Rai­ner Ra­bow­ski: Mon­tag Ru­he­tag

Rainer Rabowski: Montag Ruhetag
Rai­ner Ra­bow­ski:
Mon­tag Ru­he­tag

Nach dem auch hap­tisch opu­len­ten Er­zäh­lungs- und Ge­dicht­band »Hal­te­stel­len«, der vorder­gründig vom Rei­sen und Un­ter­wegs-Sein (im wei­ten wie im na­hen) han­del­te, ist von Rai­ner Ra­bow­ski kürz­lich das de­zent-klei­ne Büch­lein »Mon­tag Ru­he­tag« er­schie­nen. Wenn man Pe­ter Hand­kes »Ver­such über den Stil­len Ort« als ei­ne Ge­schich­te über den ver­meint­li­chen Un-Ort Toi­let­te liest, der für den Er­zäh­ler im­mer wie­der eben auch zum »Asyl­ort« wur­de, so ist »Mon­tag Ru­he­tag«, die­ses Tri­pty­chon aus drei Ge­schich­ten, die zu ei­ner »Er­zäh­lung« zu­sam­men­ge­fasst wer­den, viel­leicht so et­was wie ein ‘Ver­such über den Fri­seur­la­den’; auch er zu­wei­len Asyl­ort, aber auch Fol­ter­stät­te.

Na­tür­lich fin­det sich auch in die­sem Buch der für Ra­bow­ski ty­pi­sche Sound des psy­cho­lo­gisch-re­fle­xi­ven Rea­lis­mus, dies­mal fast aus­schließ­lich ver­or­tet in Düs­sel­dorf (selbst in Thai­land er­in­nert er sich an ei­nen Düs­sel­dor­fer Fri­sier­sa­lon). Es ist aber deut­lich we­ni­ger ein Sich-Selbst-ins-Wort-Fal­len als sonst, was den Phä­no­me­nen mehr (Erzähl-)Raum gibt und den Le­ser mehr ins Nach­sin­nen ver­setzt. Et­wa wenn er von der Schmach und Ohn­macht er­zählt, als er als Kind auf den Fri­seur­stuhl muss­te (»Haare­schneiden ist ei­ne Ver­let­zung«). Oder der Le­bens­ab­schnitt, in der ei­nem die Fri­sur als Di­stink­ti­ons- oder son­sti­ges Merk­mal plötz­lich nicht mehr wich­tig war, ein Ak­zep­tie­ren »in der Welt des Aus­se­hens ein Au­ßen­sei­ter« zu sein und es trot­zig ge­nüg­te »gar kei­ne Fri­sur« ha­ben zu wol­len. Dann war der Fri­seur auf dem Flug­ha­fen ge­ra­de recht; so wur­de die War­te­zeit halb­wegs sinn­voll aus­ge­füllt.

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De­cre­scen­do

Ir­gend­wann En­de der 1980er nahm ich das Jah­re zu­vor ge­schenk­te Ex­em­plar von »Der Na­me der Ro­se« zur Hand. Best­sel­lern stand (und ste­he) ich im­mer skep­tisch ge­gen­über, aber es war ein stür­mi­scher und reg­ne­ri­scher Kar­frei­tag und ich be­merk­te in mir ei­nen Über­druss an der so­ge­nann­ten ho­hen Li­te­ra­tur, der da­zu führ­te, dass ich mir ei­ne Aus­zeit ver­ord­ne­te, ...

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Klei­ne Bei­trä­ge zur Her­zens­bil­dung (2)

Ein In­ter­view mit Leo­pold Fe­der­mair, ge­führt von Ma­sa­hi­ko Tsu­chi­ya ‑2. Teil

Hier Teil 1

Wie stehst du als Es­say­ist zur ja­pa­ni­schen Kul­tur und Ge­sell­schaft? Wie be­schreibst du dei­ne Ja­pan-Er­fah­run­gen? Mit Iro­nie und Witz, nicht wahr?

Ich fürch­te, zum Witz ha­be ich kein gro­ßes Ta­lent, aber ganz oh­ne Iro­nie kann je­mand wie ich we­der le­ben noch schrei­ben. Ich ha­be sehr ver­schie­de­ne Zu­gän­ge, aber das be­trifft nicht nur Ja­pan, son­dern al­le »Ge­gen­stän­de«. In ei­nem Buch wie Die gro­ßen und die klei­nen Brü­der ver­mi­sche ich be­wußt die Gen­res, von der Re­por­ta­ge bis zur ly­ri­schen Kurz­pro­sa. Der um­fang­reich­ste Teil des Buchs sind die To­kyo Frag­men­te, die ich im­mer noch fort­füh­re, sie er­schei­nen re­gel­mä­ßig, mit von mir ge­mach­ten Fo­tos, im On­line-Ma­ga­zin fixpoetry.com. In die­sen Frag­men­ten er­kun­de ich mit ei­nem ge­wis­sen Maß an Sy­ste­ma­tik, aber zu­gleich an­ar­chisch, in­dem ich mich und die Spra­che trei­ben las­se, die ja­pa­ni­sche Groß­stadt. Da­bei in­ter­es­sie­ren mich klei­ne All­tags­sze­nen und Or­te ab­seits der tou­ri­sti­schen Pfa­de – ob­wohl ich auch die­se nicht grund­sätz­lich ver­schmä­he. Es gibt so­gar ei­nen ro­ten Er­zähl­fa­den in die­sen Frag­men­ten, er wird in er­ster Li­nie von ei­ner Bar in Mus­a­shi­koy­a­ma und der dort sich re­gel­mä­ßig ein­fin­den­den dra­ma­tis per­so­nae ge­bil­det. Im Prin­zip sind die­se Ge­schich­ten nicht fik­tio­nal, aber es ist auch Er­fun­de­nes da­bei. Mei­ne Lieb­lings­sze­ne dar­in ist er­fun­den, auch de­ren Prot­ago­nist.

An­de­rer­seits schrei­be ich Ro­ma­ne wie Wand­lun­gen des Prin­zen Gen­ji, die eng mit mei­nen rea­len Er­fah­run­gen ver­bun­den sind, wo aber die Ge­samt­an­la­ge fik­tio­nal ist und auch die dar­in vor­kom­men­den Fi­gu­ren von et­wa­igen Vor­bil­dern in der Wirk­lich­keit mehr oder min­der stark ab­wei­chen. Die­ser Ro­man ent­hält auch ei­ne es­say­isti­sche Ebe­ne, die wie­der­um zu gro­ßen Tei­len aus Nach­er­zäh­lun­gen und Kom­men­ta­ren zum Gen­ji-Mo­no­ga­ta­ri be­stehen. Schon der Ro­man Er­in­ne­rung an das, was wir nicht wa­ren spielt aber et­wa zur Hälf­te in Ja­pan, zur an­de­ren in Ar­gen­ti­ni­en (die drit­te Hälf­te in Eu­ro­pa). Bei die­sem Buch, bis­her mein um­fang­reich­stes, in­ter­es­sier­te mich be­son­ders die Ge­gen­über­stel­lung sehr un­ter­schied­li­cher Kul­tu­ren mit teil­wei­se ge­gen­sätz­li­chen Le­bens­ge­wohn­hei­ten wie der ar­gen­ti­ni­schen und der ja­pa­ni­schen. Ich le­be gern zwi­schen sol­chen Ge­gen­sät­zen, weiß aber auch aus ei­ge­ner Er­fah­rung, daß so ei­ne Exi­stenz gro­ßen in­ne­ren Druck er­zeu­gen kann. Es gibt Gren­zen des Iden­ti­täts­plu­ra­lis­mus.

Wo­für in­ter­es­sierst du dich zur Zeit und war­um?

Es wird wahr­schein­lich bis zu mei­nem Le­bens­en­de so sein, daß ich ei­ne be­stimm­te Zahl von Pro­jek­ten vor mir ha­be, die ich zu rea­li­sie­ren be­strebt bin. Al­les zu schaf­fen, wird die Zeit nicht rei­chen. Auch das muß man ak­zep­tie­ren. Der­zeit schrei­be ich an ei­nem Ro­man, der durch ein ja­pa­ni­sches fait di­vers an­ge­regt ist, aber ei­nen ima­gi­nä­ren Schau­platz hat. Seit ei­ni­gen Wo­chen glau­be ich, die rich­ti­ge Form da­für ge­fun­den zu ha­ben, nach­dem ich jah­re­lang dar­an her­um­ge­dacht und her­um­pro­biert ha­be. Wie Kenzabu­ro Oe sagt, die Form ist das Ent­schei­den­de. Ein an­de­res Pro­jekt, in dem ich stecke, ist die Über­set­zung ei­nes um­fang­rei­chen Ly­rik­zy­klus von Ju­an Ramón Ji­mé­nez, 1916 wäh­rend sei­ner Ame­ri­ka­rei­se ent­stan­den. Und dann ha­be ich noch ei­ne Idee, die ich bes­ser nicht ver­ra­te. Es hat mit der Fi­gur Adolf Hit­lers zu tun und ist das er­ste Mal, daß ich das Ge­fühl ha­be, man könn­te mir die Idee klau­en, wenn ich sie wei­ter­erzäh­le.

Wie schreibst du Ro­ma­ne oder Er­zäh­lun­gen? Bis dei­ne li­te­ra­ri­sche Form aus­ge­reift ist und dich selbst über­zeugt?

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Klei­ne Bei­trä­ge zur Her­zens­bil­dung (1)

Ein In­ter­view mit Leo­pold Fe­der­mair, ge­führt von Ma­sa­hi­ko Tsu­chi­ya ‑1. Teil

Ma­sa­hi­ko Tsu­chi­ya: Du bist Au­tor, Über­set­zer und Kri­ti­ker. Wie un­ter­schei­dest du dich von­ein­an­der und wel­che Be­zie­hun­gen habt ihr zu­ein­an­der? Kannst du zu ant­wor­ten ver­su­chen, ob­wohl dir die Un­ter­schie­de viel­leicht nicht be­wusst sind?

Leo­pold Fe­der­mair: Bei der Lek­tü­re von so­ge­nann­ten in­ter­kul­tu­rel­len Schrift­stel­lern, die die Spra­che ge­wech­selt ha­ben und in­fol­ge­des­sen in ei­ner Fremd­spra­che schrei­ben, ha­be ich be­merkt, daß ei­ni­ge von ih­nen die sprach­li­chen Feh­ler, zu de­nen sie nei­gen, ab­sicht­lich pro­duk­tiv ma­chen. Die Fremd­spra­chig­keit wirkt auf ih­ren Stil. Das schicke ich vor­aus, weil ich dei­ne For­mu­lie­rung «Wie un­ter­schei­dest du dich von­ein­an­der?« äu­ßerst an­re­gend fin­de. Ich bin ich, aber ich bin auch ein an­de­rer, oder meh­re­re an­de­re. Ich be­stehe aus die­sen an­de­ren. Rim­bauds Satz »Je est un aut­re« ist heu­te schon ziem­lich ab­ge­dro­schen. Ich bin nicht ein an­de­rer, son­dern meh­re­re. Der Rei­he nach und gleich­zei­tig. Das ge­fähr­det nicht un­be­dingt die Ein­heit der Per­son (kann aber vor­kom­men, die­se Ge­fähr­dung).

Die drei Ak­ti­vi­tä­ten, die du nennst, wa­ren für mich nie streng ge­trennt. Al­le drei sind ver­schie­de­ne Be­rei­che von Li­te­ra­tur. Was ich ein­mal so­gar als Ti­tel für ei­nen klei­nen Auf­satz schrieb, muß ich im­mer wie­der be­kräf­ti­gen: DER ÜBERSETZER IST EIN AUTOR. Ei­ni­ge hal­ten das oh­ne­hin für ei­ne Selbst­ver­ständ­lich­keit. Ich sto­ße aber im­mer wie­der, auch jetzt vor kur­zem wie­der, auf Leu­te im Li­te­ra­tur­be­trieb, die das über­haupt nicht so se­hen. Man­che Ver­lags­leu­te hal­ten die Über­set­zer für Kü­chen­ge­hil­fen in ih­rem gro­ßen Be­trieb. Ent­spre­chend be­han­deln und be­zah­len sie sie.

In Be­zug auf Li­te­ra­tur­kri­tik war ich im­mer der An­sicht, daß ei­ne gu­te Kri­tik ei­ne klei­ne li­te­ra­ri­sche Form rea­li­siert. Als Kri­ti­ker muß ich häu­fig nach­er­zäh­len, Stim­mun­gen und Ein­drücke wie­der­ge­ben, Aus­ge­sag­tes ver­dich­ten. Ich ha­be nur be­grenz­ten Raum zur Ver­fü­gung, muß aufs We­sent­li­che zie­len, darf nicht zu sehr schwei­fen. Sub­jek­ti­ve Ein­drücke ver­sucht der Kri­ti­ker so zu ver­mit­teln, daß sie ei­ne All­ge­mein­heit in­ter­es­sie­ren oder auch über­zeu­gen. Das ist ei­ne li­te­ra­ri­sche Ak­ti­vi­tät, je­den­falls so, wie ich sie be­trei­be. Bei ei­nem Au­tor wie Jor­ge Lu­is Bor­ges ak­zep­tiert man selbst­ver­ständ­lich, daß in sei­nen ge­sam­mel­ten Wer­ken auch ein Band mit Kri­ti­ken ent­hal­ten ist, und ei­ner mit Vor­wor­ten.

Die, die am streng­sten tren­nen wol­len, sind mei­stens Aka­de­mi­ker, Uni­ver­si­täts­leu­te. In Eu­ro­pa ge­nau­so wie in Ja­pan. In den USA hat man an den Unis auch Platz für Schrift­stel­ler, und sie müs­sen sich in die­ser Ei­gen­schaft nicht ver­leug­nen.

Ich glau­be, daß ich als Au­tor ei­ne ähn­li­che Po­si­ti­on ha­be wie Laf­ca­dio Hearn vor über hun­dert Jah­ren. Auch Hearn war üb­ri­gens Über­set­zer (aus dem Fran­zö­si­schen). Und er hat für Zei­tun­gen ge­ar­bei­tet. Er leb­te in ganz ver­schie­de­nen Län­dern, war im­mer neu­gie­rig und hat­te die­sen eth­no­lo­gi­schen Blick. Er wur­de nie voll an­er­kannt, blieb im­mer Au­ßen­sei­ter. In Öster­reich ha­ben wir ei­nen Au­tor, der sich von vorn­her­ein als Universal­genie »po­si­tio­nier­te«, wie man heu­te sagt. Das konn­te und woll­te ich nie, auch des­halb, weil ich nicht glau­be, daß es noch Uni­ver­sal­ge­nies ge­ben kann. Des­halb ha­be ich das Kon­zept ei­ner »trans­ver­sa­len Äs­the­tik« ent­wickelt, in Op­po­si­ti­on zur glo­ba­li­sier­ten, glo­ba­li­sie­ren­den Kul­tur. In­ter­es­sant ist für mich nur, kon­kre­te Punk­te, Or­te, Wer­ke, Men­schen mit­ein­an­der zu ver­bin­den. All­ge­mei­ne Sche­ma­ta fin­de ich nicht in­ter­es­sant. Das Pro­blem für Leu­te wie Hearn und mich ist, daß man uns im­mer aufs Neue in Schub­la­den steckt: der Jour­na­list, der Be­schrei­bungs­künst­ler, der Sach­ver­stän­di­ge der neu­en fran­zö­si­schen Phi­lo­so­phie, der Über­set­zer, der Ja­pano­phi­le, der Pro­fes­sor usw. Nein! Wir sind vie­les und wis­sen das Vie­le un­ter ei­nen Hut zu brin­gen. Wir sind ein plu­ra­les Sub­jekt.

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Esther Kinsky/Martin Chal­mers: Ka­ra­dag Ok­to­ber 13

Esther Kinsky/Martin Chalmers: Karadag Oktober 13
Esther Kinsky/Martin Chal­mers:
Ka­ra­dag Ok­to­ber 13
»Ka­ra­dag Ok­to­ber 13« lau­tet der Ti­tel ei­nes Reise­erzählungsbands von Esther Kin­sky und Mar­tin Chal­mers, und ob­wohl die Rei­se, die zu die­sen »Auf­zeich­nun­gen von der kal­ten Krim« führ­ten, erst zwei Jah­re zu­rück­liegt, wirkt das Buch fast schon hi­sto­risch. Zum ei­nen ge­hört die Krim seit Früh­jahr 2014 nicht mehr zum Ho­heits­ge­biet der Ukrai­ne. Und zum an­de­ren ist mit Mar­tin Chal­mers ei­ner der Mit­rei­sen­den und Mit­au­toren des Bu­ches im Ok­to­ber 2014, ein Jahr nach der Rei­se mit Esther Kin­sky, ver­stor­ben. Da Chal­mers sei­ne No­ti­zen für das Buch nicht mehr ausformu­lieren konn­te, hat Esther Kin­sky, wie sie in ei­nem kur­zen Nach­wort er­klärt, die skiz­zen­haf­ten Auf­zeich­nun­gen ent­spre­chend be­las­sen.

Da­bei hat­te Esther Kin­sky ih­re Rei­se­im­pres­sio­nen – un­be­rührt der po­li­ti­schen Ak­tua­li­tä­ten – schon im Au­gust 2014 in Nor­bert Wehrs »Schreib­heft« (Aus­ga­be Nr. 83) un­ter dem Ti­tel »Kur­ort­ne Ok­to­ber 13« pu­bli­ziert. Für das vor­lie­gen­de Buch hat sie ih­re Tex­te ent­spre­chend um­ge­ar­bei­tet und er­gänzt. Aus dem »ich« wur­de ein »wir«. Und sie kom­men­tiert ge­le­gent­lich das Zu­sam­men­sein mit Chal­mers (»M.«) und des­sen Re­ak­tio­nen. Ty­po­gra­phisch in ei­ner an­de­ren Schrift ab­ge­setzt er­zählt Chal­mers das Ge­sche­hen eben­falls, so dass der Le­ser von den glei­chen Er­leb­nis­sen manch­mal leicht di­ver­gie­ren­de Ein­drücke er­hält. Kin­sky ist die prä­zi­se­re Be­ob­ach­te­rin, wäh­rend Chal­mers et­was häu­fi­ger hi­sto­ri­sche Al­le­go­rien wie den Krim­krieg in sei­ne Be­ob­ach­tun­gen ein­flie­ßen lässt. Zum Ab­schluss ei­nes je­den Ka­pi­tels (bis auf Ka­pi­tel 11) fol­gen dann noch in kur­si­ver Schrift Aus­schnit­te aus »The Rus­si­an Shores of the Black Sea«, den Rei­se­er­zäh­lun­gen von Lau­rence Oli­phant (1829–1888), der im Herbst 1852 die Krim be­sucht hat­te. Kin­sky hat die­se Stel­len ins Deut­sche über­setzt.

Bei­de, Kin­sky und Chal­mers, neh­men zu­wei­len di­rekt Be­zug auf Oli­phants Buch. Kin­skys Be­wer­tun­gen sind durch­aus am­bi­va­lent. So at­te­stiert sie Oli­phant, das Buch mit »sar­ka­sti­scher Ver­ach­tung« und »her­ab­las­send« ge­schrie­ben zu ha­ben. Der Bri­te ver­ach­te­te die be­reits da­mals auf der Krim do­mi­nie­ren­den Rus­sen, wäh­rend er die Ta­ta­ren als den Rus­sen weit über­le­gen dar­stell­te. Tat­säch­lich wirkt Oli­phants Text heut­zu­ta­ge an ei­ni­gen Stel­len jour­na­li­stisch-über­heb­lich.

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Nor­bert W. Schlin­kert: Stadt, Angst, Schwei­gen

Norbert W. Schlinkert: Stadt, Angst, Schweigen
Nor­bert W. Schlin­kert:
Stadt, Angst, Schwei­gen
Es ist Frei­tag­abend in Ber­lin. Ein Mann er­war­tet bis Sams­tag­mit­tag (»Sonn­abend«) ei­nen An­ruf von sei­nem HNO-Arzt (na­mens Kof­ler), ei­ner Ka­pa­zi­tät. Es geht dar­um, ob er Kehl­kopf­krebs hat oder nicht. Der er­war­te­te An­ruf geht ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er ist schlaf­los, be­kommt Hun­ger, streift durch die Stadt, be­sucht je­doch kein Lo­kal, son­dern stat­tet sei­ner Fi­ma und sei­nem Arzt ei­nen nächt­li­chen Be­such ab, er­kun­det die Fas­sa­de der Woh­nung nebst La­bor und das na­tür­lich al­les un­be­merkt. Er sieht ihn so­gar am frü­hen Mor­gen wie er mit sei­ner Sprech­stun­den­hil­fe im La­bor ar­bei­tet. Hung­rig, dur­stig, mit Bla­sen an den Fü­ßen tau­melt er mit letz­ter Kraft nach Hau­se:

»Er er­reich­te den Ku’­damm, ich müss­te links ge­hen, will ich zum Pots­da­mer Platz, ich ge­he ei­nen gro­ßen Bo­gen, dach­te er, an­de­rer­seits, was soll ich aus­ge­rech­net am Pots­da­mer Platz, es gibt kei­nen Grund, aus­ge­rech­net zum Pots­da­mer Platz zu ge­hen, al­so ge­he ich ge­ra­de­aus, hät­te ich di­rekt in mei­ne Woh­nung ge­wollt, so hät­te ich an­ders zu ge­hen ge­habt, ja ich hät­te ge­nau ge­nom­men mei­ne Woh­nung nicht ein­mal wirk­lich ver­las­sen, al­so nur kurz ver­las­sen müs­sen, über die Stra­ße na­tür­lich schon, zum Im­biss, den ich vom Er­ker­fen­ster aus se­hen kann, ich hät­te hin­über­ge­hen kön­nen in Haus­schuhen, von dort ist mei­ne Woh­nung zu se­hen, ich kann mei­ne Woh­nung se­hen, wenn ich dort im Im­biss et­was zu Es­sen be­stel­le, in Haus­schu­hen und in mei­ner Haus­jop­pe dort ste­hend, das kratzt in Ber­lin kei­ne Sau, dach­te er […], ich bin ein Idi­ot, dach­te er, war­um sit­ze ich nicht in mei­ner Woh­nung und er­war­te ru­hig den An­ruf, den ich er­war­te, das fra­ge ich mich!«

Es ist mitt­ler­wei­le Sonn­abend früh. Ge­ra­de er­reicht er sei­ne Woh­nung. Und da gibt es ei­nen An­ruf. Das ist das Set­ting von »Stadt, Angst, Schwei­gen«. 126 Sei­ten. Ei­ne Lek­tü­re für ei­nen Abend.

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Ri­chard Ford: Frank

Richard Ford: Frank
Ri­chard Ford: Frank

In sei­nen bis­her er­schie­ne­nen drei Frank-Bas­com­be-Ro­ma­nen »Sport­re­por­ter« (1986/dt. 1989), »Unab­hängigkeitstag« (1995) und »Die La­ge des Lan­des« (2006/2007) er­zähl­te Ri­chard Ford nicht nur die per­sön­li­chen Er­eig­nis­se sei­ner (fik­ti­ven) Haupt­fi­gur, die in drei Jahr­zehn­ten in ei­nem fast ty­pi­sche ame­ri­ka­nisch an­mu­ten­den Prag­ma­tis­mus so un­ter­schied­li­che Be­ru­fe wie Schrift­stel­ler, Sport­re­por­ter und schließ­lich Im­mo­bi­li­en­mak­ler aus­üb­te, son­dern ver­mit­tel­te im­mer auch ein ent­spre­chen­des zeit­hi­sto­ri­sches Bild des po­li­ti­schen und so­zia­len Zu­stan­des der USA. Frank Bas­com­be muss­te per­sön­li­che Schick­sals­schlä­ge über­win­den (sein Sohn starb als 10jähriger an dem Reye-Syn­drom, was sei­ne Ehe nicht über­stand und die Schei­dung zur Fol­ge hat­te) und dann schien er es No­vem­ber 2000, mit Mit­te 50, als »Die La­ge des Lan­des« spielt, end­lich »ge­schafft« zu ha­ben. In den Clin­ton-Jah­ren ge­lang es ihm durch Cle­ver­ness, Hart­näckig­keit und Glück in die obe­re Mit­tel­schicht auf­zu­rücken. Er war neu ver­hei­ra­tet, das Ver­hält­nis zu sei­nen Kin­dern nor­ma­li­sier­te sich, die Ge­schäf­te lie­fen her­vor­ra­gend. Aber dann kam der Pro­sta­ta-Krebs. Un­er­war­tet auch, als wie aus dem Nichts der ehe­ma­li­ge Lieb­ha­ber sei­ner neu­en Frau auf­tauch­te. Und als wä­re dies noch nicht ge­nug, wur­de er auch noch in ei­ne Schie­sse­rei ver­wickelt. Der Ro­man spielt im In­ter­re­gnum des Jah­res 2000 – es war im­mer noch nicht klar, ob nun Al Go­re oder Ge­or­ge W. Bush der neue Prä­si­dent der Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Ame­ri­ka wür­de. In­tui­tiv spürt Frank, dass die Zei­chen auf Ver­än­de­rung stan­den. Viel­leicht platzt bald die Im­mo­bi­li­en­bla­se. Wie geht es mit ihm ge­sund­heit­lich wei­ter? »Die La­ge des Lan­des« war ein gro­sses, epi­sches Werk vol­ler Me­lan­cho­lie, aber auch Sinn für die Schön­heit des Le­bens, ei­ner ge­hö­ri­gen Por­ti­on der­bem, aber doch gut­mü­ti­gem Witz und ei­ner fi­li­gra­nen wie lehr­rei­chen Ver­schmel­zung von Fa­mi­li­en- und Zeit­ge­schich­te, wie es sel­ten zu le­sen ist.

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Cle­mens J. Setz: Die Stun­de zwi­schen Frau und Gi­tar­re

Clemens J. Setz: Die Stunde zwischen Frau und Gitarre
Cle­mens J. Setz: Die Stun­de zwi­schen Frau und Gi­tar­re

Zu­nächst war der in den 1970er Jah­ren auf­kom­men­de Be­griff der »Neu­en In­ner­lich­keit« für die da­mals neu ent­ste­hen­de deutsch­spra­chi­ge Li­te­ra­tur gar nicht als Schimpf­wort ge­dacht. Aus­ge­drückt wer­den soll­te da­mit die Ab­gren­zung von ei­ner po­li­tisch mo­ti­vier­ten und mo­ra­li­sie­ren­den Li­te­ra­tur, die ins­be­son­de­re in den 1960er Jah­ren do­mi­nier­te. So wur­den die er­sten Tex­te, die das Sub­jekt mit ih­ren per­sön­li­chen, exi­sten­ti­el­len De­for­ma­tio­nen in das Zen­trum rück­ten, zu­nächst vor­sich­tig be­grüßt. Aber es dau­er­te nicht lan­ge, bis das Ru­brum »In­ner­lich­keit« pe­jo­ra­tiv ver­wen­det wur­de: Eit­le Selbst­be­spie­ge­lung, See­len­strip­tease, un­po­li­tisch, re­stau­ra­tiv – oder knapp for­mu­liert: lang­wei­lig und nar­ziss­tisch. Da­bei ist es ei­gent­lich bis heu­te ge­blie­ben. Im­mer noch gilt In­ner­lich­keits­pro­sa als ver­däch­tig, wenn sie fast oh­ne Plot da­her­kommt oder sich nicht not­dürf­tig min­de­stens als Ent­wick­lungs­ro­man tarnt. Merkwürdiger­weise kei­ne Pro­ble­me gibt es mit den In­ner­lich­kei­ten der Haupt­fi­gu­ren im Kri­mi­nal­gen­re, wie bei­spiels­wei­se in den in­zwi­schen längst als Li­te­ra­tur ka­no­ni­sier­ten Kri­mi­nal­ro­ma­nen des kürz­lich ver­stor­be­nen Hen­ning Man­kell. Die Le­bens­pro­ble­me sei­ner Haupt­fi­gur Wallan­der wer­den gleich­ran­gig mit dem zu lö­sen­den Kri­mi­nal­fall be­han­delt. Da­bei kä­me nie­mand auf die Idee, Man­kells Wallan­der-Ro­ma­ne als In­ner­lich­keits­pro­sa zu ver­or­ten. Tat­säch­lich gel­ten sie als »au­then­tisch« und da­mit wird ei­ner der ak­tu­el­len Feuilleton­götzen ge­hul­digt: Li­te­ra­tur hat sich ei­nem Rea­lis­mus zu ver­pflich­ten. Nur das Fan­ta­sy-Gen­re und li­te­ra­ri­sche Dys­to­pien sind von die­sem Ge­setz be­freit (was de­ren Er­schei­nungs­men­ge er­klärt).

Der me­dia­le Er­folg von Cle­mens J. Setz’ »Die Stun­de zwi­schen Frau und Gi­tar­re« liegt wo­mög­lich dar­in, dass er ei­ne In­ner­lich­keits­pro­sa an­bie­tet, die im Tem­po und Zeit­geist der Ge­gen­wart da­her­kommt und zu­sätz­lich noch ei­ne Sus­pen­se-Hand­lung ein­ge­baut hat. Die Haupt­fi­gur ist die 21jährige Psych­ia­trie-Be­treue­rin Na­ta­lie Rein­eg­ger. Er­zählt wer­den (bis auf die we­ni­gen Sei­ten Epi­log, der zwei Jah­re spä­ter spielt) sie­ben oder acht Mo­na­te im Le­ben die­ser jun­gen Frau, die in ei­ner psych­ia­tri­schen An­stalt (Eu­phe­mis­mus: »Be­treu­tes Woh­nen«) ei­ne neue Stel­le be­ginnt. Das Set­ting kommt da­her wie ein Kam­mer­spiel; vier Be­treue­rin­nen, ein, zwei »Zi­vil­die­ner«, ei­ne Hand­voll Be­woh­ner.

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