Se­lek­ti­ve Wahr­neh­mung

»Das gro­ße Schwei­gen der Au­toren« lau­tet die Über­schrift ei­nes Ar­ti­kels von Da­ni­el Lenz bei »Buch­re­port«. Er be­klagt dar­in, dass die »Hoch­ka­rä­ter« der deut­schen (!) Li­te­ra­tur nichts zur »di­gi­ta­len Re­vo­lu­ti­on« und dem Ver­lags- und Buch­han­dels­ster­ben sa­gen.

Wer wä­ren denn die »Hoch­ka­rä­ter«? Drei Bei­spie­le nennt er da: Rai­nald Goetz, Tho­mas Hett­che und Mat­thi­as Po­ly­ticki, die schnell als Pio­nie­re (oder ir­gend et­was in die­ser Rich­tung) apo­stro­phiert wer­den. El­frie­de Je­lin­eks »Neid«-Roman, der aus­schließ­lich und voll­stän­dig im Netz steht, nennt Lenz nicht. Ver­mut­lich, weil es kei­ne »deut­sche« Schrift­stel­le­rin ist. (Zu­ge­ge­ben: Der­zeit hat die HP Je­lin­eks tech­ni­sche Pro­ble­me, aber über über die­se Sei­te geht’s.)

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Al­ban Ni­ko­lai Herbst: Klei­ne Theo­rie des Li­te­ra­ri­schen Blog­gens

Wäh­rend di­ver­se In­ter­net­ak­ti­vi­sten mit ih­ren schein­gewichtigen Pro­phe­zei­un­gen ent­we­der das Netz­paradies oder den Vor­hof der Höl­le aus­ge­ru­fen ha­ben und so­ge­nann­te »Al­pha-Blog­ger«, die schon län­ger zu­meist un­in­spi­riert ih­re Ich-AGs in Wer­be­spots, Talk­shows oder On­line­ko­lum­nen pfle­gen und da­bei nur ei­nen reiz- und in­halts­lo­sen Raum der Selbst­re­fe­ren­tia­li­tät fül­len (trau­riger Hö­he­punkt war das lä­cher­li­che In­ter­net-Ma­ni­­fest von 2009), schreibt Al­ban Ni­ko­lai Herbst seit sie­ben Jah­ren ei­nen Web­log, der, wür­de man ihn aus­drucken wol­len, in­zwi­schen Ar­no-Schmidt-Aus­ma­ße an­neh­men wür­de. Herbst, der Schrift­steller, be­treibt (s)einen Li­te­ra­ri­schen Web­log. Zu le­sen ist das vir­tu­el­le Kon­vo­lut seit 2004 un­ter dem wuch­ti­gen Ti­tel Die Dschun­gel. An­ders­welt.; die Web­adres­se weist in­des auf sei­nen Ur­heber hin (der längst nicht mehr der al­lei­ni­ge Au­tor ist). Auch wenn die zum Teil äu­ßerst theo­re­ti­sche, ja di­stan­zier­te Be­trach­tung an­de­res ver­mu­ten las­sen könn­te: Herbst ist tief in sein Ge­we­be ver­sun­ken, mit ihm und in ihm fast phy­sisch in­fil­triert. Da­bei ist auch die­ser Blog von nar­ziss­ti­schen Selbst­dar­stel­lun­gen nicht frei, aber im Ge­gen­satz zu den mei­sten ideo­lo­gisch ver­bohr­ten Netz­theo­re­ti­kern mit ih­ren ehr­pus­se­li­gen Allein­vertretungsansprüchen sind sei­ne Re­fle­xio­nen nicht nur les­bar, son­dern wer­den in der täg­li­chen Pra­xis ver­sucht. Der Le­ser kann die Ent­wick­lung des Den­kens zum und über den Li­te­ra­ri­schen Web­log über die Jah­re hin­weg nicht nur nach­le­sen, son­dern auch im Me­di­um sel­ber er­fah­ren. Dies in­klu­si­ve der fast zwangs­läu­fig ent­ste­hen­den Irr­tü­mer und not­we­ni­gen Kor­rek­tu­ren. Die »Klei­ne Theo­rie des Li­te­ra­ri­schen Blog­gens« ist in­zwi­schen on­line auf 131 Tex­te an­ge­wach­sen (Stand: 21. Ok­to­ber 2011). In der »edi­ti­on ta­ber­na kri­ti­ka« ist nun ei­ne Pa­per­back-Aus­ga­be mit 133 Tex­ten auf rd. 130 Sei­ten er­schie­nen.

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Al­ban Ni­ko­lai Herbst: Sel­zers Sin­gen

»Phan­ta­sti­sche Ge­schich­ten« wer­den Al­ban Ni­ko­lai Herbsts Er­zäh­lun­gen, die un­ter dem Ti­tel »Sel­zers Sin­gen« so­eben er­schienen sind, un­ter­ti­telt (und er­gänzt wird das ein biss­chen ko­kett mit: »und sol­che von frem­der Mo­ral«). Das Ad­jek­tiv phan­ta­stisch ist ei­ne zu­tref­fen­de Cha­rak­te­ri­sie­rung die­ser zwölf Ge­schich­ten (die kür­ze­ste hat knapp vier Sei­ten, die läng­ste 24), wo­bei der Grad der »Phan­ta­stik« durch­aus ...

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Al­ban Ni­ko­lai Herbst: Mee­re

Alban Nikolai Herbst: Meere (bei VOLLTEXT)
Al­ban Ni­ko­lai Herbst: Mee­re (bei VOLLTEXT)

Ju­li­an Kal­k­reuth und Fich­te sind ein und die­sel­be Per­son. Ir­gend­wann be­schloss Ju­li­an, Fich­te zu wer­den. Nein, nicht »be­schloss« – Ju­li­an ver­wan­del­te sich in Fich­te. Un­ter­schied­li­cher könn­ten bei­de nicht sein.

»Mee­re« ist auch Er­zäh­lung die­ses Fich­te-Le­bens. Als bil­den­der Künst­ler und als Mensch. Als Mann. Wir er­fah­ren in dia­lo­gi­schen Re­tro­spek­ti­ven zwi­schen Ju­li­an und Fich­te über das Le­ben des gna­den­los pro­duk­ti­ven Künst­lers und Lieb­ha­bers Fich­te und über Ju­li­ans Le­bens­krän­kun­gen (Vam­pi­re), die Fich­te doch nicht los­wird. Und wir le­sen die Ge­schich­te sei­ner gro­ssen Lieb­schaf­ten, der Lie­be zur ab­ge­klärt wir­ken­den, fast gleich­alt­ri­gen Lu, die sieb­zehn Jah­re hielt (ei­ne Art ehe­li­cher Kul­tur­kon­stan­te) und – vor al­lem – der Lie­be zu Ire­ne, der mehr als zwan­zig Jah­re jün­ge­ren per­si­schen Göt­tin mit den ägyp­ti­schen Lip­pen, dem lang­sam­sten Geschöpf…das ihm je be­geg­net ist (aus­ge­rech­net ihm, dem von Arg­wohn ge­pei­nig­ten, no­to­risch Un­ge­dul­di­gen, schnell Er­reg­ba­ren und in hei­li­gem Zorn fal­len­den). Ei­ne Ge­schich­te ei­ner Ob­ses­si­on, ei­ner Be­ses­sen­heit. Und die Ge­schich­te des Schei­terns, weil Fich­tes Ma­nie, die ihn in der Kunst zu Hö­hen­flü­gen treibt (»Höl­len­pa­lä­ste«), ei­ne Lie­be nicht ent­wickeln, nicht »aus­hal­ten“ kann, son­dern sie zer­stört. Die Hin­ga­be Ire­nes, die aus dem Stolz kommt, ver­geht; sie trennt sich un­ver­söhnt – er bleibt zu­rück, fas­sungs­los; un­ver­stän­dig.

Al­ban Ni­ko­lai Herbst ver­mei­det Lar­moy­anz und Sen­ti­men­ta­li­tät. Es wird nicht kon­ven­tio­nell li­ne­ar er­zählt, son­dern in as­so­zia­ti­ven Zeit­sprün­gen. Die be­son­ders im er­sten Drit­tel dra­sti­schen Se­xu­alsze­nen er­schie­nen mir trotz ih­rer teil­wei­se de­tail­lier­ten Schil­de­run­gen nie­mals ob­szön. Sie ge­hö­ren zur Er­zäh­lung. Oh­ne sie fehlt dem Le­ser die Mög­lich­keit der Ein­ord­nung der Di­men­si­on die­ser rausch­haf­ten Be­ses­sen­heit, die Fich­te tra­gi­scher­wei­se mit Lie­be ver­wech­selt. Oh­ne sie wür­de das Aus­mass des Schei­terns nicht ver­steh­bar und blie­be blo­sse Be­haup­tung. Das an­fangs halb scherz­haf­te halb dro­hen­de Du wirst mich nie wie­der los wird zum Fa­tum: Selbst als Ire­ne ihn »phy­sisch« ver­las­sen hat­te, wur­de er sie nicht mehr los.

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