Fast 600 Seiten eine Suada ohne Punkt in 21 Kapiteln (plus drei Kapitel »Zitate« aus einem fiktiven Buch aus dem libanesischen Bürgerkrieg). Kapitel, die über 40, 50 und mehr Seiten gehen – bestehend nur aus einem einzigen Satz; eine Bleiwüste, in der sich der Leser zuweilen verirrt, verirren soll, ganz schnell taucht er dort hinein, ...
Hinrich von Haaren: Die ÜberlebtenDrei längere Erzählungen legt der 1964 geborene Hinrich von Haaren in seinem Prosadebut vor. Die Erzählungen sind entgegen dem gängigen Zeitgeschmack nicht miteinander verknüpft und voneinander unabhängig. Und dennoch entsteht am Ende nicht zuletzt durch den Titel »Die Überlebten« eine Klammer, die die so scheinbar disparaten Geschichten unter einem gemeinsamen Leitmotiv stellt.
»Auf einem dunklen See« spielt unter einer Touristengruppe in Ägypten. Die Protagonisten, mehrheitlich aus angelsächsischen Ländern stammend, werden fragmentarisch skizziert. Zunächst erscheint alles harmlos: Da stürzen sich einige Westler in den ganz normalen Ägypten-Rundreise-Wahnsinn inklusive Fahrt auf halbluxuriösem Schiff auf dem Nil. Plötzlich stirbt eine Reisende und die Gruppe wird nun gezeigt, wie sie zwischen »business as usual«, Exaltiertheit und Trauerbewältigung (Hilfe für den Ehemann) laviert.
Andreas Maier: Das ZimmerSpätestens in den Kolumnen, die Andreas Maier für »Volltext« geschrieben hatte und die im Frühjahr gesammelt unter dem Titel »Onkel J.« erschienen waren, konnte man den »Heimatdichter« Maier in der Tradition eines Hermann Lenz, Peter Kurzeck oder Arnold Stadler entdecken. Maier als der Dichter der Wetterau, die inzwischen nur noch aus Ortsumgehungsstraßen zu bestehen scheint (dagegen hatte offensichtlich nie jemand demonstriert und auch das Fällen der Bäume erregte keine Gemüter). Dabei war der elegische Abgesang auf die Wetterau (und den Wichsbusch!), pointiert und fast ein bisschen polemisch vorgebracht, auch ein Ausdruck der Trauer um die Unmöglichkeit, wie jener Onkel J. zu altern. Das waren Protokolle der verpassten Gelegenheiten, Artikulationen eines vorenthaltenen Weiter-Lebens. Aber es blitzte auch ein virulentes Gefühl der Ausweglosigkeit auf, das sich dann zuweilen in eine Thomas-Bernhard-ähnliche Ironie stürzte, um die drohende Melancholie zu bannen. Natürlich konnte Maier in der kleinen Kolumnenform keinen großen epischen Entwurf vornehmen. In »Das Zimmer« holt er das nun auf verblüffende Weise nach. Den in einem solchen Projekt lauernden Bedrohungen (sentimentale Hingabe oder beißender Zynismus) erliegt Maier glücklicherweise nicht.
Roberto Bolaño: LumpenromanEine Ich-Erzählerin namens Bianca, inzwischen verheiratet und Mutter, erzählt von ihrer Vergangenheit als »Kriminelle«. Sie erzählt, wie sie nach dem tödlichen Unfall ihrer Eltern zusammen mit ihrem Bruder in Rom als Minderjährige weiterlebt. Sie erzählt, wie sie sich mit ihren kleinen Einkommen (sie ist in einem Friseurladen beschäftigt und wäscht dort vorzugsweise den Kunden den Kopf, er macht in einem Fitnessstudio sauber) überleben. Sie schaut Quiz-Shows im Fernsehen, ihr Bruder leiht Pornofilme aus der Videothek aus und verehrt eine Darstellerin. Sie erzählt, wie der Bruder eines Tages zwei Freunde mitbringt (die sie, mangels Namen, als Bologneser und Libyer bezeichnet). Sie erzählt, wie es nie mehr dunkel wird um sie herum, was sie nachts kaum schlafen lässt. Sie erzählt, wie sie, die Jungfrau, sich von den Freunden des Bruders beschlafen lässt und darauf achtet, nicht zu wissen, mit wem sie es gerade treibt. Sie erzählt, wie die drei Jungs mit ihren (vermutlich dubiosen) »Geschäften« scheitern und sie schließlich an den ehemaligen Filmstar und Bodybuilder Maciste verkuppeln. Von nun an besucht Bianca diesen Mann zweimal die Woche. Sie schlafen miteinander und er bezahlt dafür. Er ist blind. Und er soll einen Tresor haben. Diesen Tresor gilt es zu finden. Die vier wollen ihn, den blinden Mann, ausrauben. Aber der Tresor bleibt unauffindbar, Bianca gesteht dem dicken Maciste ihre Liebe, pflegt ihn mit Kamillentee, als er krank wird und verabschiedet sich kurz darauf von ihm. Gleichzeitig setzt sie die beiden Freunde des Bruders vor die Tür. Und Bianca kann wieder die Dunkelheit wahrnehmen.
Olivier Sillig: Schule der GauklerSo ziehen der Gaukler und Apuleïde recht und schlecht über Land, von Kirchweihen zu kleinen Märkten, von Städten zu Dörfern, einen Monat nach dem anderen, durch eine Landschaft nach der anderen, die Tage werden kürzer, dann im Ameisenschritt wieder länger, und die Temperatur nimmt ab, Raureif, Platzregen, Dauerregen, Graupelschauer und Schnee. Sie fahren kreuz und quer, ohne Ziel, durch Kastilien, Aragon und dann durch das Königsreich Frankreich. Unruhen kriegerischer Banden, die ständig bewaffnet und wieder entwaffnet werden… […] Punktuelle, unerwartete, unvorhersehbare, unumgängliche Raubzüge, Plünderungen, Schrecken. Es ist Februar 1493. Der Gaukler Hardouin wurde von seinem langjährigen Assistenten Juan verlassen. Apuleïde ist ein in Alkohol konservierter Albino-Hermaphrodit, mit dem Hardouin herumreist und den er für Geld auf Jahrmärkten und Dorffesten präsentiert. Entschlossen, nie mehr einen Assistenten zu nehmen, kommt Hardouin in einer Februarnacht, einer eisigen Mondnacht, in eine zerstörte Scheune, die er verlassen wähnt. Dort liegen vierundzwanzig Kinder im Sterben.
Dann fällt ihm noch der Mondtag ein. Fast richtig sagte die Ärztin, Frau Doktor Wolkenbauer. Nein, er kennt keinen dieser Tage. Er lernt sie auswendig. Er hat Lücken im Kopf. Namenslücken, Freundeslücken, Familienlücken, Berufslücken, Landschaftslücken, Erinnerungslücken, Wortlücken. Er weiß nur, dass er Ministerpräsident ist. Der Ministerpräsident bekommt von der Ärztin ein Notizheft. Hier soll er hineinschreiben, was er nicht versteht. Er schreibt auch seinen Namen hinein: Claus Urspring. Schreiben kann er immerhin. Und er weiß, dass der Mann, der immer zu Besuch kommt, Julius März heißt.
Der Ministerpräsident hatte einen Autounfall und lag mehrere Tage im Koma. Er ist nun in einer Klinik. Julius März besucht ihn regelmässig, denn schließlich ist Wahlkampf. Urspring, so will es die Ärztin, soll sich erinnern, an die Kindheit, an schöne Erlebnisse. März will, dass er sich an die Landesverfassung und die Kompetenzen der Staatssekretäre erinnert. Er paukt das mit ihm. Aber irgendwie interessiert es Urspring nicht.
Den Zeitpunkt, von dem an Kriminalromane nur noch am Rande mit der eigentlichen Aufklärung des Verbrechens zu tun haben, kann man ganz gut auf Mitte der 1970er Jahre taxieren. Zwar hatten angelsächsische Autoren zuvor längst den kauzigen Privatdetektiv entdeckt und auch Persönliches des Fall-Lösers in die Geschichten eingewoben. Und auch George Simenons Figur Maigret war mehr als nur ein Kommissar, der Indizien aufspürte, Alibis überprüfte und Zeugenvernehmungen durchführte. Ebenso wurde die Psychologie des Täters immer weiter ausgeleuchtet und als Motiv reichte nicht mehr nur die übliche Testamentsklausel oder der unverzeihbare Seitensprung des Ehepartners. Aber den Anspruch, mit der Erzählung von Kriminalfällen auch, ja: vor allem gesellschaftspolitische und soziale Zustände zu reflektieren, wurde erstmals von den beiden schwedischen Autoren Maj Sjöwall und Per Wahlöö eingelöst. Zehn Romane entstanden vom Autorenpaar zwischen 1965 und 1975. Den Dekalog nannte man später »Roman über ein Verbrechen« – die Betonung liegt auf »ein«. Nicht nur, dass die Protagonisten der Stockholmer Mordkommission, hier vor allem Kriminalassistent bzw. Kommissar Martin Beck, sein engster Vertrauter Kollberg oder der gelegentlich cholerisch-unkonventionelle Gunvald Larsson nebst ihrem Privatleben im Mittelpunkt standen. Desweiteren wurden die Arbeitsbedingungen und Ränkespiele innerhalb der Polizeiadministration und die oktroyierten politischen Rücksichtnahmen ebenso thematisiert wie die gesellschaftspolitischen und sozialen Zustände des Landes selber, die sich in der Skurrilität und Brutalität der Verbrechen spiegeln sollten.
Sabine Peters: FeuerfreundMarie ist 26, Praktikantin in einem Verlag und begegnet dem Schriftsteller Rupert, 59, im Dezember 1986 zum ersten Mal. Nach dem Treffen gibt es einen zornigen Brief an den Verleger mit einem freundlichen Gruß an die Praktikantin. Man schreibt sich schließlich direkt, fügt den Briefen kleine Pretiosen bei; Steinchen und Federn zum Beispiel. Die beiden werden ein Liebespaar, heiraten und ziehen ins Rheiderland.
Rupert ist ein bekannter Schriftsteller und schreibt Hörspiele. Marie beginnt mit dem Schreiben, veröffentlicht 1990 ihr erstes Buch. Er ist ein politischer Kopf, der mit RAF-Gefangenen korrespondiert und sich als Kommunist bezeichnet. Er hat eine manchmal enervierende Radikalität, schimpft auf den Kleinbürgerdreck anderer (und bei sich selbst) und zieht sich an kleinen Dingen hoch, wie beispielsweise am Trinken von Cola (seiner Frau bringt er sie dann doch vom Kiosk mit).