»Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? […] Wir brauchen aber Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord…« (Franz Kafka an Oskar Pollak 1904)
Der Einstieg: Im Nu. Schon nach den ersten Seiten des Buches kann man sich diesem Sog nicht mehr entziehen, der von Kovács Erzählstrom (eine Niederschrift?) ausgeht. Der Leser taucht mit dem Protagonisten in eine Welt, die er so noch nie gesehen hat. ego shooter ist ein Abenteuer für den Leser; ein Buch, das beisst und sticht.
Und schnell vergisst man die gängigen Klischees der Nerds, die Tag und Nacht vor den Computern hocken und »herumballern«. Kovács ist zwar ein Spieler; ein Profispieler. Er hat vieles über die (deutschen) »Fliegerhelden« des ersten und zweiten Weltkriegs gelesen und spielt nächtelang in speziellen Foren um Punkte und Geld mit entsprechenden Flugsimulatoren. Aber der adler ist ein Mensch, nicht nur ein seelenloser Benutzername. Und es ist das Verdienst von Martin von Arndt, dies in den Vordergrund des Buches zu stellen; ego shooter ist primär kein Psychogramm eines »Ballerspielers«. Es ist eher eine Selbstvergewisserungsschrift eines Menschen, der droht, an der Welt zu verzweifeln (das er es noch nicht ist, macht eine Qualität dieses hochambitionierten und grandiosen Buches aus).
Für Kovács ist die nicht-stofflich fassbare Welt der Fliegerpiloten mit den an ihre Vorbilder erinnernden Nicks die Realität (interessant am Rande und auch ein Indiz: die Hintergründe der Kriege, die sich in den Spielszenarien spiegeln, werden von den Protagonisten offensichtlich nicht befragt). Hier kann er reüssieren, der adler; hier wird er ohne wenn und aber akzeptiert. Er lebt in dieser einen Woche, die dieses Buch abdeckt (im Klappentext ist von einer »Karwoche« die Rede) fast ausschliesslich und alleine in seiner Wohnung, die er von seinem Onkel Tibor als Eigentum geerbt hat. Die realen sozialen Kontakte sind nur sehr sporadisch; meatspace (»Fleischwelt«) heisst das »richtige Leben« folglich, und Kovács geht – wenn möglich – der Hausgemeinschaftwelt schon einmal per se aus dem Weg (hier gibt es allerdings eine Ausnahme, die dem zukünftigen Leser jedoch nicht verraten werden soll).
Die einzigen ihm wichtigen Menschen (Tibor und seine grosse Liebe Helena) sind schon tot. Insofern ist der Beginn des Buches eine Ausnahme: Kovács beim Arzt – Hirnhautentzündung lautet die Diagnose. Eindrücke aus dem meatspace der Arztpraxis; Assoziationen einer fremd gewordenen Welt. Eine Annäherung gibt es nicht – statt Behandlung wird er mit Antibiotika und Allerweltsratschlägen abgespeist.
Im Laufe des Buches bekommt der Leser seine Trinkexzesse mit, seine »Cocktails« mit Beruhigungs- und Schmerztabletten, Morphinen oder anderen, gerade in Reichweite verfügbaren Medikamenten und Getränken. Nein, man bekommt sie nicht »mit« – man erlebt sie. Die Art und Weise, wie Martin von Arndt es versteht, die Schmerzen seines Helden spürbar zu machen – und am Ende sogar auch beim Leser Kopfschmerzen zu erzeugen -, ist famos. Einmal wird das Aufstehen nach einer mehr oder weniger schlaflos verbrachten Nacht erzählt – eine präzise Erzählung des Martyriums eines Schmerzensmenschen, was man in einer solchen Intensität und Kraft in der zeitgenössischen Literatur selten gelesen haben dürfte. Und einmal, an einer anderen Stelle, heisst es so schön: eine der entdeckungen des älterwerdens war es, dass man stumpfer wird, aber nicht sicherer. dass schmerz schmerz ist. & bleibt.
Das Buch ist durchgängig in Kleinschreibung; Abkürzungen wie »&« oder Zahlen, die numerisch geschrieben werden, erzeugen zusätzlich beim Lesen ein hohes Tempo. Man liest gierig. Das Buch lässt einen nicht los. Als ich es nach ungefähr der Hälfte zur Seite legte und zu Bett ging, konnte ich nicht einschlafen. Ich sah Kovács in der Wohnung; sah die abgeklebten Fenster, damit kein Tageslicht den Monitor des PC stört, ich sah den tablettenschluckenden Helden vor dem PC sitzen – den Kopf so, dass er ihn nicht bewegen muss (nur den Oberkörper), um die enormen Schmerzen trotz der Tablettenmixturen einigermassen auszuhalten; ich sah ihn die Mail an seinen »Lieferanten« schreiben, bei dem er neue Tabletten und Getränke orderte, ich sah ihn in seinem einsamen Stolz sitzend, sinnierend über sein Leben, seine Träume; ich sah ihn sich mit letzter Kraft aufraffen und das Grab seines Onkels Tibor auf dem Friedhof besuchen – wie ein alter Mensch hält er dann Zwiesprache mit dem Toten.
Ein paar Mal erleben wir Kovács in Aktion – wenn er »fliegt«; sein »ego-shooting«, seine Möglichkeit, an Geld zu kommen. Dann ist er in seinem Element; wirft mit den Fachausdrücken nur so um sich (glücklicherweise gibt es am Ende des Buches ein Glossar; dem Verlag sei Dank). Und einmal gelingt es ihm (offensichtlich nach längerer Zeit), 150 Euro zu verdienen. Aber er wird alt; geht auf die dreissig zu. Das Konzentrationsvermögen schwindet. Die Angst davor ist zum Greifen nahe.
Und immer wieder lässt er sein Leben Revue passieren; wird zum innenerzähler (Selbstcharakterisierung Kovács’). Das sind die Kernszenen des Buches: Die Erinnerung an die Mutter, die dauernd neue Liebhaber verschleisst und ihren hohlen Satz du kommst klar?, der ihre Kühle und Lieblosigkeit dem Sohn gegenüber prägnant zeigt; die Sehnsucht nach dem (einem) immer unbekannt gebliebenen Vater; das Studium, das er abbricht; die Liebe zu seiner Freundin Lena; der Tod des Onkel Tibor, der ihn irgendwann zu Flugschauen mitgenommen hatte. Assoziativ und dicht dringen wir in diese Welt vor; aber nie stur gradlinig, eher mäandernd (ein Lieblingswort von Kovács).
Martin von Arndt gelingt es, bei aller vordergründigen »Coolness« des Helden die tiefe Sehnsucht und Bedürftigkeit Kovács’ anschaulich zu machen. Selten, dass der Held in eine Art Mitleidsparlando ausweicht. Nur ein‑, zweimal ist dann von der verlorenen generation die Rede und Kovács konstatiert, er finde in dieser gesellschaft nicht statt – und dann scheint es, als würde er seine Individualität zu Gunsten der Zugehörigkeit einer irgendwie gearteten Gruppe aufgeben, und das gerne. Denn sein Lebenswillen ist stark – und die vermeintliche Autarkie teuer erkauft.
Zahlreiche zauberhafte Szenen reichern dieses Buch an. Kovács ist ein begnadeter, sezierender Beobachter und Verdichter. Er sieht cafés & kneipen, in denen träume ausgesaugt wurden oder er konstatiert nach der Betrachtung seines deformierten Äusseren beiläufig draussen strafft sich der wind, und am Ende bemerkt er, für enttäuschungen blieb keine energie – wuchtige Bilder.
Und die Erinnerungen an seine Schulzeit (wunderbar die Erzählung vom matheschock als Metapher für Kovács’ Leben [weitere Details sollen dem eigenen Lesen nicht vorgreifen]) oder die Studienzeit (er studierte Archäologie und welch skurriles Erlebnis, als ihm Gallenflüssigkeit bei der Freilegung eines Toten ins Gesicht spritzt) und später an seine grosse Liebe Helena. Man könnte immer weiter zitieren (und der Leser erinnert sich plötzlich an Peter Handkes Lobpreisung »Als ich ‘Verstörung’ von Thomas Bernhard las«).
Kaskaden von Bildern am Ende; das Buch wird wilder. Motive werden immer wieder variiiert. Kinderlieder. Die Absurdität, wenn Kovács seinen Blutdruck misst, obwohl er weiss, dass das Messgerät defekt ist. Oder das mapping seines Kopfes, um die Schmerzen exakt lokalisieren zu können (Kovács macht sich damit unbewusst [?] selbst zum Spielobjekt). Diese zwanghafte Suche nach Gewissheiten (die sich irgendwann nur noch in den nackten Zahlen der Abschüsse zu zeigen scheinen; den scores). Und am Ende eine ergreifende Hoffnungsszene, eine Epiphanie, die aber – vermutlich? – nur ein Delirium ist (wirklich?).
Martin von Arndts Protagonist ist intelligent und – wie wohltuend – nicht einer jener larmoyanten Zyniker, die die Welt für sich erklärt und mit ihr abgeschlossen haben. Das ist das Überraschende, Wohltuende, Neue, sich von dem üblichen Literaturbrei, der von der deutschen Kritik so überschwänglich (und oftmals grundlos) gefeiert wird, Unterscheidende. Das Buch ist derart vielschichtig, dass sich immer neue Assoziationen auftun; man ist nach der Lektüre noch lange nicht »fertig«.
Ich fühlte mich nach der Lektüre von ego shooter erinnert an Kafkas Diktum, manches Buch wirke »wie ein Schlüssel zu fremden Sälen des eigenen Schlosses«. Diese Prosa wirkt und berührt. Und wie.
Wie immer, Gregor: 1A-Rezension. Auch wenn die »dither-effekte« natürlich anders flimmern, wenn man ausnahmsweise selbst gelesen hat. Meine Meinung: das Buch ist ein Meilenstein, ein Zeitdokument, und weil es das erste und vermutlich noch lange das beste seiner Art ist, wird man es auch in 200 Jahren noch lesen wollen (ich jedenfalls :-) ).