Das Gastland der Frankfurter Buchmesse 2023 ist Slowenien. Mit Blick darauf, so lässt es der Verlag wissen, hat man in der Bibliothek Suhrkamp den Roman Die Verweigerung der Wehmut von Florjan Lipuš neu aufgenommen. Der Autor schreibt auf slowenisch, insofern scheint der Anlass stimmig. Aber der 1937 geborene Florjan Lipuš ist Österreicher, einer der profiliertesten Schriftsteller der Minderheit der Kärntner Slowenen.
Egal. Man dankt dem Suhrkamp-Verlag für diese Neuauflage des 1985 erstmals publizierten Romans, weil ein markanter und wichtiger Titel einem langsamen Vergessen in Antiquariaten entrissen und nach vielen Jahren wieder bibliophil präsentabel wurde. Dass die deutsche Übersetzung von Fabjan Hafner aus dem Jahr 1989 dabei unangetastet geblieben ist, muss zusätzlich gerühmt werden. (Wenn, dann ein kleiner Einwand: ob man jene vier oder fünf eigentümliche Begrifflichkeiten nicht in einem kleinen Glossar hätte erklären können.)
Die Handlung ist rasch erzählt: Ein Erzähler, der von sich als »der Reisende« erzählt, kommt zur Beerdigung seines Vaters in sein Heimatdorf zurück. Schon die Fahrt mit dem Zug führt zu Déjà-vus aus der Kindheit, die immer wieder aufblitzen. Er sieht die Arbeiten auf dem Feld, Dengler und Mäher mit ihrer Erntelast und imaginiert die Waldarbeiter mit ihren Pferdefuhrwerken, die die geschlagenen Stämme transportieren und aufpassen müssen, wenn es bergab geht.
1966 sorgte der damals 24jährige österreichische Schriftsteller Peter Handke mit dem Theaterstück Publikumsbeschimpfung für Furore. Wenige Monate zuvor hatte er auf der Tagung der »Gruppe 47« in seiner berühmt gewordenen Einlassung von der »Beschreibungsimpotenz« eine kontroverse Kritik am »Neuen Realismus« der deutsch(sprachig)en Nachkriegsliteratur geübt, welche Sprache nur benutze, »um zu beschreiben, ohne daß aber die Sprache selber etwas rührt«. Handke attackierte in dem Theaterstück mit polemisch-skurrilen Aussagen von vier Schauspielern das gängige, für ihn überkommene, in Konventionen feststeckende Modell des Dramaturgietheaters (und, gegen Ende, auch der Rezeption des sich saturiert dem Konsum hingebenden Publikums). Inmitten der Empörung hatte man übersehen, dass er das Theater nicht zerstören, sondern reanimieren wollte.
Zwei Jahre später, am 11. Mai 1968, fand die Uraufführung von Kaspar an zwei Orten zugleich statt; ein Kompromiss, um die beiden um Handkes Stücke konkurrierenden Regisseure Claus Peymann (Frankfurt) und Günter Büch (Oberhausen) zufrieden zu stellen. Mehr als die Publikumsbeschimpfung entsprach Kaspar Handkes literarischer Sozialisation in der avantgardistischen »Grazer Gruppe« (bekannt auch als »Forum Stadtpark«), in der neue literarische Formen gesucht und die Sprache der zeitgenössischen Literatur radikal befragt wurde.
Trotz der weithin bekannteren Publikumsbeschimpfung dürfte Kaspar jenes Theaterstück Handkes sein, welches bisher am meisten von Kritikern, Literatur- und Theaterwissenschaftlern, Regisseuren und Schauspielern rezensiert, gedeutet, analysiert, inszeniert und gespielt wurde. Es ist daher ein doppeltes Wagnis, wenn die Künstlerin Amina Handke sich in einem Film dieses Stückes mehr als 50 Jahre danach annimmt. Zum einen ist der Autor ihr Vater und die Hauptrolle, die »Kaspera«, wurde besetzt mit ihrer Mutter, der Schauspielerin Libgart Schwarz, die im Film als »Ich« auftritt. Und zum anderen fragt man sich, welche neuen Betrachtungsweisen sich durch den Film ergeben werden. Am Ende, soviel sei verraten, ist man ziemlich überrascht.
Vor einem Jahr veröffentlichte Esther Kinsky den polyphonen Roman Rombo, der von den verheerenden Erdbeben im Mai und September im italienischen Friaul, nahe dem damaligen Jugoslawien und heutigen Slowenien, erzählt. Der Titel erklärt sich durch ein Zitat von 1838, in dem »Rombo« als Bezeichnung für das Geräusch angegeben wird, welches sich kurz vor einem Erdbeben »aus dem rollenden Tone einer aneinander hängenden Reihe von kleinen Explosionen« einstellt. Bemerkenswert an Kinskys Roman ist der Dualismus intermittierender Landschafts- und Naturerzählungen einerseits und den Figurenreden von sieben Protagonisten andererseits (fünf Frauen und zwei Männer), die ihr Schicksal während und nach der Katastrophe und, gegen Ende, auch Kindheitserinnerungen berichteten und ihr Leben überblickten.
Dabei bleibt die Sprache in den zum Teil betörenden Landschaftserzählungen streng bei den Dingen, die sich losgelöst von menschlichen Wahrnehmungen und Kategorien von selber erzählen und dabei einen konzisen geomorphologisch-botanischen Überblick auffächern, der bis hinein in die menschlichen lokale Natur- und Sagenmystik reicht. Zuweilen schimmert eine Schicksalsmetaphorik hervor, etwa wenn vom »Kalksteinboden« als dem »Boden der Armut« die Rede ist. Divergierend dazu die Erinnerungen der Dorfbewohner (deren Schilderungen sich teilweise überschneiden, weil sie alle aus der Region um Venzone stammen), die sich im Laufe des Romans zu familiären Auswanderer‑, Dableiber- und Verrücktwerder-Geschichten ausweiten und die einstigen und zukünftigen Hoffnungen der Protagonisten reflektieren. Nachträglich ist es empfehlenswert, diese zwei Bücher – Natur- und Märchenwelt und Erinnerungen – separat zu lesen.
Maria Lassnig: Am Fenster klebt noch eine Feder
Wenn man über das Leben der österreichisch-kärntnerischen Malerin und Graphikerin Maria Lassnig (1919–2014) liest, kommt einem das Wort der »späten Entdeckung« in den Sinn – und dies in jeder Hinsicht. Erst 1980, mit 61 Jahren, erhielt sie einen Ruf an die Universität und war damit die erste Frau, die an einer deutschsprachigen Hochschule Malerei unterrichtete. Auch ihr Werk fand erst spät größere Anerkennung. In den 1980ern vertrat sie Österreich auf der Biennale, 1982 und 1997 war sie auf der documenta zu sehen, 1985 gab es die erste große Malerei-Retrospektive in Wien. Während der 1990er Jahren nahmen ihre Ausstellungen auch außerhalb des deutschsprachigen Raumes zu (Amsterdam, Paris und, kurz vor ihrem Tod, New York). Geschätzt wurde Lassig vor allem wegen ihrer sogenannten »Körperbewusstseinsbilder«, die sich jeglicher Kategorisierung verweigern.
Dem Verleger Lojze Wieser gelang es nun in Zusammenarbeit mit der Maria Lassnig Stiftung aus den zahlreichen schriftlichen Dokumenten Lassnigs (in der Hauptsache Notizbücher) eine, wie es im kurzen Nachwort heißt, »knappe Textauswahl« mit dem schönen Titel Am Fenster klebt noch eine Feder (ein Zitat aus dem Buch) zu publizieren. Mitherausgeber sind Barbara Maier und Peter Handke.
Letzterer kommt – fast möchte man sagen: natürlich –in den Notaten vor. »Handkevorrat« war zwar von ihr erwünscht, und sie bewunderte, wie er »alles bisher Unbeschriebene« aufstöbert, aber als er das Wort »phantasieren« verwendet, dann glaubte sie ihm nicht – außer »wenn er über den Cézanne spricht«. Lassnig pflegte, wie sie schrieb, eine »unglückliche Liebe« zur Literatur, was sie nicht davon abhielt, eine wunderbare Hommage an Paul Celan zu verfassen und ihre Liebe zu »I. B.« (Ingeborg Bachmann) zu bekunden. Wittgenstein verortete sie in die »Op-Art«.
Klaus Kastberger, der in diesem Jahr 60 Jahre alt wird, bekam unlängst (verdientermaßen) den Österreichische Staatspreis für Literaturkritik zugesprochen. Niemand, der sich mit deutschsprachiger Gegenwartsliteratur beschäftigt, kann auf Dauer dem quecksilbrigen Geist Kastbergers entkommen. Als ordentlicher Professor der Karl-Franzens-Universität in Graz steht er nicht nur am Katheder, sondern kuratiert Lesungen, Diskussionsveranstaltungen und Symposien, moderiert zusammen mit Daniela Strigl eine Literaturshow mit dem zukunftsweisenden Titel Roboter mit Senf, begibt sich in die Niederungen der Literaturkritik, stellt und entfacht literarisch-ästhetische Debatten und sitzt in diversen Jurys. Rechtzeitig zur Leipziger Buchmesse mit ihrem Schwerpunkt Österreich präsentiert der Sonderzahl-Verlag in einem schick designten Buch (die Haptik des Covers!) zehn Aufsätze zur österreichischen Literatur unter dem zünftigen Titel Alle Neune. Das Paradoxon wird rasch aufgelöst. Neun österreichische Autorinnen und Autoren werden werkgenetisch skizziert. Ein weiterer Text widmet sich einer (informellen) Autorengruppierung. Die Auswahl der Schriftsteller orientiert sich an den Forschungsschwerpunkten des Autors in den letzten Jahren. Erschienen sind die Texte zwischen 2009 und 2021 in Büchern, Festschriften oder als Symposiumspublikationen. Für Alle Neune wurden sie noch einmal »gründlich überarbeitet«, was man auch an den Anmerkungen sieht, die als rote Marginalien gesetzt wurden, für die in die Jahre gekommene Leser wie ich zwar eine Lupe benötigen, aber das macht nichts.
Der Band beginnt lebhaft mit dem »letzte[n] Mohikaner des sechsfachen Daktylus«, Anton Wildgans. Dieser sei zu Recht vergessen, so spottet Kastberger und am Ende des Aufsatzes glaubt man ihm. Man lernt, dass Wildgans’ Kunst unter anderem darin bestand, »aus der Plattitüde eine Attitüde zu machen«. Die urteilstützende Referenz auf Karl Kraus, der Wildgans nicht mochte, erscheint hingegen nicht zwingend, denn Kraus mochte à la longue niemanden (und vice versa). Interessanter ist die Beschäftigung mit Richard Billinger, zu dem Kastberger zusammen mit Daniela Strigl 2014 ein Symposium veranstaltete. Zunächst als expressionistischer Lyriker begonnen und sich im Umfeld von Carl Zuckmayers »Henndorfer Kreis«, entschied er sich in den 1930er Jahren zum »Reichsbauerndichter« der Nazis zu werden. Billinger wurde 1932 mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet und schrieb nicht nur dem Blut und Boden-Denken verhaftete, beliebte Stücke sondern auch Drehbücher, wie zum Beispiel für Veit Harlans Die goldene Stadt von 1942.
Kastberger zitiert aus einer »Homestory« des späteren Feuilletonchefs und Chefredakteurs der Wochenzeitung Die Zeit, Josef Müller-Marein, der 1937 neben seinen Texten zum Völkischen Beobachter für ein Medium mit dem Namen Lokal Anzeiger den körperlichen Hünen Richard Billinger besuchte und seine Dichter-Inszenierungen verbreitete. Spätestens mit Zuckmayers Einordnungen im sogenannten Geheimreport, ist deutlich, dass Billinger ein »parfümierter Großstädter« war, »der in seinem Werk den Bauern nur spielte«. Dass Billinger bei den Nazis reüssieren konnte, war eigentlich ungewöhnlich. Denn er war 1935, zwei Jahre vor Müller-Mareins Inauguration, wegen seiner Homosexualität für mehrere Wochen inhaftiert und ins Konzentrationslager Dachau verbracht worden. Einigen Funktionären war er deswegen dauerhaft ein Dorn im Auge, aber seine Popularität schütze ihn und er erhielt in den 1940er Jahren weitere Preise, bevor er dann nach dem Krieg dem Vergessen übergeben wurde.
Zunächst einmal überrascht das Volumen der Arbeit von Marit Heuß’ Werk über die Bildpoetik Peter Handkes. Es sind – exklusive Literatur- und Abbildungsverzeichnung 460 Seiten. Von den 61 durchgängig schwarz-weißen Abbildungen sind 50 aus den Notizbüchern Handkes. Zehn zeigen für Handke essentielle Kunstwerke, unter anderem von Paul Cézanne, Nicolas Poussin und Francisco de Zurbarán. Heuß ...
»Bernard arbeitete in einem Büro im ersten Stock der Firma Barraudat. Bernard Casmin war der Sohn eines Volksschullehrers, der im Départment Somme gearbeitet hatte und dort nun im Ruhestand lebte. Er hatte sieben Brüder, die allesamt recht gut dastanden.« So beginnt André Dhôtels 1952 erstmalig in Frankreich erschienener Roman »Bernard der Faulpelz«. Bernard galt als ...