bil­den und man ver­sinkt in die­se bür­ger­li­che, Ber­ner Welt, die­se »ge­fäng­nis­schwe­re« und wuch­ti­ge Alt­stadt, ei­ne Zeit, die sehn­suchts­voll evo­ziert und gleich­zei­tig fast ver­flucht wird. Paul will ihr so rasch wie mög­lich ent­kom­men. Wenn er im Jour­nal von sei­nen Be­su­chen in Bern be­rich­tet, schwingt im­mer ei­ne Mi­schung aus Weh­mut und Ab­nei­gung die­ser Stadt ge­gen­über mit. Und da­mit ei­ne Lust auf die Welt, auf die Groß­städ­te, das Le­ben, auf Rom, Lon­don und Pa­ris, je­ne Stadt, die er 1949 zum er­sten Mal be­sucht und in der er mit kur­zen Un­ter­bre­chun­gen seit 1977 wohnt und zahl­rei­che Ate­liers un­ter­hal­ten hat, weil er Ar­beit und Pri­vat­le­ben tren­nen will.

Auch der frü­he Tod des Va­ters zieht sich durch Ni­zons Werk wie ein ro­ter Fa­den; in Can­to gibt es ei­ne gran­dio­se Ster­be­sze­ne, die das Kind er­lebt und ei­nen »Brief an den Va­ter«. Ni­zon sieht im Va­ter­tod den An­stoß für die spä­te­re Schrift­stel­ler­kar­rie­re. Die In­itia­ti­on be­gann an ei­nem kal­ten Fe­bru­ar­tag 1950, mit ei­ner Zug­fahrt nach Ka­la­bri­en und an­schlie­ßen­dem Auf­ent­halt in Rom – wor­an wie­der die Ma­ria-Mo­ti­vik ins Spiel kommt. Im­mer wie­der wen­det Ni­zon die Er­eig­nis­se, be­harrt auf die Rich­tig­keit der Ent­schei­dung und ha­dert da­mit, dass der Er­folg aus­bleibt, denn im­mer noch gilt er als »Ge­heim­tip«. Un­sel­ds Pro­gno­se, Can­to wer­de ein Welt­erfolg, traf nicht ein. Kurz­fri­stig wur­de Ni­zon da­nach wie­der frei­er Kunst­kri­ti­ker.

Lan­ge ha­der­te er mit der feh­len­den An­er­ken­nung. In­zwi­schen nur noch mit dem (weit­ge­hend) aus­ge­blie­be­nen kom­mer­zi­el­len Er­folg, ob­wohl er aus­drück­lich be­kennt, kei­ne Geld­sor­gen mehr zu ha­ben. Ge­le­gent­lich apo­stro­phiert er sich noch als »Ver­sa­ger«, aber die­se Lar­moy­anz nimmt ab. Lie­ber ko­ket­tiert er da­mit, ein Spät­erkann­ter zu sein, und ver­gleicht sich dar­in mit Gia­co­metti (oder mit sei­nen Göt­tern van Gogh und Ro­bert Wal­ser). Paul Ni­zon ist in­zwi­schen in Frank­reich po­pu­lä­rer als im deutsch­spra­chi­gen Raum, was er auf das En­ga­ge­ment des Ver­lags Ac­tes Sud zu­rück­führt. Je­der Band sei in Frank­reich über­setzt und ver­füg­bar. Er wird zu Ver­an­stal­tun­gen und Le­sun­gen ein­ge­la­den, die, wie er her­vor­hebt, im­mer gut be­sucht sind. Und in­zwi­schen be­kommt er auch Prei­se. Aber den Büch­ner-Preis hat er bis heu­te nicht er­hal­ten. Macht nichts, sagt er sinn­ge­mäß im Ge­spräch mit Pe­ter Ste­phan Jungk, der Öster­rei­chi­sche Na­tio­nal­preis für Eu­ro­päi­sche Li­te­ra­tur von 2010 ist mehr wert. Man sol­le sich an­schau­en, wer ihn al­les be­kom­men ha­be (Recht hat er).

Ni­zon pflegt sei­ne Be­kannt- und Freund­schaf­ten, fühlt sich je­doch in Pa­ris eher als Au­ßen­sei­ter. Ein be­son­de­res Ver­hält­nis hat er zu Pe­ter Hand­ke. Ni­zon be­tont die Un­ter­schied­lich­keit. Er, der »Groß­stadt­narr«, streng in­di­vi­dua­li­stisch, vi­ril, sich sel­ber links ver­or­tend (ein ve­ri­ta­bler Irr­tum sei­ner­seits) und trotz­dem mit Hang zum Hoch­mut al­len Nicht-Künst­lern ge­gen­über. Hand­ke hin­ge­gen eher der Na­tur­schau­er, »fran­zis­ka­nisch« (ein At­tri­but, das Ni­zon 1964 in ei­ner Kri­tik über Jo­an Miró ver­wand­te), ein Su­cher nach Ge­mein­schaft, mit sei­nem »Alex­an­der-der-Gro­ße-Epos«, wäh­rend der, Ni­zon al­len Ge­mein­schaf­ten aus dem Weg ge­he. In Ur­kun­den­fäl­schung ar­bei­tet er die Un­ter­schie­de zwi­schen ihm und Hand­ke her­aus. »Bei mir spielt das Kunst­werk oder der Glau­be an das Kunst­werk als Le­bens­quell und Un­zer­stör­ba­res die Ani­mus­rol­le, bei Hand­ke ist es das Weg­su­chen.« Und wei­ter: »Sei­ne Bü­cher sind Weg­be­schrei­bun­gen auf der Heils­su­che. Mei­ne Sa­che ist das Er­in­nern der Ge­gen­wart und de­ren Auf­er­ste­hung in Sprach­in­seln, die im Licht des Wun­der­ba­ren ste­hen.« Ni­zon ist von Hand­ke fas­zi­niert und ab­ge­sto­ßen zu­gleich.

Wie glück­lich ist er dann al­ler­dings, als 2012 im ZDF (und 3sat) ein Film­chen mit ihm und Hand­ke, ein »Freund­schafts­spiel« von we­ni­gen Mi­nu­ten nur, ge­zeigt wird, in dem sich bei­de ge­gen­sei­tig Re­spekt und An­er­ken­nung be­zeu­gen. Und tat­säch­lich ist Hand­ke voll des Lo­bes für das neue Jour­nal die­ses »gu­ten Schrei­bers«. Er be­wun­dert den Schwei­zer da­für, sich an die Schreib­ma­schi­ne zu set­zen und sich all die­se pri­va­ten No­ta­te ab­zu­rin­gen, wäh­rend er, Hand­ke, in sei­nen No­tiz­bü­chern »An­flü­ge« ha­be, die dann erst spä­ter aus­ge­wer­tet wür­den. Den­noch merkt man bei Ni­zon die Ri­va­li­tät. Als Hand­ke 2019 den No­bel­preis be­kommt, fin­det sich kein No­tat dar­über (wo­bei man ver­mu­ten darf, dass nicht al­le Auf­zeich­nun­gen für das Buch ver­wen­det wur­den).

Über­haupt Ak­tua­li­tä­ten. Sie sind Ni­zons Sa­che nicht. Zwar schafft es der Not­re-Da­me-Brand in die Auf­zeich­nun­gen, aber es gibt kei­ne Ge­währ für die Auf­nah­me ta­ges­ak­tu­el­ler Er­eig­nis­se, wie zum Bei­spiel die An­schlä­ge von Ba­ta­clan 2015, die erst in ei­ner Ein­tra­gung von 2016 ge­streift wer­den. Be­sorgt ist er al­ler­dings über die zu­neh­men­de Es­ka­la­ti­on bei den Gelb­we­sten-Pro­te­sten, wo­bei der die Mo­ti­va­ti­on zwar ver­steht, aber die Kom­pro­miss­lo­sig­keit auf bei­den Sei­ten be­denk­lich fin­det. Mit Macron kann er nichts an­fan­gen; die Ad­jek­ti­ve, die er für ihn fin­det, sind we­nig schmei­chel­haft. Schon für den Vor­gän­ger Sar­ko­zy emp­fand Ni­zon Ver­ach­tung für die Be­lei­di­gun­gen den Ban­lieue-Be­woh­nern ge­gen­über und klag­te er­neut über den la­ten­ten Ras­sis­mus im Pa­ri­ser Bür­ger­mi­lieu (den er be­reits 1984 in ei­nem Es­say be­schrie­ben hat­te).

Paul Nizon: Sehblitz

Paul Ni­zon: Seh­blitz

Das neue Jour­nal­jahr­zehnt ist kür­zer als das zu­vor. Grund da­für ist auch, dass Ni­zon nach Das Fell der Fo­rel­le (2005) kei­nen neu­en Ro­man mehr fer­tig­ge­stellt hat. Es be­gann die Zeit der Kon­so­li­die­rung sei­nes Wer­kes durch Über­ar­bei­tun­gen und Sam­mel­bän­de wie bei­spiels­wei­se ei­ne Aus­wahl sei­ner Kunst­kri­ti­ken von 1955–2016 in Seh­blitz (le­sens­wert vor al­lem hier die Tex­te über Wil­liam Tur­ner und Vin­cent van Gogh), die Ni­zons em­pha­ti­sches Ver­hält­nis zur avant­gar­di­sti­schen Kunst zeigt (und durch­aus im ein oder an­de­ren Fall nicht mehr ak­tu­ell ist, wie man et­wa in sei­nen Aus­füh­run­gen über die ab­strak­te Kunst in den Jour­na­len nach­le­sen kann).

Hin­zu kommt, dass die bei­den li­te­ra­ri­schen Vor­ha­ben stocken, wo­bei man nach der Lek­tü­re auch das Ge­gen­teil an­neh­men kann: Ge­ra­de Der Na­gel im Kopf als Ro­man­pro­jekt ist in die bei­den letz­ten Jour­na­le ein­ge­bet­tet und wird lau­fend fort­ge­schrie­ben, was sich dann am En­de am Ti­tel des Jour­nal­ban­des zeigt. Und auch das Ma­ria-Vor­ha­ben er­schließt sich mehr und mehr als werk- und jour­nal­über­grei­fen­der Bin­nen-Nou­veau-Ro­man. So fü­gen sich die in den Jour­na­len au­to­bio­gra­phisch er­schei­nen­den Evo­ka­tio­nen aus Kind­heit und Ju­gend in der Ver­bin­dung mit Ni­zons au­to­fik­tio­na­lem Le­bens­ent­wür­fen in den Ro­ma­nen zu ei­nem leuch­ten­den Sprach­kunst­werk (wo­bei es dann plötz­lich nicht mehr re­le­vant ist, wer dort er­zählt).

Wenn man sich dar­auf ein­lässt, kann man von Paul Ni­zon nicht mehr las­sen.