Xaver Bayer: Heute könnte ein glücklicher Tag seinDer Ich-Erzähler in »Heute könnte ein glücklicher Tag sein« bleibt namenlos. Er ist Student, wohnt in Wien (was ist deprimierender als Wien?), aber man erfährt nicht, was er studiert. Da ziemlich viel von Literatur die Rede ist und eine melancholische Faszination für das Bild des toten Robert Walser im Schnee besteht, vermutet man irgendwann, dass es Literatur oder Germanistik ist. Die Vorlesungen besucht er so gut wie nie. Sein Lernplan ist chaotisch; selbstgesteckte Ziele hält er nicht ein. Trotzdem macht der die »Scheine« und ist irgendwann fertig. Er beginnt seine Diplomarbeit, die jedoch von seinem »Betreuer« als essayistisch und nicht wissenschaftlich genug abgelehnt wird. Wie es dann weitergeht, bleibt unausgesprochen.
Zwar nimmt er sporadisch monatsweise Jobs an, aber die ökonomische Versorgung ist nebulös. Er geht sehr oft aus, konsumiert Alkohol und Drogen in beträchtlichem Ausmass; unterhält ein Auto und reist gelegentlich. Es bleibt unklar, wie er diesen Lebenswandel finanziert.
Ein Buch mit einem geradezu kathedralen Überbau: »Reading-Room« der FAZ (ein hässlicher Anglizismus – dennoch: hörenswert das Lesen von Christian Berkel), Marginalienband mit Interviews, Graphiken und textinterpretatorischem Rüstzeug, eigene Webseite (noch ausführlichere Dokumente als im Marginalienband), und fast jedes Feuilleton äussert sich. Und wenn man das Buch mit seinen fast 1.400 Seiten vor sich liegen hat und in den Händen wiegt, dann fragt man sich, ob die Erwartungen ob dieses Monumentalismus überhaupt eingelöst werden können. Oder ob da nicht ein Autor Opfer seiner eigenen Hybris wird.
Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten
»Die Wohlgesinnten« sind die fiktiven Memoiren von Dr. Maximillian Aue, Jahrgang 1913, deutsch-französischer Herkunft, promovierter Jurist und am Ende, 1945, SS-Obersturmbannführer. Aue ist Ich-Erzähler, was als »neu« in Bezug auf die »Täterperspektive« hingestellt wird. Das stimmt in dieser Absolutheit natürlich nicht und wird nicht besser, in dem man es dauernd wiederholt. Jeder zweite Krimi schiebt heutzutage den Täter und dessen Motivation in den Vordergrund – meist als Brechung zum Alltag des Kommissars. Hinsichtlich der Shoa stimmt das auch nicht. Man kann nicht so tun, als sei die »Sprache der Täter« zu erfinden. Es gibt sie längst – sowohl im Original, als auch in zahlreichen Fiktionen, die längst in die Weltliteratur und ‑dramatik eingeflossen sind.
Michael Ondaatje: DivisaderoZiemlich genau in der Mitte erfahren wir die unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten des Begriffs Divisadero (und ganz am Ende erfahren wir, welche Musik diesem Buch mehr oder weniger zugrunde liegt). Einerseits ist das eine Strasse in San Francisco (eine der Protagonistinnen, Anna, wohnte dort). Andererseits kann es auch vom spanischen división – Teilung, Trennung kommen, denn früher einmal bezeichnete diese Strasse die Grenze zwischen San Francisco und den Feldern von Presidio. Oder – und da kommt man der Sache vermutlich ganz nahe – der Name leitet sich her von ‘divisar’, was bedeutet: »etwas aus der Ferne betrachten«…Er bezeichnet also eine Stelle, von der aus man weit in die Ferne sehen kann.
Als die Kahlschlagliteraten der Gruppe 47 sich wohlfeil um Petitessen stritten oder an ihren Legenden strickten oder »Aufarbeitung« betrieben – da sass Walter Kempowski in Bautzen im Zuchthaus. Als er 1956 entlassen wurde, kümmerte er sich erst einmal um sein Privatleben. Ein ehemaliger Häftling aus der »Zone« hätte auch nicht besonders gut ins politische Konzept gepasst. Der Zweck der Gruppe 47 war rund zwanzig Jahre später erfüllt – das Spinnen eines literarischen Netzwerkes, dass bis heute noch anhält (sofern die beteiligten Personen noch leben). Kempowski kam zu spät und aus der falschen Richtung. Aber es bedarf wenig prophetischer Kraft anzunehmen, dass er sich unter den Selbstdarstellern dort nicht besonders wohlgefühlt hätte.
Der Stallgeruch fehlte
In seinen letzten Interviews sprach der todkranke Kempowski viel von seiner späten Anerkennung. Von der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes. Seine Augen blitzten, als damals alle Leute für ihn aufgestanden waren. Späte Genugtuung eines Schriftstellers, der wie kaum ein anderer die Kluft zwischen »Kritik« und »Publikum« widerspiegelte. Jahrelang verramschte die Kritik seine Bücher – auch noch, als »Tadellöser & Wolff« von Eberhard Fechner kongenial und wunderbar verfilmt wurde. Man rümpfte in bestimmten Kreisen die Nase, weil Kempowski keinen »Stallgeruch« hatte. Den Büchnerpreis hat er nie bekommen – ein Skandal! Seine Prosa war weder experimentell noch Betroffenheitskitsch und widersprach lange dem gesellschaftspolitischen Zeitgeist. Man hatte sich in einer Jugendzeit im Nationalsozialismus nicht irgendwie wohlzufühlen gehabt. Kempowski hat sich – glücklicherweise für die Literatur! – niemals diesen Imperativen gebeugt. Er war und blieb das, was man einen unabhängigen Geist nannte. Seine Flucht war nicht die in die Literatur, sondern – umgekehrt zu vielen anderen – die in den Schuldienst. Kempowski war aber kein Studienrat, der auch schrieb – er war ein Schriftsteller, der Lehrer war.
1990 wurde Kempowski in einer üblen Kampagne des Plagiats bezichtigt. Endlich nahm sich die Grosskritik seiner an – Hellmuth Karasek stellte die Fakten klar und entlastete Kempowski in einem fulminanten Artikel im »Spiegel«. Zu dieser Zeit steckte Kempowski in einem riesigen Projekt, dem »Echolot«. 1999 erschienen die ersten vier Bände dieses »Echolots«. Es sollten noch weitere acht Bände folgen.
Ariane Breidenstein: Und nichts an mir ist freundlich
Ein Assoziationsrausch. Korallenbäume des Erzählens. Eine mitreissende Suada. Vielleicht ein Menetekel. Manchmal mit feiner Ironie und manchmal (wie die ganz frühe Jelinek) sprachspielerisch-kalauernd (Nahrung, Nehrung, Kurische). Und vor allem mit fast im wörtlichen Sinne wahnsinniger Sprache mit einer gleichzeitig anmutenden, anheimelnden Sprachmelodie; ein in den besten Szenen rhythmisch-poetisches Wutgedicht in Prosaform (die manchmal eigenwillige Kommasetzung will erst erlesen werden). Und dabei meilenweit von einer faulen Entrüstungsmetaphorik oder schalem Gewitzel entfernt. Ein Buch für die sprichwörtliche Insel – es verlangt nach mehrmaliger, intensiver Lektüre und jedes Mal erscheint ein neuer Aspekt, ein neues Detail, ein neuer Ton, der alles vorherige nicht konterkariert, sondern ergänzt und man wird und wird mit dem schmalen Büchlein so schnell nicht fertig.
Am Anfang begeht man vielleicht noch den Fehler, der Frau, der offensichtlich jedes soziale Verhalten fremd ist, einfach eine Krankheit anhängen zu wollen, nach ihr zu fahnden, zu diagnostizieren. Ihre Somnambulität einerseits und rastlose Unruhe andererseits; ihr animistisches Denken, ihre Betrachtungsversessenheit (wer hat jemals eine zermatsche Erdbeere am Boden so schön und metaphorisch geradezu zelebriert?), ihre Baumliebe, die in den Wunsch gipfelt, zu einem Baum zu werden (auch hier eine Bilderfülle), ihre Begeisterung für Jane Campions »Piano«. Man sammelt eine Zeit lang Indizien. So, als müsse man allem gleich einen Stempel aufdrücken, um es / um sie dann besser beherrschen zu können. Aber dann wird man glücklicherweise irgendwann endgültig verzaubert. Verzaubert und gebannt, hineingesogen in diese Wortkaskaden, in dieses wilde Getümmel, welches oft genug scheinbar unzusammenhängendes herbeiphantasiert und verbindet.
Die Demütigungen passierten immer unerwartet und wie nebenbei. Es waren ja nur Scherze, das Ganze war nicht so gemeint gewesen, der Betreffende – in diesem Falle ich – hatte es selbst durch seine Lügen, sein Selbstlob, sein »Eindruckschinden«, mit einem Wort: durch sein ganzes Wesen herausgefordert. Diejenigen, die sich im Quälen am meisten auszeichneten, stellte ...
Frank Bascombe ist 55 Jahre alt und wir befinden uns im Interregnum des Jahres 2000, als Clinton fast nicht mehr, Gore wohl doch nicht und Bush auch noch nicht ganz sicher Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika ist. Wir folgen ihm drei Tage im November bis Thanksgiving (am Ende gibt es eine kleine Ausnahme, als ein kleiner Zeitsprung erfolgt).
Bascombe hat als Immobilienmakler an der Ostküste von den fetten Jahren der Clinton-Wirtschaftspolitik enorm profitiert. Ein bisschen stört ihn dieser Hype schon, der selbst für heruntergekommene Häuser sechsstellige Dollarsummen erzielt (Amerika ist ein Land, das sich in einem eigenen Treuhandkonto verloren hat.). Und ein bisschen verschanzt sich Bascombe auch hinter einer Maske (Reinlassen, aber nicht ganz einlassen).
Julian Kalkreuth und Fichte sind ein und dieselbe Person. Irgendwann beschloss Julian, Fichte zu werden. Nein, nicht »beschloss« – Julian verwandelte sich in Fichte. Unterschiedlicher könnten beide nicht sein.
»Meere« ist auch Erzählung dieses Fichte-Lebens. Als bildender Künstler und als Mensch. Als Mann. Wir erfahren in dialogischen Retrospektiven zwischen Julian und Fichte über das Leben des gnadenlos produktiven Künstlers und Liebhabers Fichte und über Julians Lebenskränkungen (Vampire), die Fichte doch nicht loswird. Und wir lesen die Geschichte seiner grossen Liebschaften, der Liebe zur abgeklärt wirkenden, fast gleichaltrigen Lu, die siebzehn Jahre hielt (eine Art ehelicher Kulturkonstante) und – vor allem – der Liebe zu Irene, der mehr als zwanzig Jahre jüngeren persischen Göttin mit den ägyptischen Lippen, dem langsamsten Geschöpf…das ihm je begegnet ist (ausgerechnet ihm, dem von Argwohn gepeinigten, notorisch Ungeduldigen, schnell Erregbaren und in heiligem Zorn fallenden). Eine Geschichte einer Obsession, einer Besessenheit. Und die Geschichte des Scheiterns, weil Fichtes Manie, die ihn in der Kunst zu Höhenflügen treibt (»Höllenpaläste«), eine Liebe nicht entwickeln, nicht »aushalten“ kann, sondern sie zerstört. Die Hingabe Irenes, die aus dem Stolz kommt, vergeht; sie trennt sich unversöhnt – er bleibt zurück, fassungslos; unverständig.
Alban Nikolai Herbst vermeidet Larmoyanz und Sentimentalität. Es wird nicht konventionell linear erzählt, sondern in assoziativen Zeitsprüngen. Die besonders im ersten Drittel drastischen Sexualszenen erschienen mir trotz ihrer teilweise detaillierten Schilderungen niemals obszön. Sie gehören zur Erzählung. Ohne sie fehlt dem Leser die Möglichkeit der Einordnung der Dimension dieser rauschhaften Besessenheit, die Fichte tragischerweise mit Liebe verwechselt. Ohne sie würde das Ausmass des Scheiterns nicht verstehbar und bliebe blosse Behauptung. Das anfangs halb scherzhafte halb drohende Du wirst mich nie wieder los wird zum Fatum: Selbst als Irene ihn »physisch« verlassen hatte, wurde er sie nicht mehr los.