Transversale Reisen durch die Welt der Romane
Nichts gegen Namedropping. Man begegnet mal diesem, mal jenem, in der Literatur und Geisteswelt wie im richtigen Leben, mal flüchtiger, mal ernsthafter, es entstehen Verbindungen, Gemeinsamkeiten werden entdeckt, Verbindungen werden gelöst, neu geknüpft, oder auch nicht: Unterschiede festgestellt, Abgrenzungen vorgenommen. Freundschaften und Bekanntschaften. Und eben auch Feindschaften. Nicht alles paßt zusammen, nicht immer. Natürlich wünschen wir uns, daß mehr fällt als der Name. Vielleicht der Groschen, immer wieder einmal.
Alternative Traditionslinien aufzeigen, nicht immer dasselbe wiederkäuen. Transversale Reisen durch die Literaturgeschichte. Wie jene, die jetzt überall Frauen am Werk sehen in der Kunst, Musik etc. Freilich, das lohnt nicht immer, oft ist das ideologiegelenkt. Wie bei der »wiederentdeckten« Barocklyrikerin Sibylla Schwarz, die 17-jährig verstorben war. Nein, sie war eben kein weiblicher Rimbaud des 17. Jahrhunderts, sondern bestenfalls Mainstream, also mittelmäßig, hat halt die Regelpoetik eines Martin Opitz angewendet wie so viele andere, die man deswegen aber nicht »wiederentdecken« muß. Dichten war damals nichts anderes als eine Schulübung. Nur wenige ragen aus dem Mainstream, Gryphius, Fleming, Günther. Das alles, wirklich alles, zu lesen, war meine Beschäftigung, als ich ungefähr 23, 24 war. Sogar Sibylla Schwarz ist mir damals untergekommen, in der Herzog August-Bibliothek zu Wolfenbüttel.
Aber hier geht es um den Roman und darum, was von ihm bleibt. Transversale Blicke, Seitenblicke auf bescheidenere Werke, nicht immer nur die großspurigen, großmächtigen. Nicht der Großroman, eher die kleineren. Gaddis, Faulkner, Joyce, Proust, Musil, David Foster Wallace… all die Gewaltanstrengungen beeindrucken mich nicht mehr. Auch nicht die spielerische Gewalt eines Perec in La vie mode d‘emploi. Statt dessen die zugänglicheren Werke, etwa Le Grand Meaulnes von Alain-Fourier. Oder Patrick Modiano (na ja, ein Nobelpreisträger…).
Solche Transversalität bedeutet natürlich nicht, sich einfach eine Literaturliste zusammenzuwürfeln und dann die Bücher der Reihe nach zu lesen. Es bedeutet eher, sie »gleichzeitig« zu lesen, wobei gleichzeitig nicht im chronometrischen Sinn zu verstehen ist, sondern in einem organischen: Man liest sie alle in einem Zeit-Raum, der damit eine besondere Qualität annimmt. Es geht 1. darum, Ähnlichkeiten über historische Epochen, unterschiedliche Sprachen und Kulturen festzustellen, 2. darum, im selben Sinn Unterschiede festzustellen, 3. darum, sich Überraschungen zu öffnen und unvorhergesehene Erkenntnisse zuzulassen. Es ist also nicht das wissenschaftliche Prinzip des Aufstellens einer Hypothese, die dann bestätigt, ergänzt oder verworfen wird, und auch kein statistisch-quantitatives Prinzip, bei dem Korrelationen, Wiederholungen, Nachbarschaften berechnet werden, sondern ein qualitätsorientiertes und nur bedingt steuerbares Prinzip, das Kreativität in der Lektüre, als close reading und hermeneutischer Vorgang mit starker subjektiver Komponente verstanden, erlauben und fördern sollte.
Seitdem Patrick Modiano den Nobelpreis zuerkannt wurde, erscheinen seine in schönem Rhythmus alle zwei, drei Jahre neue Romane und nach knapp einem Jahr dann in deutscher Sprache im Hanser-Verlag. Übersetzerin ist seit mehr als 25 Jahren Elisabeth Edl (mit einer Ausnahme). Diese Kontinuität ist wichtig; bei einem Autor wie Modiano erst recht.
Denn auch im neuesten Roman Unterwegs nach Chevreuse (im Original von 2021 Chevreuse) findet der Leser zahlreiche Verweise auf andere, teilweise länger zurückliegende Bücher von Modiano. So ist die Hauptfigur wie schon in Der Horizont (2010/2013) erneut der Schriftsteller Jean Bosmans. Im Chevreuse-Roman erfährt man, dass er einst auf einer Art Flucht in einem Café in einem entlegenen Dorf seinen Erstling »Das Schwarz des Sommers« verfasst hatte. Es ist der gleiche Titel des Erstlings von Jean Daragane aus Modianos vielleicht traurigstem Roman Damit du dich im Viertel nicht verirrst (Pour que tu ne te perdes pas dans le quartier, 2014/2015) – ebenfalls in einem kleinen Ort geschrieben. Wie in fünf oder sechs anderen Modiano-Büchern spielt die Rue du Docteur-Kurzenne eine Rolle, genauer: das Haus Nr. 38. Es ist eine Straße, die tatsächlich existiert: in Jouy-en-Josas in der Île-de-France, dem Ort, in dem Modiano einen Großteil seiner Kindheit und Jugend verbrachte. Schließlich kommt auch im neuen Roman wieder ein gewisser Guy Vincent vor. Modiano zitiert sogar aus einem (sicherlich fiktiven) Brief, »gegen Ende der neunziger Jahre« erhalten, in dem Jean Bosmans eine Recherche über Guy bzw. Roger Vincent von einem Leser erhält.
Die Kunst des Übersetzens – wie die des Lesens – besteht darin, der Versuchung zu widerstehen, aus diesen Fährten eine Reihe, eine übergeordnete Erzählung, zu rekonstruieren. Tatsächlich sind sie für das Verständnis des jeweiligen Textes unwichtig; was auch für die Exegese von Modianos Werk gelten dürfte. Es sind Namen von Spielfiguren und ‑szenen, die sich wiederholen, aber eben nie decken. Stets entstehen in den Romanen je andere Dynamiken. Jean Bosmans aus Der Horizont hat eine andere Geschichte wie jener aus dem Chevreuse-Buch. Die Magie des Hauses Nr. 38 ist immer anders.
Gemeinsam ist das Mysterium der Erinnerung, welches die jeweils aus personaler Sicht erzählten Figuren irgendwann überfällt und nicht mehr loslässt. Häufig läuft dies auf zwei Ebenen ab. Im neuesten Buch sind die Zeitmarken 50 und 15 Jahre. Jean Bosmans rekonstruiert seine Eindrücke von vor 50 Jahren und erinnert sich daran, als er sich 15 Jahre zurück erinnerte. Der Ereigniskern liegt somit rund 65 Jahre von der Gegenwart (hier die 2010er Jahre) entfernt. Bosmans lichtet seine Erinnerungslücken rund um ein Haus im Stadtteil Chevreuse (eben auf jener erwähnten Straße), in dem er seine Kindheit verbracht hatte. Fünfzehn Jahre später macht er Bekanntschaft mit Camille, die, warum auch immer, »Totenkopf« genannt wird. Sie wiederum bringt ihn mit zwei anderen Figuren in Kontakt, die, so verfestigt sich der Eindruck, etwas von Jean wissen wollen. Sie führen ihn zu dem ominösen Haus, wobei Jean sich erst wieder an seinen Aufenthalt erinnern muss – was ihm mühsam gelingt. Aber intuitiv verschweigt er seiner Bekannten und den beiden Männern seine Erinnerung und den einstigen Aufenthalt. Die Angelegenheit entwickelt sich zu einem Kriminalfall (mehr soll nicht verraten werden), denn die Bekanntschaften, die er damals machte, waren nicht zufällig. Modiano fährt einiges Personal auf – der Leser muss aufpassen, weil es falsche Fährten gibt. Jean begibt sich schließlich auf eine Flucht und schreibt seinen ersten Roman. 50 Jahre später kommt er wieder auf die Zeit mit »Totenkopf« und die seltsamen Ereignisse um dieses Haus zurück; der Anlass bleibt unklar.
Bereits 1978, im Prix-Goncourt-prämierten Roman »Rue des Boutiques Obscures« (1979 Deutsch von Gerhard Heller: »Die Gasse der dunklen Läden«), kommt bei Patrick Modiano die Detektei Hutte vor. Und nun, im neuestem auf deutsch erschienenen Buch »Unsichtbare Tinte« (Übersetzung Elisabeth Edl), erinnert sich ein Ich-Erzähler mit dem Namen Jean Eyben an seine kurze Tätigkeit bei dieser ...
An einem der schönen Tage, an denen ich mit diesem Heft im Rucksack abwechselnd herumflanierte und herumsaß, zog es mich wieder einmal nach Arashiyama, aber diesmal ging ich nicht das rechte, sondern das linke Flußufer entlang, das die meiste Zeit des Tages im Schatten liegt. Nach einer Weile begegnete ich einem Mann, der dort auf einer Bank saß, eine Haube auf dem Kopf und mit einem Lächeln begabt, das sein Gesicht wohl dauerhaft zeigt, und mich ohne Umschweife ansprach: Where are you from?
Oh my god, dachte ich zuerst (im Deutsch meiner Tochter), gab dann aber doch eine brauchbare Antwort. Es stellte sich heraus, daß er fließend englisch sprach, dieser heitere, immer noch neugierige, lebensbegierige Mann von siebzig Jahren, der ebenso unerschütterlich wie geschmeidig eine Denkweise pflegt, die sich in der Zeit, als er jung war, einer Zeit des Aufbruchs, der Öffnungen, des Alles-ist-möglich ausgebildet haben muß. (Und ich, Starrkopf, hier am tristen Computer, rede von Abbrüchen!) In jungen Jahren war er als Mathematiklehrer an einer Oberschule tätig gewesen, die Arbeit hatte ihn zu langweilen begonnen, so versuchte er sich als Blumenhändler, gründete bald einen eigenen Betrieb, zog sich nach vielen Jahren auch von diesem zurück; jetzt ist er Manager in einem Transportunternehmen. Er wohnt nicht weit von meiner Schwiegermutter entfernt, also in meiner Nähe, wenn ich in Osaka bin, Nord-Osaka, um genau zu sein, Ibaraki-shi, und kommt oft nach Arashiyama, wegen der Schönheit und Ruhe des Orts, hier weiter oben im Tal, sitzt auf der Bank, liest in einem Buch, plaudert mit Passanten – schon nach wenigen Minuten kam ein Bekannter von ihm vorüber.
Der Vater Dora Bruders, auch er in Auschwitz ermordet, ist 1899 in Wien geboren. Modiano sichert auch seine Spuren, wenige, viel war nicht herauszubringen. Wahrscheinlich hatte er in der Leopoldstadt gelebt, dem Judenviertel von Wien. So etwa, durchaus wirklichkeitsgerecht, skizziert Modiano den von der Donau, den Praterauen und den Geleisen der Nordbahn umgrenzten Bezirk. Bei einem Seminar mit dem Wiener Schriftsteller Thomas Stangl habe ich dessen Bücher, oder einige davon, als »Donauromane« bezeichnet, der Ausdruck war mir beim Reden eingefallen. In Ihre Musik und in Was kommt ist eine Wohnung am Karmelitermarkt, der auch bei Modiano erwähnt wird, der – ziemlich stille – Mittelpunkt, das Kraft- und auch Schwächezentrum der Erzählungen. Eine Ebene der Handlung von Was kommt ist zeitlich-historisch genau bestimmt, 1937, die Protagonisten sind junge Leute im Alter Dora Bruders, als sie im Winter 41/42 vom Internat oder von Zuhause ausreißt; ein junges Liebespaar bei Stangl, er Jude, sie nicht – ein Unterschied, der anfangs für sie gar keine Rolle spielt. Auch Stangls Erzählungen entfalten eine Aura des Ungesagten, doch ihre Poetik ist der von Modiano fast transversal entgegengesetzt. Während Modiano Raum läßt, die Szenen und Bilder locker nebeneinandersetzt (wie Frido Lampe, der 1945 in Berlin erschossene deutsche Autor, den Modiano als »Freund, den ich nicht kennenlernen durfte«, in sein Buch aufnimmt), schafft Stangl durch immer weiter gehende Differenzierung der Aspekte, Perspektiven, Vorstellungen und Vermutungen Erzählgewebe oder –mosaike (oder beides: stoffliche Mineralstrukturen, mineralische Stoffmuster) von äußerster, schwer zu durchdringender Dichte, in welchen der Sinn, die Beziehungen, die Identitäten unsicher sind oder werden. Ein französischer Autor, der eine ähnliche Poetik entwickelt hat, ist Pierre Michon: Gespenster, ungreifbare Identitäten, bevölkern seine Bücher. Modiano steht, wenn man sich eine wackelige Hängebrücke vorstellen mag, am anderen Ende, auf der anderen Seite. In der Mitte, über dem reißenden Fluß, das Gespenst. Die Autoren nähern sich von verschiedenen Seiten, aber da ist eine Gemeinsamkeit im Schöpferischen, das Nachzeichnen oder Erzeugen, das nachzeichnende Erzeugen und erzeugende Nachzeichnen von unsicheren Identitäten. Sichern oder verunsichern? Oder beides? Den Absturz riskieren; vermeiden.
Brücke: als Metapher abgegriffen, und doch. Das Gemeinsame, die Mitte zwischen den Enden: Neugier für Menschen, Sorge um sie; Einfühlung und Zurückhaltung; Nähe und Distanz. Die Brücken spannen sich in uns selbst (im Autor, im Leser). Vor einigen Jahren ist mir ein Begriff zugeflogen, Transversalität, ich habe daraus den Rohbau einer transversalen Ästhetik geschaffen und hatte dabei das Aufeinander-Beziehen von unterschiedlichen kulturellen Elementen im Auge, das sprachliche Hin und Her, auch Übersetzen genannt, zwischen Ufer und Ufer (eigentlich ein Brückenschlagen und Herüberholen, oder im Kahn transportieren), ein Kreuzen von Sprachen, überraschende Begegnung, vielleicht nur ein Anstreifen, flüchtiges Berühren von Werken, Autoren, von Orten auf dem Globus, von Erfahrungen und auch: von Zeiten. Für diese Haltung, diesen Knäuel von Ansätzen und Aussichten habe ich den Begriff usurpiert, ein unvollendbares Bauwerk, wie gesagt, work in progress: transversale Ästhetik, im weiteren Sinn, schräge Wahrnehmungskunde1. Dabei hatte ich zunächst Leute im Auge, Autoren und Künstler, Flaneure, Betrachter, aktiv Wahrnehmende, ob sie nun ein Werk schaffen oder nicht; Leute, die die Kulturkreise wechseln, verbinden, schneiden, »hybridisieren«, um ein Modewort zu gebrauchen, das langsam aus der Mode zu kommen scheint. Die meisten Menschen machen heute solche Erfahrungen, oft unbewußt oder passiv, jeder ist ständig Einflüssen, Reizen, Daten aus allen Richtungen ausgesetzt und muß auswählen kreuzen hybridisieren, sofern er die Auswahl, das Arrangement etc. nicht einer Maschine (einem »Algorithmus«) überläßt, und das tun leider die meisten.
Es würde mir gefallen, hier eine Parallele – oder Transversale – zum englischen Wort und der entsprechenden Vorstellung von queer zu sehen, aber das ideologische Fundament, die akademische Strenge und die Kanalisierung des Blicks auf "Gender" sowie auf Homo-, Bi- und Transsexualität der sogenannten Queer Studies nimmt mir jede Lust auf diesen Vergleich. Das Wort scheint sich übrigens aus dem Deutschen (von "quer") in den englischen Sprachschatz geschwindelt zu haben: quer, abweichend, seltsam, ungewöhnlich ↩
Ich weiß nicht, ob ich mich freuen soll über die neue Langsamkeit, zu der ich im wirklichen Leben seit einigen Monaten gezwungen bin, oder ob ich wütend sein soll über meinen Körper, der bei dem manchmal doch gewünschten Tempo nicht mitmacht. Besonders bei Steigungen, und noch mehr, wenn Treppen zu überwinden sind. Immerhin, ich habe es bis hierher geschafft, ein kleiner Aufstieg zu den Anhöhen über dem Tal von Arashiyama, wo tief unten der grüne Fluß fließt und sich selten ein Tourist blicken läßt. Den berühmten Bambushain auf der anderen Seite habe ich gemieden – sollen sie sich dort drängen. Dieser Hain mit seinen hohen und schlanken, zum Spitzbogen zusammenlaufenden Bäumen ist schön, aber viel zu klein für solche Menschenmassen: die millionenfach verbreiteten Fotos verraten das Mißverhältnis nicht. Hier oben bin ich vor einem Jahr gewesen, am 2. Jänner, es war genauso warm wie heute, gutes Schreibwetter, und habe Faulkner gelesen, ich sagte es schon. Damals bin ich noch ein gutes Stück weiter bergaufwärts gelaufen, aber nachdem ich mehrmals Wildschweine in meiner Nähe grunzen hörte, machte ich kehrt. Die Gegend hier spielt in Junichiro Tanizakis Roman Sasameyuki eine Rolle, Die Schwestern Makioka (die deutsche Übersetzung ist nicht gut und schon lange vergriffen); der schön klingende japanische Titel bedeutet »leichter Schneefall« (den es im Winter in Kyoto manchmal gibt). Die Familie Makioka, vier Schwestern, glaube ich mich zu erinnern, verbringt einen Sonntag bei der Kirschblütenschau, mit Flanieren und Speisen und Trinken und Sich-der-Welt-und-des-Lebens-Erfreuen. Unten bei der langen Brücke, wo der Fluß ziemlich in die Breite geht und viel weißes Geröll in seinem Bett zu sehen ist. Tanizaki habe ich – neben Mishima – bei meiner Aufzählung der Autoren, die den Wunsch in mir weckten, alles von ihnen zu lesen, vergessen. Unerfüllbarer Wunsch; zwar habe ich die zweibändige französische Ausgabe seiner Werke in meinem Regal stehen, die viel mehr enthält als das, was auf deutsch von Tanizaki vorliegt, aber immer noch viel weniger als das, was er in einem langen Schreiberleben geschaffen hat. Um die Wahrheit zu sagen, ich habe nicht einmal die Pléiade-Ausgabe zur Gänze geschafft; man kann nicht alles bewältigen, ist mehr und mehr zum Auswählen gezwungen. Der Blick auf Tanizakis Werk ist im deutschen Sprachraum durch den Erfolg seines schmalen Essays Lob des Schattens verstellt, der immer wieder zitiert wird von Leuten, die zeigen wollen, daß sie die »Essenz der typisch japanischen Ästhetik« (oder so) verstanden haben.
Ich könnte die »Neuerscheinungen« und die Namen ihrer Verfasser erwähnen, die ich in den letzten Jahren gelesen habe, weil sie mir mehr oder minder zufällig zwischen die Hände gekommen sind, und die ich widerwillig zu Ende gelesen oder vorzeitig weggelegt habe, aber ich werde es nicht tun. Vielen dieser Autoren kann man die Veröffentlichung nachsehen, vielleicht allen, auch mir selbst. So eingespannt in den Betrieb und/oder in das eigene Werk (wenn man sich einspannen läßt), produziert man zu viel. Oder aus anderen Gründen, sogar aus innerer Notwendigkeit, dennoch zu viel. Ich werde keinen dieser Namen nennen, außer vielleicht den einer Autorin, deren Bücher ich schätze und die fern von wo lebt, von Deutschland Bayern Österreich (wo ich nicht lebe) und diese Notizen nicht lesen wird (aber ihr Lektor, ihr Verleger?), Hiromi Kawakami, ihr letztes Buch in der Übersetzung der von mir ebenfalls sehr geschätzten Ursula Gräfe hatte ich nach meinem neuen Freiheitsprinzip in einer kleinen Buchhandlung in Frankfurt am Main gekauft und noch vor der Hälfte des Ganzen weggelegt, irgendwo im öffentlichen Raum zurückgelassen, vielleicht kann wer anderer was damit anfangen, ich nicht; vielmehr war ich genervt von dieser Art von Leichtigkeit, Literatur light, Geheimnistuerei, Belanglosigkeit, aber egal, ich darf mir das jetzt erlauben, meine Genervtheit und sie auszudrücken, ich unterliege keinen Zwängen (mehr), auch Fehlkäufe darf ich mir erlauben, die geschehen bei jeder Art von Produkten; also keine Namen, sagte ich, denn ich will und muß keine Feindschaften auf mich ziehen, jedenfalls nicht mutwillig, nicht ohne Notwendigkeit. Es gibt Autoren, die ich als – sei es private, sei es öffentliche – Personen schätze oder schlicht und einfach mag, oder die ich respektiere, mit deren künstlerischen Erzeugnissen ich aber nichts anfangen kann. Wie damit umgehen? Eine schwierige und interessante Frage, die man, wenn überhaupt, nur von Fall zu Fall wird beantworten können, und die einen unweigerlich in Widersprüchlichkeiten verstrickt. Auch das Umgekehrte kommt übrigens vor, unangenehmer Autor, ungute Person, großartiges Werk.
Ich lese über Dora – von Dora, möchte ich sagen, wie man von jemandem hört und nicht über ihn (»hast du etwas von ihm/ihr gehört?«) – in einem Café namens Cascade (Kaskade, Wasserfall), das ich vor fünfzehn Jahren oft besuchte, als ich hier im Hankyu-Bahnhof von Umeda bald aus‑, bald umstieg. Ich weiß jetzt, nach all den Jahren, vielleicht besser als damals, was mich an dem Ort anzog, abgesehen davon, daß die Mehlspeisen vielfältig und schmackhaft, nicht zu süß und nicht zu teuer waren (eine sogenannte Bakery, das Café gehört zu einer Bäckerei): die zwei großen, dabei dezenten, immer sauberen Großspiegel an der einen Wand, wo die Gäste nebeneinander an einem langen und ziemlich breiten Tisch saßen, einem Wandtisch aus massivem hellem Holz, wo ich gut lesen und schreiben konnte und kann, und zwischendurch, wenn ich den Blick vom Buch oder Heft hebe, das Kommen und Gehen betrachten, das Sitzen und Sinnieren und Plaudern, das Auswählen von Mehlspeisen im Hintergrund, Frauen mit silbrigen Zangen und weißen waagrechten Tabletts, das Sitzen und Plaudern und Warten und Suchen von Menschen, überwiegend Frauen, die meisten wohl Hausfrauen in Shoppingpause, aber auch von Männern, die die Männerwelt der Büros satthatten, Suchen im Spiegel, manchmal nach mir, nach meinem Blick, den beide dann abwenden, sobald er gefunden ist, und das Spiel geht weiter, die Suche geht weiter. Ich lese von Dora, die auf einem Foto, wo sie neun oder zehn Jahre alt ist, vor einem Vogelkäfig steht, einer Voliere vermutlich, deren Inhalt oder Insassen man nicht ausmachen kann, Vogel oder Vögel, vielleicht zwei, man weiß es nicht, weil die Umgebung des Mädchens in tiefem Schatten liegt und man Umrisse kaum ahnen kann. Ich hebe die Augen vom Buch und bemerke rechts unten auf der Spiegelfläche den Käfig, die Voliere, säuberlich aufgeklebt, wie schwarzes Schmiedeeisen, oben kuppelförmig gerundet, darin ein kleiner Vogel, vielleicht nur ein Sperling, im Schattenriß, sicher kein Papagei, und eine Blume, die sich zwischen den Stäben hineinrankt, um sich mit dem Vogel zu vereinen oder gar – ihn zu befreien. Dieses Bild hatte ich auch vor fünfzehn Jahren bemerkt, aber nicht mit der gebührenden Aufmerksamkeit; jetzt ist es dank meiner Lektüre kräftiger, präsenter. Und die Lektüre, der Wahrnehmungsmoment im Buch, ist durch meinen Aufblick gestärkt, weil mir das Stehen Doras am Rand des Schattens und die Ahnung dessen, was im Dunkel liegt, als Metapher dafür erscheinen kann, was ein Buch, eine Erzählung wie diese tun kann: für uns, mit uns, für die Abwesenden, die Beschworenen, für sich selbst.
Romane enthalten künstliche Welten, Fiktion ist Virtualität, nicht anders als die Bilderflut im Internet oder die Vorstellungsbilder im Kopf. Diese Welt und meinen Text, von dem ich nicht weiß, auf welcher der beiden Seiten sein Ort ist, verlassend habe ich mich auf den sicherlich realen Weg zu einem etwa fünfzig Stockwerke aufragenden Hochhaus gemacht, um dort, nur im dritten Stock, einen Film zu sehen, der wie eine Dokumentation angelegt, aber zweifellos ein sogenannter Spielfilm ist, Sorry We Missed You von Ken Loach (wobei sich gleich die Frage stellen ließe, inwieweit Dokumentation mit filmischen Mitteln nicht ebenfalls Fiktion ist; am Ende enthält jede menschliche Lebensäußerung jenseits des Atmens und der bloßen Bedürfnisbefriedigung wenigstens ein Gran Erfindung, Verdichtung, Auslassung, Negation, und die Schriftsteller, die Dichter sind nichts anderes als besonders geschulte oder talentierte oder erfahrene Spezialisten der Erfindung). Und als ich das Kino verließ, hatte ich vor, in meine Textlandschaft zurückzukehren und dies in einem anderen Café zu tun, am besten oben im dreißigsten Stock des Gran Hankyu Building, in luftiger Höhe, da kann man, wie schon Nietzsche meinte, wirklich gut denken und schreiben, in der Höhenluft. Oben angekommen, ist mir die Warteschlange zu lang, Umeda und seine Cafés quellen an diesem letzten Sonntag des Jahres über von Shoppern und Window-Shoppern, die früher oder später ermüden, auch Männerrunden darunter, die vor dem Jahreswechsel noch einmal miteinander plaudern oder eher, habe ich den Eindruck, schreien wollen (offenbar wirkt Kaffee auf sie wie Alkohol). Ich kann im Lärm und gegen den Lärm recht gut schreiben, doch der Konsumtaumel, dieser kulturkapitalistische Normalzustand der Wochenenden, ist mir dann doch zuviel.