»Er erreichte den Ku’damm, ich müsste links gehen, will ich zum Potsdamer Platz, ich gehe einen großen Bogen, dachte er, andererseits, was soll ich ausgerechnet am Potsdamer Platz, es gibt keinen Grund, ausgerechnet zum Potsdamer Platz zu gehen, also gehe ich geradeaus, hätte ich direkt in meine Wohnung gewollt, so hätte ich anders zu gehen gehabt, ja ich hätte genau genommen meine Wohnung nicht einmal wirklich verlassen, also nur kurz verlassen müssen, über die Straße natürlich schon, zum Imbiss, den ich vom Erkerfenster aus sehen kann, ich hätte hinübergehen können in Hausschuhen, von dort ist meine Wohnung zu sehen, ich kann meine Wohnung sehen, wenn ich dort im Imbiss etwas zu Essen bestelle, in Hausschuhen und in meiner Hausjoppe dort stehend, das kratzt in Berlin keine Sau, dachte er […], ich bin ein Idiot, dachte er, warum sitze ich nicht in meiner Wohnung und erwarte ruhig den Anruf, den ich erwarte, das frage ich mich!«
Es ist mittlerweile Sonnabend früh. Gerade erreicht er seine Wohnung. Und da gibt es einen Anruf. Das ist das Setting von »Stadt, Angst, Schweigen«. 126 Seiten. Eine Lektüre für einen Abend.
Eine Lektüre, die einem dann vielleicht nicht so schnell Ruhe finden lässt. Neben dem verblüffenden Schluss (der hier natürlich nicht verraten wird), ist es zunächst die Form, die Norbert W. Schlinkert für seine Erzählung, die von ihm (und dem Verlag) als »Heraklitischer Fließtext« rubriziert wird, die einerseits verstört, andererseits amüsiert. Schlinkert macht nämlich von der ersten Seite an keinen Hehl daraus, Anleihen im Duktus von Thomas Bernhard zu nehmen.
Vordergründig wird dies sofort anhand der extrem häufig auftauchenden Formulierung »denke ich, dachte er« deutlich. Der Erzähler ist jemand, der die Denkprozesse eines inneren Monologs einer namenlos bleibenden Ich-Erzähler-Figur en détail und kommentarlos wiedergibt. Sofort denkt man an Bernhards Roman »Das Kalkwerk«, in dem ein nicht selber in die Ereignisse involvierter Erzähler die Gründe für den Mord eines gewissen Konrad an seiner Frau mittels der Aussagen vor allem zweier Bekannter – Wieser und Fro – rekonstruiert. Diese Aussagen werden durch ineinander verschachtelte Formulierungen ausgebreitet, wie etwa »wie er sagte, sagt Fro« oder »soll Konrad […] zu Fro gesagt haben, sagt Fro«. Das »denke ich, dachte er« nimmt auch Anleihen an das »dachte ich« beispielsweise aus Bernhards »Holzfällen«-Roman. Schlinkerts inflationär verwendete Doppel-Inquit-Formel soll den Leser vielleicht an die Subjektivität der geschilderten Ereignisse erinnern, ohne eine zu schnelle Identifikation (oder Abneigung) mit der Figur zu erzeugen.
Der bis zum Schluss namenlos bleibende, auf das Resultat seiner Untersuchung Wartende, infolge seiner Kehlkopferkrankung nicht mehr Sprechende, wird während seiner Überlegungen immer Verzagter. Da wird ausführlich auf das berufliche Umfeld eingegangen. Er ist in einer leitenden, aber nicht der höchsten Position angestellt. Am Wochenende fährt er normalerweise nach Hause, in das Haus seiner Eltern im östlichen Ruhegebiet. Sein Chef trägt den Namen Kranzler und hat einen Makel, der derart exzessiv beschrieben wird, dass einem während der Lektüre mindestens zwei Mal speiübel wird: Er verströmt einen extrem unangenehmen Körpergeruch. Für Kranzler hatte er eine Assistentin mit dem Namen Semper eingestellt (passenderweise wird sie aus Sachsen kommen verortet; diese Form des Sprachwitzes wirkt etwas angestrengt). Semper arbeitet sich nicht nur schnell die Materie ein und stellt damit die Fähigkeiten der bisherigen Sekretärin Krämer in den Schatten, sie ist auch noch außerordentlich attraktiv. Er fühlt er sich sexuell zu ihr hingezogen. Wenn sie sich in den Feierabend fahrradfahrend verabschiedet, besucht er mit pubertärer Lust an der Heimlichkeit unmittelbar darauf die Damentoilette (!) und masturbiert ins Waschbecken (dabei seine Hoden an diesem Waschbecken kühlend) oder, seltener, in den Spülkasten des WC, wobei er sich vorstellt, wie andere dann die Toilette mit dem Wasser mit seinem dort hinterlassenen Ejakulat abspülen.
Gefallen oder Nicht-Gefallen des Romans, pardon: des heraklitischen Fließtextes, sollten bzw. dürfen bei der literarischen Beurteilung keine entscheidende Rolle spielen. Ähnliches müsste übrigens auch für die späte Bernhard-Prosa gelten. Sie wurde jedoch seinerzeit in den Feuilletons zumeist losgelöst von literaturkritischen Kriterien bewertet (fast ausschließlich affirmativ). Am Ende ging es fast nur noch darum, ob Bernhard eine gewisse Erwartungshaltung (die meist außerliterarischer Natur war) erfüllte. Ein bisschen Österreich-Beschimpfung, eine nur mühsam verschlüsselte öffentliche Person, die lächerlich gemacht wurde, ein wenig pseudophilosophisches Bramarbasieren. Das literarische war nebensächlich geworden. Aus der neuen (literarischen) Form des Bernhard’schen Schreibens wurde über die Jahre nur noch ein Jargon.
An »Stadt, Angst, Schweigen« können solche Erwartungshaltungen nicht herangetragen werden. Daher erscheint die Nähe zum Bernhard-Duktus so gefährlich. Zum einen kann der Text allzu schnell als epigonal abgehandelt werden. Zum anderen ist nun der Leser (und auch der Rezensent) geneigt noch weitere Parallelen zu suchen. Etwa die Wohnsituation der Hauptfigur am Wochenende, in der Abgeschiedenheit, mit Kontakt nur zu einem Nachbarn. Es erinnert an den einsamen, von nahezu allen sozialen Kontakten abgeschnittenen Kauz, der sehr häufig bei Bernhard vorkommt Wie selbstverständlich kommt bei Schlinkert auch das Wort »naturgemäß« vor. Und gegen Schluss beschäftigt er sich auch noch mit dem Zusammenhang zwischen Denken und Fortbewegung, was in Bernhards Erzählung »Gehen« eine wichtige Rolle spielt; einen Text, über die Schlinkert literaturwissenschaftlich gearbeitet hat.
Wie soll man mit den unabweisbaren Bernhard-Allegorien umgehen? Sich hingeben und die literaturhistorische Brille während der Lektüre vielleicht absetzen? Und wer von Thomas Bernhard noch nie etwas gehört hat, wird durchaus Gefallen finden an diesem Text. Tatsächlich sind die Denk‑, Verschwörungs- und Wahrnehmungsellipsen des Protagonisten auf seinem nächtlichen Umherirren durch Berlin fein ausgearbeitet. Schlinkert gelingt es, die Figur in ihrer Verschrobenheit weder lächerlich darzustellen noch als philosophischen Welterklärer aufzuwerten. Hier gibt es also Unterschiede zum großen Vorbild. Zeitgeschichtlich und topografisch ist es kein »Bernhard-Buch«. Von »Stadt« bekommt man sehr viel mit (Berlin), das »Schweigen« bezieht sich auf die Außenwirkung der Figur. Was ein bisschen zu kurz kommt, ist die »Angst« der Figur, die nicht stark genug herausgearbeitet wird. Aber kurzfristig kann einem Nobert W. Schlinkerts Roman durchaus ein bisschen das Gruseln lehren.