Frank Wit­zel: In­ni­ger Schiff­bruch

Frank Witzel: Inniger Schiffbruch
Frank Wit­zel:
In­ni­ger Schiff­bruch

Die Ka­no­ni­sie­rung des li­te­ra­ri­schen Gen­res der »Au­to­fik­ti­on« schrei­tet schein­bar vor­an. Mit »In­ni­ger Schiff­bruch« legt Frank Wit­zel, der 2015 mit sei­nem Buch­preis-Sie­ger­text »Die Er­fin­dung der Ro­ten Ar­mee Frak­ti­on durch ei­nen ma­nisch-de­pres­si­ven Teen­ager im Som­mer 1969« schockier­te, über­for­der­te (zu­min­dest mich) und zu­gleich be­ein­druck­te (eben­so), ei­nen stark au­to­bio­gra­phi­schen Pro­sa­text über das Le­ben sei­ner El­tern und – was noch ent­schei­dend sein wird – sei­nen hier­aus ent­stan­den Le­bens­prä­gun­gen vor. Der Ti­tel er­in­nert ein we­nig an »Wunsch­lo­ses Un­glück«, wie Pe­ter Hand­ke 1972 sei­nen Ver­such über den Frei­tod sei­ner Mut­ter (und da­mit über ihr Le­ben) zu er­zäh­len nann­te. Aber die Auf­lö­sung für Wit­zels Ti­tel wird so­fort in der Wid­mung auf­ge­löst: Es han­delt sich um ei­ne For­mu­lie­rung im Ge­dicht »L’in­fi­ni­to« von Gia­co­mo Leo­par­di, über­setzt von Rai­ner Ma­ria Ril­ke. Spä­ter wird der Le­ser er­fah­ren, dass die El­tern bei ei­ner Ita­li­en­rei­se in den 2000er Jah­ren auf Leo­par­di auf­merk­sam ge­macht wur­den und der Va­ter schließ­lich das Ge­dicht »für Alt, Kla­vier und Or­che­ster« ver­ton­te. Und war­um der Mu­sik­leh­rer, Chor- und Or­che­ster­lei­ter Carl Wit­zel (Jahr­gang 1930) dies ge­tan hat­te, er­fah­ren wir auch: »In die­sem sehn­süch­tig ver­zwei­fel­ten Zei­len des Dich­ters, des­sen ‘phy­si­sches Le­ben ein Mar­ty­ri­um war, nur von we­ni­gen Stun­den re­la­ti­ver Schmerz­frei­heit un­ter­bro­chen’, wie es in ei­nem von mei­ner Mut­ter aus­ge­schnit­te­nen Zei­tungs­ar­ti­kel hieß, schie­nen mei­ne El­tern noch ein­mal un­ab­hän­gig von­ein­an­der auf ei­ne ge­mein­sa­me Sehn­sucht ge­sto­ßen zu sein.«

Wer ge­nau liest stellt sich die Fra­ge: Wor­in liegt denn die »ge­mein­sa­me Sehn­sucht«, die der Er­zäh­ler hier sug­ge­riert? Im Dau­er­schmerz des Dich­ters? In den we­ni­gen Mo­men­ten, in de­nen er schmerz­be­freit war? In ei­ner Art Schmer­zens­ver­wandt­schaft (die Mut­ter wird als Schmer­zens­frau [Rheu­ma] dar­ge­stellt)? Oder geht es um die Sehn­sucht des »Schiff­bruchs«, des Schei­terns?

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Mo­ni­ka Ma­ron: Ar­tur Lanz

Monika Maron: Artur Lanz
Mo­ni­ka Ma­ron: Ar­tur Lanz

»Er war viel­leicht fünf­zig Jah­re alt, von schma­ler Ge­stalt, mit blon­dem, leicht er­grau­tem Haar, das in kur­zen Locken wirr um sei­nen Kopf stand, als wür­de er es stän­dig mit den Hän­den durch­fah­ren.« So be­schreibt die Ich-Er­zäh­le­rin Char­lot­te Win­ter in Mo­ni­ka Ma­rons neue­stem Ro­man die Ti­tel­fi­gur Ar­tur Lanz. Sie sieht ihn vor dem Su­per­markt, dort, wo auch Ob­dach­lo­se zu­sam­men­kom­men. Win­ter sucht ein Ge­spräch mit ei­nem ver­zag­ten Mann, der die Streu­ner fast be­wun­dert: »Die ha­ben es doch gut, die ha­ben es hin­ter sich…Die stel­len kei­ne Fra­gen mehr, die brau­chen kei­ne Ant­wor­ten mehr. Al­le Fra­gen hei­ßen nur noch Schnaps und Bier und al­le Ant­wor­ten auch, bis es end­gül­tig vor­bei ist.«

Es dau­ert Mo­na­te, bis sie ihn wie­der­trifft und vom »Dra­ma« er­fährt, dass »in der Män­ner­see­le von Ar­tur Lanz tob­te«. Sein Ein­satz zur Ret­tung sei­nes Hun­des aus ei­nem Raps­feld be­glück­te und ver­än­der­te Ar­tur Lanz’ Sicht auf das Da­sein der­art, dass er al­les hin­ter sich ließ, was sein Le­ben bis­her struk­tu­rier­te. »Ein tie­fes Glück« stell­te sich ein, und sein Kör­per emp­fand ei­nen »sü­ßen Schmerz.« Es ist ei­ner der Schwach­punk­te des Ro­mans: Die Eu­pho­rie Art­urs teilt sich dem Le­ser nicht mit. Man denkt un­will­kür­lich an den groß­ar­ti­gen Dag Sol­stad und ei­ne sei­ner Haupt­fi­gu­ren, die ihr Le­ben än­dert, weil sie ei­nen Re­gen­schirm nicht öff­nen kann.

Hier bleibt das Er­eig­nis Be­haup­tung und die Fol­gen schei­nen eher ab­surd: Ar­tur Lanz ließ sich schei­den, mie­te­te sich ei­ne neue Woh­nung, wur­de herz­krank, und stürz­te sich in ein »wir­res Her­um­den­ken«. Sei­ne Ar­beit als Phy­si­ker ver­rich­tet er oh­ne En­thu­si­as­mus als Brot­er­werb. Und er er­zählt Win­ter von sei­nem Va­ter, den El­tern, der ehr­gei­zi­gen Mut­ter, sei­ner Kind­heit, von der Hy­po­thek, die er durch den Na­men be­kam, den ihm die Mut­ter gab: Ar­tur – der Held der Ar­tus­sa­ge. Wel­che Ver­pflich­tung. Aber, auch hier ernst­haft ge­fragt, sind zum Bei­spiel al­le Fe­li­xe der­art prä­dis­po­niert, wenn sie her­aus­ge­fun­den ha­ben, nicht per­ma­nent glück­lich sein zu kön­nen?

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Mi­cha­el Klee­berg: Glücks­rit­ter

»Glücks­rit­ter« nennt Mi­cha­el Klee­berg sei­nen neu­en Ro­man. Ro­man? Der Un­ter­ti­tel ver­rät An­de­res: »Re­cher­che über mei­nen Va­ter«. Ei­ne Bio­gra­phie? Nein, das ist es auch nicht. Viel­leicht »Au­to­fik­ti­on«? Ir­gend­wann hat­te sich die­ser Be­griff für solch ein li­te­ra­risch-bio­­­gra­­phi­­sches Schrei­ben ge­fun­den und hier scheint er zu pas­sen. Un­längst hat­te Klaus Kast­ber­ger bei ei­nem Text zum Bach­mann­preis ver­sucht, das (auto)biographische ...

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519 Ta­ge

John Bolton: Der Raum, in dem alles geschah
John Bol­ton:
Der Raum, in dem al­les
ge­schah

John Bol­tons Er­leb­nis­se als Na­tio­na­ler Si­cher­heits­be­ra­ter von Do­nald Trump

John Ro­bert Bol­ton, 1948 ge­bo­ren, war ei­gent­lich seit den 1980er-Jah­ren im­mer in der Re­gie­rung der USA, wenn ein Re­pu­bli­ka­ner Prä­si­dent war. Da er un­ter Ge­or­ge W. Bush zum »UNO-Bot­schaf­ter« er­nannt wur­de (per Prä­si­di­al­de­kret, nach­dem er vor­her im Kon­gress, de­ren Mit­glie­der Bol­ton Clowns nennt, durch­ge­fal­len war), wird »Herr Bot­schaf­ter Bol­ton« als An­re­de in der Ad­mi­ni­stra­ti­on ver­wen­det.

Als Trump 2016 Prä­si­dent ge­wor­den war, gab es früh Ge­rüch­te, dass Bol­ton aber­mals ei­ne ge­wich­ti­ge Rol­le im neu­en Ka­bi­nett spie­len soll­te. Ent­ge­gen der An­ti-Estab­lish­ment-Kam­pa­gne Trumps konn­te die­ser na­tür­lich nicht in al­len Po­si­tio­nen neue Kräf­te ein­set­zen. In sei­nem Buch Der Raum, in dem al­les ge­schah, wel­ches im we­sent­li­chen die 519 Ta­ge von April 2018 bis Sep­tem­ber 2019 als Na­tio­na­ler Si­cher­heits­be­ra­ter der Trump-Re­gie­rung um­fasst, gibt es denn auch ein län­ge­res Ein­lei­tungs­ka­pi­tel, in dem er schil­dert, wie es zu die­ser Er­nen­nung kam.

Zu­nächst be­kun­det Bol­ton, dass er im Wahl­kampf 2016 kei­ne be­son­de­re Rol­le ge­spielt ha­be. Er wur­de kalt er­wischt vom Sieg Trumps, was sich dar­in zeig­te, dass er in si­che­rer Er­war­tung von Hil­la­ry Clin­tons Sieg zu Bett ging. Prak­tisch so­fort er­kann­te der Rou­ti­nier die Schwie­rig­kei­ten der Leu­te um Trump, si­che­re Per­so­nal­ent­schei­dun­gen zu tref­fen. So wur­de die UN-Bot­schaf­te­rin von Trump in den Mi­ni­ster­rang er­ho­ben – ein schwe­rer Feh­ler, so Bol­ton, weil da­durch Kom­pe­ten­zen des Au­ßen­mi­ni­ste­ri­ums un­nö­tig ab­ge­ge­ben wur­den. Den­noch wur­de Bol­tons Na­me prak­tisch so­fort ge­nannt, wenn es um die Be­set­zung wich­ti­ger Äm­ter ging. Da­bei war er, wie er ein we­nig ko­kett an­gibt, aus­ge­la­stet: Se­ni­or Fel­low am Ame­ri­can En­ter­pri­se In­sti­tu­te, Kom­men­ta­tor bei Fox News, re­gel­mä­ßi­ger Red­ner, Rechts­be­ra­ter in ei­ner gro­ßen An­walts­kanz­lei, Mit­glied von Un­ter­neh­mens­vor­stän­den, lei­ten­der Be­ra­ter ei­ner glo­ba­len Pri­va­te-Equi­ty-Fir­ma und Au­tor von Mei­nungs­ar­ti­keln mit ei­ner Häu­fig­keit von et­wa ei­nem pro Wo­che. (Be­zeich­nend am Ran­de, dass der Kom­men­ta­tor und Au­tor von Mei­nungs­ar­ti­keln im ge­sam­ten Buch von Jour­na­li­sten als Pres­se­mob oder, leicht mil­der, Pres­se­meu­te schreibt.)

Der Schnurr­bart

Akri­bisch li­stet er al­le for­mel­len und in­for­mel­len Tref­fen mit Trump und sei­nen Be­ra­tern auf, in de­nen es dar­um ging, wel­che Po­si­ti­on er in der Re­gie­rung fin­den soll­te. Bol­ton fa­vo­ri­siert zwei Po­si­tio­nen: Au­ßen­mi­ni­ster oder Na­tio­na­ler Si­cher­heits­be­ra­ter. Ein stell­ver­tre­ten­der Mi­ni­ster­job, der ihm rasch an­ge­bo­ten wird, kommt für ihn nicht in­fra­ge. Das Au­ßen­mi­ni­ste­ri­um müs­se im üb­ri­gen ei­ner Kul­tur­re­vo­lu­ti­on un­ter­zo­gen wer­den, so sein Cre­do. Nach acht Jah­ren Oba­ma wä­re viel zu re­pa­rie­ren, aber auch schon vor­her sei­en in­sti­tu­tio­nel­le Feh­ler be­gan­gen wor­den.

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Der Wil­le zum Nicht­wis­sen, Post­skrip­tum

Vor zwei Jah­ren ha­be ich in die­sem Blog un­ter dem Ti­tel Der Wil­le zum Nicht­wis­sen An­mer­kun­gen zu ei­ner Rei­he von mehr oder we­ni­ger be­rühm­ten Sät­zen zum The­ma »Wahr­heit«, oder zu­min­dest in Zu­sam­men­hang mit die­sem Be­griff, ver­öf­fent­licht. Es liegt auf der Hand, daß sich die­se Rei­he fort­set­zen lie­ße, sie ist wohl un­ab­schließ­bar, die Will­kür setzt ei­nen Schluß­punkt. Trotz­dem, si­cher auch be­dingt durch ei­ni­ge Ein­wän­de ge­gen das von mir Vor­ge­brach­te, die ich dort und da las oder hör­te, ha­be ich mich wei­ter da­mit aus­ein­an­der­ge­setzt. Be­son­ders die oft ver­gnüg­li­che, vom »epi­ste­mi­schen« Stand­punkt na­tür­lich nicht im­mer be­frie­di­gen­de Lek­tü­re von Bü­chern Ri­chard Ror­tys hat mich da­zu be­wo­gen, der Se­rie noch ein Stück hin­zu­zu­fü­gen.

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Truth is what one’s peers, ce­te­ris pa­ri­bus, let one get away wi­th say­ing.

Ich zi­tie­re Ri­chard Ror­ty hier auf eng­lisch, weil ich mit der deut­schen Über­set­zung die­ses Sat­zes in sei­nem Buch Der Spie­gel der Na­tur mei­ne Schwie­rig­kei­ten ha­be. Wie so oft ist ei­ne wich­ti­ge Äu­ße­rung Ror­tys in Dis­kus­si­on und Kri­tik, d. h. in ein ver­wickel­tes Hin und Her ver­packt. In­di­rekt ver­steht man im dort ge­ge­be­nen Kon­text, daß Ror­ty die Auf­fas­sung ver­tritt, Wahr­heit sei nicht mehr als »ge­recht­fer­tig­te Be­haupt­bar­keit« (ein Aus­druck, den er von John Dew­ey über­nimmt). Der Satz in Der Spie­gel der Na­tur lau­tet so: »Wahr­heit ist nicht mehr als der Um­stand, daß un­se­re Mit­men­schen ei­ne Aus­sa­ge – ce­te­ris pa­ri­bus – gel­ten las­sen wer­den.« Ich wür­de ihn lie­ber so über­set­zen, auch auf die Ge­fahr hin, daß ich den sprach­li­chen Aus­druck da­bei ver­bes­se­re: »Wahr sind sol­che Aus­sa­gen, die dei­ne Ge­sprächs­part­ner als wahr gel­ten las­sen.« Peers sind na­tür­lich die Fach­kol­le­gen, aber da Ror­ty in die­sem Buch und auch sonst gro­ßen Wert auf das nicht ab­rei­ßen­de Ge­spräch un­ter ver­nünf­ti­gen, gleich­be­rech­tig­ten Ge­sprächs­part­ner legt und sei­ne Aus­sa­gen ge­wöhn­lich nicht nur auf den aka­de­mi­schen Kon­text be­schränkt wis­sen will, scheint mir die­ses Wort für die Über­set­zung bes­ser zu pas­sen. Ver­stün­de man un­ter »peers« al­le Mit­men­schen oder die Mit­bür­ger ei­nes Lan­des, so wä­re Wahr­heit in je­dem ein­zel­nen Fall das Er­geb­nis ei­nes Ple­bis­zits, oder heut­zu­ta­ge: ei­ner di­gi­ta­len Er­mitt­lung, sie wür­de durch ein Ran­king ge­kürt. Wahr ist, was po­pu­lär ist.

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»Der Welt sind al­le Blät­ter ab­ge­fal­len«

Ei­ni­ge Lek­tü­re­ein­drücke zu Ol­ga Tok­ar­c­zuk

Olga Tokarczuk: Gesang der Fledermäuse
Ol­ga Tok­ar­c­zuk: Ge­sang der Fle­der­mäu­se

Ei­ni­ge Ta­ge vor der Be­kannt­ga­be der Li­te­ra­tur­no­bel­prei­se für 2018 und 2019 tauch­te der Na­me Ol­ga Tok­ar­c­zuk ne­ben den üb­li­chen Ver­däch­ti­gen auf. War da et­was durch­ge­sickert? Ei­ne Über­ra­schung war es dann doch (die grö­ße­re war al­ler­dings die Ver­ga­be für 2019 an Pe­ter Hand­ke). Als die Nach­richt kam, war die Au­torin auf ei­ner Le­se­rei­se durch Deutsch­land. Plötz­lich woll­ten al­le et­was von ihr; es gab ei­ne ei­lig ein­be­ru­fe­ne Pres­se­kon­fe­renz in Düs­sel­dorf. Der Kam­pa-Ver­lag druck­te nach, schien auch Rech­te von Aus­ga­ben von Tok­ar­c­zuks Bü­chern von an­de­ren Ver­la­gen suk­zes­si­ve auf­zu­kau­fen und be­müht sich, das Werk schnell und um­fas­send zu prä­sen­tie­ren. Als Ta­schen­buch­aus­ga­be ist jetzt Tok­ar­c­zuks Ro­man »Ge­sang der Fle­der­mäu­se« von 2009 (erst­mals in Deutsch 2011 bei Schöff­ling) er­hält­lich (Über­set­zung von Do­reen Dau­me). Ein Ein­stieg zu wo­mög­lich an­spruchs­vol­le­ren Tex­ten wie dem nicht zu­letzt von der Aka­de­mie als Opus ma­gnum ge­prie­se­nen »Die Ja­kobs­bü­cher«?

Ich ge­ste­he, dass mich die – so­zu­sa­gen in­of­fi­zi­el­le – Ru­bri­zie­rung »Kri­mi­nal­ro­man« (tat­säch­lich wird »Ro­man« als Gen­re ver­wen­det) für »Ge­sang der Fle­der­mäu­se« ein­ge­nom­men hat. (Was ich erst spä­ter re­cher­chier­te: das Buch bzw. wohl eher der Plot ist be­reits ver­filmt wor­den). Man kann al­so, so die Bot­schaft, sehr wohl ei­nen Kri­mi­nal­ro­man schrei­ben und trotz­dem den No­bel­preis er­hal­ten. Tat­säch­lich ist die­ses un­säg­li­che Schub­la­den­den­ken ge­gen­über der so­ge­nann­ten Genre­li­te­ra­tur fast nur noch in der deutsch­spra­chi­gen Re­zep­ti­on exi­stent. An­ders­wo ist man durch­aus in der La­ge, die Li­te­r­a­ri­zi­tät bei­spiels­wei­se von Kri­mi­nal­ro­ma­nen an­zu­er­ken­nen – so­fern sie denn vor­han­den ist.

Der Ro­man spielt in dem klei­nen Dorf Luf­cug (ein »in­of­fi­zi­el­ler« Na­me) auf ei­nem Hoch­pla­teau an pol­nisch-tsche­chi­schen Gren­ze. Es ist glück­li­cher­wei­se kein dys- oder uto­pi­sches Sze­na­rio; man be­wegt sich in der Ge­gen­wart. Im »Kes­sel« liegt die nächst­grö­ße­re Stadt Glatz (pol­nisch: Kłodz­ko; im Buch fast durch­gän­gig in der deut­schen No­men­kla­tur). Es be­ginnt im ei­sig-kal­ten, wind­um­to­sten Win­ter, als Ma­to­ga sei­nen meh­re­re hun­dert Me­ter ent­fernt woh­nen­den Nach­barn »Big­foot«, ei­nen an­de­ren, ere­mi­tisch-zän­ki­schen Be­woh­ner, tot in sei­nem Haus ent­deckt und Ja­ni­na Dus­ze­j­ko mit­ten in der Nacht auf­weckt. Sie schau­en sich die Lei­che an, su­chen ei­ne To­des­ur­sa­che. Schnell kom­men sie zu dem Schluss, dass er an ei­nem klei­nem Reh­kno­chen er­stickt ist. Für Ja­ni­na ist klar, dass dies die Ra­che der Re­he ist, die »Big­foot« ge­wil­dert hat­te. Er war ein Mann, der von der Na­tur leb­te, »die er aber nicht re­spek­tier­te«.

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Wenn und Aber

Ein kur­zer Rück­blick auf »2001: Odys­see im Welt­raum«

Ge­stern1 zum er­sten Mal »Odys­see 2001« von Stan­ley Ku­brick ge­se­hen, als Vi­deo und mit fünf­zig Jah­ren Ver­spä­tung ge­wis­ser­ma­ßen; sei­ner­zeit hat­te mich »Bar­ry Lyn­don« tief be­ein­druckt, der Ein­druck ist bis heu­te ge­blie­ben.

Die­se aben­teu­er­li­che Rei­se zum Mond und wei­ter zum Ju­pi­ter ist ei­gent­lich ein Kam­mer­stück: we­ni­ge Men­schen, die Räu­me im All und in den recht ge­räu­mi­gen Raum­schif­fen fast leer, ob­wohl der Mond in die­sem Jahr 2001 schon ei­ne Men­schen­ko­lo­nie zu be­her­ber­gen scheint. Die gan­ze zwei­te Hälf­te (oder län­ger) sind da nur zwei Fi­gu­ren, bzw. drei, zwei Men­schen und ein Com­pu­ter, am En­de nur noch ei­ner, der sich ver­wir­rend ver­viel­facht.

Stam­mes­ge­schich­te und In­di­vi­du­al­ge­schich­te; An­fang und En­de und Neu­an­fang. Zeit­ko­lo­rit: die psy­che­de­li­sche Rei­se, ein LSD-Trip, künst­li­che Far­ben, die in ra­sen­den Wel­len auf dich zu­ge­schos­sen kom­men. Das Au­ge ist, was es sieht.

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  1. Den Beitrag erhielt ich vor einigen Tagen zugeschickt. - G. K. 

Neu­es vom er­zäh­len­den Bio­gra­phen

Malte Herwig: Meister der Dämmerung
Mal­te Her­wig: Mei­ster der Däm­me­rung

Mal­te Her­wig er­gänzt sei­ne Bio­gra­phie Mei­ster der Däm­me­rung über Pe­ter Hand­ke um die Ge­scheh­nis­se um den Li­te­ra­tur­no­bel­preis 2019

Als Mal­te Her­wig En­de 2010 sei­ne Bio­gra­phie Mei­ster der Däm­me­rung vor­leg­te, war das Werk von Pe­ter Hand­ke zwar nicht ab­ge­schlos­sen, aber gro­ße Über­ra­schun­gen schie­nen nicht mehr zu er­war­ten. Her­wigs Bio­gra­phie, die in vie­lem Neu­es bot (be­son­ders die Brie­fe Hand­kes an sei­nen leib­li­chen Va­ter und die Er­läu­te­run­gen da­zu), gab ei­nen gu­ten Auf­riss von Vi­ta, Werk und Hand­kes Wir­ken im li­te­ra­ri­schen Be­trieb. Fast en pas­sant gab es bis­wei­len ori­gi­nel­le In­ter­pre­ta­tio­nen. Die ewi­ge wie ei­gent­lich dum­me Fra­ge, ob der Bio­graph sei­nen »Ge­gen­stand« mö­gen muss (wenn dem so wä­re, wie könn­te man Bio­gra­phien bei­spiels­wei­se von Ver­bre­chern schrei­ben), stell­te sich nicht. Her­wig ließ kei­nen Zwei­fel dar­an, dass er das Werk Hand­kes, sei­ne Li­te­ra­tur schätz­te – oh­ne da­bei die mensch­li­chen Schwä­chen des Dich­ters zu ver­schwei­gen.

Es kam dann doch an­ders als er­war­tet. Trotz ei­nes Hand­bruchs, der den Dich­ter an­dert­halb Jah­re stark be­hin­der­te, er­schie­nen seit 2010 sechs wei­te­re Er­zäh­lungs­bän­de Hand­kes, drei Thea­ter­stücke (das jüng­ste über den Tsche­chen Zdeněk Ada­mec erst vor we­ni­gen Ta­gen) und ein Jour­nal­band mit Aus­schnit­ten aus sei­nen Auf­zeich­nun­gen zwi­schen 2006 und 2015. Dies al­lei­ne wä­re aber kaum An­lass ge­we­sen, die Bio­gra­phie zu er­gän­zen. Die un­er­war­te­te Ver­ga­be des Li­te­ra­tur­no­bel­preis nebst der sich zwi­schen Ok­to­ber und De­zem­ber 2019 an­schlie­ßen­den »Dis­kus­si­on« dar­über war dann doch Ge­le­gen­heit zur Ak­tua­li­sie­rung.

Der Bio­gra­phie wur­de ein ach­tes Ka­pi­tel mit dem viel­deu­ti­gen Ti­tel Er­wähl­te nach­ge­stellt. So liegt nun im Pan­the­on Ver­lag (bei DVA war 2010 die Bio­gra­phie er­schie­nen; bei­de Ver­la­ge ge­hö­ren zu Ran­dom Hou­se) ei­ne ak­tua­li­sier­te und er­wei­ter­te Aus­ga­be vor. Ne­ben dem neu­en Ka­pi­tel kor­ri­gier­te Her­wig auch ei­ni­ge klei­ne­re Feh­ler (Ge­burts­da­ten) bzw. er­gänz­te in­zwi­schen Ge­sche­he­nes (wie Ster­be­da­ten). Hier und da wur­den ab­ge­wan­del­te For­mu­lie­run­gen für un­be­tei­lig­te Drit­te ge­fun­den. Der Te­nor der ur­sprüng­li­chen Bio­gra­phie wur­de da­durch nicht ver­än­dert; es dürf­te ei­nem ehe­ma­li­gen Le­ser kaum auf­fal­len.

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