Boxing Week auf Si­zi­li­en

TAGEBUCHAUFZEICHNUNGEN PETER STEPHAN JUNGK, ENDE DEZEMBER 1998

Sams­tag, 26. 12.1998 Un­se­re Ab­rei­se nach Pa­ler­mo über­aus an­stren­gend, weil wir via Rom flie­gen, dort das Um­stei­gen. Der Ver­lust des Kof­fers, den Lil­li­an1 dann in ei­nem Ab­stell­raum des Flug­ha­fens Pa­ler­mo wie­der­fin­det. An­kunft um ca. 21h im Ho­tel Vil­la Igiea – ei­gen­ar­ti­ges Ho­tel! Pe­ter, So­phie, Lé­o­ca­die2 er­war­ten uns im Re­stau­rant.

Ver­brin­gen schwie­ri­ge, aber in­ten­si­ve Ta­ge in Pa­ler­mo, vom 26.12. bis zum 1.1.1999.

Un­ser Zim­mer sehr schön, mit Aus­sicht auf den Ha­fen und das Meer. Die Hei­zung funk­tio­nier­te nicht gut, aber man gab uns ei­nen Elek­tro-Ofen. Der wun­der­schö­ne Ho­tel-Park der Vil­la Igiea!

Lé­o­ca­die krank, So­phie krank, als wir an­ka­men. So­phie die er­sten zwei Ta­ge kaum ge­se­hen, sie liegt im Bett. Ich ge­be Pe­ter mein Buch3 zu le­sen, zu die­sem Zeit­punkt war der Schluss al­ler­dings noch ein ganz an­de­rer, als der, den ich heu­te vor 4 Ta­gen4 nach Mün­chen sand­te.

Pro­fes­sor Co­me­ta, der Ger­ma­nist, der Pe­ter be­su­chen kommt, un­ter­rich­tet deutsch­spra­chi­ge Li­te­ra­tur in Pa­ler­mo, ein run­der, jo­via­ler Mensch, der uns viel über die Stadt er­zählt. Er hat­te auch mit der Auf­füh­rung des Thea­ter­stücks von Pe­ter zu tun, vor kur­zer Zeit, »Das Spiel vom Fra­gen«, das er für das Thea­ter in Pa­ler­mo über­setzt hat.

Ein er­ster Spa­zier­gang, al­lein mit Lil­li­an und Adah5, am 27.12., in der Nä­he des Ho­tels. Die ver­kom­me­nen Gas­sen, die schmut­zi­gen Hin­ter­hö­fe, die trau­ri­gen Ge­bäu­de. Die er­folg­lo­se Su­che nach dem Ha­fen. Hun­de­schei­ße, auf Schritt und Tritt.

Die Piaz­za Aqua­san­ta, na­he dem Ho­tel, als ei­ner der be­sten, schön­sten Punk­te der gan­zen Stadt. Das Lo­kal dort, am Platz – wie rei­zend man zu uns war. Der Be­sit­zer, ehe­mals Kell­ner und Koch in gro­ßen eu­ro­päi­schen Ho­tels, u.a. in St. Mo­ritz, der uns zeigt, was er kann. (Als Koch.) Wir re­ser­vie­ren dort für den 31. 12. – vor lau­ter Sym­pa­thie.

Ich se­he Pe­ter gleich­sam beim Le­sen mei­nes Ma­nu­skripts zu, 3 Ta­ge lang – 27., 28., 29. – be­mer­ke, wie sehr es ihn zu in­ter­es­sie­ren scheint, ein­mal sagt er so­gar: »kaf­ka­esk…« Sit­zen ei­nes Abends bei­sam­men, füh­ren ei­nes der in­ten­siv­sten Ge­sprä­che je­mals, aber es ist wie im Traum: Ha­be bei­na­he ALLES ver­ges­sen. Weiß nur, dass es nach 23h war, Lil­li­an und Adah schlie­fen, So­phie ih­rer Krank­heit we­gen so­wie­so, auch Lé­o­ca­die na­tür­lich, und Pe­ter und ich sa­ßen an ei­nem Tisch­chen in ei­ner Art klei­nen Bi­blio­thek, vis à vis von sei­ner Suite, ein Raum über dem gro­ßen Fest­saal mit den fin-de-siè­cle-Wand­ma­le­rei­en. Er hat­te ca. die Hälf­te des Ma­nu­skripts gelesen…schien recht an­ge­tan zu sein, woll­te aber, na­tur­ge­mäß, noch nichts End­gül­ti­ges sa­gen. Und wir ge­rie­ten vom 100. ins 1000., ad Ser­bi­en so­gar. Dass er glau­be, vie­les sei pas­siert, im Krieg in Ju­go­sla­wi­en, weil vor lau­ter Zorn und Wut et­was, was nur zur Hälf­te im Ar­gen lag, dann zer­schmet­tert wur­de, mit al­ler Ge­walt. Se­he sei­ne Hand­be­we­gung des Schla­gens vor mir, von oben nach un­ten, als Zei­chen des Zer­schla­gens, vor lau­ter Wut. / Wir spre­chen da­von, dass vie­le Be­rei­che des Zwi­schen­mensch­li­chen im Grun­de nie be­schrie­ben wor­den sei­en. Ich le­se zur Zeit ge­ra­de den »Zau­ber­berg« neu, aber Pe­ter lehnt Tho­mas Mann ab, da die Spra­che ihm ein­fach un­er­träg­lich sei. Die Spra­che Kaf­kas, Ro­bert Walsers, die kön­ne er er­tra­gen, sie sei REIN, WAHR, ECHT, auch er schrei­be so, und er ver­gleicht sich durch­aus mit Kaf­ka und Ro­bert Wal­ser. »Auch bei mir«, sagt er, »hat die Spra­che die­se Klar­heit – das kommt aus dem Traum. Traum­spra­che…« / Mehr als 1 Stun­de sa­ßen wir da – und wie im Traum: mein Mir-Vor­neh­men, mir al­les, al­les ex­akt mer­ken zu müs­sen, zu wol­len…

Un­se­re »Aus­flü­ge« in die Stadt – ein be­son­de­rer Mo­ment, bei hei­ßer Son­ne, auf der Ter­ras­se ei­nes Ca­fés, in ei­ner Par­al­lel­stra­ße zur brei­ten In­nen­stadt-Haupt­stra­ße. Ha­be ALLES ver­ges­sen, was die Rei­se mit Va­ter6 be­trifft, im Herbst 1978, be­hielt von Pa­ler­mo bei­na­he kein ein­zi­ges Bild im Kopf, bis auf den Blick in ei­ne ganz schma­le Gas­se, aus dem bil­lig-Ho­tel­zim­mer her­aus. Und dass Va­ter mir sag­te, wäh­rend ich ei­ne Sie­sta hielt, sei un­ten ein ganz lau­ter Pom­pe-Fun­èb­re-Blech­mu­sik-Um­zug vor­bei­mar­schiert.

[…]

Die Fahrt nach Mon­rea­le, wir 6, ein­ge­zwängt in ein Ta­xi, am 29.12. – das gro­ße Er­leb­nis die­ser Kir­che! Zu­erst der Kreuz­gang, die wun­der­ba­ren Säu­len. Auch hier war ich mit Va­ter, er­in­ne­re mich höch­stens noch an das gro­ße Chri­stus-Bild, mo­sa­ik­stein­chen­ge­setzt, über dem Al­tar. Aber nicht an die vie­len wun­der­ba­ren Mo­sa­ik-Bil­der, die das Al­te und Neue Te­sta­ment nach­er­zäh­len! Auch in Mon­rea­le mit­tags zu­sam­men mit der schwer­mü­ti­gen Hand­ke-Fa­mi­lie… Auf der Fahrt nach Mon­rea­le die un­ge­mein häss­li­chen Neu­bau­ten und Ge­mein­de­bau-Sied­lun­gen, grau­en­haft. Pe­ter er­zählt, in der Lo­kal­zei­tung ge­le­sen zu ha­ben, dass Pa­ler­mo in ei­ner Auf­li­stung der Le­bens­qua­li­tä­ten in den 102 ita­lie­ni­schen Pro­vin­zen an letz­ter Stel­le ste­he… Kein Wun­der: Schutt und Asche, Häss­lich­kei­ten und Halb­rui­nen sind uns bis­her be­geg­net, nein, nicht nur, aber das prägt das Stadt­bild. Die Trau­rig­keit, die Schwe­re, die Ar­mut, der Schmutz. Die Luft ent­setz­lich ben­zin­träch­tig. Fe­ri­en für ein Kind, das in der Groß­stadt Pa­ris lebt? Nein, si­cher nicht! Ar­me Adah! / Rück­fahrt von Mon­rea­le mit ei­nem höchst her­ben, ein­äu­gi­gen Ta­xi­fah­rer (mit dem Hand­kes am näch­sten Tag für 300.000 Li­re nach SEGESTA fuh­ren), wie­der­um zu­sam­men­ge­pfercht. So­phie steigt aus, in der Stadt­mit­te, beim Nor­man­nen­schloss, um al­lein her­um­zu­wan­deln. Wir tren­nen uns von Pe­ter, der Lil­li­an auf­trägt, ein Lo­kal für den Abend vor­zu­schla­gen, im nörd­li­chen Vor­ort MONDELLO.

Ich tref­fe Pe­ter am frü­hen Abend, um ca. halb sie­ben, er hat fer­tig ge­le­sen. »Zwie­späl­tig« sei der Ein­druck, »sehr zwie­späl­tig«. Denn die Ge­schich­te en­de all­zu un­be­frie­di­gend: Man möch­te doch wis­sen, ob Da­ni­el wei­ter­kämp­fe, um das Geld, ob er auf­ge­be, was aus Pe­ters Sicht ein Feh­ler wä­re. Aber das Buch mit dem Blick durch den Fern­ste­cher en­den zu las­sen – das sei kei­ne Lö­sung.

Un­mög­lich er­scheint ihm das Weg­las­sen der amou­rö­sen Aben­teu­er mit der Nach­ba­rin, ich hat­te das al­les ge­stri­chen. In die­ser Fas­sung ver­lässt Va­le­ria ih­ren Mann nur we­gen dem Fall, nicht we­gen des Be­trugs, Pe­ter emp­fin­det das als un­be­dingt un­glaub­wür­dig, ver­gleicht die Jagd nach dem Recht mit ei­ner We­stern-Film-Si­tua­ti­on: »So­lan­ge der Held für sein Recht kämpft, ver­lässt ihn die Frau nicht, auch wenn sie sei­nen Kampf nicht un­be­dingt gut­heißt!« Zu sehr als KIND wird Da­ni­el be­han­delt, von al­len Fi­gu­ren, fin­det Pe­ter – an­der­seits scheint er von der The­ma­tik sehr an­ge­tan, be­tont, dass die­ser Ro­man viel »wich­ti­ger« und »in­ter­es­san­ter« sei, als die Stel­la Fe­der­spiel7, vor al­lem aber auch »sehr auf­schluss­reich«, wo­mit er wohl vor al­lem auf das jü­di­sche Ele­ment an­spielt. Wir soll­ten, meint er dann, an die­sem Abend noch wei­ter spre­chen, will nun mit ei­nem Mal nicht mehr nach Mond­el­lo fah­ren, das sei nach dem Er­leb­nis Mon­rea­le und an­ge­sichts un­se­res Wei­ter­spre­chens nicht sinn­voll, er schla­ge vor, dass wir in das Piz­za­lo­kal ge­hen, na­he dem Ho­tel (das von au­ßen al­ler­dings be­son­ders trist aus­sieht! Dunk­le Fen­ster, klei­ne Hüt­te, ir­gend­wie schreck­lich ärm­lich) dort möch­te er zu Abend es­sen.

Be­rich­te Lil­li­an von dem ge­än­der­ten Pro­gramm­vor­schlag, sie aber bleibt da­bei, nein, sie ha­be sich auf Mond­el­lo und ein Fisch­re­stau­rant ge­freut, es kom­me nichts An­de­res in Fra­ge, schon gar nicht die­ses tri­ste Piz­za­lo­kal. Über­brin­ge Pe­ter als go-bet­ween die Nach­richt, wor­auf­hin er ei­nen Tob­suchts­an­fall be­kommt: Was für ei­ne Wahn­idee, jetzt nach Mond­el­lo zu fah­ren! Lé­o­ca­die be­ginnt zu wei­nen, So­phie (die auch nach Mond­el­lo will!) ver­sucht zu schlich­ten, Lil­li­an bleibt »hart«, mir ist, wie üb­lich, al­les gleich, schließ­lich die Idee, Pe­ter und ich wür­den im Ho­tel blei­ben, bzw. zur Piz­ze­ria ge­hen, die 4 Da­men aber nach Mond­el­lo fah­ren. Aber plötz­lich sit­zen wir 6 dann doch wie­der zu­sam­men­ge­pfercht in ei­nem Ta­xi und wer­den in ein be­rühm­tes Fisch­lo­kal von Mond­el­lo chauf­fiert. Pe­ter gibt kein Wort mehr von sich, den Rest des Abends, wie ver­stei­nert; mit zor­nig­stem Blick, der uns al­len gilt, sitzt er da, nimmt übel. Das Lo­kal im Grun­de fas­zi­nie­rend, die geld­gie­ri­ge Be­sit­zer­fa­mi­lie, das Tem­po, die Ge­sich­ter, das Es­sen an sich. Pe­ter ver­sinkt im­mer tie­fer in sei­ner Wut. Al­le Ver­su­che von So­phie, ihn freundlich(er) zu stim­men, schla­gen fehl! / Zu­rück im Ho­tel, ver­schwin­det Pe­ter in sei­ner Suite oh­ne sich von Adah, Lil­li­an oder mir ver­ab­schie­det zu ha­ben.

Am 30.12., Mitt­woch, fah­ren Hand­kes oh­ne Ab­schied al­lein nach Se­ge­sta. Wir woll­ten oh­ne­hin nicht mit! Adah wach­te mit Oh­ren­schmer­zen auf, Lil­li­an be­stimm­te, man müs­se ei­nen Arzt ru­fen. Der kommt auch tat­säch­lich, nach 45 Mi­nu­ten be­reits: Er be­tritt un­ser Zim­mer, legt den Trach­ten­hut auf den Fern­se­her, zieht den Man­tel nicht aus, er­fährt, Adah ha­be Oh­ren­schmer­zen und zeich­net so­fort das in­ne­re Ohr auf ei­nen Zet­tel, er­klärt, wie es zu sol­chen Schmer­zen kom­men kann. Dann erst un­ter­sucht er A. kurz, ja, das ei­ne Ohr scheint ihm ent­zün­det, dann te­le­fo­niert er mit sei­ner Mut­ter, mit dem Mo­bil­te­le­fon, und ver­schreibt 2 Me­di­ka­men­te. Er­wähnt, Spe­zia­list für Ohr­pro­ble­me von PILOTEN zu sein und nennt im Fort­ge­hen sei­nen Preis: 250 000 Li­re. Ich fal­le fast in Ohn­macht. Hat­te im Ex­trem­fall mit 100 000 ge­rech­net – aber 250 000? Das sind um­ge­rech­net ca. 1.750 Schil­lin­ge oder 800 FF8. Und 9 Mi­nu­ten, nach­dem er un­ser Zim­mer be­tre­ten hat, ist er fort -.

Wäh­rend Lil­li­an und Adah schla­fen, spa­zie­re ich al­lein um­her, fo­to­gra­fie­re, blicke auf die Rück­sei­te des Mon­te Pel­le­gri­no, etc.

Un­se­re Stun­den in der Stadt, zu­nächst beim Dom, dann An­ti­qui­tä­ten­markt, und durch die trau­rig­sten, ben­zin­schwan­ger­sten Stra­ßen ins Zen­trum. Fin­den zu ei­nem recht ei­gen­ar­ti­gen, fen­ster­lo­sen Re­stau­rant, wo wir fast die ein­zi­gen Gä­ste sind, und das Licht kon­tant aus­ge­schal­tet wird, weil der Wirt die Licht-An­la­ge zu re­pa­rie­ren ver­sucht. Ziem­lich er­schöpft kom­men wir nach­mit­tags ins Ho­tel zu­rück.

Abends Wie­der­se­hen mit der Fa­mi­lie Hand­ke, die den gan­zen Tag un­ter­wegs war – wir es­sen im Ho­tel­re­stau­rant. Der Ta­xi­chauf­feur war of­fen­bar sehr gut zu ih­nen – hat­te Brot und Oli­ven mit, die sie zu Mit­tag auf der Küh­ler­hau­be sei­nes Wa­gens sit­zend ver­spei­sten. Pe­ter kommt spä­ter zu Tisch. Und hat im­mer noch das Bö­se-Mie­ne-Ge­sicht, strahlt ei­ne ab­scheu­li­che Stim­mung aus! Bellt so­gar ein oder zwei Mal vor sich hin, was ihn an mir, an uns, be­son­ders stört: Wie wir über Pa­ler­mo spre­chen. Wie öster­rei­chi­sche »Som­mer­frisch­ler«, de­nen die Häss­lich­keit der Stadt un­er­träg­lich sei. Am wü­tend­sten mach­te ihn am Vor­tag mein Schimp­fen über die Häss­lich­keit der Apart­ment­hoch­häu­ser in der Vor­stadt. Pe­ter: »Das ist doch nicht an­ders, als in Pa­ris?! Oder über­all auf der Welt!« Dass man das über­haupt aus­zu­spre­chen wa­ge! Schnauzt mich an, wie sel­ten zu­vor in den 30 Jah­ren, die wir ein­an­der ken­nen. Ich se­he nicht mehr zu ihm hin, neh­me die Adah auf den Schoß, spie­le, zeich­ne, re­de nur noch mit ihr und mit Lil­li­an. (Pe­ter soll­te mich am näch­sten Tag da­für ta­deln, dass ich nur noch auf Adah ein­ge­gan­gen sei, mit ihr spiel­te, wie ein Kind mit ei­ner Pup­pe – die­ses Nur-Noch-Mit-Dem-Kind-Sein, auch das hat­te sei­nen Zorn ge­weckt!) – Das gan­ze Din­ner, am 30.12., von schreck­li­cher Stim­mung über­schat­tet, wie der Abend des 29.12. / Wie­der un­ver­söhnt aus­ein­an­der ge­gan­gen, er und wir…Meine Angst vor dem Syl­ve­ster­abend, mit Pe­ter, wächst ins Un­er­mess­li­che. (Am Nach­mit­tag üb­ri­gens, als ich al­lein un­ter­wegs war und fo­to­gra­fier­te, kam ich an dem trau­ri­gen Piz­za­lo­kal vor­bei, das am Vor­abend den er­sten Streit aus­ge­löst hat­te, weil Lil­li­an dort auf kei­nen Fall hin­ge­hen woll­te – se­he mir das Lo­kal an, stel­le zu mei­ner völ­li­gen Über­ra­schung fest, dass es sehr sym­pa­thisch aus­sieht, völ­lig in Ord­nung, von de­pri­mie­rend kann gar kei­ne Re­de sein -.)

Am 31.12. Pe­ter zu­fäl­lig in der Ho­tel­hal­le ge­trof­fen, als er und sei­ne Da­men ge­ra­de fort­ge­hen. Er grüßt kaum, macht mich nur dar­auf auf­merk­sam, dass beim Por­tier ein Brief für mich lie­ge, von ihm an mich. Fin­de ei­nen Brief vor, in dem Pe­ter mir für 18h30 ein Ren­dez­vous gibt, in ei­ner ob­sku­ren Wein­bar, na­he dem Platz Aqua­san­ta. Er will al­so vor dem Syl­ve­ster-Di­ner die Span­nun­gen ent­we­der klä­ren, auf­lö­sen, oder ver­tie­fen? Ha­be ein mul­mi­ges Ge­fühl, wie im Aka­de­mi­schen Gym­na­si­um, als ich dem Di­rek­tor vor­spre­chen muss­te, nach­dem ich Nackt­zeich­nun­gen von Frau Ad­ler ge­macht hat­te. / Ver­brin­gen ei­nen sehr schö­nen Tag, Lil­li­an, Adah und ich – fah­ren nach MONDELLO, las­sen uns im Orts­kern ab­set­zen. Adah spielt auf ei­nem Rum­mel­platz – fährt Ka­rus­sell, etc. – quietsch­ver­gnügt. Es­sen mit­tags im Frei­en! Sehr gu­ter Mo­ment für uns 3. Die kräf­ti­ge Son­ne und Wär­me, den gan­zen Tag lang! Der Mann mit Le­pra-zer­stör­ter Na­se, der uns sei­ne ame­ri­ka­ni­sche Green-Card zeigt, er­zählt, er ha­be Jahr­zehn­te in New York ge­lebt. Der klei­ne Spa­zier­gang, die ei­gen­ar­ti­ge Ecke, wo Lil­li­an ein Fo­to macht, von Adah und mir. Die End­sta­ti­on ei­nes Au­to­bus­ses – der ur­alte Chauf­feur, voll­trun­ken schien der Mann zu sein. Zu­rück am Haupt­platz – das gro­ße Ca­fé dort, die Vor-Sylvester-Stimmung…Und dann die schwie­ri­ge Rück­fahrt, nach­dem wir den idea­len Bus ver­säumt hat­ten und ewig der näch­ste nicht kam. End­lich kommt er, fährt an der Kü­ste ent­lang, wun­der­ba­re Stra­ße, ent­lang dem Berg Pel­le­gri­no, und die Sta­ti­on dann 10 Me­ter von der Vil­la Igiea ent­fernt. Ich ver­su­che ei­nen Nach­mit­tags­schlaf zu ma­chen, aber oh­ne Er­folg – zu auf­ge­regt we­gen des Tref­fens mit Pe­ter, um halb 19h – kurz al­lein in ei­ner Kir­che, am Platz Aqua­san­ta. Über­all ex­plo­die­ren be­reits die Böl­ler – in we­ni­gen Stun­den be­ginnt das letz­te Jahr des Jahr­tau­sends...!

In ei­ner Ta­bakt­ra­fik schenkt man mir ein klei­nes No­tiz­büch­lein, bzw. Te­le­fon­buch mit No­tiz­sei­ten – wan­de­re zum Treff­punkt – ent­decke ei­ne win­zi­ge Wein-Höh­le, schwach be­leuch­tet, ein gro­ßer Tisch – und ein rie­si­ger Bot­tich, in dem der Wein auf­be­wahrt wird, 2 Me­ter hoch! 4, 5 Män­ner, die da dis­ku­tie­ren, mü­de, über­ar­bei­tet, grob – und herz­lich. Bin ca. 20 Mi­nu­ten vor der ver­ein­bar­ten Zeit da. No­tie­re mir in dem zu­vor als Ge­schenk über­reich­ten klei­nen Te­le­fon-No­tiz­buch, wie mein Ro­man en­den könn­te…

Und um 18h30 be­tritt der gro­ße Mei­ster das Eta­blis­se­ment, ich trin­ke be­reits mein 2. Glas Weißwein…Langes, durch­aus kom­pli­zier­tes Ge­spräch zwi­schen uns, des­sen De­tails mir nicht mehr al­le­samt ge­läu­fig sind. Aber der Grund­te­nor lau­te­te: so dür­fe man über ei­ne Stadt nicht ur­tei­len, wie ich das 2 Ta­ge zu­vor tat, auf der Fahrt nach Mon­rea­le. Und Lil­li­ans For­de­rung, nach Mond­el­lo zu fah­ren: un­er­träg­lich! (Ob­wohl er selbst es doch zu­nächst so woll­te…) Und ich wür­de Lil­li­an zu­lie­be auf be­stimm­te The­men ver­zich­ten, an­de­re be­schnei­den, an­de­re zensieren…das scha­de mei­ner Ar­beit. Er sei zor­nig, dass ich mir von L. Än­de­run­gen im Ro­man vor­schrei­ben lie­ße bzw. ihr zu­lie­be auf ge­wis­se Stel­len im Ro­man ver­zich­te­te. Die­se Schwä­che ei­ner Frau ge­gen­über ver­tra­ge er nicht. Weh­re mich, so gut es geht. Geht es gut? Halb­wegs. Ge­hen dann, als das un­ge­wöhn­li­che Wein­lo­kal zu­sperrt, in Rich­tung Piaz­za Aqua­san­ta. Das Re­stau­rant, wo wir re­ser­viert hat­ten, wird sehr lau­te Mu­sik spie­len, Pe­ter will mit ei­nem Mal nicht mehr hin, wir sa­gen ab, be­stel­len ei­nen Tisch in je­nem »Piz­za­lo­kal«, das vor 2 Ta­gen den An­lass für den Streit gab. Wir füh­len, dass es an die­sem Abend der rich­ti­ge Ort sein könnte/sein wird… / Ste­hen noch in ei­nem klei­nen Ca­fé bei­sam­men – halb im Streit, halb in der Ver­söh­nung. Spre­chen viel über Luc9.

Der Abend zu sechst ver­läuft dann Gott sei Dank fried­lich, zum Teil so­gar er­freu­lich. Das Es­sen ist gut, die Stim­mung im Saal sym­pa­thisch. Kei­ne Mu­sik, kein Lärm, nur die ber­stend vol­le Piz­ze­ria bzw. Restaurant-Höhle…Adah mit an­de­ren Kin­dern, spielt am Com­pu­ter, der im Bü­ro des Lo­kals steht, scheint Ita­lie­nisch zu ver­ste­hen, so recht und gar­nicht schlecht. / Mit­ter­nachts­mo­ment mit un­glaub­lich lau­ten Böl­lern. Im Lo­kal gu­te, an­ge­neh­me At­mo­sphä­re. War­ten bis ca. halb 1h, um das Lo­kal nicht im wil­de­sten Böl­ler-Bom­bar­de­ment zu ver­las­sen —

1.1.1999 – Mit­tags Ab­schied von den Hand­kes, sit­zen in dem Lo­kal am Piaz­za Aqua­san­ta bei­sam­men, in dem wir ur­sprüng­lich re­ser­viert hat­ten – der Chef trägt zahl­lo­se Spei­sen auf, ist uns nicht bö­se, will aber de­mon­strie­ren, was es bei ihm al­les gibt!

Rück­flug nach Pa­ris, via Rom.

© Pe­ter Ste­phan Jungk


  1. Lillian Birnbaum, die Frau des Autors, Fotografin und Filmproduzentin 

  2. Gemeint sind Peter Handke, seine Frau Sophie Semin und ihre damals 7-jährige Tochter 

  3. Es handelte sich um die 1. Fassung meines Romans "Die Erbschaft", der im Herbst 1999 im Ullstein Verlag erschienen ist. Die Geschichte eines Dichters, Daniel Löw, der in Südamerika einer Erbschaft nachjagt, die ihm der Cousin seines Vaters hinterlassen hat, ist heute als Nachdruck erhältlich: https://www.fischerverlage.de/buch/peter-stephan-jungk-die-erbschaft-9783596317592
     

  4. Die vorliegenden Aufzeichnungen entstanden rückblickend, etwa vier Wochen später. 

  5. Die 1994 geborene Tochter des Autors. 

  6. Der Schriftsteller und Zukunftsforscher Robert Jungk, 1913 - 1994 

  7. "Die Unruhe der Stella Federspiel", 1996 im List Verlag erschienen, ist heute als Nachdruck erhältlich: https://www.fischerverlage.de/buch/peter-stephan-jungk-die-unruhe-der-stella-federspiel-9783596317653 

  8. € 250 in heutiger Währung. 

  9. Der Theater- und Filmregisseur Luc Bondy, 1948 -2015, mit dem sowohl Peter Handke, als auch ich eng befreundet waren. 

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