
Andreas Maier: Das Zimmer

Dann fällt ihm noch der Mondtag ein. Fast richtig sagte die Ärztin, Frau Doktor Wolkenbauer. Nein, er kennt keinen dieser Tage. Er lernt sie auswendig. Er hat Lücken im Kopf. Namenslücken, Freundeslücken, Familienlücken, Berufslücken, Landschaftslücken, Erinnerungslücken, Wortlücken. Er weiß nur, dass er Ministerpräsident ist. Der Ministerpräsident bekommt von der Ärztin ein Notizheft. Hier soll er hineinschreiben, was er nicht versteht. Er schreibt auch seinen Namen hinein: Claus Urspring. Schreiben kann er immerhin. Und er weiß, dass der Mann, der immer zu Besuch kommt, Julius März heißt.
Der Ministerpräsident hatte einen Autounfall und lag mehrere Tage im Koma. Er ist nun in einer Klinik. Julius März besucht ihn regelmässig, denn schließlich ist Wahlkampf. Urspring, so will es die Ärztin, soll sich erinnern, an die Kindheit, an schöne Erlebnisse. März will, dass er sich an die Landesverfassung und die Kompetenzen der Staatssekretäre erinnert. Er paukt das mit ihm. Aber irgendwie interessiert es Urspring nicht.
Den Zeitpunkt, von dem an Kriminalromane nur noch am Rande mit der eigentlichen Aufklärung des Verbrechens zu tun haben, kann man ganz gut auf Mitte der 1970er Jahre taxieren. Zwar hatten angelsächsische Autoren zuvor längst den kauzigen Privatdetektiv entdeckt und auch Persönliches des Fall-Lösers in die Geschichten eingewoben. Und auch George Simenons Figur Maigret war mehr als nur ein Kommissar, der Indizien aufspürte, Alibis überprüfte und Zeugenvernehmungen durchführte. Ebenso wurde die Psychologie des Täters immer weiter ausgeleuchtet und als Motiv reichte nicht mehr nur die übliche Testamentsklausel oder der unverzeihbare Seitensprung des Ehepartners. Aber den Anspruch, mit der Erzählung von Kriminalfällen auch, ja: vor allem gesellschaftspolitische und soziale Zustände zu reflektieren, wurde erstmals von den beiden schwedischen Autoren Maj Sjöwall und Per Wahlöö eingelöst. Zehn Romane entstanden vom Autorenpaar zwischen 1965 und 1975. Den Dekalog nannte man später »Roman über ein Verbrechen« – die Betonung liegt auf »ein«. Nicht nur, dass die Protagonisten der Stockholmer Mordkommission, hier vor allem Kriminalassistent bzw. Kommissar Martin Beck, sein engster Vertrauter Kollberg oder der gelegentlich cholerisch-unkonventionelle Gunvald Larsson nebst ihrem Privatleben im Mittelpunkt standen. Desweiteren wurden die Arbeitsbedingungen und Ränkespiele innerhalb der Polizeiadministration und die oktroyierten politischen Rücksichtnahmen ebenso thematisiert wie die gesellschaftspolitischen und sozialen Zustände des Landes selber, die sich in der Skurrilität und Brutalität der Verbrechen spiegeln sollten.
Rupert ist ein bekannter Schriftsteller und schreibt Hörspiele. Marie beginnt mit dem Schreiben, veröffentlicht 1990 ihr erstes Buch. Er ist ein politischer Kopf, der mit RAF-Gefangenen korrespondiert und sich als Kommunist bezeichnet. Er hat eine manchmal enervierende Radikalität, schimpft auf den Kleinbürgerdreck anderer (und bei sich selbst) und zieht sich an kleinen Dingen hoch, wie beispielsweise am Trinken von Cola (seiner Frau bringt er sie dann doch vom Kiosk mit).
Ein Mann fährt mit dem Nachtzug von Norwegen nach Schweden, um sich dort medizinisch behandeln zu lassen. Offenbar leidet er an einer schweren Krankheit. Im Zug trifft er einen ehemaligen Mitschüler, an den er sich kaum erinnert. Sie erzählen und trinken ein Bier, als der Mann ans Telefon gerufen wird – seine Frau ist besorgt, sie hat Angst um die Zukunft, aber er kann sie beruhigen. Als er zum Speisewagen zurückkommt, ist dieser verwaist. Und auch in seinem Abteil ist der ehemalige Mitschüler nicht anzutreffen.
In einer anderen Geschichte arbeitet ein Ich-Erzähler als Helfer des Bestatters. Frau Seland, die er von früher kannte, ist gestorben. Durch eine Ungeschicklichkeit fällt ihm die Leiche hin. Eine klumpige, stinkende Flüssigkeit tritt aus und die vorher mühsam angezogene Leichenbluse ist verschmutzt.
Robert Kornblum, halbintellektuelle[r], alternde[r] Penner, (vulgo: arbeitsloser Studienabbrecher, 35 Jahre), Dachdecker und Gelegenheitsbauarbeiter, wacht nach durchzechter Geburtstagsfeier zu Hause auf. Einmal im Jahr erlaubt er sich zu trinken, ansonsten ist er seit drei Jahren trocken. Er hat einen Filmriss und weiß nicht mehr, was letzte Nacht passiert ist. Zum Glück erweisen sich die Markierungen auf seiner Stirn nicht als Tattoos, sondern abwaschbar. Aber das urinieren fällt ihm schwer und er wirft einen Blick nach unten und sieht das Kondom. Was war geschehen?
Kornblum rekapituliert mühsam die letzte Nacht und dem Leser eröffnet sich eine gänzlich fremde Welt. Zunächst denkt man an eine Art Rotlichtidylle à la »Der König von St. Pauli«, aber dann merkt man, dass das Ganze in Berlin spielt und mit Prostitution allenfalls am Rande zu tun hat. Die große Familie trifft sich bei Hussi, dem serbischen Wirt (mit kroatischer Frau). Da ist Ronny, noch ein Quoten-Trockene[r].