Weih­nach­ten mit Wolf­gang Welt

Mehr Ma­jo­ran

Weih­nach­ten vor fünf­zig Jah­ren

Von Wolf­gang Welt

Die Ze­che Bruch­stra­ße wür­de im näch­sten Jahr still­ge­legt, und es war das letz­te Weih­nach­ten da­vor. Das Lohn­bü­ro der Ze­che, in der der Va­ter be­schäf­tigt war, ar­bei­te­te bis nach­mit­tags, und als der Va­ter um vier Uhr noch nicht zu Hau­se war, ahn­te die Mut­ter, der Pa­pa ist hän­gen ge­blie­ben. Mal ab­ge­se­hen da­von, dass er blau sein wür­de: Wer soll­te den Christ­baum ein­stie­len? Mein drei­zehn­jäh­ri­ger Bru­der muss­te dran glau­ben und mit ei­nem Beil dran­ge­hen.

Um sechs kam der Va­ter, na­tür­lich be­sof­fen. Mein Bru­der steck­te die Ker­zen an. Der lie­ben Ru­he wil­len sag­te mei­ne Mut­ter nichts, und als er »Stil­le Nacht« an­stimm­te, sang sie mit. Mei­ne Mut­ter är­ger­te sich so­wie­so schon ge­nug, weil sie die Pull­over für ih­re Söh­ne nicht recht­zei­tig fer­tig­ge­strickt hat­te. Die Rän­der fehl­ten. Wir zo­gen sie trotz­dem an. Fern­se­hen guck­ten wir zu der Zeit Hei­lig­abend nicht. Meist lief auch was Ern­stes wie ein Fern­seh­spiel von Wolf­diet­rich Schnur­re oder so was.

Am näch­sten Mor­gen kam die Oma zu Fuß (wir hat­ten noch kein Au­to, um sie ab­zu­ho­len) aus dem be­nach­bar­ten Vor­ort Wer­ne und brach­te ei­ne Ta­sche voll Ge­schen­ke, für mich ein Ring­buch, wor­über ich ent­täuscht war, für mei­nen Bru­der die Schall­plat­te »Woo­den He­art« von El­vis Pres­ley, die Pres­leys Ab­schied von Deutsch­land mar­kier­te. Pro­du­ziert hat­te die­ses »Muß i denn zum Städ­te­le hin­aus« Bert Kaemp­fert, der auch den Song »Stran­gers In The Night« kom­po­nie­ren soll­te, den ich ihr Jah­re spä­ter schen­ken wür­de.

Mein Va­ter be­kam von der Oma den Kar­ne­vals­hit »Schnaps, das war sein letz­tes Wort (dann tru­gen ihn die Eng­lein fort)«. Er war sicht­lich sau­er und hör­te sich das Lied von Wil­ly Mil­lo­witsch nie an.

Mei­ne Mut­ter briet ei­ne Pu­te, und mei­ne Oma riet beim Ko­chen zu mehr Ma­jo­ran. Jah­re da­nach, vie­le Ze­chen­schlie­ßun­gen spä­ter – mein Va­ter hat­te längst mit dem Sau­fen auf­ge­hört, und die Oma war längst tot –, hör­te mei­ne Mut­ter am Weih­nachts­mit­tag beim Ko­chen ih­re Stim­me: »Mehr Ma­jo­ran.«

© Wolf­gang Wel­t/­Wolf­gang-Welt-Er­ben

Mit freund­li­cher Ge­neh­mi­gung der Er­ben von Wolf­gang Welt, Mar­tin Wil­lems und dem Ver­lag An­dre­as Reif­fer. Aus »Die Pann­schüp­pe« – Ver­lag An­dre­as Reif­fer, 2020

Wolfgang Welt: Die Pannschüppe (Hrsg.: Martin Willems)

Wolf­gang Welt: Die Pann­schüp­pe (Hrsg.: Mar­tin Wil­lems)