Ein Assoziationsrausch. Korallenbäume des Erzählens. Eine mitreissende Suada. Vielleicht ein Menetekel. Manchmal mit feiner Ironie und manchmal (wie die ganz frühe Jelinek) sprachspielerisch-kalauernd (Nahrung, Nehrung, Kurische). Und vor allem mit fast im wörtlichen Sinne wahnsinniger Sprache mit einer gleichzeitig anmutenden, anheimelnden Sprachmelodie; ein in den besten Szenen rhythmisch-poetisches Wutgedicht in Prosaform (die manchmal eigenwillige Kommasetzung will erst erlesen werden). Und dabei meilenweit von einer faulen Entrüstungsmetaphorik oder schalem Gewitzel entfernt. Ein Buch für die sprichwörtliche Insel – es verlangt nach mehrmaliger, intensiver Lektüre und jedes Mal erscheint ein neuer Aspekt, ein neues Detail, ein neuer Ton, der alles vorherige nicht konterkariert, sondern ergänzt und man wird und wird mit dem schmalen Büchlein so schnell nicht fertig.
Am Anfang begeht man vielleicht noch den Fehler, der Frau, der offensichtlich jedes soziale Verhalten fremd ist, einfach eine Krankheit anhängen zu wollen, nach ihr zu fahnden, zu diagnostizieren. Ihre Somnambulität einerseits und rastlose Unruhe andererseits; ihr animistisches Denken, ihre Betrachtungsversessenheit (wer hat jemals eine zermatsche Erdbeere am Boden so schön und metaphorisch geradezu zelebriert?), ihre Baumliebe, die in den Wunsch gipfelt, zu einem Baum zu werden (auch hier eine Bilderfülle), ihre Begeisterung für Jane Campions »Piano«. Man sammelt eine Zeit lang Indizien. So, als müsse man allem gleich einen Stempel aufdrücken, um es / um sie dann besser beherrschen zu können. Aber dann wird man glücklicherweise irgendwann endgültig verzaubert. Verzaubert und gebannt, hineingesogen in diese Wortkaskaden, in dieses wilde Getümmel, welches oft genug scheinbar unzusammenhängendes herbeiphantasiert und verbindet.
Ariane heisst die Monologisierende, die Empfindungsmaschine, oder auch A.B. Sie ist 30 Jahre alt, ihre Mutter an Krebs gestorben, ihr Vater, der alte Sadomasoch, ein Abwesenheitsmensch mit Sekundenkleber, der, so glaubte sie, durch sie erzogen werden muss (sie selber betrachtet ihre Erziehung durch ihre Eltern als gescheitert). Man klaubt sich diese Fetzen im Laufe des Buches heraus; nach zwei Dritteln des Buches werden die Wortkaskaden vorübergehend ein bisschen entbunden von ihrem surrealen Assoziieren (…nicht immer in diesen Schlüsseln und Rätseln…).
Die grosse Kunst von Ariane Breidenstein ist, ihre Figur weder der Lächerlichkeit preiszugeben noch sie zu einer exotischen Zirkusattraktion verkommen zu lassen. Und fast immer gelingt ihr dieser Spagat – und eben nicht mit angelerntem Schreibkurswissen oder steriler Routine, sondern mit so etwas profanem (und gleichzeitig schwierigen) wie Leidenschaft für ihre Protagonistin (sei es sie selber oder nicht – in die Spekulation um die Authentizität werde ich mich nicht begeben, um den Zauber nicht zu zerreden).
Am Anfang eine Epiphanie aus der Kindheit:
Ich war ja ohne Zeit ein einziger schmerzhafter Klumpen in einer Wiese unter den Malven und der schönste Moment war der in dem meine Mutter mich einmal vergaß. Ich fühlte es schon beim Liegen in der Wiese, daß dieser Tag ein besonderer sein würde, und als ich später mit engem Herz wieder in die Küche kam und meine Mutter sagte, sie hätte die Zeit vergessen, sie hätte mich ja gerufen, wo ich denn gewesen wäre, ich war ja noch sehr klein, sie hätte mich nicht finden können, wo ich alldieweil beinahe neben ihr im Gras lag, sie aber nicht hatte hören können und immerzu den blauen Himmel über mir sah und die Malven und dieser Moment, dort im Gras, das flachgetreten war, eine Art Entennest, lag ich inmitten der Halme und sah den Himmel, der kleine Haselstrauch machte mir einen Schatten ins Gesicht, derweil ich nur meinem Hautwiderstand folgend endlich sah, vielleicht das einzige Mal in meiner Kindheit, daß es einen Augenblick der Ruhe gab, vielleicht, rufe ich, jetzt wieder hysterisch werdend, der einzige Augenblick überhaupt in meinem Leben, das ja eine einzige versagte und versagende Kindheit ist, in dem ich eine Ruhe gehabt und deswegen gesehen habe und was sah ich, den Himmel, und die Malven, und die Grashalme. Keine Wolke, einen Dunst, namenlos, der da war wie ein Atmen von der Welt, die da war, wo ich war in diesem Augenblick und sonst nirgends, vielleicht der einzige narzisstische Moment, rufe ich hysterisch.
Und immer wieder dieser inzwischen »zerstörte« Garten, das Beschwören der Kindheit, der Natur und die Abscheu auf das, was man Kulturlandschaft nennen kann (Seuche) – also fast alles, ausser vielleicht ein paar Friedhöfe. Da werden die Spinnen am Fahrrad zum Kontrast zur Landschaft, und der grosse Ausflug in die Natur scheitert und es bleibt nur das Schreiben, nur noch im Schreiben leben, die Welt entfällt und wir erfahren über ihr Schreiben seit der Kindheit, die vernichtenden Urteile des Vaters, den sie irgendwann foppt, ihn mit Zitaten von Dostojewski konfrontiert, diese als ihre ausgibt, und er sie dann auch – wie alles vorher – niedermacht und auch irgendwann, fast am Ende, das Erzählen über den Versuch ihrer Mutter, das Kind als Hochbegabte zu dressieren, ein Vorzeigekind aus mir machen wollen, so ein Objekt zum Angeben, ein Niveauzuwachs der blassen Kaffeekränzchen, ein dressiertes Äffchen, das Kunstturnen konnte und dann nicht mehr durfte […] mit drei Jahren hatte ich angefangen, wurde auf einer umgedrehten Bank in den Spagat gedrückt, die Knochen krachten, fünfmal die Woche, schon frühe Wettkämpfe, gewonnen, Erste oder Zweite, aber mich nie daran gefreut und immer nur erleichtert gewesen und es gleichzeitig peinlich gefunden.
Und es gibt sie anfangs noch, die Unterbrechungen der heilsamen Isolation, wo ich sonst die Tage, die Enden, die Wochenenden fast immer allein, heute das Treffen mit einer Telefonfreundin und ihrer Tochter im Park. Wir werden Beeren essen, tröste ich mich, ich werde das Gras in den Händen halten und mich vielleicht ein bißchen langweilen in menschlicher Gesellschaft und frage mich, wie ich in nur wenigen Tagen so dermaßen davon abrücken, dort herausfallen konnte, auch bekam ich Rechnungen wegen der Miete und das Telefon wurde für kurze Zeit abgestellt, weil ich es einfach nicht über mich bringen, genauso wenig wie einen Mantel zu kaufen, konnte ich plötzlich die Miete usw. obwohl ich das Geld gehabt hätte, konnte ich nicht, es war nicht Vergesslichkeit, sondern ein Fieber, eine Angst und der alte Verfolgungswahn auch eine Art Schuldgefühl und habe dann aber doch auf Aufforderung und weil ich mit Taiyo telefonieren wollte, mir ja unsere wöchentlichen Gespräche oft wie das einzig Wesentliche und mich noch Berührende erschienen sind, während ich vom Rest durch eine Art Funktionszusammenhang völlig abgeschieden war. Aber ganz am Schluss klingt es programmatisch, selbstbeschwörend, an: Soviel Außenwelt wie nötig, sowenig Außenwelt wie möglich. Hinwendung zur Abwendung.
Und eigentlich möchte man nur zitieren. Immer und immer wieder. Und da findet man auf der Suhrkamp-Seite dann noch eine Kostbarkeit: die Autorin liest rund 15 Minuten aus ihrem Buch (14 MB); sehr sinnlich; rhythmisch, musikalisch. Und wer da nicht weiterlesen will, ist selber Schuld.