Die Demütigungen passierten immer unerwartet und wie nebenbei. Es waren ja nur Scherze, das Ganze war nicht so gemeint gewesen, der Betreffende – in diesem Falle ich – hatte es selbst durch seine Lügen, sein Selbstlob, sein »Eindruckschinden«, mit einem Wort: durch sein ganzes Wesen herausgefordert. Diejenigen, die sich im Quälen am meisten auszeichneten, stellte ich fest, waren intelligent und hatten eine Schar eifriger Nachahmer um sich. Durch irgendeinen Umstand zog der Anführer die anderen mit sich. Die Großredner waren dabei die Übelsten, die Unerbittlichsten. Schnell waren sie wegen etwas beleidigt, und noch schneller überschritten sie die Grenzen und fanden ein Opfer, das sie demütigten. Sie benötigten dafür immer ein Publikum. Allein waren sie Niemande wie ich, erst in der Schar ihrer Bewunderer blühten sie auf. Ihr gesamtes Denken konzentrierte sich auf »Schwachstellen«, instinktiv und wie besessen fahndeten sie danach, bis sie endlich den Punkt ausgemacht hatten, an dem sie jemanden oder eine Sache der Lächerlichkeit preisgeben konnten. Sie hatten keine Hemmungen, Wörter auszusprechen, die andere erniedrigten. Immer handelte es sich bei den Anführern um Besserwisser, die selbst Mängel aufwiesen. Eine mimosenhafte Empfindlichkeit zeichnete sie aus, wenn es um sie selbst ging, sie waren voll Neid und Eifersucht, und jeder Scherz, der mit ihnen getrieben wurde, hatte Wutanfälle zur Folge. In einem fort wollten sie von sich selbst ablenken oder sich für etwas rächen, aber das zu verstehen war ich noch zu jung, und es hätte mir auch nicht geholfen. Ich war erschrocken darüber, mit welcher Begeisterung sich meine Mitschüler, wenn sie Lust auf Abwechslung überkam, am Quälen weideten. Doch für sie galt das Gleiche wie für mich: dass sie so sein wollten, wie sie glaubten, dass die anderen waren.
Gerhard Roth: »Das Alphabet der Zeit«; S. Fischer Verlag 2007, S. 522