Ri­chard Ford: Ka­na­da

Richard Ford: Kanada
Ri­chard Ford: Ka­na­da

Dell Par­sons ist 1945 ge­bo­ren. Er er­zählt im Jahr 2011, als pen­sio­nier­ter Leh­rer, über die Zeit zwi­schen Au­gust und Ok­to­ber 1960. Ei­ne Zeit, die sein Le­ben ra­di­kal ver­än­dert und ge­prägt hat. Der durch­aus fu­ri­os da­herkommende An­fang lässt hof­fen: »Zu­erst will ich von dem Raub­überfall er­zäh­len, den mei­ne El­tern be­gan­gen ha­ben. Dann von den Mor­den, die sich spä­ter er­eigneten.« Fast la­ko­nisch wird er­gänzt: »Der Raub­überfall ist wich­ti­ger, denn er war ei­ne ent­scheidende Wei­chen­stel­lung in mei­nem Le­ben und in dem mei­ner Schwe­ster«.

Aber nun be­ginnt ein un­end­lich in die Län­ge ge­zo­ge­nes, zä­hes Re­ka­pi­tu­lie­ren über sich sel­ber, sei­ne Zwillings­schwester Ber­ner und ih­re El­tern, Va­ter Bev (geb. 1923), sei­ne Frau Nee­va (geb. 1926), über Gre­at Falls, Mon­ta­na (die Fa­mi­lie lebt seit ei­ni­gen Jah­ren dort) und die pre­kä­re fi­nan­zi­el­le Si­tua­ti­on. Der Va­ter, einst Flie­ger in der Ar­mee (er warf Bom­ben auf Ja­pan im Zwei­ten Welt­krieg), ver­lor sei­nen Cap­tain-Rang und wur­de ent­las­sen (al­ler­dings mit be­lo­bi­gen­der Ur­kun­de).

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Se­lek­ti­ve Wahr­neh­mung

»Das gro­ße Schwei­gen der Au­toren« lau­tet die Über­schrift ei­nes Ar­ti­kels von Da­ni­el Lenz bei »Buch­re­port«. Er be­klagt dar­in, dass die »Hoch­ka­rä­ter« der deut­schen (!) Li­te­ra­tur nichts zur »di­gi­ta­len Re­vo­lu­ti­on« und dem Ver­lags- und Buch­han­dels­ster­ben sa­gen.

Wer wä­ren denn die »Hoch­ka­rä­ter«? Drei Bei­spie­le nennt er da: Rai­nald Goetz, Tho­mas Hett­che und Mat­thi­as Po­ly­ticki, die schnell als Pio­nie­re (oder ir­gend et­was in die­ser Rich­tung) apo­stro­phiert wer­den. El­frie­de Je­lin­eks »Neid«-Roman, der aus­schließ­lich und voll­stän­dig im Netz steht, nennt Lenz nicht. Ver­mut­lich, weil es kei­ne »deut­sche« Schrift­stel­le­rin ist. (Zu­ge­ge­ben: Der­zeit hat die HP Je­lin­eks tech­ni­sche Pro­ble­me, aber über über die­se Sei­te geht’s.)

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Ralph Dohr­mann: Kron­hardt

Ralph Dohrmann: Kronhardt
Ralph Dohr­mann: Kron­hardt
Ob­wohl mit Kron­hardt in Ralph Dohr­manns Buch ei­gent­lich im­mer nur leicht ab­fäl­lig der Stief­va­ter von Wil­lem Kron­hardt be­zeich­net wird, ist Wil­lem die Haupt­fi­gur die­ses Ro­mans. Er ist po­ten­ti­el­ler Er­be der (fik­ti­ven) traditions­reichen Bre­mer Tex­til­fa­bri­ka­ti­on glei­chen Na­mens. Sein Va­ter ver­starb als Wil­lem Kind war un­ter my­ste­riö­sen Um­stän­den fast vor sei­nen Au­gen wäh­rend ei­ner Boots­fahrt. Die re­so­lu­te, herrsch­süch­tig auf­tre­ten­de Mut­ter hei­ra­te­te den Bru­der. Der Ro­man be­ginnt am Ein­schu­lungs­tag Wil­lems, den er we­gen ei­nes In­fekts »schwän­zen« muss. Das ist um 1957 her­um; die Hün­din Lai­ka er­reg­te ge­ra­de Auf­se­hen. In Bre­men sind im­mer noch die Trüm­mer sicht­bar und »ver­kohl­te Spu­ren ein­gefleischter Ge­schich­te« stei­gen aus ih­nen auf. Wil­lem geht aufs Gym­na­si­um und ist an­ders als die an­de­ren Wirt­schaftswunderkinder. Im­mer wie­der trau­ert er um sei­nen ver­stor­be­nen Va­ter, ei­nen Künst­ler, des­sen Cha­rak­ter im kras­sen Ge­gen­satz zur dran­g­­sa­lie­rend-ner­vö­sen Mut­ter und des au­to­ri­tä­ren Stief­va­ters steht. Im­mer wie­der ent­flieht Wil­lem der von den »Al­ten« vor­ge­zeich­ne­ten Lauf­bahn, die­sem Zwang zum Funk­tio­nie­ren. Er mei­det die Klün­gel der hö­her­ge­stell­ten Bu­ben und Töch­ter und freun­det sich mit Schlos­ser an, der par­al­lel zur Schu­le noch auf dem Schrott­platz für 7,50 Mark am Tag ar­bei­tet. Schlos­sers Mut­ter ist ge­stor­ben und er ver­sorgt nun sei­ne Zwil­lings­ge­schwi­ster nebst trin­ken­dem, zu­wei­len jäh­zor­ni­gen Va­ter.

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Ver­fäng­li­che Ka­thar­sis

Dass Gui­do Knopp beim ZDF in Ren­te geht, hält Fern­seh­ver­ant­wort­li­che nicht von der wei­te­ren Na­zi-Fik­tio­na­li­sie­rung ab. Ge­stern al­so wie­der ein­mal zur be­sten Sen­de­zeit im Fern­se­hen ein Film über den Na­tio­nal­so­zia­lis­mus. Dies­mal ging es um Er­win Rom­mel (ARD, 20:15 Uhr) (lä­cher­lich, wie die ARD in der Me­dia­thek den Film nur zwi­schen 20 und 6 Uhr zeigt und be­tont, er sei für »Ju­gend­li­che un­ter 12 Jah­ren« nicht ge­eig­net; ein ent­spre­chen­der Hin­weis un­ter­blieb ge­stern). Man fand ei­ne leid­lich il­lu­stre Be­set­zung vor; Ul­rich Tu­kur gab Er­win Rom­mel und wenn Tu­kur zur Re­de an­setz­te, ver­such­te er den Duk­tus Rom­mels zu er­rei­chen. Am Sonn­tag gibt es auf SWR2 im Rund­funk noch Hör­spiel ba­sie­rend auf Ni­ki Steins Film. War­um ei­gent­lich? Es gibt kei­nen An­lass. Da war wohl ein­fach ein Film fer­tig. Oder soll­te man bis 2014 war­ten – zum 70. To­des­tag des »Wü­sten­fuchs«? So­viel Eh­re dann doch nicht. Gut so.

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Rai­nald Goetz: Jo­hann Hol­trop

Rainald Goetz: Johann Holtrop
Rai­nald Goetz: Jo­hann Hol­trop

»Auf al­len Ka­nä­len volks­psy­cho­lo­gi­sches Ge­fa­sel über die Gier« – so lau­tet ein No­tat von Pe­ter Slo­ter­di­jk am 18. Ok­to­ber 2008, ver­öf­fent­licht in »Zei­len und Ta­ge«. Wei­ter heißt es: »Kein Mensch will be­grei­fen, daß nicht die Gier an der Macht ist, son­dern der Feh­ler…« Auch Rai­nald Goetz’ Er­zäh­ler in »Jo­hann Hol­trop« schreibt über die Gier, die die Welt steue­re, ei­ne Gier, sich dau­ernd ir­gend­ei­nen Vor­teil für sich zu ver­schaf­fen, am lieb­sten na­tür­lich in Form von Geld, ge­nau dar­in aber, in ih­rem Kal­kül auf Ei­gen­nutz, um­ge­kehrt sel­ber kal­ku­lier­bar, aus­re­chen­bar und aus­beut­bar zu­letzt, das war die Ba­sis der ab­strak­ten Geld­ma­schi­ne, die hier re­si­dier­te. »Hier« ist der fik­ti­ve Ort Kr­öl­pa, Sitz der »As­s­perg AG«, ei­nes welt­weit agie­ren­den Me­di­en­kon­zer­nes de­ren Vorstands­vorsitzender Dr. Jo­hann Hol­trop ist. Welch ein Wort­spiel zu Be­ginn (ei­nes von vie­len): »As­s­perg« er­in­nert an das Asper­ger-Syn­drom, wo­mit das Mi­lieu wohl durch­gän­gig cha­rak­te­ri­siert wer­den soll (ich kom­me spä­ter noch hier­auf zu­rück). Und dann zucken die Par­al­le­len (auch dort, wo es sie ab­sichts­voll nicht gibt): »As­s­perg« hat ei­ni­ges von Ber­tels­mann und ei­ni­ges nicht; Hol­trop er­in­nert an Mid­del­hoff und auch wie­der nicht, Ka­te As­s­perg und der »Al­te« an Liz und Rein­hard Mohn. Ei­ni­ges stimmt, an­de­res nicht; ir­gend­wann be­ginnt man die Par­al­le­len nicht mehr zu su­chen, weil es egal ist, ob Ga­brie­le Heint­zen nun Made­lei­ne Schicke­danz ist, Hol­trops Ver­mö­gens­be­ra­ter Mack an Jo­sef Esch er­in­nert, die Fi­gur Binz an Leo Kirch und mit dem Gosch-Im­pe­ri­um der Sprin­ger Ver­lag ge­meint ist. Die Fi­gu­ren und Or­ga­ni­sa­tio­nen wer­den ge­konnt bis zur Un­kennt­lich­keit ste­reo­ty­pi­siert. Mit dem Spiel mit der Rea­li­tät, dem Ge­we­se­nen, schafft man im­mer­hin se­mi-ehr­gei­zi­gen Germanist(inn)en ei­ne Spiel­wie­se und da passt es ganz gut, dass es zwei Li­sten gibt, die hier be­hilf­lich sind: ei­ne Fi­gu­ren­li­ste und ei­ne Über­sicht »Schau­platz und Ge­sche­hen»1 (»hol­tropp­lag« zur Be­gut­ach­tung der Dok­tor­ar­beit Hol­trops fehlt viel­leicht noch.)

Die Ge­schich­te der Nuller­jah­re will Rai­nald Goetz hier (fort)schreiben; das Über­buch heißt »Schlucht«; der Werk­kon­text ist ganz vor­ne im Buch ab­ge­druckt. »Ab­riss ei­ner Gesell­schaft« lau­tet der mehr­deu­ti­ge Un­ter­ti­tel zum Hol­trop-Buch, ziem­lich frei und doch auch er­in­nernd an »Ver­fall ei­ner Fa­mi­lie«. Am­bi­tio­niert al­so.

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  1. Beide Links zu den Listen sind per 06.08.2015 nicht mehr abrufbar. 

Ma­nien und Ma­nie­ris­men (II)

Über den no­to­ri­schen Au­ßen­sei­ter Gerd-Pe­ter Eig­ner[hier Teil I]

Als Schü­ler stieß Eig­ner, sein In­ter­es­se für Li­te­ra­tur und Kunst war kaum erst er­wacht, auf die Wer­ke ma­nie­ri­sti­scher Künst­ler und ließ sich, wohl nicht zu­fäl­lig, son­dern in Über­ein­stim­mung mit dem, was er selbst zu Wer­den im Be­griff stand, da­von fas­zi­nie­ren. »Al­so das ist es. Ma­nie, Ma­nie­ris­mus, die Auf­he­bung der Stand­fe­stig­keit, Er­star­rung, Ent­kör­per­li­chung. Und zu­gleich und nicht zu­letzt, in sei­ner Wir­kung – Ma­ter Do­lo­ro­sa –, die­ser Tau­mel und Sog. Er war im Ein­klang mit dem, was er sah.« Tau­mel, Rausch, Ent­gren­zung... das Dio­ny­si­sche. Nietz­sches Za­ra­thu­stra steckt als Re­clam­bänd­chen in Bran­digs Jacke, wäh­rend er die Sta­tue Giord­a­no Bru­nos auf dem Cam­po de’ Fio­ri um­kreist. Von ei­ner selbst­zer­stö­re­ri­schen, zu­gleich selbst­ent­decke­ri­schen se­xu­el­len Ob­session spricht Ul­rich Horst­mann mit Be­zug auf Eig­ners Hel­den. Ab­ge­se­hen da­von, daß die­se Ob­ses­si­on bei man­chen Zeit­ge­nos­sen Un­be­ha­gen her­vor­ruft, sti­mu­liert sie auch die Ma­nie des Schrei­bens, in­so­fern die Al­ter-Egos des Au­tors ei­nem Ide­al nach­stel­len (Nach­stellungen hei­ßen zwei Es­say-Bän­de Eig­ners), das in den Ro­ma­nen schwer und in der Wirk­lich­keit kaum zu ha­ben ist. In ih­rem aus Ma­nien ge­bo­re­nen Rea­lis­mus ha­ben Eig­ners Bü­cher am Idea­li­schen teil, das der Wirk­lich­keits­fei­er, die sie voll­zie­hen, zu wi­der­stre­ben scheint. Se­ne Au­to­bio­gra­phie legt den Schluß na­he, daß die Un­nach­gie­big­keit des­sen, der sich seit sei­ner Ju­gend als Au­tor, als Selbst-Schöp­fer, ver­steht, den in­halt­lich-poe­ti­schen Kern ei­nes Werks aus­macht, das sich von Be­ginn an ge­gen Wi­der­stän­de durch­set­zen muß­te. Nach vor­läu­fi­gen Zu- und spä­te­ren Ab­sa­gen zu den er­sten Manu­skripten, die er an Ver­la­ge schickt, hält Eig­ner auf dem Mark­platz in Bre­men drei öffent­liche Le­sun­gen ab, die je­des Mal von der Po­li­zei un­ter­bun­den wer­den. Ein hal­bes Jahr­hundert spä­ter ist der Ver­such sei­ner Wil­helms­ha­ve­ner Ver­fol­ge­rin, Veröffent­lichungen und Aus­zeich­nun­gen Eig­ners zu ver­hin­dern, nur ein wei­te­rer Akt in den einge­spielten Bah­nen der öf­fent­li­chen Ord­nung, die sich durch künst­le­ri­sche Frei­heit – viel­leicht nicht ganz zu un­recht – ge­fähr­det sieht.

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Ma­nien und Ma­nie­ris­men (I)

Über den no­to­ri­schen Au­ßen­sei­ter Gerd-Pe­ter Eig­ner

Gerd-Peter Eigner © Leopold Federmair
Gerd-Pe­ter Eig­ner © Leo­pold Fe­der­mair

Ein volks­tüm­li­ches Dik­tum be­sagt, daß zum Strei­ten zwei ge­hö­ren. Es dient oft als be­que­mer Vor­wand, um sich die ge­naue­re Prü­fung ei­nes Kon­flikts und, in der Fol­ge, die Par­tei­nah­me zu er­spa­ren. Zu­nächst aber kommt man um die Fest­stel­lung der Tri­via­li­tät nicht her­um, will man die Me­cha­nis­men ei­nes Streits be­grei­fen. Um ihr Spiel spie­len zu kön­nen, sind bei­de Sei­ten auf­ein­an­der an­ge­wie­sen: so ist das bei Kin­dern und Er­wach­se­nen, zwi­schen Kri­ti­kern und Kon­servativen, zwi­schen der Ge­sell­schaft und ih­ren Außen­seitern. Ein sol­cher ist der deut­sche Schrift­steller Gerd-Pe­ter Eig­ner seit je­her, mit gro­ßer Kon­se­quenz, bis ins Al­ter. Au­ßen­sei­ter aus frei­em Ent­schluß und »durch die Ge­sell­schaft«, wie An­to­nin Ar­taud sei­ner­zeit for­mu­lier­te.

Eig­ner ha­be ich in den frü­hen acht­zi­ger Jah­ren in Salz­burg ken­nen­ge­lernt, wir wa­ren vie­le Stun­den in Pa­ri­ser Ca­fés und Bars oder auf den Stra­ßen der Stadt zu­sam­men. An ei­nen Be­such in ei­nem Berg­dorf hoch über Niz­za, wo ich da­mals die Som­mer ver­brach­te, kann ich mich er­in­nern, und eben­so an die Gän­ge und Fahr­ten (auf dem Ves­pa-Rück­sitz) zu sei­nem Win­zer­häus­chen in den Mon­ti Pre­ne­sti­ni über Rom. Es hat sich mir oft be­stä­tigt, was auch die Lek­tü­re sei­ner Bü­cher ver­rät: Der Mann be­sitzt ein an­ge­bo­re­nes Ta­lent, Leu­te zu ver­stö­ren, Un­mut auf sich zu zie­hen und sich in un­halt­ba­re La­gen zu brin­gen.

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