Pa­trick Mo­dia­no: Un­ter­wegs nach Che­v­reu­se

Patrick Modiano: Unterwegs nach Chevreuse

Pa­trick Mo­dia­no: Un­ter­wegs nach Che­v­reu­se

Seit­dem Pa­trick Mo­dia­no den No­bel­preis zu­er­kannt wur­de, er­schei­nen sei­ne in schö­nem Rhyth­mus al­le zwei, drei Jah­re neue Ro­ma­ne und nach knapp ei­nem Jahr dann in deut­scher Spra­che im Han­ser-Ver­lag. Über­set­ze­rin ist seit mehr als 25 Jah­ren Eli­sa­beth Edl (mit ei­ner Aus­nah­me). Die­se Kon­ti­nui­tät ist wich­tig; bei ei­nem Au­tor wie Mo­dia­no erst recht.

Denn auch im neue­sten Ro­man Un­ter­wegs nach Che­v­reu­se (im Ori­gi­nal von 2021 Che­v­reu­se) fin­det der Le­ser zahl­rei­che Ver­wei­se auf an­de­re, teil­wei­se län­ger zu­rück­lie­gen­de Bü­cher von Mo­dia­no. So ist die Haupt­fi­gur wie schon in Der Ho­ri­zont (2010/2013) er­neut der Schrift­stel­ler Jean Bos­mans. Im Che­v­reu­se-Ro­man er­fährt man, dass er einst auf ei­ner Art Flucht in ei­nem Ca­fé in ei­nem ent­le­ge­nen Dorf sei­nen Erst­ling »Das Schwarz des Som­mers« ver­fasst hat­te. Es ist der glei­che Ti­tel des Erst­lings von Jean Dara­ga­ne aus Mo­dia­nos viel­leicht trau­rig­stem Ro­man Da­mit du dich im Vier­tel nicht ver­irrst (Pour que tu ne te per­des pas dans le quar­tier, 2014/2015) – eben­falls in ei­nem klei­nen Ort ge­schrie­ben. Wie in fünf oder sechs an­de­ren Mo­dia­no-Bü­chern spielt die Rue du Doc­teur-Kur­zen­ne ei­ne Rol­le, ge­nau­er: das Haus Nr. 38. Es ist ei­ne Stra­ße, die tat­säch­lich exi­stiert: in Jouy-en-Jo­sas in der Île-de-France, dem Ort, in dem Mo­dia­no ei­nen Groß­teil sei­ner Kind­heit und Ju­gend ver­brach­te. Schließ­lich kommt auch im neu­en Ro­man wie­der ein ge­wis­ser Guy Vin­cent vor. Mo­dia­no zi­tiert so­gar aus ei­nem (si­cher­lich fik­ti­ven) Brief, »ge­gen En­de der neun­zi­ger Jah­re« er­hal­ten, in dem Jean Bos­mans ei­ne Re­cher­che über Guy bzw. Ro­ger Vin­cent von ei­nem Le­ser er­hält.

Die Kunst des Über­set­zens – wie die des Le­sens – be­steht dar­in, der Ver­su­chung zu wi­der­ste­hen, aus die­sen Fähr­ten ei­ne Rei­he, ei­ne über­ge­ord­ne­te Er­zäh­lung, zu re­kon­stru­ie­ren. Tat­säch­lich sind sie für das Ver­ständ­nis des je­wei­li­gen Tex­tes un­wich­tig; was auch für die Ex­ege­se von Mo­dia­nos Werk gel­ten dürf­te. Es sind Na­men von Spiel­fi­gu­ren und ‑sze­nen, die sich wie­der­ho­len, aber eben nie decken. Stets ent­ste­hen in den Ro­ma­nen je an­de­re Dy­na­mi­ken. Jean Bos­mans aus Der Ho­ri­zont hat ei­ne an­de­re Ge­schich­te wie je­ner aus dem Che­v­reu­se-Buch. Die Ma­gie des Hau­ses Nr. 38 ist im­mer an­ders.

Ge­mein­sam ist das My­ste­ri­um der Er­in­ne­rung, wel­ches die je­weils aus per­so­na­ler Sicht er­zähl­ten Fi­gu­ren ir­gend­wann über­fällt und nicht mehr los­lässt. Häu­fig läuft dies auf zwei Ebe­nen ab. Im neue­sten Buch sind die Zeit­mar­ken 50 und 15 Jah­re. Jean Bos­mans re­kon­stru­iert sei­ne Ein­drücke von vor 50 Jah­ren und er­in­nert sich dar­an, als er sich 15 Jah­re zu­rück er­in­ner­te. Der Er­eig­nis­kern liegt so­mit rund 65 Jah­re von der Ge­gen­wart (hier die 2010er Jah­re) ent­fernt. Bos­mans lich­tet sei­ne Er­in­ne­rungs­lücken rund um ein Haus im Stadt­teil Che­v­reu­se (eben auf je­ner er­wähn­ten Stra­ße), in dem er sei­ne Kind­heit ver­bracht hat­te. Fünf­zehn Jah­re spä­ter macht er Be­kannt­schaft mit Ca­mil­le, die, war­um auch im­mer, »To­ten­kopf« ge­nannt wird. Sie wie­der­um bringt ihn mit zwei an­de­ren Fi­gu­ren in Kon­takt, die, so ver­fe­stigt sich der Ein­druck, et­was von Jean wis­sen wol­len. Sie füh­ren ihn zu dem omi­nö­sen Haus, wo­bei Jean sich erst wie­der an sei­nen Auf­ent­halt er­in­nern muss – was ihm müh­sam ge­lingt. Aber in­tui­tiv ver­schweigt er sei­ner Be­kann­ten und den bei­den Män­nern sei­ne Er­in­ne­rung und den ein­sti­gen Auf­ent­halt. Die An­ge­le­gen­heit ent­wickelt sich zu ei­nem Kri­mi­nal­fall (mehr soll nicht ver­ra­ten wer­den), denn die Be­kannt­schaf­ten, die er da­mals mach­te, wa­ren nicht zu­fäl­lig. Mo­dia­no fährt ei­ni­ges Per­so­nal auf – der Le­ser muss auf­pas­sen, weil es fal­sche Fähr­ten gibt. Jean be­gibt sich schließ­lich auf ei­ne Flucht und schreibt sei­nen er­sten Ro­man. 50 Jah­re spä­ter kommt er wie­der auf die Zeit mit »To­ten­kopf« und die selt­sa­men Er­eig­nis­se um die­ses Haus zu­rück; der An­lass bleibt un­klar.

Die­se Form des Er­zeu­gens von Re­mi­nis­zen­zen ist ty­pisch für zahl­rei­che Ro­ma­ne von Mo­dia­no, ins­be­son­de­re de­nen des Spät­werks. Die An­stren­gung, den »Ge­ruch der Zeit« auf­zu­spü­ren, »all die­se Si­gna­le und die­se Mor­se­zei­chen« auf­zu­neh­men, ist im­mens: »Ein De­tail spül­te manch­mal wei­te­re De­tails in sein Ge­dächt­nis, ver­klei­stert mit dem er­sten, so wie die Strö­mung halb zer­setz­te Al­gen­klum­pen an­spült.« Da­bei ist die Zu­ver­läs­sig­keit der Er­in­ne­rungs­ar­beit nicht ge­si­chert. Was wird wo­mög­lich falsch er­in­nert, nur weil es zu­fäl­lig in das Kon­zept passt? Zeu­gen gibt es sel­ten, und wenn, dann ist auch de­ren Er­in­ne­rung fra­gil, bruch­stück­haft oder ten­den­zi­ös.

Er­in­ne­rung ge­schieht, um die­se vor de­ren »Tod« durch das Ver­ges­sen zu er­ret­ten und um sich sel­ber wie­der ken­nen zu ler­nen. Aber es bleibt un­klar, ob die Re­sul­ta­te der Ret­tungs­ar­bei­ten im­mer er­stre­bens­wert sind. Könn­te es nicht sein, dass Er­in­ne­run­gen der­art kost­bar sind, dass sie bes­ser im Ver­bor­ge­nen blei­ben? Ein Schatz, der droht ver­lo­ren zu ge­hen, wenn man ihn hebt, weil er dann un­wei­ger­lich mit an­de­ren ge­teilt wer­den wird (es sei denn, man ist ein Mei­ster in der »Kunst, den Mund zu hal­ten«)? Oder weil er lan­ge ge­heg­te Le­bens­lü­gen um­stößt? Bis­wei­len schreckt der Er­in­ne­rungs­künst­ler Mo­dia­no nicht da­vor zu­rück, die »sü­ße Amne­sie« zu prei­sen. Be­stes Bei­spiel ist der be­reits an­ge­spro­che­ne Ro­man Da­mit du dich im Vier­tel nicht ver­irrst – das Er­geb­nis der Wie­der-Ho­lung des Ge­sche­he­nen des Schrift­stel­lers Dara­ga­ne er­zeugt am En­de neue Bit­ter­nis.

Oder das Auf­ge­schrie­be­ne, die Es­senz des Er­in­nerns (oder was man da­für hält) wird zu ei­ner Be­frei­ung, die zu­gleich auch Aus­la­ge­rung ist. In »Das Schwarz des Som­mers« war Bos­mans »die gan­ze Last und Schwär­ze die­ser letz­ten Jah­re los­ge­wor­den«. Die Poin­te von Mo­dia­nos neue­stem Ro­man, der stel­len­wei­se an den Film Scha­ra­de er­in­nert, fin­det der Le­ser dann buch­stäb­lich auf der letz­ten Sei­te. Und da zeigt sich auch: So ähn­lich die Ro­ma­ne von Pa­trick Mo­dia­no auch schei­nen – sie sind doch stets an­ders. Und dar­in liegt der Ge­nuss. Je­des mal aufs Neue.