»Zu Hitler fällt mir nichts ein«, schrieb Karl Kraus 1933 und sagte dann doch einiges über ihn.
»Zu Donald Trump fällt mir nichts ein«, denke ich manchmal, und mein Über-Ich, das wie immer recht hat, wendet ein, Trump sei nicht Hitler, und dann will mir wirklich nichts einfallen. Ich glaube nicht, daß ich, hätte ich die Möglichkeit, mich mit diesem Mann an einen Kaffeehaustisch setzen würde. Da verstehe ich Greta Thunberg gut. Der Mann redet ja nur über sich, zu sich und zu allen.
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Zum Typus, der im Exemplar Gestalt angenommen hat, fällt mir aber doch etwas ein. Er interessiert mich, der Typus, weil ich überzeugt bin, daß der DT, der director técnico, wie man in hispanischen Ländern Fußballtrainer nennt, der beste Repräsentant jenes Menschenbilds ist, das der Neoliberalismus im Zuge der totalen Ökonomisierung der Gesellschaft ohne großes Hallo, vielmehr als »Selbstverständlichkeit«, verbreitet und eingewurzelt hat. DT, der Idealtypus: egoistisch, selbstdarstellerisch, mediensüchtig, ungebildet, laut, vulgär, stets den persönlichen Gewinn, d. h. seine Kohle im Sinn. Irgendwo, irgendwann, es ist Jahre her, gab es mal eine Diskussion, ob ein Land seine politischen Führer verdient habe oder nicht. Man sagt es nicht gern, niemand hört es gern, aber ich glaube wohl, daß es da eine Widerspiegelung gibt, auch wenn sie verzerrt und mißbraucht werden kann. Allerdings ist das eine Wechselwirkung, keine Einbahnwiderspiegelung, die Präsidenten und Kanzler spiegeln zurück, sie bestärken und beeinflussen die Masse und gebrauchen sie mittels der Mittler, also der Medien, und zwar so direkt wie möglich, ohne Journalisten als Dämpfer dazwischen: Mittler Twitter.
Warum eigentlich habe ich in meiner neuen, freieren Epoche als Leser begonnen, mich Faulkner anzunähern? Ich kann kaum sagen, daß ich ihn »wiederlese«, weil ich ihn zwar seit meinen zwanziger Jahren hochhalte, d. h. seit den Jahren um 1980, als er einigermaßen aus der Mode gekommen war, er mir aber von Gerd-Peter Eigner ans Herz gelegt wurde, der sich zwanzig Jahre früher literarisch gebildet (»formiert«) hatte, als Faulkner, der Nobelpreis lag ein knappes Jahrzehnt zurück, noch in Mode war. So geht der Stafettenstab über die Generationen. Wirklich gelesen habe ich Faulkner damals aber nicht, nur eine alte, außen hellblaue Taschenbuchausgabe von Absalom! Absalom! gekauft und oft einmal aufgeblättert, die erste Übersetzung ins Deutsche, die, glaube ich, in den dreißiger Jahren angefertigt worden war. Später ist mir der Einfluß Faulkners auf den ganz frühen Handke aufgefallen, und wieder später habe ich gemerkt, wie stark der nordamerikanische Südstaatenautor auf die Romanliteratur Lateinamerikas wirkte, von Juan Carlos Onetti über García Márquez und Vargas Llosa bis hin zu Ricardo Piglia. Es gibt tatsächlich so etwas wie eine amerikanische Literatur, Norden und Süden umfassend, und zwar jenseits ideologischer Konzeptionen, wie sie Pablo Neruda vertrat, zu erschließen allein aus der Literatur selbst, aus den Texten, Perspektivsetzungen, Wahrnehmungsweisen, Erzählformen. Einen derart einflußreichen Autor wollte ich nun doch einmal in aller Freiheit, ohne kontextuelle Zwänge, kennenlernen. Die Qualität literarischer Werke läßt sich nicht aus ihrem Publikumserfolg mutmaßen, eher schon aus der Intensität und – eventuell – Extensität, mit der sie von nachfolgenden Autoren aufgenommen wurden. »Ecrivain pour ecrivains«, für mich bedeutet diese unterschiedlich gebrauchte, oft pejorative Charakterisierung keine Abwertung, im Gegenteil. Ich habe sogar, der Name des Verfassers ist mir entfallen, eine Biographie über Faulkner gelesen1; »sogar« ist vielleicht das falsche Wort, weil ich Schriftstellerbiographien mit größter Neugier zu lesen pflege; ja, ich muß sogar gestehen – »sogar« ist hier am Platz –, daß mir die Biographie fast mehr gesagt hat, mich mehr eingenommen hat für diesen Romancier, der lange seinen Weg nicht und noch länger keinen Erfolg fand, als die einzelnen Romane und Erzählungen (ausgenommen vielleicht Als ich im Sterben lag).
Ich könnte die »Neuerscheinungen« und die Namen ihrer Verfasser erwähnen, die ich in den letzten Jahren gelesen habe, weil sie mir mehr oder minder zufällig zwischen die Hände gekommen sind, und die ich widerwillig zu Ende gelesen oder vorzeitig weggelegt habe, aber ich werde es nicht tun. Vielen dieser Autoren kann man die Veröffentlichung nachsehen, vielleicht allen, auch mir selbst. So eingespannt in den Betrieb und/oder in das eigene Werk (wenn man sich einspannen läßt), produziert man zu viel. Oder aus anderen Gründen, sogar aus innerer Notwendigkeit, dennoch zu viel. Ich werde keinen dieser Namen nennen, außer vielleicht den einer Autorin, deren Bücher ich schätze und die fern von wo lebt, von Deutschland Bayern Österreich (wo ich nicht lebe) und diese Notizen nicht lesen wird (aber ihr Lektor, ihr Verleger?), Hiromi Kawakami, ihr letztes Buch in der Übersetzung der von mir ebenfalls sehr geschätzten Ursula Gräfe hatte ich nach meinem neuen Freiheitsprinzip in einer kleinen Buchhandlung in Frankfurt am Main gekauft und noch vor der Hälfte des Ganzen weggelegt, irgendwo im öffentlichen Raum zurückgelassen, vielleicht kann wer anderer was damit anfangen, ich nicht; vielmehr war ich genervt von dieser Art von Leichtigkeit, Literatur light, Geheimnistuerei, Belanglosigkeit, aber egal, ich darf mir das jetzt erlauben, meine Genervtheit und sie auszudrücken, ich unterliege keinen Zwängen (mehr), auch Fehlkäufe darf ich mir erlauben, die geschehen bei jeder Art von Produkten; also keine Namen, sagte ich, denn ich will und muß keine Feindschaften auf mich ziehen, jedenfalls nicht mutwillig, nicht ohne Notwendigkeit. Es gibt Autoren, die ich als – sei es private, sei es öffentliche – Personen schätze oder schlicht und einfach mag, oder die ich respektiere, mit deren künstlerischen Erzeugnissen ich aber nichts anfangen kann. Wie damit umgehen? Eine schwierige und interessante Frage, die man, wenn überhaupt, nur von Fall zu Fall wird beantworten können, und die einen unweigerlich in Widersprüchlichkeiten verstrickt. Auch das Umgekehrte kommt übrigens vor, unangenehmer Autor, ungute Person, großartiges Werk.
Ich lese über Dora – von Dora, möchte ich sagen, wie man von jemandem hört und nicht über ihn (»hast du etwas von ihm/ihr gehört?«) – in einem Café namens Cascade (Kaskade, Wasserfall), das ich vor fünfzehn Jahren oft besuchte, als ich hier im Hankyu-Bahnhof von Umeda bald aus‑, bald umstieg. Ich weiß jetzt, nach all den Jahren, vielleicht besser als damals, was mich an dem Ort anzog, abgesehen davon, daß die Mehlspeisen vielfältig und schmackhaft, nicht zu süß und nicht zu teuer waren (eine sogenannte Bakery, das Café gehört zu einer Bäckerei): die zwei großen, dabei dezenten, immer sauberen Großspiegel an der einen Wand, wo die Gäste nebeneinander an einem langen und ziemlich breiten Tisch saßen, einem Wandtisch aus massivem hellem Holz, wo ich gut lesen und schreiben konnte und kann, und zwischendurch, wenn ich den Blick vom Buch oder Heft hebe, das Kommen und Gehen betrachten, das Sitzen und Sinnieren und Plaudern, das Auswählen von Mehlspeisen im Hintergrund, Frauen mit silbrigen Zangen und weißen waagrechten Tabletts, das Sitzen und Plaudern und Warten und Suchen von Menschen, überwiegend Frauen, die meisten wohl Hausfrauen in Shoppingpause, aber auch von Männern, die die Männerwelt der Büros satthatten, Suchen im Spiegel, manchmal nach mir, nach meinem Blick, den beide dann abwenden, sobald er gefunden ist, und das Spiel geht weiter, die Suche geht weiter. Ich lese von Dora, die auf einem Foto, wo sie neun oder zehn Jahre alt ist, vor einem Vogelkäfig steht, einer Voliere vermutlich, deren Inhalt oder Insassen man nicht ausmachen kann, Vogel oder Vögel, vielleicht zwei, man weiß es nicht, weil die Umgebung des Mädchens in tiefem Schatten liegt und man Umrisse kaum ahnen kann. Ich hebe die Augen vom Buch und bemerke rechts unten auf der Spiegelfläche den Käfig, die Voliere, säuberlich aufgeklebt, wie schwarzes Schmiedeeisen, oben kuppelförmig gerundet, darin ein kleiner Vogel, vielleicht nur ein Sperling, im Schattenriß, sicher kein Papagei, und eine Blume, die sich zwischen den Stäben hineinrankt, um sich mit dem Vogel zu vereinen oder gar – ihn zu befreien. Dieses Bild hatte ich auch vor fünfzehn Jahren bemerkt, aber nicht mit der gebührenden Aufmerksamkeit; jetzt ist es dank meiner Lektüre kräftiger, präsenter. Und die Lektüre, der Wahrnehmungsmoment im Buch, ist durch meinen Aufblick gestärkt, weil mir das Stehen Doras am Rand des Schattens und die Ahnung dessen, was im Dunkel liegt, als Metapher dafür erscheinen kann, was ein Buch, eine Erzählung wie diese tun kann: für uns, mit uns, für die Abwesenden, die Beschworenen, für sich selbst.
Romane enthalten künstliche Welten, Fiktion ist Virtualität, nicht anders als die Bilderflut im Internet oder die Vorstellungsbilder im Kopf. Diese Welt und meinen Text, von dem ich nicht weiß, auf welcher der beiden Seiten sein Ort ist, verlassend habe ich mich auf den sicherlich realen Weg zu einem etwa fünfzig Stockwerke aufragenden Hochhaus gemacht, um dort, nur im dritten Stock, einen Film zu sehen, der wie eine Dokumentation angelegt, aber zweifellos ein sogenannter Spielfilm ist, Sorry We Missed You von Ken Loach (wobei sich gleich die Frage stellen ließe, inwieweit Dokumentation mit filmischen Mitteln nicht ebenfalls Fiktion ist; am Ende enthält jede menschliche Lebensäußerung jenseits des Atmens und der bloßen Bedürfnisbefriedigung wenigstens ein Gran Erfindung, Verdichtung, Auslassung, Negation, und die Schriftsteller, die Dichter sind nichts anderes als besonders geschulte oder talentierte oder erfahrene Spezialisten der Erfindung). Und als ich das Kino verließ, hatte ich vor, in meine Textlandschaft zurückzukehren und dies in einem anderen Café zu tun, am besten oben im dreißigsten Stock des Gran Hankyu Building, in luftiger Höhe, da kann man, wie schon Nietzsche meinte, wirklich gut denken und schreiben, in der Höhenluft. Oben angekommen, ist mir die Warteschlange zu lang, Umeda und seine Cafés quellen an diesem letzten Sonntag des Jahres über von Shoppern und Window-Shoppern, die früher oder später ermüden, auch Männerrunden darunter, die vor dem Jahreswechsel noch einmal miteinander plaudern oder eher, habe ich den Eindruck, schreien wollen (offenbar wirkt Kaffee auf sie wie Alkohol). Ich kann im Lärm und gegen den Lärm recht gut schreiben, doch der Konsumtaumel, dieser kulturkapitalistische Normalzustand der Wochenenden, ist mir dann doch zuviel.
Auf diese Frage weiß ich natürlich auch keine Antwort. Vielleicht kann man wirklich nichts tun gegen die allgemeine Kommerzialisierung, Hysterisierung, Mediatisierung, und möglicherweise ist es gescheiter, Unmögliches erst gar nicht zu versuchen, sondern andere Wege – Schleichwege – zu suchen, um seine Schäflein – oder waren es Scherflein? – ins Trockene zu bringen.
Ein Kollege, ich kenne ihn seit unseren Studententagen und schätze ihn als gewissenhaften Leser, der seit Jahrzehnten die Gegenwartsliteratur mit seinen Analysen und Kommentaren begleitet, bestand ein wenig zerknirscht und zugleich trotzig darauf, weiterzumachen: Er für seinen Teil werde nicht aufhören, Literaturkritik zu schreiben. Zum Glück für uns, Autoren wie Leser, füge ich hinzu. Ich wollte mit meinem Text nicht sagen, es sei generell sinnlos geworden, das zu tun, und finde es ehrenwert, gegen Windmühlen zu kämpfen und Steine den Berg hinaufzurollen. Ich tue es selbst, Steine bergauf, allerdings seit vier Jahren nicht mehr auf diesem Gebiet, dem literaturkritischen, dessen Hervorbringungen ihrerseits literarische Qualität haben können. Für meinen Rückzug habe ich auch persönliche Gründe (die ich damals hintanhielt); nicht zuletzt den, daß mir spät, aber doch, aufgegangen ist, daß allzuviel kritisches Schreiben die eigene Autorschaft behindern kann. Ricardo Piglia, den ich in den vergangenen Jahren viel gelesen habe, besonders die Tagebücher des Emilio Renzi, die kurz vor und nach seinem Tod in Spanien erschienen sind, aber auch die Romane, von denen ich die meisten schon kannte – in diesem Bericht hier möchte ich u. a. mitteilen, was, warum und wie ich in dieser »neuen Zeit« gelesen habe –, Ricardo Piglia also äußerte vor langer Zeit, tief im 20. Jahrhundert, Autoren würden und sollten nicht systematisch, planmäßig, wie Akademiker lesen, sondern vom Zufall geleitet, ihrer spontanen, wechselnden Eingebung und Neugier folgend.
Wie alle Menschen, die sich die Literatur zur Achse ihres Lebens erwählt haben, lese ich meistens mehrere Bücher gleichzeitig, in unterschiedlichem Tempo und Rhythmus und mit unterschiedlichem Engagement, manche nicht bis zum Ende – auch eine Änderung, seit ich keine Literaturkritik mehr schreibe: Ich fühle mich nicht mehr, einer nebulosen Gerechtigkeit halber, verpflichtet, lesend abzuwarten, ob ich dem Buch nicht doch noch etwas abgewinnen kann. Derzeit also Pavese, Modiano und vielleicht, falls ich zu ihm zurückfinde, Faulkner. Modiano habe ich heute wieder aufgenommen, ich habe eines seiner eher schmalen Bücher ins eher leichte Gepäck für die Reise nach Osaka und den Aufenthalt dort gesteckt, weil ich etwas Vergnügliches dabeihaben wollte; etwas, das mein Herz erfreut. Mag seltsam klingen bei einem Roman, der mit einer Vermißtenanzeige in Paris Ende 1941 beginnt, und der Name der Person lautet noch dazu Dora Bruder. Ich lese dieses Buch im Original, auch dies für mich ein Vergnügen, nicht bei allen französischen Büchern, doch immer bei Modiano. Eine mir befreundete spanische Übersetzerin schreibt mir, sie könne keine literarischen Übersetzungen mehr lesen (keine aus dem Deutschen oder Englischen, diese Einschränkung unterschlägt sie), sie sei mißtrauisch gegenüber dem Wortlaut, hinterfrage ihn, kontrolliere und kritisiere die Übersetzung. Da wäre es wohl besser, gleich die Originale zu lesen; wogegen natürlich nichts spricht. Ab und zu höre ich irgendeinen Snob behaupten, er lese ohnehin nur in der Originalsprache; auf mein Nachfragen stellt sich dann immer heraus, daß dieser originelle Leser nur in einer, höchstens zwei Fremdsprachen zu lesen imstande ist (nur bei zweisprachigen Lyrikausgaben tut er so, als könne er immer alles »savourieren«), meistens in der englischen. Der Rest der Weltliteratur soll ihm verschlossen bleiben? Das will der originelle Leser dann auch wieder nicht zugeben.
Im Juli 1989 schrieb Peter Handke eine »Epopöe«, eine ganz kurze Erzählung, die am Bahnhof Perrache in Lyon spielt. So wie Handke es gebraucht, bedeutet das ursprünglich griechische Wort »kleines Epos« (obwohl dies nicht den Auskünften der Wörterbücher entspricht). Wir begegnen hier dem Erzähler in einem Hotelzimmer und erfahren, was er beim Blick aus dem Fenster sieht: ein großes Gleisfeld, die blasse Mondscheibe, Schwalben, einen Wohnblock, zuletzt einen blauen Falter. Wenige Menschen, allesamt Eisenbahner mit Aktentasche auf dem Heimweg. Nach einer Weile fällt dem Erzähler ein, daß es das Hotel Terminus ist, in dem er sich eingemietet hat, und er erinnert sich, daß Klaus Barbie seinerzeit hier sein Unwesen getrieben hatte. Es war noch nicht so lange her, daß in Lyon ein Prozeß gegen den deutschen Folterherrn stattgefunden hatte, bei dem er wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt war. Handke hatte die Untaten, über die 1987 viel berichtet worden war, zweifellos noch frisch im Sinn.
Peter Handke, in Griffen geboren, Sohn eines deutschen Wehrmachtssoldaten, verbrachte als Kleinkind einige Zeit in Berlin und erlebte Bombenangriffe auf die Stadt sowie die Trümmerlandschaft nach dem Krieg. Eigentlich hatte er sogar zwei deutsche Väter; über den Ziehvater, mit dem er in Kärnten aufwuchs, kann man in Wunschloses Unglück einiges nachlesen (das nicht vollständig der biographischen Wirklichkeit entspricht, wie Malte Herwig in seiner Handke-Biographie zeigen konnte). In seiner Jugend stellte sich Handke gegen diesen Vater, er war ihm schon früh geistig überlegen und verachtete ihn. Die spätere Begegnung mit dem ersten, dem leiblichen Vater, im Versuch über die Jukebox geschildert, verlief angespannt, die beiden konnten nichts miteinander anfangen. Als Peter dann berühmt wurde – »weltberühmt«, wie er es vorhatte, wurde er etwas später –, ging er aus Österreich nach Deutschland, doch schon damals liebäugelte er mit Paris als Wohnort. Erst nach seiner sprachexperimentellen und popliterarischen Phase begann Handke, sich mit seiner slowenischen Familiengeschichte auseinandersetzen. Diese Wendung oder Rückwendung zum Slowenischen ist nicht zuletzt bedingt durch sein schwieriges und kühles Verhältnis, das er zu Deutschland hatte, auch und besonders zur nahen deutschen Vergangenheit, zum sogenannten Dritten Reich. Die prononcierte Ablehnung des Nationalsozialismus und die ihrerseits identitätsbildende Frage nach der Verantwortung der Väter für die Verbrechen teilte Handke freilich mit den meisten jungen Leuten seiner Generation, sie spielt bei vielen deutschen und österreichischen Schriftstellern eine wichtige Rolle; bei Handke jedoch auf eine eigentümliche Weise, weniger in politischen Statements als in einer tiefgreifenden literarischen Reaktion auf die kriegerische Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Als Handke im Zug seiner Wende zum Klassischen, zu Goethe, Cézanne und Stifter, zur gelassenen Erforschung der Formen und schließlich zu dem fand, was Schopenhauer als »reine Anschauung« bezeichnete, stellte das »Neunte Land« aus dem slowenischen Märchen für ihn eine konkrete Utopie dar, und es zog ihn wie selbstverständlich nach Süden, über die Grenze, nach Slowenien, das zu Jugoslawien gehörte, ein politisches Gebilde, für das Handkes Großvater bei der Kärntner Abstimmung 1920 optiert hatte. Noch in dem Interview, das Ulrich Greiner unlängst für die ZEIT geführt hat, betont Handke diese slowenische Herkunft: »Ich bin Jugoslawe von meiner Mutter her und vom Bruder meiner Mutter, der in Maribor studiert hatte«, und er erinnert an die Haltung des Großvaters nach dem ersten Weltkrieg, als das Königreich Jugoslawien gegründet worden war. Der Weg des jungen Filip Kobal im Roman Die Wiederholung (1986), der ihn auf den Spuren seines älteren Bruders (der Onkel in Handkes Biographie) in den slowenischen Karst und nach Maribor führt, hat insofern sinnbildliche, sinnstiftende Bedeutung. Die jugoslawische Tradition in der Familie Handke bzw. Siutz bzw. Sivec reicht also weit zurück, bis zu den Anfängen des inzwischen verflossenen Staatenbundes. Beim jungen Schriftsteller Handke verbindet sie sich dann mit einer energischen Kritik am Deutschtum der ersten Jahrhunderthälfte. Die Deutschen hatten Jugoslawien erobert, aus Saloniki hatten sie quer durch den Balkan Juden nach Auschwitz transportiert; Handkes Bekenntnis zu Jugoslawien, das in späteren Auseinandersetzungen mit Teilen des deutschen und französischen Journalismus in einem Kampf wie von David gegen Goliath auf eine kaum zu meisternde Probe gestellt wurde, dieses Bekenntnis ist zugleich Ausdruck seines Antifaschismus. Als er 2006 zum Begräbnis von Slobodan Milosevic ging und dort eine kurze, zurückhaltende, dezidiert »schwache« Rede hielt, war das für ihn weniger das Begräbnis einer Person als das einer Ära, einer Idee, eines nunmehr verflossenen Ideals. Ausgehend von der Kriegserfahrung, die die Ablehnung jedes Militarismus und besonders der Deutschen Wehrmacht bewirkt hatte, die seinen idealisierten, im Feld gefallenen Onkel Gregor in den Krieg gewungen hatte, entwickelte er im Zug seiner klassischen Wende das Konzept einer Friedensepik, die, auch wenn sich die Figuren, oftmals Reisende, weit von der deutschen Geschichte entfernen, antifaschistisch grundiert bleibt und so etwas wie einen ästhetischen »Balkan« – mit allen Ambivalenzen, die diesem Wort durch die Geschichte seines Gebrauchs anhaften – zu errichten trachtete.
Von Hiroshima über Taipei nach Wien zu fliegen, lag eigentlich nahe; ich weiß nicht, warum ich nicht früher auf diese Idee gekommen war. Vielleicht wegen der Animositäten gegen China – nur die China Airlines bieten diese Flugverbindung an –, die in der japanischen Bevölkerung immer noch verwurzelt sind, so auch bei meiner Frau, und die von entsprechenden Animositäten auf der chinesischen Seite genährt werden (und umgekehrt). Gespräche mit einer aus Taiwan stammenden Studentin, die meinen Unterricht an der Universität Hiroshima besuchte, weckten mein bis dahin allenfalls latentes Interesse an dem Land.
Wir fuhren also, meine elfjährige Tochter und ich, eines Morgens zum Flughafen, mit dem Taxi, da schwere Unwetter und Erdrutsche die Bahngeleise weggeschwemmt hatten, und stiegen ins Flugzeug der China Airlines, wobei ich vor der Tür noch einmal zwei Schritte zurück machte, um mir eine der auf dem Serviertischchen liegende englischsprachige Zeitung zu nehmen: die Taipei Times. Das Flugzeug war spärlich besetzt, die Flugzeit betrug zweieinhalb Stunden, ich hatte alle Ruhe und Zeit der Welt, um das nicht sonderlich umfangreiche Druckwerk durchzulesen. Auf Seite 3, taiwanesische Innenpolitik, stieß ich auf einen Artikel mit der Überschrift ‘Ocean’ Bravo the Bear mascot draws criticism. Innenpolitik?, dachte ich. Das Foto daneben zeigte einen weißbärtigen kahlhäuptigen Mann, der neben zwei anderen Personen mehr oder weniger fortgeschrittenen Alters an einem langen Tisch mit weißem Tischtuch saß und in ein rotes Mikrophon hineinsprach. Auf dem Tisch, am linken Fotorand, waren vier bläulich-schwarze Plüschbären aufgehäuft, sie trugen einen gelben Knopf an einem weißen Streifen, Halsband oder Fell, das war nicht auszumachen. Ich begann zu lesen, und es stellte sich heraus, daß es ein höchst ernsthafter Artikel war. Das Problem, von dem er handelte (Zeitungsartikel handeln naturgemäß von Problemen), bestand darin, daß die Kulturabteilung der Stadtregierung von Taipei beschlossen hatte, das Design des Maskottchens »Bravo the Bear« zu ändern. Dieses Maskottchen – das vom Foto, der Knopf an seinem Bauch stellte eine Goldmedaille dar – war bei der Bevölkerung von Taipei sehr beliebt, wie Shih Ying, der Präsident der Humanistic Education Foundation, betonte. Stiftung für humanistische Erziehung, dachte ich, was für ein ehrwürdiger Name! Solche Änderungen, sagte Shih Ying der Zeitung zufolge, würden nicht hingenommen werden, würde man sie an der Mona Lisa vornehmen. Er meinte die echte Mona Lisa, die im Pariser Louvre ausgestellt ist. Derselbe Name, Mona Lisa, wurde vom taiwanesischen Volksmund Bravo the Bear verliehen, weil er ein so schönes Lächeln zeige; Mona Lisa war gewissermaßen zum Spitznamen – oder Künstlernamen – des Bären geworden. Aber warum hatte die Stadtregierung das Aussehen der Mona Lisa von Taipei verändert? Der Präsident der Humanistischen Gesellschaft sprach von Verblendung und Arroganz der Mächtigen. Eine weitere Erklärung, sozusagen der Hintergrund der Geschichte, den die Artikelschreiber beisteuerten, lag darin, daß es Probleme mit den Markenrechten gab, die die Kulturabteilung durch kleine Änderungen – ein ozeanblaues Näschen anstelle des schwarzen – elegant zu umgehen versuchte. Einen solchen Angriff auf ihr geistig-künstlerisches Eigentum, dachte ich den Gedanken Shihs fortspinnend, einen solchen Angriff würde sich die echte Mona Lisa niemals gefallen lassen. Die Gesellschaft zur Rettung der Universiade-Version von Bravo the Bear hatte eine Petition verfaßt, die nicht nur von zahllosen Bürgern der Stadt, sondern auch von bekannten taiwanesischen Spitzensportlern unterschrieben worden war (von Künstlern war in diesem Zusammenhang leider nicht die Rede). Das Maskottchen war ursprünglich für die Sommeruniversiade entworfen worden, die 2017 in Taipei stattgefunden hatte.
Erst wenn du etwas zu verlieren beginnst, entsteht eine Geschichte. Je mehr Verluste, desto mehr Erinnerung, desto mehr Erzählung. Was natürlich bedrückend, lebenshemmend wirken kann.
An keinem Ort habe ich so lange gelebt wie in Hiroshima. Dreizehn Jahre, kein Jubiläum, keine »runde« Zahl – ich hätte mit dieser Erzählung warten können, bis es fünfzehn oder zwanzig Jahre sind. Aber ob ich dann noch hier bin? Ob ich noch lebe? Der Lauf der Geschichte oder des Zufalls will es, daß dieses Datum, das »Gegebene«, mit einem anderen Datum zusammenfällt, einem Ende und Neubeginn. Nach dreißig Jahren geht die Amtszeit des alten Kaisers zu Ende, ein neuer tritt an. Es war die versprochene Friedenszeit (»Heisei«), aber auch eine deprimierende Zeit, eine verewigte Krise ohne große Hoffnung auf eine Lösung; die jungen Leute haben mehr Angst vor der Zukunft als Vertrauen in sie. Vor kurzem wurde Shoko Asahara gehängt, der Guru einer religiösen Sekte, verantwortlich für das Giftgasattentat 1995 in der U‑Bahn von Tokyo, bei dem zwölf Menschen starben und hunderte verletzt wurden. Nach dem Erdbeben und Tsunami in Tohoku, mit der drohenden Atomkatastrophe, hatten wir Angst, das Land könnte zerbrechen. Letztes Jahr ging in unserer Gegend ein schwerer, schier endloser Regen nieder, neben unserem Haus rutschte, vom Gipfel weg, ein ganzer Berghang herunter, die Spuren sind unübersehbar, ich muß mich nur umwenden: Blick durch das Balkonfenster, wie damals, als ich, schlaflos im Morgengrauen, das große Grollen gehört hatte und sofort aufgesprungen war.
Heisei. Reiwa. Geht mich das etwas an? Schwer zu sagen, was die neue Maxime – wenn es eine ist und sein soll – eigentlich bedeutet. Zwei Schriftzeichen aus einem alten japanischen Gedicht, dem Lied von der Pflaumenblüte, die man in Kyoto oder Hiroshima schon kurz nach Neujahr sehen kann, die erste Baumblüte und deshalb besonders herzerfreuend, hoffnungsvoll. Früher stammten die kaiserlichen Maximen aus alten chinesischen Texten, die die Frühzeit der japanischen Kultur prägten. Gut so; eine nationalistische Geste, wie sie das mißtrauische Kommentatorenvolk zu erkennen glaubte (»Japan snubs China at dawn of new imperial era« lautete die Schlagzeile in The Times), kann ich darin nicht sehen. Auch die japanische Hymne ist ja ein recht friedliches Gedicht aus dem zehnten Jahrhundert, ohne Kriegsgetrommel (aux armes citoyens, the bombs bursting in the air…), ohne Prahlerei (das begnadete Volk großer Söhne und, neuerdings, Töchter).
Wir wohnen fern von der Stadt, mehr oder weniger auf dem Land, in einer administrativen Zone, die sich Higashi-Hiroshima nennt, früher eine Handvoll verstreuter Orte von Reisbauern, Sakeproduzenten und Fischern, heute von Universitäten, Forschungszentren und Zulieferfirmen für Matsuda durchsetzt. Immer noch viele Reisfelder, auch Sakebrauereien, bewaldete Berge, weiter unten, in westlicher Richtung, dann Kure mit seiner Werft und den Kriegsschiffen, die die US-Streitkräfte damals nicht bombardierten, sie zogen es vor, ihren »Little Boy« über dichtbesiedeltem Gebiet abzuwerfen. Dorthin, in die Stadtmitte von Hiroshima, komme ich selten, gebildet wird sie vom Friedenspark, über dem am Morgen des 6. August 1945 der große Wolkenpilz aufstieg und der schwarze Regen fiel, und der vom Park abgehenden Einkaufsstraße, die am Parco-Gebäude endet, einem jugendlichen Palast für mehr oder minder schicke Kleider – dahinter beginnt das eher schmuddelige Vergnügungsviertel.
Ich komme selten hin, aber das hat Vorteile, zumindest den, daß ich die Stadt immer wieder wie zum ersten Mal sehe, mit dem aufmerksamen, staunenden Blick. Neulich, am ersten Tag des ersten Jahres der Reiwa-Ära, zu Beginn des Wonnemonats Mai, das Staunen über die Bäume, die Leuchtkraft des hellgrünen Blattwerks der kusunoki, der Kampferbäume (häßlicher Name, der so gar nicht der Sache gleicht), und den Kontrast der dunklen, fast schwarzen Äste, die es tragen. Ein Gespräch über Bäume ist fast ein Verbrechen – an diese Gedichtzeile Bertolt Brechts mußte ich denken, als ich das erste Mal hierherkam, und später immer wieder der Gedanke: Aber es ist kein Verbrechen und schließt auch kein Schweigen ein. Diese Bäume wurden kurz nach der Katastrophe gepflanzt, damit neues Leben entstehe trotz all des Grauens, und die sie gepflanzt haben, sind mit ihnen älter geworden, einige von ihnen, schon gebückt, pflegen sie noch heute, und wenn ich diese alten Männlein und Weiblein sehe, dreizehn Jahre nach meinem ersten Spaziergang hier, kann ich nicht umhin, mich zu fragen, ob in zehn, zwanzig Jahren noch jemand kommen wird, um den Boden um die Stämme zu harken. Die Frau, die ich einmal hier in der Nähe, in einem St-Marc-Café, getroffen und befragt habe, 1945 war sie eine Schülerin, die zwischen Trümmern nach ihren Eltern und Geschwistern suchte und verstrahlt wurde, diese Frau wird bald neunzig sein. Nein, ein Gespräch über Bäume ist kein Verbrechen, wie nach Auschwitz weiterhin Gedichte geschrieben wurden, und nicht von Barbaren, und es immer noch ein richtiges Leben im falschen gibt. Gedichte, Gespräche: keine Un‑, sondern Wohltat.
Was die Digitalisierung bringt und was sie zerstört
…ungen
Es gibt in der Menschheitsgeschichte Entwicklungen, die unvermeidlich scheinen. Waren sie einmal in Gang gekommen, mußten sie weitergehen, nichts konnte sie aufhalten, am wenigsten die Proteste konservativer, auf Bewahrung des Überlieferten bedachter Menschen. Das gilt, in der neueren Zeit, für die Industrialisierung, die Elektrifizierung, den weltweiten Handel, die Globalisierung, die Vermassung des Zusammenlebens, die Ausbreitung und den Einfluß der Massenmedien, die Verwissenschaftlichung der Ökonomie und anderer Lebensbereiche, die Erforschung und Manipulation des pflanzlichen, tierischen und menschlichen Lebens, die Automatisierung und Roboterisierung, die Satellitenkommunikation, die Ausbreitung und zunehmende Verdichtung eines weltweiten elektronischen Kommunikationsnetzes. Es gilt ebenso für die Digitalisierung, die sich mit einigen dieser Entwicklungen überschneidet. Nichts davon kann man rückgängig machen. Man kann versuchen, die entsprechenden Vorgänge und Phänomene zu regeln, zu gestalten, zu begrenzen. Mehr nicht.
+/-
Die Digitalisierung wird im Alltagsleben von vielen als Segen erlebt, von anderen als Fluch, oder abwechselnd, sogar gleichzeitig, als beides, Segen und Fluch. Ein Segen, wenn man mit weit entfernten Menschen kommunizieren kann, ohne eigens dafür zu bezahlen. Bequem, zu Hause – also im »Netz« – einkaufen zu gehen, Hotelzimmer zu buchen, Fahrkarten zu kaufen. Unterhaltsam, zu spielen, zu surfen, zu chatten. Bequem und unterhaltsam ist sie, unsere digitale Welt. Und billig.
Auf der anderen Seite: Wir haben zunehmend das Gefühl, überwacht zu werden. Ständig geben wir, ohne es recht zu merken, Informationen über uns preis, die dann für ewige Zeiten gespeichert bleiben, und doch können wir ohne das Smartphone nicht leben, es ist Teil von uns selbst, wir sind vom Internet, dieser totalen Verbundenheit, abhängig. Die Vernetzung und das Dasein darin ist per se ein Zustand der Abhängigkeit. Je weiter die digitale Personalisierung voranschreitet, desto unfreier werden wir. Nicht Menschen, sondern Maschinen bestimmen über uns.
innen … außen … innen
In ein und derselben Ausgabe der Süddeutschen Zeitung las ich neulich zwei Artikel, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun hatten und ganz verschiedenen Redaktionsbereichen zugeordnet waren. Der eine stand auf Seite 2, Innenpolitik und Kommentare, der andere im Feuilleton auf Seite 11. Auf Seite 2 forderte der Leiter des »Berliner Büros des Zukunftsinstituts«, ein studierter Jurist und Ökonom, die deutsche Bundesregierung auf, die Chancen der Digitalisierung zu erkennen und besser zu nutzen. In seinem Artikel stieß ich auf die klare, fast schon manifestartige Behauptung: »Das Versprechen der Digitalisierung heißt Teilhabe und Arbeit für alle.«