Über den notorischen Außenseiter Gerd-Peter Eigner
Ein volkstümliches Diktum besagt, daß zum Streiten zwei gehören. Es dient oft als bequemer Vorwand, um sich die genauere Prüfung eines Konflikts und, in der Folge, die Parteinahme zu ersparen. Zunächst aber kommt man um die Feststellung der Trivialität nicht herum, will man die Mechanismen eines Streits begreifen. Um ihr Spiel spielen zu können, sind beide Seiten aufeinander angewiesen: so ist das bei Kindern und Erwachsenen, zwischen Kritikern und Konservativen, zwischen der Gesellschaft und ihren Außenseitern. Ein solcher ist der deutsche Schriftsteller Gerd-Peter Eigner seit jeher, mit großer Konsequenz, bis ins Alter. Außenseiter aus freiem Entschluß und »durch die Gesellschaft«, wie Antonin Artaud seinerzeit formulierte.
Eigner habe ich in den frühen achtziger Jahren in Salzburg kennengelernt, wir waren viele Stunden in Pariser Cafés und Bars oder auf den Straßen der Stadt zusammen. An einen Besuch in einem Bergdorf hoch über Nizza, wo ich damals die Sommer verbrachte, kann ich mich erinnern, und ebenso an die Gänge und Fahrten (auf dem Vespa-Rücksitz) zu seinem Winzerhäuschen in den Monti Prenestini über Rom. Es hat sich mir oft bestätigt, was auch die Lektüre seiner Bücher verrät: Der Mann besitzt ein angeborenes Talent, Leute zu verstören, Unmut auf sich zu ziehen und sich in unhaltbare Lagen zu bringen. Letzten Endes vollzieht sich seine ganze Existenz in einer solchen, ausgesetzten und unhaltbaren, Lage. Ich halte das für eine Tugend, die aufs engste mit seinem Schreiben verbunden ist und die ästhetischen Qualitäten seiner Werke mit bedingt. Viele der Konflikte, in die ein solcher Mensch zwangsläufig immer wieder gerät und die er heraufbeschwört, erweitern sich zu Verstrickungen, nur selten sind sie lösbar. Als Autor ist Eigner an einem Punkt angekommen, von dem aus er auf ein verwickeltes Leben zurückblicken kann, das Stoff für mehrere Bände Memoiren gibt. Drei solche Bände hat er im Jahr 2010 geschrieben, und es ist wiederum bezeichnend, daß er sie fürs erste nicht veröffentlichen kann, obwohl sich zuvor so namhafte Verlage wie Hanser und Kiepenheuer & Witsch um sein Werk kümmerten.
Neben diesem unveröffentlichten Lebensroman liegt mir eine achtseitige »Erklärung« vor, in der Eigner sich gegen eine »Rufmordkampagne« zur Wehr setzt, die von seinem Kindheitsort Wilhelmshaven aus über die Grenzen Deutschlands hinaus in Gang gesetzt wurde. Es geht mir an dieser Stelle nicht darum, den Autor gegen diese Anwürfe zu verteidigen; aufschlußreicher als das Kesseltreiben selbst finde ich die Dynamiken, die um seine Person und sein Werk herum immer wieder entstehen und die er recht und schlecht, zunehmend auf einsamem Posten, durchgestanden hat. Eigners Verfolgerin spricht von einem »Rachefeldzug des Autors gegen Frauen«, die sie in einem Schreiben an den Deutschen Literaturfonds namentlich nennt. Rache gegen Rache also – nur daß die Verfolgerin dem klassischen Mißverständnis unterliegt, Fiktion und Wirklichkeit, Kunst und Leben zu verwechseln. Ähnliche Erfahrungen hatte Thomas Wolfe nach der Veröffentlichung seines Romans Schau heimwärts, Engel machen müssen, der nicht nur Eigner, sondern manch einen Autoren seiner Generation stark beeindruckte. In seiner Erklärung zitiert Eigner eine Passage aus Wolfes autobiographischem Bericht über jene Vorfälle. Der Amerikaner erwähnt darin, bestimmte Leute in seiner Heimatstadt hätten ein »wütendes Geheul« angestimmt und behauptet, sich an im Roman beschriebene Ereignisse zu erinnern, die in der Wirklichkeit jedoch keinerlei Vorbild hatten. Solche Vorfälle wird es immer geben, solange Literatur in einer gegebenen Gesellschaft überhaupt noch eine ernsthafte Rolle spielt, denn bestimmte Werke setzen diese Gesellschaft einer harten Probe aus. Was Eigner betrifft, so eignet ihm das erwähnte Talent, seine Umgebung zu provozieren, im Großen wie im Kleinen, mit literarischen Mitteln und durch seine bloße, personale Existenz. In eben diesem Talent steckt ein künstlerischer, darstellerischer Keim, der ihm, liest man seine Autobiographie, eingeboren oder zumindest schon sehr früh, in der Kindheit, zugekommen ist. Die andere Seite, die Gesellschaft nämlich mitsamt ihren angepaßten Vertretern, verdient die Provokation nicht nur, sie braucht sie.
Daß Eigners Autobiographie, die ersten drei Jahrzehnte seines Lebens umfassend und 2010 in wenigen Monaten hingeschrieben, bislang unveröffentlicht ist, könnte mit den durchaus niederträchtigen Versuchen jener Person zu tun haben, seiner Existenz als Schriftsteller den Boden zu entziehen. Vertieft man sich in diese Lebensgeschichte, wird einem klar, daß der angehende Schriftsteller sich von Beginn an mit Außenseitern zusammengetan hat, mit Leuten, die die Gesellschaft aus guten oder schlechten Gründen nicht oder nur schwer zu akzeptieren vermochte. Der Junge und später der junge Mann schwelgt aber auch in einer Art Selbstherrlichkeit, die, wie ihm seine familiäre Umgebung vorhält, damit zusammenhängen könnte, daß er ohne Vater aufwuchs und sich früh an Vaters Stelle setzte. Daß er nicht nur Widerspruch und Ressentiments hervorruft, sondern sich immer wieder ins gesellschaftliche Abseits manövriert oder aus freien Stücken die Flucht ergreift, scheint mir unvermeidlich. Und auch, daß er sich von bürgerlichen Berufen – Journalist, Lehrer – ab und dem künstlerischen Ausdruck zuwendet. Sich äußernd, erwehrt sich das beengte und bedrängte Individuum des Zugriffs, um seine Freiheit zu behaupten. Der zum Autor gewordene junge Mann stellt sich dem Kampf wie ein Boxer, und ist, so friedfertig er im allgemeinen sein mag, durchaus gewaltfähig. Seine Mittel sind nicht die Fäuste und keine Bomben, obwohl er diese Verlockung kennen mag; es ist die künstlerische Darstellung, die Entstellung von wirklichen Verhältnissen zur Kenntlichkeit, wie Bertolt Brecht formulierte. In Eigners Autobiographie wie auch in seinen mündlichen Erzählungen taucht immer wieder dieses Paar auf: einerseits die Boxhandschuhe, die er realiter, nach dem Training in früher Jugend, an den Nagel gehängt und symbolisch anbehalten hat; und die Geige, die er durch die Feder – genauer, durch den Kugelschreiber – ersetzt hat, den die Figur des Autors in Golli (1978), Eigners erstem veröffentlichtem Roman, von der Hauptfigur erhält, einem Außenseiter, der sich der landläufigen Vernunft nicht unterordnen will und kann. Der Kugelschreiber ist die symbolische Verquickung von Boxhandschuh und Geigenbogen.
Die Gesellschaft wird immer stärker sein als der einzelne, der sie herausfordert. Eigner hat sich, genau wie Brandig, die Hauptfigur seines zweiten, 1985 erschienenen Romans, immer wieder mit Stärkeren angelegt, mit übermächtigen Gegnern. Ich erinnere mich zum Beispiel an seinen Kampf gegen die Immobiliengesellschaft, die das Pariser Haus kaufte, in dem er im Dachgeschoß ein ehemaliges chambre de bonne bewohnte. Am Ende bekam er eine halbwegs ordentliche Summe zur Abfertigung, die die Besitzer gewiß nicht schmerzte; der Schmerz lag ganz auf der Seite des Einzelkämpfers, der all seine Energien investierte, längere Zeit nicht schreiben konnte und seine Gesundheit aufs Spiel setzte. Ähnlich verhält es sich beim Kampf mit jener Vertreterin der guten Gesellschaft von Wilhelmshaven, einer Frau, die sich als Hobbymalerin betätigt und Eigner vor Jahren um einen Katalogtext bat, der ihr am Ende, wie Eigner berichtet, »nicht gefiel«.
»Sein rasanter Aufstieg zur Legende ging einher mit künstlerischer Provokation und physischer Gewalt, Überempfindlichkeit und Selbstmitleid.« Diesen Satz lese ich in einem Buch über Caravaggio, den Maler, der vor mehr als vierhundert Jahren in Rom eine neue Malweise einführte, einen Mann im Streit tötete, einen Notar verletzte und zeitlebens die Häscher fürchten mußte. Solche Gewalttaten hat Eigner vermutlich nicht verübt. Allerdings wurden von seinen Verfolgern Vorwürfe erhoben, die in eine ähnliche Richtung gehen, und in seiner Autobiographie beschreibt er Szenen, in denen er in gewaltsame Auseinandersetzungen verwickelt war. Von Eigners körperlichen Präsenz geht, das kann ich bezeugen, eine Kraft aus, die durchaus anziehend wirken, vielleicht aber auch ins Bedrohliche umschlagen kann. Die Gewalt, die latent da ist, richtet sich häufiger jedoch gegen ihn selbst. Das schöpferische Feuer ist zugleich eines der Selbstzerstörung: das Hervorgebrachte verzehrt sich in der Flamme. Über Mitten entzwei (1988), den Nachfolgeroman von Eigners Hauptwerk Brandig, schrieb Ulrich Horstmann: »Das Sich-zugrunde-Richten, das vielleicht immer auch ein verzweifelter Versuch ist, mit letztem Einsatz Grund und Boden unter die Füße zu bekommen, geht hier munter weiter.« Eigner gehört dem gar nicht so seltenen Künstlertypus des schöpferischen Vernichters und (sich) vernichtenden Schöpfers an. Einige Vorläufer dieses Schlags kommen in seinen Werken immer wieder vor, nicht gerade als Vorbilder, sondern als faszinierende Figuren, die sich ein besonders großes Stück Freiheit herausnehmen und Gefahren nicht meiden, sondern regelrecht suchen. Neben dem schon erwähnten Caravaggio etwa Jean Genet, der schwer erziehbare, vaterlose Zögling, Homosexuelle und Dieb, oder Gesualdo da Venosa, der Madrigalkomponist und Eifersuchtsmörder, den Eigner als Leitfigur für einen seiner Romane verwendet hat (Lichterfahrt mit Gesualdo, 1996). »Wer sich nicht vorwagt in die verbotenen Zonen, wird nie etwas von der Vielfalt der Erscheinungen begreifen. Letztlich auch nicht über solche, die ihm alltäglich erscheinen und ihm auf Schritt und Tritt begegnen.« Solche Sätze finden sich neben anderen Perlen im Blauen Koffer, der ohne jeden theoretisierenden Anspruch auch Eigners Poetik enthält. Daß seine Literatur realistisch ist, versteht sich nach dem Gesagten gleichsam von selbst: Realismus verstanden als Wirklichkeitsbegehren, als immer erneuter Zugriff und Übergriff auf das, was gegeben und doch so unsicher, so schwer zu fassen ist. Äußere und innere Wirklichkeiten, halluzinierte und greifbare, selbstgemachte und verordnete... Eine Mehrzahl von Wirklichkeitsschichten, in denen sich Eigners opulente Sprachkunstwerke tummeln. Wer einen solchen Wirklichkeitsbegriff hat, und zwar deshalb hat, weil er ihm durch seine Lebenserfahrungen, durch die erlebten Brüche und Vereinigungen, nahegelegt wurde, der gelangt in seiner künstlerischen Arbeit leicht zum Überbordenden, zum dicken Auftrag von Schichten aus Worten, Tönen, Formen, Farben – anders gesagt: zum Manierismus. Und tatsächlich schaffen sich Eigners Romane ein Spannungsfeld zwischen selbstverliebter Zeugung der Worte und zielgerichtetem Wiedergeben von Erfahrungen. Das Pendel schlägt, gesteuert vom rhythmusbedachten Autor, bald in diese, bald in jene Richtung aus, und wenn das Vorhaben gelingt, der Grundton getroffen, die Fäden richtig angelegt sind, entsteht ein vibrierendes Werk, das dem geneigten Leser – im obigen Sinne – gefährliche Erkenntnismomente vermitteln wird.
© Leopold Federmair
Die Webseite von Gerd-Peter Eigner.
Die Kommentarmöglichkeit besteht im zweiten und letzten Teil des Essays