2003 erschien vom damals 31jährigen Herausgeber und Übersetzer Mathias Enard das bemerkenswerte Romandebut La perfection du tir (etwa: »Die Perfektion des Schießens«). Hauptfigur ist ein namenlos bleibender Ich-Erzähler, der zu Beginn 17 Jahre alt ist. Der Roman spielt in einem nicht näher genannten Land, in dem ein Bürgerkrieg tobt. Damals mutmaßte man, dass der Libanon ein Vorbild gewesen sein könnte. Mir erscheinen die jugoslawischen Sezessionskriege näherliegend. Die Kombattanten des Romans können sich verständigen, sprechen die gleiche Sprache. Der Verlag schreibt zu Beginn, dass Enard für die »vorliegende Übersetzung« des Der perfekte Schuss genannten, von Sabine Müller übersetzten Buches, den Text »neu durchgesehen« habe (Enard spricht hervorragend Deutsch). Die aktuelle Nachrichtenlage verleitet dazu, den Text in die Ukraine zu verorten, was womöglich jetzt auch den Hanser-Verlag ermuntert hat, ihn zwanzig Jahre später zu publizieren.
Erzählt wird im Präteritum rückblickend auf etwas mehr als ein Jahr. Der Erzähler ist bereits seit drei Jahren »dabei«, verließ das Gymnasium, vermutlich, weil es geschlossen wurde. Er lebt mit seiner 50jährigen Mutter zusammen, die dem Wahnsinn oder der Demenz verfallen ist und die zu Beginn pflegebedürftig ist. Der Vater, einst ein wohlhabender Bauunternehmer, starb bei einem Sturz vom Gerüst; es ist nicht klar, ob dies eine Tat eines der schlechtbezahlten Arbeiter war oder ein Unfall. Die Mutter zerbrach daran.
Einzelheiten zu dem Krieg gibt es nicht. Er zeigt unterschiedliche Intensitäten, trifft die Beteiligten in Wellen. Immer wieder gibt es Waffenstillstände, die aber nur kurze Zeit halten. Der Erzähler lebt in einer Stadt, von der er je nach Lage wie bei einem regelmäßigen Arbeitsverhältnis an die Front geht und abends wieder nach Hause kommen kann. Einmal erlebt die Stadt einen starken Artillerieangriff, bei dem Wohnhäuser getroffen werden; am Rande auch das Haus, in dem er lebt.
Er selber gibt sich die Bezeichnung »Kämpfer«; Dienstgrade werden nicht genannt (es könnte sich also auch um eine Miliz handeln). Vorgesetzte sind »Offiziere« und meist ahnungslos und arrogant. Mit Zak hat er einen Freund, der mehr ist als ein Kamerad. Die beiden ergänzen sich. Während der Erzähler gerne Menschen aus großer Entfernung tötet, ist Zak ein Nahkampfspezialist mit dem Messer. Gleich zu Beginn wird ein fast homoerotischer Augenblick beim Nacht- und Nacktbaden in einem See erzählt, während nicht weit entfernt der Gefechtsdonner zu hören ist. »Zu zweit vor dem Sonnenuntergang« fühlen sie sich »wie die Könige der Welt«.
Aber eigentlich ist der Kämpfer ein Einzelgänger. Er hat ein nahezu erotisches Verhältnis zu seinem Gewehr, dem »kalten Kameraden« und zelebriert den Präzisionsschuss als Kunst – das Resultat von Disziplin und stetiger Verbesserung. Wenn er Langeweile hat, lässt er sich freistellen, sucht dann einen Ansitz, ein Dach oder einfach nur ein Fenster und es beginnt das Warten auf die Gelegenheit. Wenn ein Flüchtling das Licht angelassen hatte und unvorsichtigerweise in seiner Wohnung hinter einer Gardine auftaucht oder einfach nur die Frau, die nach dem Streit mit ihrem Mann das Haus verlässt und auf die Straße läuft – schon ist er da und erledigt mit einem Schuss seine imaginäre Aufgabe. Die hohe Kunst ist der Kopfschuss; je größer die Entfernung (einmal trifft er aus 1500 m), desto besser die Leistung. Besonders drängend wird es, wenn ein Pfeifen im Ohr einsetzt. Mit Stolz erzählt er von seinem ersten »Abschuss«: einen ahnungslosen Taxifahrer. Zunächst wollte er ihm noch eine Chance geben, aber das wäre Feigheit gewesen. Als sich seine Treffsicherheit, die er mit religiöser Inbrunst perfektioniert, rumspricht, tötet er für seinen Vorgesetzten, einen Offizier, den Liebhaber seiner Frau.
Wer zur falschen Zeit am falschen Ort ist, wird Opfer. Die Morde sind militärisch vollkommen bedeutungslos, sie sind das, was man gemeinhin Terror nennt. Sie tragen allerdings dazu bei, dass seine Kameraden ihn mit »Unbehagen« und einer »diffusen Angst« Vorsicht begegnen, was er genießt, Die Vorgesetzten schreiten bei seinen Ausflügen nicht ein. Man muss annehmen, dass sein Ruf in der Stadt bekannt ist.
So muss auch die 15jährige Myrna von ihm gehört haben. Sie ist die Tochter des Elektrikers, der zu Kriegsbeginn von einer »Mörsergranate weggepustet« wurde und lebt bei ihrer Tante. Über die Vermittlung des Lebensmittelhändlers kommt sie zum Kämpfer und soll, so lange keine Schule ist, die demente Mutter des Kämpfers versorgen. Wie nicht anders zu erwarten, verliebt er sich in das junge Mädchen, die ihre Aufgabe vorbildlich erfüllt, ansonsten jedoch zurückhaltend ist. Einmal die Woche gehen sie ans Meer und ins Kino; seine zarten Annäherungsversuche lässt sie zu. Er kann nicht anders, als sie nachts beim Schlaf zu beobachten. Als sie einmal die Augen öffnet, blitzt bei ihm der archaische Mordtrieb durch: Wenn sie ihn erkennen und ansprechen sollte, also seine Grenzüberschreitung (die er als Schwäche auslegt) wahrnehmen würde, dann müsse er sie töten. Insgeheim vermutet er, dass sie diesen Codex ahnt und absichtsvoll Schlaf simuliert.
Seine Fixierung auf das Mädchen nimmt stetig zu; er entwickelt einen Beschützerinstinkt. Als ihn Zak besuchen kommt und frivol über sein mögliches Verhältnis mit Myrna spricht, ruft er ihn zur Ordnung, was zu ersten Verstimmungen zwischen den beiden führt. Schon ein zu langes Gespräch Myrnas mit dem Lebensmittelhändler lässt ihn eifersüchtig werden und überlegen, ob und wie er ihn töten könnte. Myrna besucht einmal die Woche ihre Tante (der sie ihren Lohn übergibt). Deren Einladungen ignoriert, Sozialkontakte vermeidet er. Auch in seiner Truppe ist er Außenseiter. So mag er keine Kartenspiele, wie die anderen und ist stattdessen lieber mit seinem Gewehr unterwegs.
Insgeheim scheint die Furcht vor der Unberechenbarkeit des Kämpfers weiter verbreitet zu sein, als er dies wahrnimmt. Hierfür gibt es einige untrügliche Zeichen im Text. Und eines Tages ist dann Myrna verschwunden. Sie hatte mit ihrer Tante ein zeitgewinnendes Manöver zur Flucht in ein entlegenes Dorf genutzt. Dort hat er keinerlei Befugnisse. Sein Zorn ist groß und entlädt sich darin, dass er sich darauf konzentriert, gleichaltrige Mädchen zu erschießen.
Die gemütlich erzählten furchtbaren Ausflüge werden zwei Mal unterbrochen. Zum einen gerät er in einen Hinterhalt und entkommt nur knapp, in dem er im Nahkampf mit dem Messer den Angreifer tötet. Das Erlebnis schockiert ihn, verursacht Alpträume, weil zum ersten Mal die Folgen eines Kampfes direkt sichtbar werden. Später lässt er sich versetzen und kommt in eine Kampfeinheit, die ein Dorf zurückerobern und später sichern soll. Er kann dort seine Präzisionsschüsse zwar einsetzen, aber es ist auch topografisches und militärisches Wissen gefragt.
Mit Zak hatte es einen Konflikt gegeben, als dieser in rasender Wut Gefangene, die schwer verwundet waren, folterte und noch auf sie eindrosch, als sie längst tot waren. Der Kämpfer war nun seinerseits in Wut auf Zak geraten und bedrohte ihn mit der Waffe, aufzuhören. Zak ließ sich daraufhin versetzen. Bei der Rückeroberung eines Dorfes treffen die beiden sich unverhofft wieder. Als Zak versucht, eine Frau zu vergewaltigen, rastet er aus und drückt diesmal sogar ab, aber die Waffe war nicht entsichert. Von nun an ist ihm klar, dass Zak ihn irgendwann töten werde.
Noch einmal nimmt der Roman, der eigentlich eine Novelle ist, kurz eine Wendung. Die Tante kommt mit Myrna wieder zurück, weil das Dorf vom Feind erobert worden war. Für ihn gibt es keinen Zweifel daran, dass Myrna zu ihm zurück kommt (die Mutter dient nur als Vorwand). Er lässt sich auf ein Spiel ein, spricht von einer Woche. Insgeheim beschließt er für sich, die Tante demnächst zu töten. Von Myrna darauf angesprochen, schweigt er. Das als Tragödie inszenierte Ende des Buches soll hier nicht verraten werden.
Die Unberechenbarkeit des Ich-Erzählers erzeugt beim Leser ein dauerhaftes Unbehagen, was ein Verdient des Autors ist. Die Kälte der Beschreibung des Vorgangs des Präzisionsschießens erinnert zeitweise an Ernst Jünger, der allerdings sein Handeln immer im Kontext der militärischen Gegebenheiten reflektierte. Näherliegender erscheinen die düsteren Erzählungen und Romane des jugoslawischen Dichters Aleksandar Tišma, etwa Die Schule der Gottlosigkeit, in der ein Folterer im Jahr 1944 beschrieben wird, der seine Tätigkeit mit Gleichmaß und Hang zur Perfektion ausübt. Dulics, so sein Name, ist jemand, der Schwäche haßte, »gerade weil er sie auch in sich selbst spürte, aber als etwas, was er überwunden hatte«. Er wähnt sich in einer Mission, will »es zu Ende bringen« und »tun, was ich tun muss« und ähnelt in dieser pervertierten Pflichterfüllung auch Enards Schütze (etwas, was gerade auch die Deutschen sehr gut kennen).
Während Dulics den siebzehnjährigen Kommunisten Ostojin foltert, kämpft zu Hause ein Arzt um das Leben seines kleinen Sohnes »Igelchen«. Als Dulics erfährt, dass Ostojins Freund in einem anderen »Verhör« alles gestanden und die geforderten Adressen genannt habe, erhält er von seinem Vorgesetzten carte blanche: »›Du brauchst dich nur noch mit ihm zu amüsieren […] Also viel Spaß, denn wir brauchen diesen Ostojin nicht mehr‹«. Für Dulics ist es eine Niederlage; er hatte gegenüber seinen Kollegen versagt, weil sie eher ein »Geständnis« bekommen hatten. Diese »Schmach« verwandelt sich in »kalte Entschlossenheit«. Ostojin wird schon vor seinem Ableben zur Leiche erklärt. Er schickt die beiden Wächter heraus und flößt ihm mit einem Trichter Unmengen von Wasser ein. Tišma beschreibt den von Dulics lustvoll inszenierten, quälenden Tod seitenlang in allen Einzelheiten. Als Dulics danach zu Hause anruft, ereignet sich das Wunder: Der kleine Sohn wird überleben. Er fällt auf die Knie, faltet die Hände und ruft »laut, befreit: ›Ich danke dir, Gott! Es gibt dich nicht, Gott! Nein, es gibt dich wirklich nicht. Ich danke dir!‹«
Enards Kämpfer ist ein Getriebener, der in der anlasslosen, sterilen Gewalt unter dem Mantel des Krieges physische wie psychische Befriedigung findet. Selten stellt er Überlegungen zum Phänomen Krieg an, den er als »lebendiges Wesen« wahrnimmt. Einmal der Gedanke, dass nicht er den Krieg mache, sondern dieser ihn. Insgeheim bedauert er, die Ergebnisse seiner Exekutionen nicht sehen zu können, aber nur, weil er damit die Perfektion seines Schusses selber überprüfen möchte. Die Konfrontation mit der unmittelbaren physischen Gewalt, mit Schreien, Blut, austretenden Gedärmen und Urin, versucht er – hier Tišmas Folterknecht ähnlich – zu vermeiden. Einiges spricht dafür, dass er Synästhetiker mit einem ausgeprägten Geruchssinn ist. Zwar empfindet er noch ein gewisses Vergnügen dabei, verwundete Gefangene auf ihren Tragen »mit all dem Stöhnen durch die Gegend zu schubsen«, aber irgendwann möchte er diese Zustände beenden. Die Lust von Zak bei der brutalen Folterung widert ihn an und erzeugt bei ihm Wut und Tränen, die aber nicht Ausdruck von Trauer sind.
Enards Einzelkämpfer, der seinen einzigen Freund verliert, weil dieser noch rücksichtsloser ist als er selber, ist hin und hergerissen zwischen Krieg und Myrna. Mehrmals werden sexuelle Erregungszustände beschrieben. Als man in der Wohnung unter Artilleriebeschuss gerät, Myrna die Nerven verliert und körperlichen Schutz bei ihm sucht, ist er stark erregt, sehnt einen dauerhaften Beschuss herbei, nur, damit sie sich weiter an ihn schmiegt. Danach ejakulierte er »in einer langanhaltenden Explosion aller Sinne« und weinte »vor Lust und Wut«.
Einmal fragt er Myrna, welchen Roman sie lese. Es ist noch eine Schullektüre: Victor Hugos Der letzte Tag eines Verurteilten (im Buch »Die Geschichte eines zum Tode Verurteilten«). Er ist überrascht, dass man jungen Menschen so etwas zumutet und rekapituliert seine eigenen Lektüren: »Ich hatte nie besonders gerne gelesen, abgesehen von russischen Romanen. Die verschlang ich dutzendweise, alle, die mir in die Hände fielen, Tolstoi, Leskow, Tschechow, Gogol, Dostojewski, hintereinander weg. Mein liebstes Buch war Taras Bulba. Vielleicht könnte ich es Myrna zu lesen geben, dachte ich.« Taras Bulba ist eine Erzählung von Gogol. Sie spielt im 17. Jahrhundert in der heutigen Ukraine und berichtet vom Aufstand der Kosaken gegen Polen. Taras Bulba tötete einen seiner Söhne, der aus Liebe zu einer Frau zu den Polen desertiert war und wurde später seinerseits später von den Polen in der Gefangenschaft verbrannt. Mit der Erwähnung beider Texte liefert Enard subkutan Interpretationspotential.
Zweifellos ist Der perfekte Schuss mit seinen noch nicht einmal 200 Seiten schwere Kost. Die Lektüre verlangt Aufmerksamkeit und Demut. Es findet sich zur Hauptfigur kein unmittelbarer Gegenpart. Es wird nichts erklärt oder analysiert. Weit und breit kein pädagogischer Zeigefinger. Es gibt keinen Ausweg, keine Perspektive, weder Hoffnung noch Zuversicht, weder metaphysischen Trost noch ideologische Utopien. Der Krieg ist zwar der Antrieb des Alltags, aber selber zwecklos. Seine Ziele schrumpfen auf einzelne kleine Hügel oder halb abgelegene Bergdörfer, in denen die Bewohner nach der Eroberung massakriert wurden, was für die Offiziere keine Rolle spielt: Sie verbuchen die Rückeroberung zynisch als »Sieg«. Wer fertiggekochte Moralhäppchen sucht, wird verhungern. Hier muss selber gekocht werden; nicht in einer Küche, sondern draußen, auf dem Campingkocher. Ergebnis ungewiss. Die längst zur Floskel verkommene Kafka-Bemerkung, das Literatur die Axt unserem gefrorenen Meer sein soll, trifft hier endlich einmal zu. Die Hiebe dieser Axt wird man für lange Zeit nicht vergessen und die Eisschollen lassen den Leser taumelnd zurück.