Ro­ber­to Bo­la­ño: Lum­pen­ro­man

Roberto Bolaño: Lumpenroman

Ro­ber­to Bo­la­ño: Lum­pen­ro­man

Ei­ne Ich-Er­zäh­le­rin na­mens Bi­an­ca, in­zwi­schen ver­hei­ra­tet und Mut­ter, er­zählt von ih­rer Ver­gan­gen­heit als »Kri­mi­nel­le«. Sie er­zählt, wie sie nach dem töd­li­chen Un­fall ih­rer El­tern zu­sam­men mit ih­rem Bru­der in Rom als Min­der­jäh­ri­ge wei­ter­lebt. Sie er­zählt, wie sie sich mit ih­ren klei­nen Ein­kom­men (sie ist in ei­nem Fri­seur­la­den be­schäf­tigt und wäscht dort vor­zugs­wei­se den Kun­den den Kopf, er macht in ei­nem Fit­ness­stu­dio sau­ber) über­le­ben. Sie schaut Quiz-Shows im Fern­se­hen, ihr Bru­der leiht Por­no­fil­me aus der Vi­deo­thek aus und ver­ehrt ei­ne Dar­stel­le­rin. Sie er­zählt, wie der Bru­der ei­nes Ta­ges zwei Freun­de mit­bringt (die sie, man­gels Na­men, als Bo­lo­gne­ser und Li­by­er be­zeich­net). Sie er­zählt, wie es nie mehr dun­kel wird um sie her­um, was sie nachts kaum schla­fen lässt. Sie er­zählt, wie sie, die Jung­frau, sich von den Freun­den des Bru­ders be­schla­fen lässt und dar­auf ach­tet, nicht zu wis­sen, mit wem sie es ge­ra­de treibt. Sie er­zählt, wie die drei Jungs mit ih­ren (ver­mut­lich du­bio­sen) »Ge­schäf­ten« schei­tern und sie schließ­lich an den ehe­ma­li­gen Film­star und Bo­dy­buil­der Macis­te ver­kup­peln. Von nun an be­sucht Bi­an­ca die­sen Mann zwei­mal die Wo­che. Sie schla­fen mit­ein­an­der und er be­zahlt da­für. Er ist blind. Und er soll ei­nen Tre­sor ha­ben. Die­sen Tre­sor gilt es zu fin­den. Die vier wol­len ihn, den blin­den Mann, aus­rau­ben. Aber der Tre­sor bleibt un­auf­find­bar, Bi­an­ca ge­steht dem dicken Macis­te ih­re Lie­be, pflegt ihn mit Ka­mil­len­tee, als er krank wird und ver­ab­schie­det sich kurz dar­auf von ihm. Gleich­zei­tig setzt sie die bei­den Freun­de des Bru­ders vor die Tür. Und Bi­an­ca kann wie­der die Dun­kel­heit wahr­neh­men.


Das ist im We­sent­li­chen der In­halt die­ses »Lum­pen­ro­mans«. Wenn dies ein biss­chen dürf­tig er­scheint – es ist dürf­tig. Es ist nicht nur ein dürf­ti­ger In­halt, es ist auch dürf­tig er­zählt. Bi­an­ca hält sich sel­ber nicht für in­tel­li­gent (sie füllt ein­mal ei­nen Fra­ge­bo­gen ei­ner Frau­en­zeit­schrift aus und er­klärt dies dort), was im Er­zähl­ton ge­spie­gelt wird. Sie be­merkt, dass sich in Eu­ro­pa oder Ita­li­en öko­no­misch et­was än­dert, weiss aber nicht was. Aber spä­ter kennt sie die Wor­te »Amne­sie« und »Lo­bo­to­mie« und ver­wen­det sie rich­tig.

Es sind vie­le sol­cher Wi­der­sprü­che in die­sem klei­nen Buch. Der Bru­der ist min­der­jäh­rig, be­kommt aber of­fen­sicht­lich pro­blem­los Por­no­fil­me. Bi­an­ca schaut nur Quiz-Shows, bis sie sich auch al­le mög­li­chen Fil­me be­sorgt, sich dann je­doch eher für die Hül­len in­ter­es­siert als sie an­zu­schau­en. Ih­re Jung­fräu­lich­keit ver­liert sie wie ne­ben­bei. Im­mer kün­digt Bi­an­ca ihr Hin­ein­rut­schen ins Kri­mi­nel­le an, aber au­ßer, das es ei­nen Plan gibt, er­fährt man nichts. Bi­an­ca zeigt ei­ne wa­che Träg­heit, ist ten­den­zi­ell aber eher pas­siv. Dia­gno­sen des Le­sers wie De­pres­si­on oder psy­chi­sche Stö­rung grei­fen nicht. Man gibt die­ses Su­chen nach Er­klä­run­gen schnell auf und lässt sich von der Gleich­gül­tig­keit der Er­zähl­fi­gur an­stecken.

Es wä­re ein Feh­ler, die Un­stim­mig­kei­ten als Feh­ler des Au­tors zu wer­ten. Das ge­naue Ge­gen­teil ist der Fall. Wie schon im aus­ufern­den Ro­man »2666« be­treibt Ro­ber­to Bo­la­ño ein aus­gie­bi­ges, bis­wei­len hin­ter­li­sti­ges Such­spiel mit Ver­wei­sen, Rück­be­zü­gen und Mo­ti­ven aus Li­te­ra­tur, Thea­ter und Film, die un­ter der eher trä­gen Er­zähl­spra­che der min­der­be­mit­tel­ten Bi­an­ca erst ent­deckt wer­den sol­len. So ist der »Lum­pen­ro­man« ei­ne Art Re­fe­renz-Me­mo­ry. Ein idea­les Buch für ei­ne Par­ty li­te­ra­tur­be­gei­ster­ter Phi­lo­lo­gen, die stun­den­lang Par­al­le­len und Fort­schrei­bun­gen be­rühm­ter (oder we­ni­ger be­rühm­ter) Wer­ke her­aus­de­stil­lie­ren mö­gen. Fast fühlt man sich manch­mal an ei­ne Spiel­show er­in­nert, bei der man auf den Buz­zer drücken soll, wenn man wie­der ei­ne Al­le­go­rie ent­deckt hat, die an Felli­ni, Pa­so­li­ni, Kaf­ka, Beckett, Brecht, Tho­mas Bern­hard oder sonst wem er­in­nert. Die­se »Li­te­ra­tur-Li­te­ra­tur« ist in der klei­nen Form die­ses Bu­ches noch stär­ker prä­sent als im Mo­nu­men­tal­werk »2666«, in dem es im­mer­hin die­ses ver­stö­rend-wuch­ti­ge Ka­pi­tel der Frau­en­mor­de gab.

Es war vor­her­seh­bar, dass »Lum­pen­ro­man« mit gro­ßer An­teil­nah­me be­dacht wird, da die Be­dürf­nis­se der zeit­ge­nös­si­schen Li­te­ra­tur­kri­tik per­fekt er­füllt wer­den. Hin­zu kommt das per­sön­li­che Schick­sal des Au­tors, wel­ches ei­ne idea­le Pro­jek­ti­ons­flä­che bil­det. Man kann sich so herr­lich-wort­ge­wal­tig ei­nem Lob hin­ge­ben (und ne­ben­bei dem »nor­ma­len« Le­ser da­mit sei­ne Un­bil­dung vor­füh­ren). Je­de Nu­an­ce wird auf­ge­peppt, weil sie im Kon­text mit Hö­he­rem ver­or­tet wird. Nichts steht für sich, al­les ist Sym­bol, Me­ta­pher, Bild. Das Buch ist der Pro­to­typ des post­mo­der­nen Ro­mans. Nicht die Er­zäh­lung mit ih­rer ziem­lich be­schei­de­nen Spra­che wird da ge­lobt, son­dern ih­re Deu­tung. So kommt man zu ei­nem Ur­teil wie Adam So­boc­zyn­ski, der hier »schlech­ter­dings al­les Es­sen­ti­el­le der ver­gan­ge­nen Jahr­tau­sen­de« ver­wo­ben sieht. Und Chri­sto­pher Schmidt macht »dun­kel leuch­ten­de, phos­pho­res­zie­ren­de Poe­sie« aus. Das ist jetzt nicht et­wa Lo­ri­ots hei­le Welt, son­dern die »Zeit« bzw. die »Süd­deut­sche Zei­tung«.

Was bleibt ist das herr­li­che Mot­to von An­to­nin Ar­taud, wel­ches dem Ro­man vor­an­ge­stellt ist: »Al­les Ge­schrie­be­ne ist Schwei­ne­rei […] Das gan­ze Li­te­ra­ten­volk ist schwei­nisch, und be­son­ders das­je­ni­ge die­ser Zeit«. Die Schwei­ne­rei hät­te ich ger­ne ge­le­sen. Statt­des­sen wird mir ein ziem­lich klei­nes Fer­kel­chen als Sau ver­kauft.


Er­gän­zung? Ge­gen­re­de! Und hier die Ant­wort von Tho­mas Hum­mitzsch auf die­se, mei­ne Sicht: »Die Ver­mes­sung der mensch­li­chen Ab­grün­de«.

4 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Ver­schwen­det
    Vie­len Dank, wie­der ein­mal, für die kla­ren Wor­te.

    Fast sind die vie­len Wor­te an ei­ne Be­lang­lo­sig­keit, an et­was Auf­ge­bla­se­nes ver­schwen­det; ich hat­te mich ein­fach nur ge­lang­weilt.

    2666 da­ge­gen mag ich nicht so kri­tisch se­hen, im­mer­hin gibt es dort meh­re­re wirk­lich in­ter­es­san­te, viel­schich­ti­ge Fi­gu­ren und sog­haft wir­ken­de Hand­lungs­strän­ge.

  2. Ich hat­te Ih­re Kri­tik nach mei­ner Lek­tü­re ge­le­sen. Da­durch bin ich auf die Lo­bes­hym­nen bei Zeit und SZ auf­merk­sam ge­wor­den. Na­tür­lich ist »2666« ein un­gleich bes­se­res, viel­schich­ti­ge­res Buch. Das Frau­en­mord­ka­pi­tel ist ja wirk­lich sehr sug­ge­stiv. Die Ar­chim­bol­di-Er­zäh­lung dann je­doch voll­kom­men miss­glückt. Aber viel­leicht sehe/sah ich es ja wirk­lich zu kri­tisch.

  3. 2666
    Al­lei­ne die Fi­gu­ren, die Cha­rak­te­re in 2666! Amal­fil­ta­no, Fa­te – das ist doch »Fleisch« (im Ge­gen­satz zu den meist dürf­ti­gen Kno­chen in sei­nen an­de­ren Wer­ken). Und das Ver­bre­chens-Ka­pi­tel ist nicht nur ge­lun­gen sug­ge­stiv, auch strotzt es vor in­ter­es­san­tem, wi­der­sprüch­li­chem Per­so­nal, dass es ei­ne Freu­de ist, zu le­sen..
    Beim Ar­chim­bol­di-Ka­pi­tel ha­be ich dann viel über­blät­tert...

  4. ich war von der lek­tü­re auch ent­täuscht – stern in der fer­ne hat mir sehr viel bes­ser ge­fal­len. vom schö­nen ein­band, dem gu­ten pa­pier und grü­nem schnitt ha­be ich mich dies mal lei­men las­sen.

    beim le­sen ha­be ich oft dar­über nach­ge­dacht, war­um ich quen­tin tar­ran­ti­nos spä­te­re fil­me nicht mehr mag. an die fühl­te ich mich im lum­pen­ro­man er­in­nert.

    auf das drit­te reich bin ich sehr ge­spannt.

    .~.