Ein Interview mit Leopold Federmair, geführt von Masahiko Tsuchiya ‑1. Teil
Masahiko Tsuchiya: Du bist Autor, Übersetzer und Kritiker. Wie unterscheidest du dich voneinander und welche Beziehungen habt ihr zueinander? Kannst du zu antworten versuchen, obwohl dir die Unterschiede vielleicht nicht bewusst sind?
Leopold Federmair: Bei der Lektüre von sogenannten interkulturellen Schriftstellern, die die Sprache gewechselt haben und infolgedessen in einer Fremdsprache schreiben, habe ich bemerkt, daß einige von ihnen die sprachlichen Fehler, zu denen sie neigen, absichtlich produktiv machen. Die Fremdsprachigkeit wirkt auf ihren Stil. Das schicke ich voraus, weil ich deine Formulierung «Wie unterscheidest du dich voneinander?« äußerst anregend finde. Ich bin ich, aber ich bin auch ein anderer, oder mehrere andere. Ich bestehe aus diesen anderen. Rimbauds Satz »Je est un autre« ist heute schon ziemlich abgedroschen. Ich bin nicht ein anderer, sondern mehrere. Der Reihe nach und gleichzeitig. Das gefährdet nicht unbedingt die Einheit der Person (kann aber vorkommen, diese Gefährdung).
Die drei Aktivitäten, die du nennst, waren für mich nie streng getrennt. Alle drei sind verschiedene Bereiche von Literatur. Was ich einmal sogar als Titel für einen kleinen Aufsatz schrieb, muß ich immer wieder bekräftigen: DER ÜBERSETZER IST EIN AUTOR. Einige halten das ohnehin für eine Selbstverständlichkeit. Ich stoße aber immer wieder, auch jetzt vor kurzem wieder, auf Leute im Literaturbetrieb, die das überhaupt nicht so sehen. Manche Verlagsleute halten die Übersetzer für Küchengehilfen in ihrem großen Betrieb. Entsprechend behandeln und bezahlen sie sie.
In Bezug auf Literaturkritik war ich immer der Ansicht, daß eine gute Kritik eine kleine literarische Form realisiert. Als Kritiker muß ich häufig nacherzählen, Stimmungen und Eindrücke wiedergeben, Ausgesagtes verdichten. Ich habe nur begrenzten Raum zur Verfügung, muß aufs Wesentliche zielen, darf nicht zu sehr schweifen. Subjektive Eindrücke versucht der Kritiker so zu vermitteln, daß sie eine Allgemeinheit interessieren oder auch überzeugen. Das ist eine literarische Aktivität, jedenfalls so, wie ich sie betreibe. Bei einem Autor wie Jorge Luis Borges akzeptiert man selbstverständlich, daß in seinen gesammelten Werken auch ein Band mit Kritiken enthalten ist, und einer mit Vorworten.
Die, die am strengsten trennen wollen, sind meistens Akademiker, Universitätsleute. In Europa genauso wie in Japan. In den USA hat man an den Unis auch Platz für Schriftsteller, und sie müssen sich in dieser Eigenschaft nicht verleugnen.
Ich glaube, daß ich als Autor eine ähnliche Position habe wie Lafcadio Hearn vor über hundert Jahren. Auch Hearn war übrigens Übersetzer (aus dem Französischen). Und er hat für Zeitungen gearbeitet. Er lebte in ganz verschiedenen Ländern, war immer neugierig und hatte diesen ethnologischen Blick. Er wurde nie voll anerkannt, blieb immer Außenseiter. In Österreich haben wir einen Autor, der sich von vornherein als Universalgenie »positionierte«, wie man heute sagt. Das konnte und wollte ich nie, auch deshalb, weil ich nicht glaube, daß es noch Universalgenies geben kann. Deshalb habe ich das Konzept einer »transversalen Ästhetik« entwickelt, in Opposition zur globalisierten, globalisierenden Kultur. Interessant ist für mich nur, konkrete Punkte, Orte, Werke, Menschen miteinander zu verbinden. Allgemeine Schemata finde ich nicht interessant. Das Problem für Leute wie Hearn und mich ist, daß man uns immer aufs Neue in Schubladen steckt: der Journalist, der Beschreibungskünstler, der Sachverständige der neuen französischen Philosophie, der Übersetzer, der Japanophile, der Professor usw. Nein! Wir sind vieles und wissen das Viele unter einen Hut zu bringen. Wir sind ein plurales Subjekt.
Was bedeutet dir Literatur? Was willst du mit deiner literarischen Arbeit für die Leserschaft aussagen?Literatur ist für mich eine Lebensform. Eine Art, die Welt zu sehen, noch vor allem Schreiben. Es gibt Schriftsteller, die gar nicht schreiben, zum Beispiel Lord Chandos, wenn ich eine fiktive Figur anführen darf. Oder solche, die schreiben, sich aber nicht ums Veröffentlichen kümmern, wie Macedonio Fernández, den Borges als seinen Lehrer bezeichnete. Oder mein Freund Sander Ort, den niemand kennt, weil er kaum veröffentlicht, der aber sehr gut schreibt.
Falls mit der zweiten Frage eine »Botschaft« gemeint ist, die ich vermitteln will: Ja, aber nur von Fall zu Fall. Manchmal will ich tatsächlich zu irgendeinem Problemfeld eine Haltung, eine Sichtweise vorschlagen. Als Jugendlicher und junger Mann wollte ich einfach nur schreiben, egal was, wie der Held in Handkes Buch Falsche Bewegung. Aber im Lauf der Zeit hatte ich manchmal das Bedürfnis, in eine gesellschaftliche Diskussion einzugreifen. Mir ist aber zugleich bewußt, daß man als Autor überhaupt nichts bewirken kann, außer man ist sehr berühmt. Außerdem wird von den gesellschaftlichen Akteuren nur das wahrgenommen, was in die Massenmedien gelangt, alles andere nicht, das übrige wird nur individuell wahrgenommen, fallweise, quasi wie in einem Freundschaftszirkel. Das finde ich gar nicht so schlecht, für mich ist Literatur eine alternative Kommunikationsform, alternativ zu den verschiedenen Formen der Massenkommunikation, die im digitalen und globalisierten Zeitalter ein erdrückendes Gewicht bekommen hat. Das Bestehen auf solchen alternativen Kommunikationsformen ist auch ein Akt des Widerstands. Völlig minoritär, und wahrscheinlich ohne Aussicht auf irgendwelche »Erfolge«.
Ich glaube, eine wichtige Wirkungsmöglichkeit von Literatur als individueller Kommunikationsform ist die Verfeinerung, Sensibilisierung, die Schärfung der Aufmerksamkeit, die Fähigkeit des Differenzierens. Kleine Beiträge zur Persönlichkeitsbildung, zur Herzensbildung, die während der vergangenen Jahrzehnte weltweit unter die Räder gekommen ist. Plakative, große, utopische Ziele kann sie bestimmt nicht erreichen. Muß sie auch nicht.
Was bedeutet Übersetzen für dich? Wie produktiv und innovativ ist eine Übersetzung? Seit ein paar Jahren übersetzt du sogar auch japanische Romane ins Deutsche. Welche Schwierigkeiten und Freuden hattest du dabei?
Das Übersetzen ist für mein eigenes Schreiben anregend, oft fließen Texte von anderen Autoren in meine eigenen ein, indem ich etwas von ihnen übersetze. Manchmal mache ich das kenntlich, manchmal nicht. Davon abgesehen ist das Übersetzen aber eine besondere Tätigkeit, zu der man ganz bestimmte Qualifikationen braucht. Nicht jeder Autor kann auch gut übersetzen. Es gibt zweisprachige Autoren, die sich selbst nicht gut übersetzt haben, und andere, die es ablehnen, sich zu übersetzen. Andererseits muß man aber auch sagen, daß sehr viele Autoren übersetzerisch tätig sind. Bei manchen ist das nicht allgemein bekannt. Borges zum Beispiel hat viel übersetzt, oder Peter Handke, oder Yves Bonnefoy. Die meisten Dichter übersetzen Gedichte, wahrscheinlich deshalb, weil sie sehr intensive, genaue Leser sind, und ein sehr genaues Lesen in einer Fremdsprache bringt einen fast automatisch zum Übersetzen. So war das auch bei mir, vor bald dreißig Jahren, als ich in Frankreich lebte. Da hatte ich die Dichtungen Mallarmés vor mir liegen und merkte, wirklich verstehen, oder besser gesagt, nachvollziehen kann ich sie nur, wenn ich sie selbst schreibe, auf deutsch. Dabei dachte ich überhaupt nicht daran, die Übersetzungen zu veröffentlichen.
In allen Ländern, in denen ich lebte, spürte ich erstens das Bedürfnis, die dortige Literatur in der Landessprache zu lesen, und irgendwann auch, zu übersetzen. In Japan bin ich dabei auf die Barriere der chinesischen Zeichen gestoßen, die ich in meinem Alter nicht mehr so leicht erlernen konnte. Das zu schaffen, ist fast unmöglich für einen Vierzig- oder Fünfzigjährigen. Aus dem Japanischen zu übersetzen begonnen habe ich erst, nachdem ich viele Jahre in den Land gelebt hatte, und nicht sehr viel, allein schon deshalb, weil es für mich zeitaufwändiger ist als für studierte Japanologen.
Grundsätzlich kann ich bisher nur in enger Zusammenarbeit mit einer zweiten Person, die die japanische Schriftsprache bestens beherrscht, übersetzen. Diese Person, eine Japanerin, Germanistin, liest mir vor oder gibt mir eine deutsche Rohübersetzung, und wir sprechen über jeden Satz. Diese Art von Übersetzungsarbeit hat einige Vorteile, ist aber auch sehr mühsam, und das Honorar muß man sich natürlich teilen.
In einem anderen Interview habe ich gesagt, eines der wenigen großen Ziele in meinem schon ein bißchen fortgeschrittenen Leben ist es, Kinkakuji von Yukio Mishima zu übersetzen. Dazu möchte ich den Text aber auch allein lesen können, und ich glaube, wenn ich es überhaupt schaffe, eine große Zahl von Kanji zu lernen, dann nur zusammen mit meiner Tochter, im selben Rhythmus wie sie. Derzeit geht sie in die zweite Klasse Grundschule. Kinkakuji wurde vor etwa fünfzig Jahren ins Deutsche übersetzt, aber aus dem Englischen, die Ausgabe ist längst vergriffen, der deutsche Text nicht sehr gut. Schon den Titel, Der Tempelbrand, finde ich unbefriedigend.
Welche Literatur, welche AutorInnen haben dich beeinflußt?
Da kann ich keine richtige Antwort geben, weil mich tausende Sachen beeinflußt haben und noch beeinflussen. Heutzutage, wo jeder schreibt und veröffentlicht, sei es auch nur in Facebook, während die Kunst des Lesens abhanden kommt, finde ich es fast wichtiger, ein guter und ausdauernder Leser zu sein. Und das meiste, was ich lese, beeinflußt mich.
Andererseits kann ich aber sagen, und muß ich sagen, daß nicht nur beim Lesen die frühen Eindrücke und Einflüsse die stärkeren sind. Meine Biographie als Leser beginnt mit dem Zeitpunkt, als ich auf eigene Faust zu lesen begann, mir Bücher kaufte oder aus dem »Giftschrank« der Schulbibliothek auslieh, was mir der Bibliothekar, Pater Theodorich hieß er, damals in Kremsmünster zum Glück erlaubte. In meiner frühen Kindheit las ich zum Beispiel viel Karl May, aber ich glaube nicht, daß mich das nachhaltig beeinflußt hat. Das erste Buch, das ich mir selbst kaufte, bei einer Weihnachtsausstellung, Bücherausstellung, war von Thomas Bernhard, und einige Zeit habe ich sehr intensiv Thomas Bernhard gelesen. Etwas später kam Peter Handke hinzu. Diese beiden Autoren galten damals und auch später, zum Teil bis heute, als Entweder-Oder. Entweder man mochte Thomas Bernhard oder Peter Handke. Bei mir hat das eine das andere aber nie ausgeschlossen. Daneben spielte in dieser Zeit auch James Joyce eine wichtige Rolle, den ich im Original las, oder zu lesen versuchte, denn wirklich »verstanden« habe ich ihn nicht. Was ich schon früh verstanden habe, ist, daß es bei dieser Art von Literatur nicht ausschließlich um inhaltliches Verstehen geht und daß man manchmal akzeptieren muß, etwas nicht zu verstehen. Es gibt Dinge, die kann man nur ahnen, und es gibt Formen, die sich von Inhalten emanzipiert haben.
Andere Lektüren möchte ich jetzt nicht nennen, das würde zu weit führen. Von den Autoren, die ich erst als Erwachsener wirklich kennengelernt habe, empfinde ich Kafka und Borges als besonders nahe. (Wahrscheinlich wird jeder Autor diese beiden anführen, das scheint mir irgendwie logisch, es gibt keinen reineren Schriftsteller als Kafka.) Bis vor fünfzehn Jahren hatte ich große Scheu, mit lebenden Schriftstellern persönlich umzugehen, außer mit den wenigen, die ich schon aus der Studienzeit kannte. Im Jahr 2000 lernte ich Roberto Bolaño kennen, mit ihm verbrachte ich einige sehr intensive und schöne Tage. Er besaß eine ungeheure Neugier für das Leben und natürlich auch für das Schaffen von anderen Autoren. Ich glaube, von ihm habe ich einiges gelernt in der kurzen Zeit, nicht zuletzt, dieser Neugier für das Leben und die Existenz der anderen nachzugeben. So habe ich dann auch Peter Handke kennengelernt, oder Autoren, die ich übersetzt habe, wie Ricardo Piglia oder Michel Deguy.
Was meinst du zur interkulturellen Literatur und zur Vielsprachigkeit in der Literatur? Du hast bisher schon mehrere Artikel über türkische oder russische Autoren und Autorinnen geschrieben.
Daß es seit zwei bis drei Jahrzehnten im deutschen Sprachraum einen auffällig hohen Anteil von Autoren mit sogenannten Migrationshintergrund gibt, also Autoren, die oft nicht in Deutschland, Österreich oder der Schweiz geboren sind, aber deutsch schreiben, widerspiegelt einfach die gesellschaftliche Situation, in der Migration eine große Rolle spielt. Ich nehme an, daß sich diese Situation ändern wird, in zwei oder drei Jahrzehnten wird es vielleicht weniger Migrationsautoren geben (aber natürlich viele schreibende Migranten der zweiten oder dritten oder vierten Generation). Wieder zwei oder drei Jahrzehnte später wird auch diese interkulturelle Mode in der akademischen Welt abflauen, an der ich selbst ein wenig teilnehme.
Vermutlich hat auch Elfriede Jelinek einen Migrationshintergrund, ihr Name läßt darauf schließen. Oder Lukas Cejpek. Und natürlich, um einen Autor der Literaturgeschichte zu nennen, Elias Canetti. Man könnte die gesamte Kultur der österreichisch-ungarischen Monarchie als interkulturellen Raum betrachten, mit all den Autoren aus Prag, Czernowitz, Siebenbürgen, wobei Siebenbürgen am tiefsten in die Gegenwart hineinwirkt – ich erinnere an Namen wie Herta Müller oder Richard Wagner (den Dichter, nicht den Komponisten). Herta Müller ist mit deutscher Muttersprache aufgewachsen, und das ist natürlich noch einmal ein Unterschied zu denen, die später ihre Literatursprache gewechselt haben. Das ist für mich der eigentlich interessante Fall, also das, was Yoko Tawada »Exophonie« genannt hat. Paradoxerweise – paradox formuliert oder zugespitzt – bringen die Autoren, die am schlechtesten Deutsch sprechen, am ehesten Innovationen in eine deutschsprachige Literatur, deren Innovationskraft sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts erschöpft zu haben schien.
Wie beim Phänomen der Globalisierung wird denen, die darüber nachdenken, langsam bewußt, daß es eine sehr lange Vorgeschichte des Phänomens gibt. Man nimmt einfach heute einen Aspekt viel stärker wahr, den es in Wirklichkeit schon seit langem gibt, in unserem Fall die Fruchtbarkeit von interkulturellem Austausch, von interkulturellen und sprachlichen Verschiebungen. Ich könnte Ricardo Piglia zitieren, es geht mir ähnlich wie ihm: »Schon immer haben mich Schriftsteller mit einer doppelten Herkunft, zwei Sprachen und Traditionen interessiert.« Er schreibt dann über W. H. Hudson, der 1838 in Buenos Aires geboren wurde, viele Jahre in der Pampa lebte und den Großteil seines literarischen Werks schrieb, als er in fortgeschrittenem Alter nach England zurückgekehrt war. »Zurückgekehrt« ist vielleicht nicht das richtige Wort, für unsereins, hätte ich fast gesagt, gibt es keine Rückkehr, ie ni kaerenai. Hudson, übrigens wirklich ein sehr interessanter Schriftsteller, ich habe ihn gelesen, Hudson ist vom selben Schlag wie Joseph Conrad – womit ein weiterer Autor genannt wäre (später dann Nabokov.... und so weiter). Hudsons Prosa war nicht ganz »korrekt«, es tauchen darin spanische Sprachmuster auf. Dennoch oder gerade deshalb konnte er eine »wunderbar elegische Prosa« (Piglia) schreiben.
Ich selbst habe viele Jahre in Ländern außerhalb meiner »Heimat« gelebt, und es bedarf keiner weiteren Erklärungen, daß diese Tatsache auf mein Schreiben gewirkt hat, auch sprachlich. Ich habe aber meine literarische Ausdruckssprache nicht gewechselt. Wäre ich damals länger in Frankreich geblieben, hätte ich es vielleicht getan, wer weiß. Wie Anne Weber, die auf deutsch und auf französisch schreibt, während jemand wie Oleg Jurjew auf russisch und auf deutsch schreibt. Als ich in Italien lebte, schrieb ich einmal einen Artikel über Grillparzer für eine italienische Zeitung. Die Person, die ich damals bat, den Text zu korrigieren, meinte, da sei nicht viel zu korrigieren. Das hätte der Anfang einer exophonen »Karriere« sein können. Aber ich bin dann bald von Italien weggegangen, aus Gründen, die mit unserem Thema nichts zu tun haben. In Japan werde ich niemals eine japanische Schreibfähigkeit erlangen, geschweige denn die Fähigkeit, mich literarisch auszudrücken. Einem Japaner muß ich nicht lange erklären, warum das – bei meiner Vorgeschichte – unmöglich ist (Hideo Levy, der als Jugendlicher erstmals nach Japan kam, war durchaus in der Lage, vom Englischen zum Japanischen zu wechseln). Trotzdem bin auch ich ein interkultureller Schriftsteller.
Wie würdest du deine Identität definieren? Fühlst du dich als österreichischer oder eher als europäischer Autor? Kannst du mit dem Wort »Heimat« etwas anfangen? Du bist doch eine Art Migrant oder »Nomade«, nicht wahr?
Vorhin habe ich das Wort »Heimat« spontan zwischen Anführungszeichen gesetzt. Ich glaube, die meisten Leute meiner Generation tun das, normalerweise vermeiden wir das Wort lieber. Dieses Wort – ich vermeide es schon wieder – ist durch die konservative und dann nationalsozialistische deutsche Geschichte besetzt, obwohl es eigentlich nichts dafür kann, es ist kein schlechtes Wort. Eigentlich interessieren mich aber diese Etikettierungen nicht. Selbstverständlich bin ich ein österreichischer Autor, und selbstverständlich bin ich Europäer, und ich habe auch an der Menschheitskultur Anteil. Die Etikettierungen legen einen zu sehr fest. Jemand, der sich als Nomade bezeichnet, ist schon kein Nomade mehr. Selbstverständlich habe auch ich eine Heimat, und sie spielt in meiner Literatur eine sehr große Rolle, ist aber auch wieder nur ein Aspekt neben anderen. Die Auseinandersetzung mit meiner Kindheit und Jugend ist in den letzten Jahren für mich wichtiger geworden. Die frühen Prägungen, ich sagte es schon, tragen viel mehr zur persönlichen Identität, wenn du das Wort unbedingt verwenden möchtest, bei als spätere Prägungen, die es aber auch gibt. Im wesentlichen bin ich das, was ich in meinen ersten Lebensjahren geworden bin, und diese Jahre haben sich in der oberösterreichischen Provinz abgespielt – ich hatte gar keine Wahl. Wenn dann von mir erwartet wird, ich müsse interkulturelle Literatur schreiben, oder meine Erzählungen müßten in Japan spielen, nur weil ich in Japan lebe, dann nervt diese starre Erwartungshaltung. Sie widerstrebt übrigens auch dem Geist von »Interkulturalität«.
Abgesehen von literarischen Fragen ergeben sich Biographien eben so, Zufälle spielen eine Rolle, es gibt eine Vielzahl von Beweggründen. In Japan lebe ich seit 13 Jahren, und wenn ich gefragt werde, wie lange ich noch hier bleiben will (als handle es sich um einen Fluch oder eine heilbare Krankheit), dann kann ich keine Antwort geben, ich denke sogleich an meine Tochter, die hier zur Schule geht und natürlich zweisprachig aufwächst, und an meine Frau, die in einem europäischen Umfeld vielleicht nicht gut existieren kann. Sollte ich jemals ein Pensionistendasein führen, werde ich es in Uruguay tun, am beschaulicheren der beiden Ufer des Río de la Plata.
Was ist für dich die literarische Realität? Du hast auch autobiographische Erzählungen veröffentlicht.
Meine erzählenden Werke sind einerseits Romane, die bisher immer in Ich-Form geschrieben sind, und andererseits kürzere Erzählungen, oft in Er- oder Sie-Form oder auch zwischen Ich und Er wechselnd, zum Teil mit frei erfundenen Fabeln. Jedes Werk hat einen fiktionalen Anteil, aber er ist unterschiedlich groß. Die meisten Werke – vielleicht nicht jedes, ich bin mir da nicht so sicher – haben einen autobiographischen Grund. Ich glaube, das gilt nicht nur für mich. Persönlich kann ich der autobiographisch geprägten, von persönlichen Erfahrungen durchdrungenen Literatur mehr abgewinnen als frei erfundener oder bloß spielerischer Literatur, obwohl mich auch phantastische Literatur interessiert, oder hochartifizielle Bücher wie Die unsichtbaren Städte von Italo Calvino. Sein Landsmann Leonardo Sciascia sagte: »Mit Worten spielt man nicht.« Ein bißchen streng vielleicht, oder? Sciascia war eine Zeitlang Volksschullehrer.
Du bist schon seit mehr als zehn Jahren in Japan. Welche Einflüsse haben die Japan-Erfahrungen auf dich ausgeübt?
Wie ich schon sagte, wenn ich jahrelang alle Tage in Japan verbringe und für meine Umgebung eine – wahrscheinlich kann ich doch sagen: intensive, gesteigerte – Aufmerksamkeit erbringe, dann ist es nicht verwunderlich, daß viel von dieser Umgebung in mein Schreiben einfließt, auf allen Ebenen, nicht nur auf der inhaltlichen. Ich könnte mich auch abkapseln, aber das tue ich nicht, im Gegenteil. Für mich ist die Erfahrung des Fremden anregend, ich brauche sie sozusagen, in der heimischen Umgebung fühle ich mich viel dumpfer. Die schlechteste, unproduktivste Zeit meines Erwachsenenlebens war die in Wien zwischen 1993 und 1999. Da kannte ich alles schon. Lieber stelle ich mich dem, was ich noch nicht kenne. Dieses Unbekannte kann auch in mir selbst sein, oder in meiner Kindheit, in meiner Geschichte. In dieser Hinsicht gleicht die Arbeit des Schriftstellers der des Ethnologen. Es gibt einige andere Autoren, für die das buchstäblich gilt, die sich auch als Ethnologen betätigt haben, etwa Michel Leiris oder Hubert Fichte. Claude Lévi-Strauss, der berühmte Ethnologe, besaß auch ein starkes Erzähltalent. Wie ja auch manche Historiker, die sich sozusagen um fremde Zeiten kümmern, nicht um die eigene Zeit, gute Erzähler waren, zum Beispiel Jules Michelet. Ein bißchen bin ich selbst Ethnologe, zum Beispiel mit einem Buch wie Die großen und die kleinen Brüder, Untertitel: Japanische Betrachtungen, oder mit dem Mexikanischen Triptychon, oder dem Buch über Buenos Aires. Erst jetzt, zwei Jahre nach dem Erscheinen von Die großen und die kleinen Brüder, fällt mir auf, daß der Titel an Lévi-Strauss erinnert, an Titel wie Das Rohe und das Gekochte. Als ich nach Japan kam, habe ich in Nagoya einen Vortrag gehalten, Lob der Entfremdung. Geschrieben wurde dieser Essay in einem Hotelzimmer in einem der alten Häuser im Zentrum von Mexiko-Stadt. In dem Essay habe ich das Wesentliche dieser Fremdheitserfahrung und Fremdheitserkundung beschrieben.
Der 2. Teil folgt am 18.1.
© Masahiko Tsuchiya/Leopold Federmair
Eine von Elfriede Jelineks Wurzeln führt ins Banat, die Region aus der auch Herta Müller und Richard Wagner und Nikolaus Lenau und Adam Müller-Guttenbrunn und ... kommen. Das hat aber mit Siebenbürgen nichts zu tun.
Mit freundlichem Gruß
Mark Jahr
Der rumänische Teil des Banats wird manchmal irrtümlich zu Siebenbürgern/Transsylvanien gerechnet, erfahre ich auf Wikipedia. Entschuldigung. Vor 24 Jahren reiste ich durch das Banat und dachte, ich sei in Siebenbürgen.
Noch eine kleine Korrektur: »Kinkakuji« von Mishima wurde nicht aus dem Amerikanischen, sondern aus dem Japanischen ins Deutsche übersetzt (trotzdem nicht gut). Der Irrtum geht wahrscheinlich darauf zurück, daß Mishima zu Lebzeiten versuchte, die USA (mit ihren vielen hervorragenden Japanologen) als Drehscheibe für eine weltweite Wirkung zu benutzen.