Wal­ter E. Rich­artz: Bü­ro­ro­man

Walter E. Richartz: Büroroman

Wal­ter E. Rich­artz:
Bü­ro­ro­man

Auf­merk­sam ge­wor­den auf Wal­ter E. Rich­artz wur­de ich durch Wolf­gang Welts Re­zen­si­on von »Rei­ters west­li­che Wis­sen­schaft«, dem letz­ten Ro­man des 1980 durch Frei­tod aus dem Le­ben Ge­schie­de­nen. Welt er­wähnt in sei­nem Text von 1981, den er in­ter­es­san­ter­wei­se mit dem Hand­ke-Ti­tel »Lang­sa­me Heim­kehr« über­schreibt, nur kurz den »Bü­ro­ro­man« von Rich­artz, aber da es in der (deutsch­spra­chi­gen) Li­te­ra­tur re­la­tiv we­nig Be­zü­ge zu Bü­ro­an­ge­stell­ten gibt (die häu­fig ge­nann­te »Abschaffel«-Trilogie von Wil­helm Gen­a­zi­no 1977–79 zählt ei­gent­lich nicht, weil die Haupt­fi­gur ei­ne eher in­tel­lek­tu­ell-skur­ri­le Per­sön­lich­keit dar­stellt), woll­te ich zu­nächst die­ses Buch le­sen.

Die Erst­pu­bli­ka­ti­on des »Bü­ro­ro­mans« ist von 1978; die Dio­ge­nes-Aus­ga­be von 2007 folgt die­ser auch in der al­ten Recht­schrei­bung. Er be­ginnt als lau­ni­ge Sa­ti­re im Er­zähl­stils ei­nes Con­fé­ren­ciers, der dem Pu­bli­kum wie auf ei­ner Büh­ne das 26 m² gro­ße Bü­ro­zim­mer Num­mer 1028 der (na­tür­lich fik­ti­ven) »DRAMAG« (»Deut­sche Regler‑, Ar­ma­tu­ren- und Meßgeräte‑A.G.«) in Frank­furt am Main-Ost vor­stellt. Dort sit­zen Wil­helm Kuhl­wein (23 Jah­re Be­triebs­zu­ge­hö­rig­keit), Frau Klatt (drei Jah­re we­ni­ger) und, seit drei Mo­na­ten, Fräu­lein Mau­ler. Sie ar­bei­ten im Rech­nungs­we­sen, sind be­schäf­tigt mit Ko­sten­stel­len­bu­chun­gen für die Er­mitt­lung der Ko­sten streng ge­trennt nach Ab­tei­lun­gen, die wie ei­ge­ne Fir­men be­han­delt wer­den – das, was man spä­ter »Pro­fit-Cen­ter« nen­nen soll­te. 41 Stun­den-Wo­che, Ko­sten­stel­le 68045. Drei Men­schen im Bü­ro, ei­ne Schreib­ma­schi­ne, ein Te­le­fon (auf ei­nem Te­le­fon­arm), ein Wasch­becken mit drei Hand­tü­chern, zwei Stem­peln (»EILT« und ERLEDIGT«), Schreib­tisch­un­ter­la­gen (in »SKAI«), je­de Men­ge Ak­ten­schrän­ke mit Ord­nern, Spin­den und die ob­li­ga­to­ri­sche Ur­laubs­kar­ten­wand. Sin­ni­ger­wei­se gibt es am En­de des Bu­ches ei­ne In­ven­tur­li­ste über all die Ge­gen­stän­de (vie­le aus Ba­ke­lit), die es in den 1970er Jah­ren in Bü­ros so gab, un­ter an­de­rem auch die Tin­ten­wip­pe, die man zwar schon da­mals nicht mehr brauch­te, die aber aus Tra­di­ti­on im­mer noch in den Schrän­ken auf­zu­fin­den war.

Zu­nächst wird je­doch ein Ar­beits­tag aus die­sem Zim­mer 1028 er­zählt, von der (un­be­zahl­ten) Früh­stücks­pau­se über die Pro­ze­du­ren beim Mit­tag­essen (in der Kan­ti­ne gab es nur ein Ge­richt – die An­ge­stell­ten müs­sen in Schich­ten ge­hen) bis zum se­kun­den­ge­nau­en Auf­bruch in den Fei­er­abend nebst »In­du­strie­sum­men« nach dem lee­ren Ge­bäu­de. Man be­kommt das Wort »Mit­ar­bei­ter« er­klärt und wird in die Un­ter­schie­de zwi­schen den ein­zel­nen Be­to­nun­gen des Wor­tes »Mahl­zeit« ein­ge­weiht, be­vor die Va­ri­an­ten von Kau­rhyth­men und Schmatz­ge­räu­schen beim Kan­ti­nen­es­sen se­ziert wer­den. Köst­lich die Sze­ne­rien des an­schlie­ßen­den Mit­tag­schla­fes – ent­we­der auf dem dann nicht mehr ganz so stil­len Ört­chen oder ein­fach auf­recht sit­zend im Bü­ro. Es wird ge­raucht, aber er­staun­lich we­nig ge­trun­ken. Was­ser gilt als exo­ti­sches Ge­tränk, Kuhl­wein nimmt Nes­ca­fé, mehr aus Ge­wohn­heit.

Die Fir­ma hat 822 An­ge­stell­te und, wie es ein­mal la­ko­nisch heißt, 600 Schreib­ti­sche: »Die Ste­hen­den wer­den we­ni­ger, die Sit­zen­den be­kom­men das Über­ge­wicht.« In die­sem Stil sind gro­ße Pas­sa­gen des Bu­ches. Die Be­triebs­ver­samm­lung et­wa. Oder der Be­such des Haupt­ak­tio­närs der DRAMAG, der rund zwei Stun­den bleibt, aber die Fir­ma vor­her vier­zehn Ta­ge in Atem hält. Man hört so ei­ni­ges: Vor­stands­krie­ge, Ab­schuß­li­sten, Stüh­le­sä­ger. Über­ra­schen­de Per­so­nal­wech­sel. Be­geg­nun­gen im Auf­zug. Die Ge­sprä­che un­ter­ein­an­der: Ur­laub, Klatsch, Po­li­tik. Manch­mal weht »Ni­vea-Duft« durch die Eta­gen. Wenn man das nicht noch aus ei­ge­ner An­schau­ung er­lebt hat – hier ist die Mög­lich­keit da­zu.

Rich­artz ver­steht es, sei­ne Spit­zen nicht all­zu sehr auf Ko­sten der Prot­ago­ni­sten zu ma­chen (heut­zu­ta­ge ziem­lich sel­ten). Es ist eher ein Woo­dy-Al­len-Hu­mor des An­ge­stell­ten­we­sens der 1970er Jah­re. Sie kön­nen nicht an­ders, sind ein­ge­bun­den in die Ab­läu­fe ih­rer Zeit. (Wie wer­den die Bü­ro­ro­ma­ne der 2010er Jah­re aus­se­hen? Was, wenn es nur noch Home Of­fice gibt?)

Be­vor sich Rich­artz den drei Prot­ago­ni­sten und de­ren »mür­ben, sei­di­gen Er­in­ne­run­gen« wid­met (der Krieg ist erst 27 Jah­re vor­bei – es ist al­so 1972), gibt es ei­nen klei­nen Knall­ef­fekt mit Fen­ster­put­zern, den man ge­trost über­blät­tern kann. Dann weicht suk­zes­si­ve der sa­ti­ri­sche Ton ei­nem mil­den, mo­dern-iro­ni­schen Er­zäh­len. Kuhl­weins Ju­gend (Flak­hel­fer-Ge­ne­ra­ti­on), sei­ne kur­ze und schließ­lich un­er­füll­te Lie­be zu »El­fie«, der jet­zi­gen Frau Klatt. Das Zäh­len der Jah­re bis zur Ren­te, die me­cha­ni­sche Ar­beit mit den Zah­len (Li­ne­al, Blei­stift, Ra­dier­gum­mi). Frau Klatts per­ma­nen­te Schimpf­e­rei­en auf al­le und je­den, be­son­ders aber auf Aus­län­der. Die Lieb­schaft von Frl. Mau­ler mit dem re­bel­li­schen Psy­cho­lo­gie­stu­den­ten, von dem die El­tern nichts wis­sen dür­fen.

Das En­de vom Zim­mer 1028 soll nicht ver­ra­ten wer­den; es ge­rät ein biss­chen zu schau­er­lich. Ge­ra­de­zu pro­phe­tisch das letz­te Ka­pi­tel mit dem pro­gram­ma­ti­schen Ti­tel »Wei­ter­ge­hen, nicht ste­hen­blei­ben«. Hier wer­den die neue­sten Er­run­gen­schaf­ten des Bü­ro­we­sens vor­ge­stellt, ei­ne Text­ver­ar­bei­tungs­ma­schi­ne mit ih­ren 499 ge­spei­cher­ten Stan­dard­sät­zen. Der Rie­sen-Ak­ten­ver­nich­ter, der auch auf Heft- und Bü­ro­klam­mern kei­ne Rück­sicht nimmt. Und schließ­lich das, wo­von al­le re­den, aber kaum je­mand et­was an­zu­fan­gen weiß: der EDV.

42 Jah­re nach Er­schei­nen die­ses Bu­ches ist klar: Das, was dort halb iro­nisch, halb ernst als Fort­schritt ge­fei­ert wird, war erst ein Be­ginn – nein, eher ein Über­gang, der auch schon wie­der über­holt ist. Da­nach ka­men die Com­pu­ter auf die Schreib­ti­sche. Es gibt kei­ne Bo­ten mehr, kei­ne Ste­no­ty­pi­stin­nen, kei­ne ge­beug­ten Rücken über Kon­ten und Zah­len­wer­ke. Statt­des­sen Bild­schirm­schau­er. Die Ar­bei­ten, die einst das Bü­ro ge­prägt ha­ben, sind ver­schwun­den. Und mit ih­nen die­je­ni­gen, die die­se Ar­bei­ten aus­ge­führt ha­ben. Die­se bit­te­re Er­kennt­nis macht schon Rich­artz, En­de der 1970er Jah­re. Aber das war die Zeit, als man die Leu­te noch mas­sen­wei­se in die Bü­ros ge­schickt hat.

Ei­ne selt­sa­me Me­lan­cho­lie macht sich nach der Lek­tü­re breit. »Bü­ro­ro­man« ist Zeit­rei­se aber bis­wei­len auch Kul­tur­ge­schich­te. Nein, frü­her war es nicht bes­ser, son­dern ein­fach an­ders. Man soll­te sol­che Bü­cher häu­fi­ger le­sen, um er­fas­sen zu kön­nen, wie sehr sich die Ge­sell­schaft in nur an­dert­halb Ge­ne­ra­tio­nen ge­wan­delt hat. Wal­ter E. Rich­artz hat­te da­zu ei­nen li­te­ra­risch über­zeu­gen­den Ro­man ge­schrie­ben, in dem er meh­re­re Er­zähl­ge­n­res ge­konnt und sou­ve­rän mit­ein­an­der ver­knüpft. Die Zeit hat sich ver­än­dert, aber der »Bü­ro­ro­man« bleibt ein Kunst­werk.

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  1. Dan­ke für die treff­li­che Zu­sam­men­fas­sung.
    Der »Bü­ro­ro­man« soll­te zur Pflicht­lek­tü­re und da­mit Prü­fungs­stoff ei­ner­seits für kaufm. Lehr­lin­ge an­der­seits für Kurs­be­su­cher von Ma­nage­ment-Trai­nings u. dergl. m. ge­hö­ren.