Hand­kes Ra­che

Peter Handke: Das zweite Schwert

Pe­ter Hand­ke:
Das zwei­te Schwert

» ‘Das al­so ist das Ge­sicht ei­nes Rä­chers!’ sag­te ich zu mir, als ich mich an dem be­wuß­ten Mor­gen, be­vor ich mich auf den Weg mach­te, im Spie­gel an­sah.«

Mit die­sem Satz be­ginnt Pe­ter Hand­kes Er­zäh­lung Das zwei­te Schwert, und als Le­ser könn­te man nun an­neh­men, die im Un­ter­ti­tel ver­spro­che­ne »Mai­ge­schich­te« wer­de als­bald los­ge­hen. Der ent­schlos­se­ne Ge­stus des An­fan­gens er­in­nert an be­kann­te Er­zähl­werk der Li­te­ra­tur­ge­schich­te, wo der Au­tor gleich zu Be­ginn ei­ni­ge wich­ti­ge Mit­tei­lun­gen über die Haupt­fi­gur und die Si­tua­ti­on macht, in der er sich be­fin­det. »Je­mand muß­te Jo­sef K. ver­leum­det ha­ben, denn oh­ne daß er et­was Bö­ses ge­tan hät­te, wur­de er ei­nes Mor­gens ver­haf­tet.« Tat­säch­lich geht die­se Ge­schich­te so­gleich los, die bei­den Scher­gen bre­chen in K.s Le­ben ein, doch be­kannt­lich ver­wickelt sich die Ge­schich­te im­mer mehr, sie fin­det kein En­de, und wenn es ei­nes gibt – Kaf­ka hat es skiz­ziert –, so weiß man nicht, wie die Er­zäh­lung dort­hin ge­lan­gen kann. Der Ro­man ist Frag­ment ge­blie­ben.

Hand­ke hat die Wer­ke, die wir von ihm ken­nen, al­le­samt ab­ge­schlos­sen, doch im Ver­lauf sei­nes Schrift­stel­ler­le­bens hat er die Di­rekt­heit mit der er in frü­hen Er­zäh­lun­gen in me­di­as res ging, ver­lo­ren oder be­wußt ab­ge­legt. Der Wech­sel er­folg­te in et­wa zu der Zeit, in der Hand­ke sich von Kaf­ka als Vor­bild los­sag­te. Die Angst des Tor­manns beim Elf­me­ter zum Bei­spiel be­ginnt so: »Dem Mon­teur Jo­sef Bloch der frü­her ein be­kann­ter Tor­mann ge­we­sen war, wur­de, als er sich am Vor­mit­tag zur Ar­beit mel­de­te, mit­ge­teilt, daß er ent­las­sen sei.« Kom­pak­te Syn­tax und viel (für not­wen­dig ge­hal­te­ne) Mit­tei­lung, wie in den Ge­schich­ten Kleists. Un­ver­mit­telt er­fah­ren wir Na­men, Be­ruf, sport­li­che Ak­ti­vi­tät und die Si­tua­ti­on, in die sich der Held ge­wor­fen sieht. In ei­nem spä­te­ren Werk, in dem Hand­ke die Ge­schich­te des »ge­glück­ten Tags« zu er­zäh­len ver­sucht, fragt sich der Er­zäh­ler selbst, wes­halb er den ei­gent­li­chen Be­ginn im­mer wie­der ver­schiebt.

»Und wo bleibt, bei dei­nen stän­di­gen Ab­schwei­fun­gen, Um­we­gen, Um­ständ­lich­kei­ten, dei­nem ewi­gen Zö­gern, Ab­bre­chen so­fort mit dem klein­sten an­he­ben­den Schwung, ewi­gen Neu­an­fän­gen, je­ne Li­nie der Schön­heit und An­mut« – Wil­liam Ho­garths li­ne of be­au­ty and grace, die der Schrei­ben­de er­klär­ter­ma­ßen auf sei­ne Wei­se zie­hen möch­te – »wel­che, wie an­ge­deu­tet, den ge­glück­ten Tag be­zeich­net, und, wie da­nach be­schwo­ren, auch den Ver­such dar­über lei­ten soll­te? Wann, an­stel­le des un­ent­schie­de­nen Zick­zacks drau­ßen an den Pe­ri­phe­rien, des zitt­ri­gen Grenz­zie­hens an ei­ner um­so lee­rer wir­ken­den Sa­che, setzt du end­lich, Satz für Satz, zu dem so leicht-wie-schar­fen Schnitt, durch das Wirr­warr in me­di­as res, an, da­mit dein ob­sku­rer ‘ge­glück­ter Tag’ be­gin­nen kann, sich zu der All­ge­mein­heit ei­ner Form zu lich­ten?« Einst­wei­len bleibt es bei An­sät­zen, bei Ver­su­chen eben, erst im letz­ten Fünf­tel des Tex­tes gibt es et­was wie ei­ne – durch­aus all­ge­mei­ne, ein­zel­ne Ta­ge ver­all­ge­mei­nern­de – Chro­nik des in Fra­ge ste­hen­den Tags. Ein Groß­teil der Er­zähl­zeit ver­geht mit al­ler­lei Vor­be­rei­tun­gen und Selbst­be­fra­gun­gen hin­sicht­lich des Er­zäh­lens.

Ver­zö­gern tut sich al­so das Er­zäh­len selbst, wie in an­de­ren, epi­schen und ent­spre­chend um­fang­rei­chen Wer­ken die Hand­lung, bei­spiels­wei­se ei­ne so ein­fa­che wie das Be­stei­gen ei­nes dem­nächst ab­fah­ren­den Bu­ses in Die mo­ra­wi­sche Nacht oder der Auf­bruch zu ei­ner re­gio­na­len Rei­se, auf wel­cher der Ich-Er­zäh­ler der weib­li­chen Haupt­fi­gur nach­spürt und die bei­de am En­de zu ei­ner fa­mi­liä­ren Zu­sam­men­kunft füh­ren wird, in Die Obst­die­bin. Die klei­ne­re Er­zäh­lung Das zwei­te Schwert wie­der­holt und va­ri­iert be­reits mehr­fach er­schrie­be­ne We­ge, das heißt im­mer auch: Er­zähl­we­ge, in der Ge­gend der Nie­mands­bucht und ih­rer wei­te­ren Um­ge­bung, dies­mal als Ile de France be­nannt, mit der »Welt­stadt« Pa­ris in­mit­ten, die hier frei­lich um­gan­gen wird, und sie tut es in ei­ner ähn­li­chen Be­we­gung des Schwei­fens wie zum Bei­spiel in Der Gro­ße Fall, wo es nicht um Ra­che geht, ob­wohl auch hier sich Mord­ge­lü­ste mel­den, die auch hier letz­ten En­des in et­was an­de­res ver­wan­delt wer­den, in ei­ne Lie­bes­be­geg­nung, die die Ab­kehr von der ur­sprüng­li­chen Er­zähl­in­ten­ti­on er­folg­reich voll­endet.

Aber war­um zö­gert der Er­zäh­ler? Aus Angst vor dem Miß­lin­gen, wie der Dich­ter, der sich nicht ge­traut, die wei­ße Sei­te zu be­flecken? Mag sein, daß das mit­spielt, doch das Zö­gern ge­winnt selbst er­zäh­le­ri­sche Be­deu­tung, in­dem das Ra­che­stre­ben selbst nach und nach, oh­ne daß der Er­zäh­ler dar­über re­flek­tier­te und den Le­ser auf­merk­sam mach­te, als zu be­sänf­ti­gen­der, in et­was an­de­res zu ver­wan­deln­der Im­puls er­kannt wird. Das Zö­gern ist im Fall von Das zwei­te Schwert ein Zö­gern vor der Ra­che, das die Ge­stalt ei­nes mehr oder min­der lan­gen Wegs zu ei­nem ver­scho­be­nen Ziel ge­winnt, wo­bei der Weg mit dem Ziel zu­sam­men­fällt, weil das Er­zäh­len und Schrei­ben selbst ei­ne Art sub­li­mier­ter Ra­che ist. Was der Er­zäh­ler sei­ner Fein­din an­tut, ist, daß er sie in der Er­zäh­lung nicht vor­kom­men läßt, al­so von ihr im Grun­de ge­nom­men ab­ge­las­sen hat. Die Be­sänf­ti­gung braucht ih­ren Weg; sie ist der Weg.

Das Wort, von Hand­ke manch­mal ge­braucht, und zwar über die Jahr­zehn­te hin­weg im­mer wie­der, seit der Leh­re der Sain­te-Vic­toire, er­in­nert an Adal­bert Stif­ters »Sanf­tes Ge­setz«. In Der Gro­ße Fall hö­ren wir ei­nen Nach­klang da­von in der Er­wäh­nung ei­nes Films mit dem Ti­tel Der sanf­te Lauf, den es tat­säch­lich gibt: Es ist der er­ste Spiel­film, in dem Bru­no Ganz die Haupt­rol­le spiel­te (der Ver­weis macht klar, daß Ganz das Vor­bild »sei­nes« Schau­spie­lers, wie ihn der Er­zäh­ler nennt, ist – wie­wohl Hand­ke in der Fi­gur wohl eher sich selbst por­trä­tiert). In sei­nem ver­mut­lich letz­ten Film soll der Schau­spie­ler ei­nen Amok­läu­fer dar­stel­len, doch er sträubt sich da­ge­gen, wie er sich ge­gen sei­ne ei­ge­nen ag­gres­si­ven Im­pul­se wehrt. Von der Gro­ßen Ver­nich­tung zu­rück zum Sanf­ten Ge­setz, vom Amok­lauf zum fried­lich wahr­neh­men­den, schein­bar ziel­lo­sen Fla­nie­ren. Wie ge­sagt, das­sel­be glis­se­ment, die­sel­be un­ter­schwel­li­ge Er­zähl­dyna­mik, die­sel­be Art der Ver­wand­lung fin­den wir in Das zwei­te Schwert wie­der.

Wie er­zählt man die blo­ße Fort­be­we­gung, die oft ge­nug auch noch sehr lang­sam, weil zu Fuß statt­fin­det? Hand­kes Wer­ke sind kei­ne Rei­se­be­rich­te, die Kun­de aus der Frem­de tun, eher äh­neln sie Road Mo­vies, wie Wim Wen­ders sie dreh­te (et­wa schon Fal­sche Be­we­gung!), es sind Ge­schich­ten vom Un­ter­wegs­sein und da­vor noch vom »sich auf den Weg ma­chen«, von Auf­brü­chen und Auf­schwün­gen, die auf Schwie­rig­kei­ten sto­ßen, die dann selbst zu Er­zähl­fak­to­ren wer­den. On the road, ja, aber eher auf Pfa­den, auf Um- und Ab­we­gen, auf Ne­ben­stra­ßen oder quer­feld­ein. Im Ge­hen (und Fah­ren) neh­men die Fi­gu­ren nicht nur ih­re Um­ge­bun­gen wahr, sie er­zäh­len auch ih­re Ge­schich­te und er­zäh­len sie sich selbst, we­nig­stens Tei­le da­von, um sich mit sich zu ver­stän­di­gen. In Das zwei­te Schwert ist die Be­zie­hung des Ich-Er­zäh­lers zu sei­ner Mut­ter, die ein­mal so­gar als »hei­li­ge Mut­ter« be­zeich­net wird, der zen­tra­le Ein­satz, das en­jeu, ob­wohl nicht viel von ihr er­zählt wird (das hat Hand­ke schon in Wunsch­lo­ses Un­glück ge­tan). Die Mut­ter ist schwer be­lei­digt, d. h. ver­leum­det wor­den, in­dem ihr nach­ge­sagt wur­de, sie ha­be 1938 beim An­schluß Öster­reichs an Deutsch­land in ei­ner Men­schen­men­ge Hit­ler zu ge­ju­belt. Die An­ek­do­te scheint sich auf die In­sze­nie­rung ei­ner Büh­nen­fas­sung von Wunsch­lo­ses Un­glück im Ka­si­no des Wie­ner Burg­thea­ters zu be­zie­hen, bei der tat­säch­lich Hand­kes Mut­ter in ei­ner Fo­to­mon­ta­ge in ei­ner sol­chen Ju­bel­men­ge ge­zeigt wur­de. Hand­ke war da­mals, 2014, zu­recht er­zürnt, in der Fik­ti­on hat er die­sen Zorn je­doch in ei­ne an­de­re Rich­tung ge­lenkt, näm­lich ge­gen den gän­gi­gen Jour­na­lis­mus. Die Be­lei­di­ge­rin ist im Zwei­ten Schwert ei­ne Jour­na­li­stin, und die be­lei­dig­te Mut­ter wird durch die Er­zäh­lung selbst ge­rächt, und nicht durch ei­nen ge­walt­tä­ti­gen An­griff auf die Be­lei­di­ge­rin – die Ge­schich­te nimmt, wie ge­sagt, ei­nen ganz an­de­ren Ver­lauf. Da­durch, daß ihr Sohn ein welt­be­rühm­ter Au­tor ge­wor­den ist, ist sie ge­recht­fer­tigt, ob­wohl ihr Le­ben früh­zei­tig und schein­bar un­er­füllt ab­brach (wenn wir uns an der Ge­schich­te von Wunsch­lo­ses Un­glück ori­en­tie­ren und die bei­den Fi­gu­ren zu­sam­mense­hen).

Die Be­lei­di­gung der Mut­ter des Ich-Er­zäh­lers in Das zwei­te Schwert muß lan­ge nach de­ren Tod statt­ge­fun­den ha­ben, denn vie­les deu­tet dar­auf hin, daß er sich im fort­ge­schrit­te­nen Al­ter be­fin­det, nicht zu­letzt die vie­len Rück­blicke und An­spie­lun­gen auf Wer­ke und Ti­tel der Schrift­stel­ler­lauf­bahn des Pe­ter Hand­ke. Die Mut­ter dürf­te al­so zu die­sem Zeit­punkt nicht mehr ge­lebt ha­ben, und zieht man die Bio­gra­phie des Au­tors oder sei­ne Mut­ter-Er­zäh­lung aus dem Jahr 1972 her­an, so liegt ihr Tod Jahr­zehn­te zu­rück. Die Be­lei­di­gung fand nur in ei­nem jour­na­li­sti­schen Ne­ben­satz statt, ver­mut­lich eher ei­ne Fahr­läs­sig­keit der Ver­fas­se­rin des Tex­tes, die sich mit der Ge­schich­te nicht so ge­nau aus­ein­an­der­ge­setzt ha­ben dürf­te. Sie hat­te ge­schrie­ben, »mei­ne Mut­ter sei ei­ne der Mil­lio­nen aus der ein­sti­gen gro­ßen ‘Do­nau­mon­ar­chie’ ge­we­sen, für wel­che die Ein­ver­lei­bung des klein­ge­wor­de­nen Lan­des ins ‘Deut­sche Reich’ An­laß zu Freu­den­fe­sten ge­we­sen sei; mei­ne Mut­ter ha­be ge­ju­belt, will sa­gen, sei ei­ne An­hän­ge­rin, ei­ne Par­tei­ge­nos­sin ge­we­sen.« Die Bio­gra­phie Hand­kes und sei­ner Fa­mi­lie sagt das Ge­gen­teil aus, der slo­we­ni­sche Zweig, zu dem Hand­ke sich seit je­her be­kennt, war an­ti­na­zi­stisch ein­ge­stellt, in meh­re­ren fik­tio­na­len Wer­ken – oft nur »leicht« fik­tio­na­li­siert, so daß der au­to­bio­gra­phi­sche Hin­ter­grund durch­scheint – kommt dies zum Tra­gen, und die Hin­wen­dung des Au­tors zu­erst zu Slo­we­ni­en und dann, als Ju­go­sla­wi­en zu zer­fal­len be­gann, zu Ser­bi­en, ist nur ei­ne spä­te Kon­se­quenz des­sen (Sym­pa­thien mit dem Na­zis­mus gab es hi­sto­risch vor al­lem in Kroa­ti­en). Der Na­tio­nal­so­zia­lis­mus ist für Hand­ke der In­be­griff von Ge­walt, und sei­ne Ent­schlos­sen­heit, die­ser Ge­walt mit sei­nen Mit­teln zu be­geg­nen, zieht sich eben­falls durch sein Werk. Ein frü­hes Bei­spiel (aus dem Jahr 1989) ist die klei­ne Epo­pöe Ver­such des Ex­or­zis­mus der ei­nen Ge­schich­te durch ei­ne an­de­re, ent­hal­ten in dem Sam­mel­band Noch ein­mal für Thuky­di­des. Was hier aus­ge­trie­ben wer­den soll ist die Ok­ku­pa­ti­ons- und Be­sat­zungs­ge­schich­te der Deut­schen in Frank­reich, und zwar am sel­ben Ort, wo ei­nes der Fol­ter­zen­tren ge­we­sen war, durch ei­ne fried­li­che Ge­schich­te der klei­nen Din­ge und mensch­li­chen Ver­hält­nis­se ab­seits der Hi­sto­rie, die im­mer wie­der zu Blut­bä­dern führt. Die Er­zäh­lung vom zwei­ten Schwert, dem fried­lich-li­te­ra­ri­schen näm­lich, ist nichts an­de­res als ein sol­cher, al­ler­dings aus­ge­dehn­te­rer Ver­such des Ex­or­zis­mus, und Hand­ke be­an­sprucht in die­sem Al­ters­werk, daß so ei­ne Aus­trei­bung ge­lin­gen kann – was sich rück­blickend auf sein ge­sam­tes Schaf­fen be­zie­hen läßt.

Ei­ne an­de­re Art des Ein­grei­fens schil­dert Hand­ke in Der Chi­ne­se des Schmer­zes (1983). »Der Be­trach­ter greift ein«, so lau­tet dort schon die Über­schrift des Mit­tel­teils; die­ser an sich fried­fer­ti­ge Be­trach­ter rafft sich zur Ge­walt­tat auf, nach­dem er in der Um­ge­bung sei­nes Wohn­orts Ha­ken­kreu­ze be­merkt hat. Zu­fäl­lig be­geg­net er dem Tä­ter, ge­rät so­gleich in Ra­ge, tö­tet ihn mit ei­nem Stein­wurf und wirft ihn vom Mönchs­berg, den man hier un­schwer wie­der­erkennt, auf die in Salz­burg so ge­nann­te Selbst­mör­der­ter­ras­se hin­un­ter. Er steht zu sei­ner ei­ge­nen Tat, muß aber er­fah­ren, daß er sich im Tö­tungs­akt dem Na­zi-Tä­ter an­ge­gli­chen hat, so­zu­sa­gen Glei­ches mit Glei­chem ver­gel­tend, Ge­walt ge­gen Ge­walt. Trotz­dem: »Es war Recht ge­sche­hen«, so steht es Wort für Wort im Text. Die­ses Recht ist kein Recht im rechts­staat­li­chen Sinn, es ist Selbst­ju­stiz – oder eben: Ra­che. Auch in Das zwei­te Schwert recht­fer­tigt der Ich-Er­zäh­ler die Selbst­ju­stiz, weil er zur Ju­stiz kein Ver­trau­en mehr hat (zwei Des­il­lu­sio­nie­run­gen in der Hand­ke­schen Bio­gra­phie: Jour­na­lis­mus und Ju­stiz). »Und war das Süh­nen­las­sen denn nicht Sa­che der Ob­rig­keit? Nichts da von Ob­rig­keit und Amt­lich­keit! Ein Amt da­ge­gen wohl: Das Ra­che-Amt, und es war das mei­ne.« Al­ler­dings er­folgt die­se Recht­fer­ti­gung im er­sten der bei­den Tei­le der Er­zäh­lung. Im zwei­ten Teil sieht er da­von ab und er­setzt das Ra­che-Amt durch das li­te­ra­ri­sche Schrei­ben be­zie­hungs­wei­se Nicht-Schrei­ben, die rhe­to­ri­sche El­lip­se, das Aus­spa­ren der Bö­se­wicht­in. Ge­nau dar­in be­steht der gro­ße Er­zähl­bo­gen die­ses Werks. Es stellt ei­ne Al­ter­na­ti­ve zum Ein­grei­fen in Der Chi­ne­se des Schmer­zes dar, ei­nen Schritt zwar nicht zur Ver­söh­nung, doch zur Be­sänf­ti­gung, die ein Ab­wen­den von den Ge­walt­tä­tern und Hin­wen­den zu den Din­gen und ih­ren For­men nach sich zieht.

Im Ab­satz, der auf die An­nah­me des Ra­che-Amts folgt, er­in­nert sich der Ich-Er­zäh­ler an ei­ne an­de­re Epi­so­de, ei­ne ein­zi­ge in sei­ner Bio­gra­phie, in der er sich das Ra­che-Amt an­ge­maßt hat­te. Die­se Epi­so­de ist in Hand­kes Kin­der­ge­schich­te (von 1981) be­schrie­ben, und die­ser Ver­weis zeigt, wie stark sein Schrei­ben über die ein­zel­nen Wer­ke hin­weg au­to­bio­gra­phisch ge­prägt ist: Au­to­fik­ti­on, ge­wiß, aber in Tuch­füh­lung mit dem tat­säch­lich Ge­leb­ten. Dort wird sein noch nicht zehn­jäh­ri­ges Kind in Frank­reich von ei­nem Mann mit dem Tod be­droht un­ter dem Vor­wand, daß es zum Volk der Tä­ter ge­hö­re und, ob­wohl ei­ne Nach­ge­bo­re­ne, schuld sei am Tod von Mil­lio­nen Ju­den. Der Va­ter steckt ein Mes­ser ein und macht sich auf den Weg zum Ab­sen­der des Droh­briefs, emp­fin­det die Si­tua­ti­on dann aber, ein­mal vor Ort, als gro­tesk und sieht von sei­nem Vor­ha­ben ab. Zu­vor hat­te er sich noch »groß­ar­tig da­ste­hen« se­hen, »in der welt­rich­ter­li­chen Hal­tung ei­nes Voll­strecke­res«, der zu sei­ner Hand­lung be­fugt ist.

Auch hier wer­den der Er­zäh­ler und sein An­ge­hö­ri­ger auf die Sei­te der hi­sto­ri­schen Ge­walt­tä­ter ge­stellt – zu un­recht, wie man in bei­den Fäl­len sa­gen kann –, und der Schrift­stel­ler wehrt sich da­ge­gen. In an­de­ren Fäl­len ist er der­je­ni­ge, der sich auf­ge­for­dert sieht, ge­gen die Na­zi-Ge­walt vor­zu­ge­hen – die Fra­ge ist nur, mit wel­chen Mit­teln, durch Ge­gen­ge­walt oder durch fried­li­che Ver­wand­lung. Klar ist, daß für Hand­ke die Er­fah­rung des Welt­kriegs und die Ge­schich­te des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus mit ih­ren kon­kre­ten Aus­wir­kun­gen auf sei­ne Fa­mi­lie der ei­ne, im­mer noch nicht er­lo­sche­ne Herd der Ge­walt ist, ge­gen die er mehr oder min­der mit sei­nem ge­sam­ten Werk an­schreibt. Da­bei sind die au­tor­na­hen Fi­gu­ren, die Al­ter-Egos, nicht im­mer nur die Gu­ten, sie be­ge­hen selbst Un­ta­ten – in der Kin­der­ge­schich­te schlägt der Va­ter ein­mal sein Kind »mit al­ler Ge­walt« – und ste­hen manch­mal lä­cher­lich da, stot­tern­de Idio­ten, wie Hand­ke sie zu­wei­len in An­spie­lung auf sich selbst ge­zeich­net hat.

Doch Hand­kes Fla­nier- und Amok­ge­schich­ten sind oft­mals an äu­ße­ren Er­eig­nis­sen arm, und so stellt sich noch ein­mal die Fra­ge, wie man die blo­ße Fort­be­we­gung, den sanf­ten Gang oder den zor­ni­gen Lauf, er­zäh­le­risch be­wäl­tigt. Es ist ei­ne Ab­fol­ge von Er­re­gun­gen und Be­ru­hi­gun­gen, aus­ge­löst durch kon­kre­te Wahr­neh­mun­gen, de­ren Be­wer­tung im Ver­lauf der Hand­lung eben­falls wech­seln kann. So kommt es in ei­nem fort zu In­ten­si­vie­run­gen des Er­zähl­tons, zu Stei­ge­run­gen, die wie Wel­len kom­men und ge­hen und dann wie­der ent­spann­te­ren Pha­sen Platz ma­chen. Der Amok­lauf ist na­tur­ge­mäß ein Hö­he­punkt der Er­re­gung; zu­sam­men mit der rei­nen, in­ter­es­se­lo­sen An­schau­ung im Sin­ne Goe­thes und Scho­pen­hau­ers durch­zieht er als im­mer wie­der neu va­ri­ier­tes The­ma das Ge­samt­werk. Der Auf­bruch selbst, al­so das Ver­las­sen des Hau­ses und der Be­ginn des Schrei­bens an ei­nem Text, ist die Form der Er­re­gung (die nicht un­be­dingt de­struk­tiv sein muß, po­si­tiv ge­wen­det ist sie Be­gei­ste­rung), wäh­rend die Pau­se und das ru­hi­ge Ne­ben­ein­an­der­set­zen von Wahr­ge­nom­me­nem, oft mit der schlich­ten Kon­junk­ti­on »und«, der Ent­span­nung ent­spre­chen. Von Sy­stole und Dia­sto­le hat­te Goe­the ge­spro­chen, von Kri­sen, die im­mer wie­der ge­löst wer­den müs­sen, auch in der Mi­kro­struk­tur des Ge­sche­hens in der Na­tur, der letz­ten En­des die mensch­li­chen Ge­schich­ten ent­spre­chen; von »Ein- und Aus­at­men der Welt, in der wir le­ben, we­ben und sind.« Bei Hand­ke sind die Kri­sen ei­ner­seits mit Er­leb­nis­sen und Er­in­ne­run­gen ver­bun­den, in de­nen Ge­walt ei­ne Rol­le spielt, an­de­rer­seits auch mit dem form­lo­sen Durch­ein­an­der und der Zu­dring­lich­keit der Um­ge­bung, die das Sub­jekt, das des­halb nicht zum Be­trach­ter wer­den kann, nicht in Ru­he läßt – am deut­lich­sten nach­voll­zieh­bar in Epi­so­den der Lärm­be­lä­sti­gung, die in sei­nen Bü­chern seit ge­rau­mer Zeit re­gel­mä­ßig vor­kom­men und in Die Mo­ra­wi­sche Nacht in ei­nem Sym­po­si­on über »Stil­le und Lärm« gip­feln. Der Ich-Er­zäh­ler ge­steht in Das zwei­te Schwert, er ha­be schon als Kind Ge­walt­phan­ta­sien ge­habt (da ist er wohl kei­ne Aus­nah­me) und sei ein­mal als Her­an­wach­sen­der drauf und dran ge­we­sen, den ge­walt­tä­ti­gen Stief­va­ter mit der Axt zu er­schla­gen – was den Hand­ke-Le­ser an die At­mo­sphä­re von Wunsch­lo­ses Un­glück er­in­nert. Es ist wahr­schein­lich ei­ne der die Er­zäh­lung in­ten­si­vie­ren­den Über­trei­bun­gen, wenn er sagt, er ha­be sich »zum Mör­der ge­bo­ren ge­fühlt«, doch die wie­der­hol­te Emp­fin­dung ei­nes Im­pul­ses der Zer­stö­rung wer­den wir ihm durch­aus glau­ben kön­nen.

In sei­ner Re­de bei der Ver­lei­hung des Ivo An­drić-Prei­ses sag­te Hand­ke im Mai 2021, die Li­te­ra­tur ha­be »viel­leicht viel mit Zorn zu tun, auch mit Wut (was manch­mal gut ist), aber nie mit Haß! Und das ist der gro­ße Un­ter­schied.« Of­fen ge­stan­den kann ich die­se Dif­fe­ren­zie­rung nicht recht nach­voll­zie­hen. Ent­steht Zorn nicht aus Haß auf et­was oder je­man­den? Ist der Amok­läu­fer nicht ein Men­schen­feind, oder zu­min­dest ei­ner, den ein sehr all­ge­mei­ner Haß um­treibt, sei es ge­gen »die Aus­län­der«, »die Un­gläu­bi­gen«, »die Po­li­ti­ker« oder »die Jour­na­li­sten«, so daß oft nur ein Fun­ke – ein frisch ge­mal­tes Ha­ken­kreuz oder ein lär­men­der Nach­bar – ge­nügt, um ihn aus­ra­sten zu las­sen? Haß auch auf Din­ge, ja­wohl, zum Bei­spiel auf die Sä­ge, mit der der Er­zäh­ler im Ver­such über den ge­glück­ten Tag ei­nen Stamm durch­zu­schnei­den ver­sucht, was ihm nicht auf An­hieb ge­lingt. An die­ser Stel­le er­in­nert er sich an den »länd­li­chen Groß­va­ter«, der für Zorn­aus­brü­che und Ver­flu­chun­gen be­rühmt ge­we­sen sei. Hand­ke sieht sich und sein Tun – wenn der bio­gra­phi­sche Brücken­schlag er­laubt ist – seit je­her in der Tra­di­ti­on die­ses Groß­va­ters; er scheint auch des­sen Un­be­herrscht­hei­ten ge­erbt zu ha­ben, und ein Teil sei­nes Werks spürt di­ver­sen Mög­lich­kei­ten nach, mit die­sen um­zu­ge­hen. In Des­car­tes‘ Me­cha­nik der Ge­füh­le (Les pas­si­ons de l’âme) ge­hört der Haß zu den we­ni­gen – es sind nicht mehr als sechs – grund­le­gen­den Emo­tio­nen und wird stets paar­wei­se mit der Lie­be be­spro­chen. Das Ge­fühl der Lie­be läßt uns die Nä­he der ge­lieb­ten Per­son oder des ge­lieb­ten Ge­gen­stan­des su­chen; Haß be­deu­tet, daß wir uns von je­man­dem oder et­was tren­nen wol­len, daß wir es los­sein wol­len, not­falls durch Ver­nich­tung (wenn es sich um star­ken, ech­ten Haß han­delt). Der plötz­lich er­reg­te Zorn ist be­reits ei­ne ab­ge­lei­te­te Emo­ti­on, die den dau­er­haf­te­ren Haß ak­ti­viert, wenn das Sub­jekt durch un­ge­hö­ri­ges Ver­hal­ten oder an­de­re Wid­rig­kei­ten – ein (ver­meint­lich) de­fek­tes Sä­ge­blatt – ge­reizt wird. Bei der er­wähn­ten Preis­ver­lei­hung im ost­bos­ni­schen Više­grad, wo die Wun­den der Bru­der­kämp­fe ge­wiß noch nicht ver­heilt sind, gab sich Hand­ke be­tont fried­lie­bend, und das war si­cher gut so (west­li­che Be­richt­erstat­ter woll­ten es nicht wahr­ha­ben). Doch für sei­ne Li­te­ra­tur sind der ag­gres­si­ve Im­puls und sei­ne Sub­li­mie­rung von An­fang an prä­gend. Be­rühmt wur­de Hand­ke durch sei­ne Pu­bli­kums­be­schimp­fung, die ge­wis­ser­ma­ßen die li­te­ra­ri­sche Ver­län­ge­rung der Flü­che des Groß­va­ters dar­stell­te, und ei­ne der Fi­gu­ren sei­ner frü­hen Schaf­fens­pha­se, der be­reits zi­tier­te Jo­sef Bloch, ist ein schi­zo­phre­ner Mör­der, für des­sen Tat es kein rech­tes Mo­tiv gibt, ab­ge­se­hen da­von, daß ihm die Welt als sol­che zu Lei­be rückt, was teil­wei­se auch für die spä­te­ren Amok­läu­fer Hand­kes gilt. So­weit ich se­he, gibt es im Werk Hand­kes zwei au­tor­na­he Mör­der, näm­lich den Ex-Tor­mann, der ei­ne Frau tö­tet, die er eben erst ken­nen­ge­lernt hat, und den Rä­cher auf dem Mönchs­berg, der zwar ei­ne gu­te Sa­che für sich be­an­spru­chen kann, doch eben­falls im Af­fekt han­delt. Der Schau­spie­ler in Der Gro­ße Fall sieht sich pha­sen­wei­se als Ret­ter – be­son­ders ge­gen­über ei­nem an­ge­hö­ri­gen, sei­nem Sohn – und pha­sen­wei­se als Ver­nich­ter, ja, durch­aus auch als Rä­cher. In Das zwei­te Schwert be­trifft die­se Ver­nich­tungs­wut, die­ses Weg­ha­ben-Wol­len in ei­nem der über­stei­ger­ten Mo­men­te die gan­ze Mensch­heit. Es ist zu­nächst ein in­ne­rer Kampf zwi­schen den bei­den See­len des Er­zäh­lers (was in pa­tho­lo­gi­scher Stei­ge­rung Schi­zo­phre­nie be­deu­tet), ein Kampf der bei­den grund­le­gen­den psy­chi­schen Im­pul­se, bei dem es dar­um geht, den Men­schen­haß in Men­schen­scheu zu­rück­zu­ver­wan­deln, al­so zu ei­nem ru­hi­gen, Ab­stand hal­ten­den, be­schau­li­chen, ge­wäh­ren las­sen­den Ver­hal­ten zu fin­den, das ihm »ei­gent­lich« – im Sinn des Sanf­ten Ge­set­zes – ent­spricht.

»Ver­wan­deln« ist ei­nes der poe­to­lo­gi­schen Haupt­wör­ter Hand­kes; ein an­de­res ist »um­sprin­gen«, sind die Kipp­bil­der. Ver­wand­lung be­wirkt die zu­grun­de lie­gen­de, ste­ti­ge Er­zähl­ar­beit des Au­tors, sei­ne Su­che nach den For­men, die das dem Sub­jekt un­er­träg­li­che Cha­os be­zähmt, so­wie de­ren sprach­ge­rech­te Mit­tei­lung. Das Um­sprin­gen wie­der­um ge­schieht in den Mo­men­ten, für die der wahr­neh­men­de Au­tor of­fen zu sein hat, die er ge­wis­ser­ma­ßen er­ha­schen will, die be­sänf­ti­gen­den, oft nur sehr klei­nen Wahr­neh­mun­gen und Wer­tun­gen-Um­wer­tun­gen des­sen, was ihm auf sei­nen re­gio­na­len Rei­sen be­geg­net.

»Re­gio­nal«, wenn wir an die in der mehr oder we­ni­ger stark my­thi­sier­ten Nie­mands­bucht und ih­rer nä­he­ren Um­ge­bung statt­fin­den­den Ge­schich­ten den­ken, doch im Grun­de ge­nom­men gilt dies auch für sei­ne bal­ka­ne­si­schen und spa­ni­schen Er­zäh­lun­gen: Die Welt ist bei Hand­ke als sol­che re­gio­nal –we­der glo­bal noch na­tio­nal – und nur als sol­che fried­lich. Sie wird vom Stand­ort aus, der oft der Wohn­ort ist, nach und nach er­schlos­sen. Und die Ge­schich­ten und Wahr­neh­mungs­frag­men­te, die sich on the road, in der Fort­be­we­gung, egal ob per pe­des, im Bus, im Vor­or­te­zug oder neu­er­dings auch in der Stra­ßen­bahn er­ge­ben und er­öff­nen, bil­den zu­sam­men, in ih­rer wel­len­haf­ten, gleich­sam mu­si­ka­li­schen Ab­fol­ge die grö­ße­re, am En­de und im Gan­zen dann be­sänf­ti­gen­de Er­zäh­lung. Be­sänf­ti­gend: den Au­tor, den Le­ser, die re­gio­na­le Welt. De fac­to, auch das wis­sen wir, führt oft ge­nug die­se er­zäh­le­ri­sche Frie­dens­lie­be – »Frie­dens­wahn« heißt es ein­mal in Im­mer noch Sturm – al­so die­se Frie­dens­lie­be, de­ren Am­bi­va­lenz man nicht ak­zep­tie­ren und de­ren Her­kunft man nicht se­hen will, zu Er­re­gun­gen in der me­dia­len Welt und da­mit zu neu­en Kon­flik­ten. Der An­laß ist oft ir­gend­ein Li­te­ra­tur­preis, der dem gu­ten Mann, der sich zeit­le­bens red­lich be­müht hat, auf sei­ne al­ten Ta­ge ver­lie­hen wird.

»Es gibt ein Ziel, aber kei­nen Weg; was wir Weg nen­nen, ist Zö­gern.« So lau­tet ei­ner der Apho­ris­men Kaf­kas. Wenn es ein Ziel gibt, wird es un­wich­tig; ja, es ver­schwin­det. Was bleibt, ist der Weg, aber der Weg be­steht aus Auf­brü­chen und Ver­schie­bun­gen, aus Auf­schwün­gen, die im­mer wie­der ab­ge­bro­chen wer­den – und im gan­zen wie durch ein Wun­der doch ei­ne Li­nie er­ge­ben, auch wenn sie in­ner­lich ist, in­ner­lich und auf­ge­schrie­ben, mit­ge­teilt, über­lie­fert. Hand­kes Li­te­ra­tur ent­hält ei­nen un­ge­heu­ren Schatz an Wahr­neh­mungs­bil­dern, an oft auch ähn­li­chen oder glei­chen Din­gen, die im­mer wie­der in leicht ver­än­der­tem Licht er­schei­nen. In die­sem Sinn ist die Welt nie­mals ent­deckt, sie wird nie zu En­de ent­deckt sein, und sie än­dert sich ja auch stän­dig, und der sorg­sam Wahr­neh­men­de und Re­flek­tie­ren­de än­dert sich eben­falls in sei­nem Zö­gern, wei­ter­zu­ge­hen, wie auch in sei­nem Zö­gern, ein­zu­grei­fen. Ham­let, der Prinz von Dä­ne­mark, soll den er­mor­de­ten Kö­nig, sei­nen Va­ter, rä­chen, aber er tut es nicht, weil die Schuld des Schul­di­gen, des Tä­ters, erst er­wie­sen wer­den muß – und wer sind wir, um zu ur­tei­len, zu rich­ten? Bei Hand­ke ist es die Mut­ter, die still­schwei­gend die Ra­che for­dert und selbst ein­mal als Rä­che­rin er­scheint: »Ge­nug ge­rächt!« ant­wor­tet zu­letzt der in die Jah­re ge­kom­me­ne Sohn. Der be­red­te Aus­druck des Zö­gerns des Nach­fah­ren ist das Dra­ma, und es ist – im 21. Jahr­hun­dert – das er­zäh­lend be­sänf­ti­gen­de Schrei­ben, das sich im Er­zäh­len selbst noch ein­mal be­fragt und in Fra­ge stellt und aus die­ser Re­fle­xi­on li­te­ra­ri­sche Fun­ken schlägt. Das zwei­te Schwert ist, oder ge­nau­er: es wird me­ta­pho­risch und fun­giert da­mit auf ei­ner Me­ta­ebe­ne.

Schwer­ter zu Pflug­scha­ren! Selt­sam, daß we­der Hand­ke selbst, der auch in Das zwei­te Schwert bi­bli­sche Tex­te schrei­bend mit­be­denkt und un­ter der Hand neu­schreibt, die­se al­te Pro­phe­zei­ung, die spä­ter zum Mot­to und zur Ma­xi­me um­ge­wan­delt wur­de, kein ein­zi­ges Mal er­wähnt und daß sie auch, so­weit ich se­he, in Be­spre­chun­gen des Buchs nicht vor­kommt. Doch ge­nau dies ver­sucht Hand­ke un­er­müd­lich: aus den Kriegs­werk­zeu­gen sol­che des Frie­dens zu schmie­den, sprach­li­che Werk­zeu­ge der An­schau­ung und der Ar­beit, des Be­stel­lens der Fel­der. Sein gro­ßes Pro­jekt seit sei­ner »klas­si­schen« Wen­de En­de der sieb­zi­ger Jah­re war und ist es, die an­ti­ken Epen von Krieg und Er­obe­rung durch Epen und Epo­pö­en vom fried­li­chen Wer­ken und vom Mü­ßig­gang zu er­set­zen. Das zwei­te Schwert voll­zieht ge­nau die­sen sich mit den Wel­len der Va­ria­ti­on wie­der­ho­len­den Vor­gang und macht ihn zu­gleich zum The­ma. Den Blei­stift nicht aus der Hand le­gen, lau­tet das stil­le Mot­to. Wei­ter­schrei­ben: im­mer noch Sturm, im­mer noch Li­te­ra­tur, im­mer noch die Be­zäh­mung des Sturms.

© Leo­pold Fe­der­mair

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