Fe­lix Au­stria

Klaus Kastberger: Alle Neune

Klaus Kast­ber­ger:
Al­le Neu­ne

Klaus Kast­ber­ger, der in die­sem Jahr 60 Jah­re alt wird, be­kam un­längst (ver­dien­ter­ma­ßen) den Öster­rei­chi­sche Staats­preis für Li­te­ra­tur­kri­tik zu­ge­spro­chen. Nie­mand, der sich mit deutsch­spra­chi­ger Ge­gen­warts­li­te­ra­tur be­schäf­tigt, kann auf Dau­er dem queck­silb­ri­gen Geist Kast­ber­gers ent­kom­men. Als or­dent­li­cher Pro­fes­sor der Karl-Fran­zens-Uni­ver­si­tät in Graz steht er nicht nur am Ka­the­der, son­dern ku­ra­tiert Le­sun­gen, Dis­kus­si­ons­ver­an­stal­tun­gen und Sym­po­si­en, mo­de­riert zu­sam­men mit Da­nie­la Stri­gl ei­ne Li­te­ra­tur­show mit dem zu­kunfts­wei­sen­den Ti­tel Ro­bo­ter mit Senf, be­gibt sich in die Nie­de­run­gen der Li­te­ra­tur­kri­tik, stellt und ent­facht li­te­ra­risch-äs­the­ti­sche De­bat­ten und sitzt in di­ver­sen Ju­rys. Recht­zei­tig zur Leip­zi­ger Buch­mes­se mit ih­rem Schwer­punkt Öster­reich prä­sen­tiert der Son­der­zahl-Ver­lag in ei­nem schick de­sign­ten Buch (die Hap­tik des Co­vers!) zehn Auf­sät­ze zur öster­rei­chi­schen Li­te­ra­tur un­ter dem zünf­ti­gen Ti­tel Al­le Neu­ne. Das Pa­ra­do­xon wird rasch auf­ge­löst. Neun öster­rei­chi­sche Au­torin­nen und Au­toren wer­den werk­ge­ne­tisch skiz­ziert. Ein wei­te­rer Text wid­met sich ei­ner (in­for­mel­len) Au­toren­grup­pie­rung. Die Aus­wahl der Schrift­stel­ler ori­en­tiert sich an den For­schungs­schwer­punk­ten des Au­tors in den letz­ten Jah­ren. Er­schie­nen sind die Tex­te zwi­schen 2009 und 2021 in Bü­chern, Fest­schrif­ten oder als Sym­po­si­ums­pu­bli­ka­tio­nen. Für Al­le Neu­ne wur­den sie noch ein­mal »gründ­lich über­ar­bei­tet«, was man auch an den An­mer­kun­gen sieht, die als ro­te Mar­gi­na­li­en ge­setzt wur­den, für die in die Jah­re ge­kom­me­ne Le­ser wie ich zwar ei­ne Lu­pe be­nö­ti­gen, aber das macht nichts.

Der Band be­ginnt leb­haft mit dem »letzte[n] Mo­hi­ka­ner des sechs­fa­chen Dak­ty­lus«, An­ton Wild­gans. Die­ser sei zu Recht ver­ges­sen, so spot­tet Kast­ber­ger und am En­de des Auf­sat­zes glaubt man ihm. Man lernt, dass Wild­gans’ Kunst un­ter an­de­rem dar­in be­stand, »aus der Plat­ti­tü­de ei­ne At­ti­tü­de zu ma­chen«. Die ur­teil­stüt­zen­de Re­fe­renz auf Karl Kraus, der Wild­gans nicht moch­te, er­scheint hin­ge­gen nicht zwin­gend, denn Kraus moch­te à la longue nie­man­den (und vice ver­sa). In­ter­es­san­ter ist die Be­schäf­ti­gung mit Ri­chard Bil­lin­ger, zu dem Kast­ber­ger zu­sam­men mit Da­nie­la Stri­gl 2014 ein Sym­po­si­um ver­an­stal­te­te. Zu­nächst als ex­pres­sio­ni­sti­scher Ly­ri­ker be­gon­nen und sich im Um­feld von Carl Zuck­may­ers »Henn­dor­fer Kreis«, ent­schied er sich in den 1930er Jah­ren zum »Reichs­bau­ern­dich­ter« der Na­zis zu wer­den. Bil­lin­ger wur­de 1932 mit dem Kleist-Preis aus­ge­zeich­net und schrieb nicht nur dem Blut und Bo­den-Den­ken ver­haf­te­te, be­lieb­te Stücke son­dern auch Dreh­bü­cher, wie zum Bei­spiel für Veit Harlans Die gol­de­ne Stadt von 1942.

Kast­ber­ger zi­tiert aus ei­ner »Ho­me­sto­ry« des spä­te­ren Feuil­le­ton­chefs und Chef­re­dak­teurs der Wo­chen­zei­tung Die Zeit, Jo­sef Mül­ler-Marein, der 1937 ne­ben sei­nen Tex­ten zum Völ­ki­schen Be­ob­ach­ter für ein Me­di­um mit dem Na­men Lo­kal An­zei­ger den kör­per­li­chen Hü­nen Ri­chard Bil­lin­ger be­such­te und sei­ne Dich­ter-In­sze­nie­run­gen ver­brei­te­te. Spä­te­stens mit Zuck­may­ers Ein­ord­nun­gen im so­ge­nann­ten Ge­heim­re­port, ist deut­lich, dass Bil­lin­ger ein »par­fü­mier­ter Groß­städ­ter« war, »der in sei­nem Werk den Bau­ern nur spiel­te«. Dass Bil­lin­ger bei den Na­zis re­üs­sie­ren konn­te, war ei­gent­lich un­ge­wöhn­lich. Denn er war 1935, zwei Jah­re vor Mül­ler-Mareins In­au­gu­ra­ti­on, we­gen sei­ner Ho­mo­se­xua­li­tät für meh­re­re Wo­chen in­haf­tiert und ins Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Dach­au ver­bracht wor­den. Ei­ni­gen Funk­tio­nä­ren war er des­we­gen dau­er­haft ein Dorn im Au­ge, aber sei­ne Po­pu­la­ri­tät schüt­ze ihn und er er­hielt in den 1940er Jah­ren wei­te­re Prei­se, be­vor er dann nach dem Krieg dem Ver­ges­sen über­ge­ben wur­de.

Na­tür­lich kommt auch Ödön von Hor­váth vor. Schließ­lich ist Klaus Kast­ber­ger fe­der­füh­rend in der Her­aus­ge­ber­schaft der hi­sto­risch-kri­ti­schen Wie­ner Aus­ga­be von Hor­váths Ge­samt­werk. Hor­váths Stücke, von de­nen heut­zu­ta­ge Ka­si­mir und Ka­ro­li­ne und Ge­schich­ten aus dem Wie­ner Wald die be­kann­te­sten sind, wa­ren seit 1933 in Deutsch­land ver­bo­ten bzw. un­er­wünscht und schon vor­her aus rechts­ra­di­ka­len Krei­sen kri­ti­siert wor­den. Hor­váth ge­riet durch die Auf­füh­rungs­ver­bo­te in ei­ne exi­sten­ti­el­le (wirt­schaft­li­che) und mo­ra­li­sche Kri­se. Da­her ver­such­te er, sich den Na­zis an­zu­die­nen, zog bei­spiels­wei­se sei­ne Un­ter­schrift un­ter ei­ner Pro­test­no­te zu­rück und er­such­te so­gar um Mit­glied­schaft in der Reichs­kul­tur­kam­mer, um am »Wie­der­auf­bau Deutsch­lands mit­zu­ar­bei­ten« (1934). Sei­ne Be­mü­hun­gen blie­ben al­ler­dings ver­ge­bens. 1935 stell­te er die Zah­lun­gen an die Reichs­schrift­tums­kam­mer ein. Spä­ter wird er sei­ne Tex­te, die er seit 1932 un­ter »’neupreussische[m] Ein­fluss’ « (Selbst­be­schrei­bung) ge­schrie­ben hat­te, ver­wer­fen. Statt­des­sen ent­ste­hen Plä­ne für das »Dra­ma-Groß­pro­jekt«, der Ko­mö­die des Men­schen (kann­te er Bal­zac nicht?), dem Ver­such der »Dar­stel­lung der ge­sam­ten Mensch­heits­ent­wick­lung« und in ra­scher Fol­ge die Ro­ma­ne Ju­gend oh­ne Gott und Ein Kind un­se­rer Zeit (letz­te­rer er­schien erst nach dem Tod des Dich­ters 1938).

Für Al­le Neu­ne kon­zen­triert sich Kast­ber­ger auf die Ent­ste­hungs- und Re­zep­ti­ons­ge­schich­te zu Ju­gend oh­ne Gott. Der Ro­man muss im Som­mer 1937 ent­stan­den sein, er­schien am 26.11.1937 und fand so­fort ein weit­ge­hend po­si­ti­ves Echo (er­wähnt wird nur ei­ne eher zu­rück­hal­ten­de Re­zen­si­on, die den Ro­man als »zu sche­ma­tisch« emp­fand). Die Na­zis re­agier­ten schnell und ver­bo­ten das Buch am 07.03.1938. In­ter­pre­tiert wird der Ro­man als Hor­váths »Weg ins Exil«; ei­ne po­li­ti­sche Läu­te­rung und Neu­ori­en­tie­rung des Au­tors. Hor­váth hat­te sei­nen Weg ge­fun­den. Auf­ge­zeigt wer­den noch die di­dak­ti­schen und päd­ago­gi­schen Mög­lich­kei­ten des Ro­mans, die ihn seit dem Hor­váth-Re­vi­val in den 1970er-Jah­ren heu­te noch zur ka­no­ni­sier­ten Schul­lek­tü­re ma­chen.

Drei Tex­te im Band wid­met Kast­ber­ger Prot­ago­ni­sten der Wie­ner Grup­pe, je­ner in­for­mel­len For­ma­ti­on, die in den 1950er und 60er Jah­ren die li­te­ra­ri­sche Avant­gar­de und, wie an­ge­merkt wird, zu­gleich auch Neo-Avant­gar­de weit über Öster­reich hin­aus bil­de­te und zwi­schen Sur­rea­lis­mus und Da­da­is­mus chan­gier­te. Ihr ist auch der ein­zi­ge Auf­satz ge­wid­met, der sich nicht de­zi­diert mit ei­ner Per­son be­schäf­tigt, son­dern mit den »Ac­ten« (heu­te wür­de man Per­for­man­ces sa­gen) und »Ak­ten« der Prot­ago­ni­sten. Der Auf­satz be­ginnt mit der The­se, dass wir uns am En­de der Pa­pier­epo­che be­fin­den (dem möch­te man ger­ne wi­der­spre­chen) und ana­ly­siert am Bei­spiel des Ar­chivs von Ger­hard Rühm, ei­nem der wich­tig­sten Prot­ago­ni­sten der Wie­ner Grup­pe, wel­che Wir­kungs­macht ein Pa­pier- bzw. Ana­log­ar­chiv über den Be­stand der For­ma­ti­on hin­aus be­sitzt, wenn Ak­tio­nen und Ar­chiv der­art os­mo­tisch mit­ein­an­der ver­bun­den sind. Zu­gleich wird der »bü­ro­kra­ti­sche Fu­ror der Selbst­in­sze­nie­rung« der Grup­pe de­cou­vriert. In­ter­es­sant in die­sem Zu­sam­men­hang ist die Be­ob­ach­tung der Ver­la­ge­rung der De­fi­ni­ti­ons­macht bei der Über­ga­be des Ar­chiv­be­stands an In­sti­tu­tio­nen.

Ne­ben den Er­läu­te­run­gen zu den Haupt­dar­stel­lern, die sich sel­ber mit der »Wort­wurst« (Kast­ber­ger) »artach­bay­rühm­wie­ner« zu­sam­men­fass­ten, fin­det sich ein in­struk­ti­ver Auf­satz über El­frie­de Gerstl, die mit ih­ren »klei­nen Tex­ten« lan­ge brauch­te, um vom Rand der männ­lich do­mi­nier­ten Grup­pe zu re­üs­sie­ren. Da­bei setzt sich Kast­ber­ger über die gän­gi­gen De­fi­ni­tio­nen von Deleuze/Guattari über »klei­ne Li­te­ra­tur« non­cha­lant hin­weg und ar­gu­men­tiert, dass Gerstl Tex­te – »wen­dig, trans­por­ta­bel, leicht zi­tier- und er­in­ner­bar« – un­be­dingt in die­ses Gen­re auf­ge­nom­men ge­hö­ren und gleich­zei­tig dann doch wie­der nicht hin­ein­pas­sen. Gerstl-Lek­tü­re scheint be­son­ders stark die Phan­ta­sie zu be­flü­geln. Ne­ben El­frie­de Je­lin­eks Hüh­ner­kno­chen­ver­gleich von 1999 (Gerstls Sät­ze sei­en wie » ‘ab­ge­nag­te Hüh­ner­kno­chen’, die ’spitz in ei­nem Pla­stik­sackerl’ stecken) ent­wickelt Kast­ber­ger noch ei­ne ge­lun­ge­ne Al­le­go­rie zu Kaf­kas Hun­ger­künst­ler-Mo­tiv.

Os­wald Wie­ner zu fas­sen (oder zu er­fas­sen) ist schwie­ri­ger, denn die­ser hat­te ei­ne »sy­ste­ma­ti­sche Ver­ab­schie­dung von der Li­te­ra­tur« ver­sucht, die Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft als »Blöd­sinn« be­zeich­net und sich mit »Bio-Ad­ap­tern« be­fasst, die ei­nen Raum »au­ßer­halb der Spra­che« schaf­fen, dann je­doch wie­der­um nicht-sprach­li­ches ver­ba­li­sie­ren soll­te. In­zwi­schen hat man tat­säch­lich das Ge­fühl, dass sol­che Ge­rät­schaf­ten in leicht ab­ge­wan­del­ter Form be­reits exi­stie­ren. Im­mer­hin wid­me­te sich Wie­ner En­de der 1980er ei­ner »Poe­tik im Zeit­al­ter der na­tur­wis­sen­schaft­li­chen Er­kennt­nis­theo­rie«. Dem­nach wä­re Li­te­ra­tur dann kein Auf­schrei­be- son­dern nur noch ein Ab­schrei­be­sy­stem na­tur­wis­sen­schaft­lich er­ho­be­ner Da­ten (et­was, was bei­spiels­wei­se in End­los-Pan­de­mie-Blogs 2020ff. vor­kam). Kast­ber­ger ver­knüpft dies mit ei­nem Aus­flug zu Flau­berts Bou­vard und Pé­cu­chet und am En­de sitzt Os­wald Wie­ner vir­tu­ell mit dem an­de­ren »Star« der Wie­ner Grup­pe, Kon­rad Bay­er, am Dop­pel­schreib­tisch. (In die­sem Zu­sam­men­hang sei der 2015 von Tho­mas Eder und Klaus Kast­ber­ger her­aus­ge­brach­te Band Tex­te, Bil­der, Sounds zu Kon­rad Bay­er emp­foh­len, in dem Os­wald Wie­ner mit dem klei­nen Text An­fän­ge – ganz schlicht – in die Ver­gan­gen­heit reist).

Auch im Auf­satz über Frie­de­ri­ke May­röcker wid­met sich Kast­ber­ger dem Ar­chiv und stellt zwi­schen­zeit­lich grund­sätz­li­che (hi­sto­ri­sche) Über­le­gun­gen zu Li­te­ra­tur­ar­chi­ven an. Die Bil­der aus May­röckers Woh­nung mit den Tür­men von Pa­pier vor Au­gen, lässt Kast­ber­ger ei­ne »Ar­chiv­krank­heit« der Dich­te­rin dia­gno­sti­zie­ren (und führt viel­leicht ein biss­chen de­spek­tier­lich zur »Messie«-Bezeichnung). Er stellt May­röckers Cha­os (sie be­stritt, dass es ein sol­ches war) die sorg­fäl­ti­gen Nach­lass­pla­nun­gen Goe­thes ge­gen­über, der zehn Jah­re vor sei­nem Tod sei­ne Ar­beits­me­tho­den als Be­am­ter mü­he­los auf die Ord­nung der zu­rück­ge­las­se­nen Do­ku­men­te trans­for­mier­te (wo­bei er frei­lich nicht wuss­te, dass ihm noch zehn Jah­re ge­ge­ben wa­ren).

Die Her­aus­for­de­rung im Um­gang mit Frie­de­ri­ke May­röckers Nach­lass-Ber­gen von schein­bar oder wirk­lich un­ge­ord­ne­ten Pa­pie­ren, die wo­mög­lich fer­ti­ge wie un­fer­ti­ge Ge­dich­te, Er­zäh­lun­gen oder ein­fach nur No­ti­zen sind, liegt dar­in, ihn in ei­ne Form zu brin­gen. Wie lässt sich aus die­sem »Dschun­gel aus Spra­che« die Ent­wick­lung von Tex­ten von der Schöp­fung bis zur fer­ti­gen Pu­bli­ka­ti­on ab­lei­ten bzw. ver­fol­gen? Ge­mein­hin lie­fert ein Nach- oder Vor­lass Ein­blicke in die Werk­statt des Dich­ters. Aber hier wird der Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler fo­ren­si­sche Kennt­nis­se mit­brin­gen müs­sen. Auch hier tritt die »Ver­schie­bung in der Ver­fü­gungs­ge­walt« auf: Der Ar­chi­var und/oder Wis­sen­schaft­ler wird vom In­ter­pre­ten zum Au­tor. Nie­mand wird je er­fah­ren, ob die Er­geb­nis­se der Aus­wer­tun­gen des Nach­las­ses im Sin­ne der Au­torin sind. Kast­ber­ger fin­det hier ver­söhn­li­che Wor­te: »Die Werk­statt be­tritt man nicht, um ein Werk zu su­chen. Statt­des­sen fin­det man in ihr, wie es an­ders hät­te sein kön­nen.«

Ex­em­pla­risch an Die Kin­der der To­ten wird die The­se El­frie­de Je­lin­eks von der »In­fi­zie­rung des Ge­gen­wär­ti­gen durch das Lei­chen­gift der Ver­gan­gen­heit« be­leuch­tet und die Fi­gur der Pro­so­po­pö­ie ent­deckt, in der nach Paul de Man »die Fik­ti­on der Apo­stro­phie­rung ei­ner ab­we­sen­den, ver­stor­be­nen oder stimm­lo­sen En­ti­tät« die »grund­le­gen­de Me­tho­de« der li­te­ra­ri­schen Ar­beit der No­bel­preis­trä­ge­rin kon­ze­diert wird. Je­lin­eks In­sze­nie­rung durch zu­wei­len ex­zes­si­ve li­te­ra­ri­sche Über­nah­men von Film- und Fern­seh­tech­ni­ken, löst bei Kast­ber­ger ein we­nig Un­be­ha­gen aus (so mei­ne In­ter­pre­ta­ti­on).

Zu gro­ßer Form läuft der Gra­zer Uni­ver­si­täts­pro­fes­sor in sei­nem Text über Tho­mas Bern­hard auf, der mit ei­nem mehr­sei­ti­gen Pro­log über Hen­ry Ja­mes Die As­pern-Schrif­ten be­ginnt, je­nem Ro­man, in dem ein Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler um na­he­zu je­den Preis ver­sucht, den Nach­lass ei­nes zu­tiefst ver­ehr­ten Dich­ters bei den bei­den noch le­ben­den Nach­lass­be­sit­ze­rin­nen – ei­ne äl­te­re Frau mit ih­rer Nich­te – zu er­hal­ten. Als er schon al­le Hoff­nung ver­lo­ren hat­te, mach­te die Nich­te ihm das An­ge­bot, die Schrif­ten ge­gen ei­ne Hei­rat aus­zu­hän­di­gen. Als sich der Wis­sen­schaft­ler nicht so­fort ent­schließt und erst spä­ter wie­der­kehrt, be­kennt sie, den ge­sam­ten Be­stand ver­brannt zu ha­ben. Kunst­voll schlägt Kast­ber­ger den Bo­gen von Hen­ry Ja­mes (en pas­sant wird an­ge­deu­tet, dass es Die As­pern-Schrif­ten sind, die der Prot­ago­nist in Frost liest) ist der Bo­gen zu Tho­mas Bern­hard, den er als »den gro­ßen Erb-Ver­nich­ter der öster­rei­chi­schen Li­te­ra­tur« apo­stro­phiert. Ob Un­ge­n­ach, Am­ras, Wat­ten, Kor­rek­tur oder Aus­lö­schung – im­mer kämp­fen Bern­hards Prot­ago­ni­sten mit Erb­ma­s­sen, die zu Erb­la­sten wer­den; meist Pa­pie­re in gro­ßen Ak­ten­bün­deln, die nie­mand mehr durch­schau­en kann und vor de­ren se­riö­ser Sich­tung und Ver­wal­tung sie zu­rück­schrecken, ver­zwei­feln oder schei­tern.

Der dop­pel­bö­di­ge Schluss­satz des Auf­sat­zes ist der Ver­such ei­ner Bi­lanz von Bern­hards Schrei­ben und stützt in­di­rekt Dil­theys my­sti­sche The­se von der Über­tra­gung der »Le­bens­kräf­te« des Au­tors auf das Ar­chiv: »So en­det Tho­mas Bern­hard: in ei­ner Vi­si­on des li­te­ra­ri­schen Er­bes jen­seits der Vor­stel­lung be­schrif­te­ten Pa­piers«. Die List Kast­ber­gers be­steht dar­in, dass 2021, als die­ser Text ent­stand, die Ar­chiv­be­stän­de Bern­hards nicht nur für die Öf­fent­lich­keit son­dern auch für die Wis­sen­schaft ge­sperrt bzw. nicht (mehr) zu­gäng­lich wa­ren. Es wur­de so­gar un­ter­sagt, aus den Do­ku­men­ten zu­vor Ent­deck­tes zu zi­tie­ren. Da­mit ver­schaff­ten die Nach­lass­ver­wal­ter zum ei­nen dem »Re­li­qui­en­kult« des 19. Jahr­hun­derts (der ein Ap­pen­dix des Ge­nie­kults ist) neue Nah­rung, ei­fer­ten an­de­rer­seits je­doch un­ge­wollt der Erb-Über­for­de­rung der Bernhard’schen Prot­ago­ni­sten nach. Es hät­te nur noch ge­fehlt, dass es wie bei Hen­ry Ja­mes zu ei­nem Au­to­da­fé ge­kom­men wä­re. Aber das Le­ben ist an­ders als die Li­te­ra­tur. In Wirk­lich­keit war­te­te man, bis man das Er­be für 2,1 Mil­lio­nen Eu­ro amor­ti­sie­ren konn­te. Ob das mehr als 30 Jah­re nach dem Tod ei­ne Bern­hard-Re­nais­sance zur Fol­ge ha­ben wird?

Ent­ge­gen der Rei­hen­fol­ge im Buch hat­te ich mir den Auf­satz über Pe­ter Hand­kes Thea­ter, den ich aus Die Ar­beit des Zu­schau­ers. Pe­ter Hand­ke und das Thea­ter (her­aus­ge­ge­ben von Klaus Kast­ber­ger und Ka­tha­ri­na Pek­tor) schon kann­te, bis zum Schluss auf­ge­ho­ben. Hier ist es nicht der letz­te, son­dern der er­ste Satz, der so­fort auf­hor­chen lässt: »Pe­ter Hand­kes Li­te­ra­tur setzt Ak­te des Wi­der­stands.« Und er ist grif­fi­ger als Kast­ber­ger 2012 sei­nen Auf­satz be­gin­nen ließ. Da­mals hieß es ein biss­chen stak­sig: »Pe­ter Hand­kes Li­te­ra­tur (und spe­zi­ell auch sein Thea­ter) setzt Ak­te der Wi­der­stän­dig­keit.«

Auch der zu­nächst avant­gar­di­sti­sche Hand­ke ha­be, so Kast­ber­ger, nie­mals »An­ti-Thea­ter« be­trie­ben, son­dern »am Thea­ter den al­ten ka­thar­ti­schen Sinn« er­schaf­fen wol­len. Der Auf­satz skiz­ziert nicht we­ni­ger als das dra­ma­ti­sche Wer­ke Pe­ter Hand­kes von den An­fän­gen zwi­schen Pro­vo­ka­ti­on und Sprach­skep­ti­zis­mus (durch­aus in­spi­riert durch die Ak­ti­vi­tä­ten der Wie­ner Grup­pe, die einst das Pu­bli­kum nicht nur be­schimpf­te, son­dern es gleich er­schoß) bis hin zu Hand­kes »Thea­ter des Wor­tes«, wel­ches durch das »Thea­ter des Bil­des« in den 1980er Jah­ren, be­gin­nend mit Über die Dör­fer ab­ge­löst wur­de (Kast­ber­ger er­gänzt hier, dass Hand­ke fast 40 Jah­re da­nach in sei­ner No­bel­preis­re­de 2019 aus No­vas »Pre­digt« [Hand­ke] aus­führ­lich zi­tiert hat­te), in­ter­pre­tiert das kon­tro­vers bis ab­leh­nend dis­ku­tier­te Stück Die Fahrt im Ein­baum bis zum so ganz an­de­ren Hi­sto­ri­en­dra­ma Im­mer noch Sturm von 2010, dem ein »lan­ger Weg des Le­sens und des Schrei­bens« beim Dich­ter vor­aus­ging.

Das Ein­baum-Stück setzt Kast­ber­ger ex­em­pla­risch für die Ju­go­sla­wi­en-Tex­te Hand­kes: »In ih­nen zeigt sich ei­ne an­de­re Art der Wahr­heits­fin­dung am Werk als in den Da­ten, Fak­ten, Be­rich­ten. Bil­dern und Zeu­gen­aus­sa­gen, die die an­de­re Sei­te für ih­re Zwecke sam­mel­te und pro­pa­gier­te. Für Hand­ke gab es da­mals nur ei­ne De­vi­se: Hin­ge­hen, an­schau­en und be­schrei­ben. Ei­nen sol­chen An­satz, der das Recht der poe­ti­schen Wahr­heit in ein Um­feld setzt, das nicht sei­nes ist, woll­te und konn­te man dem Dich­ter nicht durch­ge­hen las­sen.«

Am En­de wird deut­lich, wie sich Hand­ke über mehr als 40 Jah­re an sei­ner Ma­xi­me der »me­tho­di­schen In­no­va­ti­on«, die er einst in drei pro­gram­ma­ti­schen Es­says für sich und an­de­re aus­ge­spro­chen hat­te, ori­en­tier­te: »So­bald ei­ne Me­tho­de ein­mal ver­wen­det wor­den sei, ha­be sie sich, um das Neue zu er­kun­den, auch schon er­schöpft.«

Al­le Neu­ne ist ein gut les­ba­res, in­struk­ti­ves Buch. Der Ton ist we­der be­leh­rend noch er­sticken die Tex­te in ger­ma­ni­sti­schem Kau­der­welsch. Kast­ber­ger bringt der je­wei­li­gen Fi­gur, dem je­wei­li­gen Ge­gen­stand sei­ner For­schung, Sym­pa­thie, bis­wei­len so­gar Em­pa­thie ent­ge­gen, was aber die ein oder an­de­re iro­ni­sche Spit­ze nicht aus­schließt. Manch­mal über­rascht er mit küh­nen Vol­ten und fast im­mer ist man klü­ger als zu­vor. Statt Ke­geln bzw. Bow­ling, hät­te ich auch Snoo­ker als Grund­la­ge für die Quan­ti­tät der Tex­te ge­nom­men. Aber man kann nicht al­les ha­ben.