Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑7/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

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Salzburg, auf dem Mönchsberg. Hier soll vor Jahren ein berühmter Epiker gewohnt haben. © Leopold Federmair
Salz­burg, auf dem Mönchs­berg. Hier soll vor Jah­ren ein be­rühm­ter Epi­ker ge­wohnt ha­ben. © Leo­pold Fe­der­mair

Schluß. Mei­ne ab­ge­bro­che­nen Lek­tü­ren woll­te ich doch un­ter den Tep­pich keh­ren. Bes­ser, du machst mal halt und blickst zu­rück (auf die­sen Rück­blick hier). Die Re­de ist da nur von Er­zähl­li­te­ra­tur, fast al­les Ro­ma­ne. Da­bei ha­be ich doch auch Es­says ge­le­sen, nicht nur von Fo­ster Wal­lace, auch von Ol­ga Mar­ty­n­o­va und Tho­mas Stangl. Mon­tai­gne, den le­se ich so­wie­so im­mer, mei­ne Bi­bel, die es­sais. Auch so­ge­nann­te Sach­li­te­ra­tur, Grund­fra­gen der Ma­schi­nen­ethik zum Bei­spiel, die Na­men von Sach­buch­au­to­ren ver­ges­se ich mitt­ler­wei­le fast aus­nahms­los. Und Ge­dich­te? Ich ge­hö­re zu de­nen, die die Ly­rik für den Kern des Pla­ne­ten Li­te­ra­tur hal­ten: ein hei­ßer, glü­hen­der Kern, der in der Epik manch­mal Erup­tio­nen zei­tigt; em­ble­ma­tisch in Bo­la­ños Wil­den De­tek­ti­ven. Ri­car­do Pi­glia hat so gut wie gar kei­ne Ge­dich­te ge­schrie­ben – nur ei­nes, im Traum:

Soy
el equi­li­bri­sta que
en el ai­re ca­mi­na
de­s­cal­zo
sob­re un alambre
de púas

Ich bin
der Seil­tän­zer der
in der Luft geht
oh­ne Schu­he
auf dem
Sta­chel­draht

– aber 2008 zur Er­öff­nung der Buch­mes­se in Bue­nos Ai­res sag­te er in sei­ner (wie üb­lich im­pro­vi­sier­ten) Re­de, in den ei­li­gen Zei­ten, in de­nen wir heu­te leb­ten, sei die Dich­tung ei­ner der we­ni­gen Räu­me, in de­nen man ei­ne ei­ge­ne Zeit­lich­keit ent­fal­ten kön­ne. Und er wi­der­sprach Ador­nos Ver­dikt, nach Ausch­witz sei das Schrei­ben von Ge­dich­ten bar­ba­risch (die Über­lie­fe­rung trans­por­tiert das Ad­verb »un­mög­lich«, doch Ador­no hat­te »bar­ba­risch« ge­schrie­ben, fast so, als mach­te sich ein Dich­ter al­lein durch sein Da­sein mit der Na­zi-Bar­ba­rei ge­mein): Die ar­gen­ti­ni­sche Er­fah­rung nach »un­se­rem klei­nen Ausch­witz« zei­ge, daß dies sehr wohl mög­lich sei, sag­te Pi­glia und ver­wies auf Ju­an Gel­man1 und Leó­ni­das Lam­bor­ghi­ni. »Wir, die Er­zäh­ler«, fuhr Pi­glia fort, »brin­gen den Dich­tern Hoch­ach­tung ent­ge­gen, weil sie mit Spra­che in Rein­kul­tur ar­bei­ten.«

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  1. Diese Mitteilung verbanne ich in die Fußnote, weil die Fülle des Getanen, Gelesenen, Geschriebenen langsam ein bißchen angeberisch wirkt; andererseits gehört das halt alles zum Bericht, dessen Teile sich wechselseitig erhellen sollen: Kürzlich habe ich zwei Gedichte von Gelman für eine zweisprachige Anthologie spanischer und lateinamerikanischer Dichtung übersetzt, und vor einigen Jahren auch einen ganzen Gedichtband, der bisher – auf deutsch – nicht veröffentlicht ist. Von Gedichten bin ich umgeben, mehr als von Romanen, Erzählungen oder Essays. Mit den Gedichten lebe ich. Freilich, sie lassen mir auch keine Ruhe, treten nicht so zurück in ihre Schlafkammer wie, zum Beispiel, die ersten beiden Bände der Suche nach der verlorenen Zeit. Man liest öfter und genauer, es kommt zu Verschiebungen und Überlagerungen des Sinns. So daß wir beim Übersetzen manchmal zu zweifeln beginnen: Was steht hier: amo oder amor, zwei grundverschiedene Wörter, grundverschiedene Bedeutungen. Herr oder Liebe? Mit Susanne Lange, einer großartigen Übersetzerin, der wir u. a. den neuen deutschen Don Quijote verdanken, tausche ich mich jetzt gerade darüber aus. Übersetzen ist ein genaueres, eindringliches, schöpferisches Lesen. 

Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑6/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

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Pe­ter Hand­ke ge­hört zu den Au­toren, von de­nen ich je­de Neu­erschei­nung frü­her oder spä­ter le­se; manch­mal spä­ter, wenn die Er­schei­nung nicht mehr ganz neu ist, als Nicht-Kri­ti­ker kann ich mir das er­lau­ben. Den Ak­tua­li­täts­streß, die Hy­ste­rie des Pu­bli­zie­rens, den mar­tia­li­schen Kon­kur­renz­kampf um Auf­merk­sam­keit, all das ha­be ich in mei­nem Sayon­a­ra-Es­say be­schrie­ben. Ich le­se im­mer wie­der mal die »User­kom­men­ta­re« in den Fo­ren von Ta­ges­zei­tun­gen und stel­le dann fest, wie sehr ein Teil des Pu­bli­kums die­se Hy­ste­rie ver­in­ner­licht hat: Jour­na­li­sten sind beim klei­nen Mann un­ten durch, wenn sie ein, zwei Stun­den spä­ter als an­de­re Jour­na­li­sten in an­de­ren Me­di­en an ei­nem »Er­eig­nis« dran sind. Als gin­ge es ih­nen nicht um den In­halt ei­ner Nach­richt, son­dern dar­um, er­ster zu sein, der das Ding – meist feh­ler­haft in der On­line-Aus­ga­be – in die Ta­sta­tur klap­pert. Und dar­um geht es dem User auch, die Nach­richt selbst er kaum, nur den Reiz der Groß­buch­sta­ben nimmt er auf. Das In­ter­net, die di­gi­ta­le Ver­füg­bar­keit, po­ten­ziert sol­ches Ver­hal­ten, da je­der je­der­zeit ALLES »ver­glei­chen« kann.

Ge­nau das sind die neur­al­gi­schen Punk­te, an de­nen un­ser­eins Ab­stand und Lang­sam­keit ein­for­dern müß­te (Stif­ter- oder Hand­ke-Lek­tü­re kann Be­reit­wil­li­ge ein we­nig da­für schu­len). Ich konn­te mich nach der spät ge­wor­de­nen Lek­tü­re der Obst­die­bin nicht dar­an hin­dern, doch wie­der mal ei­ne Art Kri­tik zu schrei­ben, als Nicht­kri­ti­ker so­zu­sa­gen. Ge­nau ge­nom­men ist es je­doch ein iro­nisch-dia­lek­ti­scher Es­say ge­wor­den, den man in der Li­te­ra­tur­zeit­schrift ma­nu­skrip­te (Heft 224) nach­le­sen kann – ei­ne In­halts­an­ga­be will ich hier nicht lie­fern. Als Ti­tel hat­te ich mir »Im Wech­sel­bad der Ge­füh­le« ein­fal­len las­sen, und ha­be da­mit zwei Be­deu­tungs­ebe­nen ein­ge­zo­gen: die er­ste be­trifft den Text und sei­ne Mach­art, die zwei­te mei­ne Ge­füh­le bei der Lek­tü­re. Zwei Flie­gen auf ei­nen Schlag so­zu­sa­gen.

Der Sittich der spanischen Übersetzerin dieeses Buchs hat hier seine Spuren hinterlassen © Leopold Federmair
Der Sit­tich der spa­ni­schen Über­set­ze­rin die­ses Bu­ches hat hier sei­ne Spu­ren hin­ter­las­sen © Leo­pold Fe­der­mair

Es kommt beim Le­sen nicht sel­ten vor, daß die Ge­füh­le un­si­cher und wech­sel­haft sind; gu­te, ris­kan­te, her­aus­for­dern­de oder neu­ar­ti­ge Li­te­ra­tur ruft sie eher her­vor als ge­fäl­li­ge, die be­strebt ist, den Le­ser zu »packen«. Das Buch, das ich jetzt, wäh­rend ich die­sen Text ab­schrei­be, le­se, Der Riß der Zeit geht durch mein Herz von Her­tha Pau­li, ein Er­in­ne­rungs­buch an den An­schluß Öster­reichs an Deutsch­land, an Ödön von Hor­vath und Jo­seph Roth, an Flucht und Exil in Pa­ris, ist ge­fäl­lig, span­nend, jung­mäd­chen­haft, gut­ge­launt trotz al­ler Schick­sals­schlä­ge. Ich le­se es gern, wiß­be­gie­rig, mit Zu­nei­gung zu den mei­sten Fi­gu­ren, aber ins Schwan­ken bringt es mei­ne Ge­füh­le und Ur­tei­le nicht.1) Li­te­ra­tur­kri­ti­ker ver­schwei­gen sol­che Ge­füh­le in der Re­gel, sie müs­sen zu ei­ner Be­wer­tung kom­men, drei Ster­ne von fünf, oder doch drei­ein­halb… Bei an­de­ren Au­toren ist der Wech­sel der Le­se­ge­füh­le über die lan­ge Rei­he ih­rer Bü­cher ver­teilt, ei­ni­ge da­von ge­fal­len mir, an­de­re nicht. Bei Ha­ru­ki Mu­ra­ka­mi ist die­se Un­si­cher­heit selbst ein Grund, im­mer wie­der et­was von ihm zu le­sen. Kaf­ka am Strand fand ich sehr gut, ein post­mo­der­ner, viel­schich­ti­ger und trotz­dem leicht­le­bi­ger Mix, pu­ber­tä­re Li­te­ra­tur à la Her­mann Hes­se, mag sein (Mu­ra­ka­mis Held ist der Pu­ber­tät ge­ra­de eben ent­wach­sen); Karl-Mar­kus Gauß, ei­ner der tap­fer­sten und aus­dau­ernd­sten Li­te­ra­tur­kri­ti­ker, hat sich in die­sem Sinn ge­äu­ßert, aber ich ha­be mich bei der Lek­tü­re gut un­ter­hal­ten und Zu­nei­gung zu ein­zel­nen Fi­gu­ren ge­faßt.2 Gut mög­lich, daß Mu­ra­ka­mi sei­ne Fi­gu­ren, auch die Bö­se­wich­te, zu sehr liebt, daß er sie ver­hät­schelt und manch­mal ver­dirbt: ty­pi­scher Fall von amay­a­ka­su, von ka­wai­ga­ru – bei­de Wör­ter ver­wei­sen auf ja­pa­ni­sche Stär­ken, die sich un­merk­lich in Übel ver­wan­delt ha­ben: ka­waii und amae, die klei­nen hüb­schen Din­ge und das Lieb-und-an­ge­paßt-Sein. Die Lek­tü­re von Kaf­ka am Strand hat mir durch­aus Mo­men­te der Er­kennt­nis ge­währt, in de­nen Zu­sam­men­hän­ge auf­ge­gan­gen sind, ja, so­gar et­was wie Er­leuch­tung ahn­bar ge­wor­den ist.

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  1. Von Anfang an hörte ich aus diesem Buch einen bestimmten Ton, der sich bis zum Ende durchzieht: den fast mädchenhaften Ton der guten Laune, der selbstständigen, lebensfrohen jungen. Hertha Pauli hat das Buch im Alter von sechzig Jahren geschrieben, die "Erlebnisse" – sie nennt es tatsächlich "Erlebnisbuch" –, von denen die Rede ist, zeigen sie um 1938/39 im Alter von 31, 33 Jahren, da ist sie wirklich frei und ungebunden, doch als Halbjüdin und österreichische Patriotin auch bedroht, ohne Zukunftsaussichten. Der Widerspruch – Elend und Gefälligkeit – ist in diesem Fall nicht wirklich produktiv, die Erzählung zu linear und einsinnig, um mehr entstehen zu lassen als einen Bericht, den man gern verschlingt, weil man natürlich wissen will, wie die Geschichte einer Flucht ausgeht, und zweitens, weil die Frau so viele interessante Bekannte hatte, die meisten von ihnen Schriftsteller. Hier ein Beispiel für den unbekümmerten Ton. Pauli beschreibt eine Kellnerin in einem Dorf in Südwestfrankreich: "Da ihre Oberlippe zu kurz war, um über die vorstehenden Zähne zu reichen, blieb ihr Mund stets wie fragend offen. Auch Sanftmut und Wehrlosigkeit hatte sie mit einem Kaninchen gemein. So war Paulette die allgemeine Jagdbeute des Ortes, und als sie schließlich ein Kind gebar, war wohl der ganze Burschenstammtisch der Papa." In Zeiten von Me too kaum vorstellbar, daß eine emanzipierte Frau und Anftifaschistin so naiv und spaßhaft über die sexuellen Umtriebe einer Dorfjugend und so "lookistisch" über eine hart arbeitende junge Kellnerin schreibt. Da könnten glatt Rufe nach Zensur und Ächtung laut werden… Lest dieses Buch, das in der Reihe "Die Frau in der Literatur" – 1990, lang ist's her – neu aufgelegt wurde, bloß nicht! Aber nein, Frauensolidarität geht vor, lest es oder kauft es zumindest. Dank Google – danke! – erfahre ich, daß erst vor kurzem ein Roman von Hertha Pauli über ein Mädchen, welches das KZ überlebt hat, erschienen ist, und zwar in einem sogenannten Frauenverlag. Die Geschichte erinnert ein wenig an die von Ariel Magnus' Großmutter. (Inzwischen habe ich sie zu lesen begonnen. Der Riß der Zeit lohnt die Lektüre unbedingt; Jugend nachher, Paulis Nachkriegsroman über die Schicksale eines Mädchens, das das KZ überlebt hat, eher nicht. Der Titel verweist ungeschickt auf Jugend ohne Gott von Ödön von Horvath, den die Autorin in jungen Jahren heiß geliebt hatte. Einiges über diese alles in allem unglückliche Liebe kann man in Der Riß der Zeit erfahren. 

  2. Daß Hesse von den Snobs mit größter Hartnäckigkeit niedergemacht wird, ist eine andere Geschichte. Meine Tochter liest gerade Unterm Rad, das allein ist für mich ein Grund, meinen sicherlich verschmutzten Wertungsfilter wieder einmal zu reinigen. Ich erinnere mich an eine sehr ferne Lektüre von Narziß und Goldmund. Auch dieses Buch hat in meinem Tiefengedächtnis Spuren hinterlassen und erinnert mich immer – besser: für immer – an den unauflösbaren Konflikt mit meinem Bruder. "Erinnert mich", heißt in diesem Fall: beeinflußt meine Art, mit diesem Konflikt umzugehen. Überhaupt kriege ich Lust, das Pubertäre, Unreife in Schutz zu nehmen – und denke auch gleich an einen Vorläufer, Witold Gombrowicz, den Verfechter der Unreife. 

Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑5/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

(← 4/8)

Thomas Stangl in Wien, Altottakring, Café Ritter © Leopold Federmair
Tho­mas Stangl in Wien, Al­tot­ta­kring, Ca­fé Rit­ter © Leo­pold Fe­der­mair

Der Va­ter Do­ra Bru­ders, auch er in Ausch­witz er­mor­det, ist 1899 in Wien ge­bo­ren. Mo­dia­no si­chert auch sei­ne Spu­ren, we­ni­ge, viel war nicht her­aus­zu­brin­gen. Wahr­schein­lich hat­te er in der Leo­pold­stadt ge­lebt, dem Ju­den­vier­tel von Wien. So et­wa, durch­aus wirk­lich­keits­ge­recht, skiz­ziert Mo­dia­no den von der Do­nau, den Pra­ter­au­en und den Ge­lei­sen der Nord­bahn um­grenz­ten Be­zirk. Bei ei­nem Se­mi­nar mit dem Wie­ner Schrift­stel­ler Tho­mas Stangl ha­be ich des­sen Bü­cher, oder ei­ni­ge da­von, als »Do­nau­ro­ma­ne« be­zeich­net, der Aus­druck war mir beim Re­den ein­ge­fal­len. In Ih­re Mu­sik und in Was kommt ist ei­ne Woh­nung am Kar­me­li­ter­markt, der auch bei Mo­dia­no er­wähnt wird, der – ziem­lich stil­le – Mit­tel­punkt, das Kraft- und auch Schwä­che­zen­trum der Er­zäh­lun­gen. Ei­ne Ebe­ne der Hand­lung von Was kommt ist zeit­lich-hi­sto­risch ge­nau be­stimmt, 1937, die Prot­ago­ni­sten sind jun­ge Leu­te im Al­ter Do­ra Bru­ders, als sie im Win­ter 41/42 vom In­ter­nat oder von Zu­hau­se aus­reißt; ein jun­ges Lie­bes­paar bei Stangl, er Ju­de, sie nicht – ein Un­ter­schied, der an­fangs für sie gar kei­ne Rol­le spielt. Auch Stangls Er­zäh­lun­gen ent­fal­ten ei­ne Au­ra des Un­ge­sag­ten, doch ih­re Poe­tik ist der von Mo­dia­no fast trans­ver­sal ent­ge­gen­ge­setzt. Wäh­rend Mo­dia­no Raum läßt, die Sze­nen und Bil­der locker ne­ben­ein­an­der­setzt (wie Fri­do Lam­pe, der 1945 in Ber­lin er­schos­se­ne deut­sche Au­tor, den Mo­dia­no als »Freund, den ich nicht ken­nen­ler­nen durf­te«, in sein Buch auf­nimmt), schafft Stangl durch im­mer wei­ter ge­hen­de Dif­fe­ren­zie­rung der Aspek­te, Per­spek­ti­ven, Vor­stel­lun­gen und Ver­mu­tun­gen Er­zähl­ge­we­be oder –mo­sai­ke (oder bei­des: stoff­li­che Mi­ne­ral­struk­tu­ren, mi­ne­ra­li­sche Stoff­mu­ster) von äu­ßer­ster, schwer zu durch­drin­gen­der Dich­te, in wel­chen der Sinn, die Be­zie­hun­gen, die Iden­ti­tä­ten un­si­cher sind oder wer­den. Ein fran­zö­si­scher Au­tor, der ei­ne ähn­li­che Poe­tik ent­wickelt hat, ist Pierre Mi­chon: Ge­spen­ster, un­greif­ba­re Iden­ti­tä­ten, be­völ­kern sei­ne Bü­cher. Mo­dia­no steht, wenn man sich ei­ne wacke­li­ge Hän­ge­brücke vor­stel­len mag, am an­de­ren En­de, auf der an­de­ren Sei­te. In der Mit­te, über dem rei­ßen­den Fluß, das Ge­spenst. Die Au­toren nä­hern sich von ver­schie­de­nen Sei­ten, aber da ist ei­ne Ge­mein­sam­keit im Schöp­fe­ri­schen, das Nach­zeich­nen oder Er­zeu­gen, das nach­zeich­nen­de Er­zeu­gen und er­zeu­gen­de Nach­zeich­nen von un­si­che­ren Iden­ti­tä­ten. Si­chern oder ver­un­si­chern? Oder bei­des? Den Ab­sturz ris­kie­ren; ver­mei­den.

Brücke: als Me­ta­pher ab­ge­grif­fen, und doch. Das Ge­mein­sa­me, die Mit­te zwi­schen den En­den: Neu­gier für Men­schen, Sor­ge um sie; Ein­füh­lung und Zu­rück­hal­tung; Nä­he und Di­stanz. Die Brücken span­nen sich in uns selbst (im Au­tor, im Le­ser). Vor ei­ni­gen Jah­ren ist mir ein Be­griff zu­ge­flo­gen, Trans­ver­sa­li­tät, ich ha­be dar­aus den Roh­bau ei­ner trans­ver­sa­len Äs­the­tik ge­schaf­fen und hat­te da­bei das Auf­ein­an­der-Be­zie­hen von un­ter­schied­li­chen kul­tu­rel­len Ele­men­ten im Au­ge, das sprach­li­che Hin und Her, auch Über­set­zen ge­nannt, zwi­schen Ufer und Ufer (ei­gent­lich ein Brücken­schla­gen und Her­über­ho­len, oder im Kahn trans­por­tie­ren), ein Kreu­zen von Spra­chen, über­ra­schen­de Be­geg­nung, viel­leicht nur ein An­strei­fen, flüch­ti­ges Be­rüh­ren von Wer­ken, Au­toren, von Or­ten auf dem Glo­bus, von Er­fah­run­gen und auch: von Zei­ten. Für die­se Hal­tung, die­sen Knäu­el von An­sät­zen und Aus­sich­ten ha­be ich den Be­griff usur­piert, ein un­voll­end­ba­res Bau­werk, wie ge­sagt, work in pro­gress: trans­ver­sa­le Äs­the­tik, im wei­te­ren Sinn, schrä­ge Wahr­neh­mungs­kun­de1. Da­bei hat­te ich zu­nächst Leu­te im Au­ge, Au­toren und Künst­ler, Fla­neu­re, Be­trach­ter, ak­tiv Wahr­neh­men­de, ob sie nun ein Werk schaf­fen oder nicht; Leu­te, die die Kul­tur­krei­se wech­seln, ver­bin­den, schnei­den, »hy­bri­di­sie­ren«, um ein Mo­de­wort zu ge­brau­chen, das lang­sam aus der Mo­de zu kom­men scheint. Die mei­sten Men­schen ma­chen heu­te sol­che Er­fah­run­gen, oft un­be­wußt oder pas­siv, je­der ist stän­dig Ein­flüs­sen, Rei­zen, Da­ten aus al­len Rich­tun­gen aus­ge­setzt und muß aus­wäh­len kreu­zen hy­bri­di­sie­ren, so­fern er die Aus­wahl, das Ar­ran­ge­ment etc. nicht ei­ner Ma­schi­ne (ei­nem »Al­go­rith­mus«) über­läßt, und das tun lei­der die mei­sten.

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  1. Es würde mir gefallen, hier eine Parallele – oder Transversale – zum englischen Wort und der entsprechenden Vorstellung von queer zu sehen, aber das ideologische Fundament, die akademische Strenge und die Kanalisierung des Blicks auf "Gender" sowie auf Homo-, Bi- und Transsexualität der sogenannten Queer Studies nimmt mir jede Lust auf diesen Vergleich. Das Wort scheint sich übrigens aus dem Deutschen (von "quer") in den englischen Sprachschatz geschwindelt zu haben: quer, abweichend, seltsam, ungewöhnlich 

Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑4/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

(← 3/8)

No birth no death! (Arashiyama) © Leopold Federmair
No birth no de­ath! (Aras­hi­ya­ma) © Leo­pold Fe­der­mair

Ich weiß nicht, ob ich mich freu­en soll über die neue Lang­sam­keit, zu der ich im wirk­li­chen Le­ben seit ei­ni­gen Mo­na­ten ge­zwun­gen bin, oder ob ich wü­tend sein soll über mei­nen Kör­per, der bei dem manch­mal doch ge­wünsch­ten Tem­po nicht mit­macht. Be­son­ders bei Stei­gun­gen, und noch mehr, wenn Trep­pen zu über­win­den sind. Im­mer­hin, ich ha­be es bis hier­her ge­schafft, ein klei­ner Auf­stieg zu den An­hö­hen über dem Tal von Aras­hi­ya­ma, wo tief un­ten der grü­ne Fluß fließt und sich sel­ten ein Tou­rist blicken läßt. Den be­rühm­ten Bam­bus­hain auf der an­de­ren Sei­te ha­be ich ge­mie­den – sol­len sie sich dort drän­gen. Die­ser Hain mit sei­nen ho­hen und schlan­ken, zum Spitz­bo­gen zu­sam­men­lau­fen­den Bäu­men ist schön, aber viel zu klein für sol­che Men­schen­mas­sen: die mil­lio­nen­fach ver­brei­te­ten Fo­tos ver­ra­ten das Miß­ver­hält­nis nicht. Hier oben bin ich vor ei­nem Jahr ge­we­sen, am 2. Jän­ner, es war ge­nau­so warm wie heu­te, gu­tes Schreib­wet­ter, und ha­be Faul­k­ner ge­le­sen, ich sag­te es schon. Da­mals bin ich noch ein gu­tes Stück wei­ter berg­auf­wärts ge­lau­fen, aber nach­dem ich mehr­mals Wild­schwei­ne in mei­ner Nä­he grun­zen hör­te, mach­te ich kehrt. Die Ge­gend hier spielt in Ju­ni­chi­ro Ta­ni­zakis Ro­man Sa­sa­mey­u­ki ei­ne Rol­le, Die Schwe­stern Ma­ki­o­ka (die deut­sche Über­set­zung ist nicht gut und schon lan­ge ver­grif­fen); der schön klin­gen­de ja­pa­ni­sche Ti­tel be­deu­tet »leich­ter Schnee­fall« (den es im Win­ter in Kyo­to manch­mal gibt). Die Fa­mi­lie Ma­ki­o­ka, vier Schwe­stern, glau­be ich mich zu er­in­nern, ver­bringt ei­nen Sonn­tag bei der Kirsch­blü­ten­schau, mit Fla­nie­ren und Spei­sen und Trin­ken und Sich-der-Welt-und-des-Le­bens-Er­freu­en. Un­ten bei der lan­gen Brücke, wo der Fluß ziem­lich in die Brei­te geht und viel wei­ßes Ge­röll in sei­nem Bett zu se­hen ist. Ta­ni­zaki ha­be ich – ne­ben Mishi­ma – bei mei­ner Auf­zäh­lung der Au­toren, die den Wunsch in mir weck­ten, al­les von ih­nen zu le­sen, ver­ges­sen. Un­er­füll­ba­rer Wunsch; zwar ha­be ich die zwei­bän­di­ge fran­zö­si­sche Aus­ga­be sei­ner Wer­ke in mei­nem Re­gal ste­hen, die viel mehr ent­hält als das, was auf deutsch von Ta­ni­zaki vor­liegt, aber im­mer noch viel we­ni­ger als das, was er in ei­nem lan­gen Schrei­ber­le­ben ge­schaf­fen hat. Um die Wahr­heit zu sa­gen, ich ha­be nicht ein­mal die Plé­ia­de-Aus­ga­be zur Gän­ze ge­schafft; man kann nicht al­les be­wäl­ti­gen, ist mehr und mehr zum Aus­wäh­len ge­zwun­gen. Der Blick auf Ta­ni­zakis Werk ist im deut­schen Sprach­raum durch den Er­folg sei­nes schma­len Es­says Lob des Schat­tens ver­stellt, der im­mer wie­der zi­tiert wird von Leu­ten, die zei­gen wol­len, daß sie die »Es­senz der ty­pisch ja­pa­ni­schen Äs­the­tik« (oder so) ver­stan­den ha­ben.

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Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑3/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

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War­um ei­gent­lich ha­be ich in mei­ner neu­en, freie­ren Epo­che als Le­ser be­gon­nen, mich Faul­k­ner an­zu­nä­hern? Ich kann kaum sa­gen, daß ich ihn »wie­der­le­se«, weil ich ihn zwar seit mei­nen zwan­zi­ger Jah­ren hoch­hal­te, d. h. seit den Jah­ren um 1980, als er ei­ni­ger­ma­ßen aus der Mo­de ge­kom­men war, er mir aber von Gerd-Pe­ter Eig­ner ans Herz ge­legt wur­de, der sich zwan­zig Jah­re frü­her li­te­ra­risch ge­bil­det (»for­miert«) hat­te, als Faul­k­ner, der No­bel­preis lag ein knap­pes Jahr­zehnt zu­rück, noch in Mo­de war. So geht der Sta­fet­ten­stab über die Ge­ne­ra­tio­nen. Wirk­lich ge­le­sen ha­be ich Faul­k­ner da­mals aber nicht, nur ei­ne al­te, au­ßen hell­blaue Ta­schen­buch­aus­ga­be von Ab­sa­lom! Ab­sa­lom! ge­kauft und oft ein­mal auf­ge­blät­tert, die er­ste Über­set­zung ins Deut­sche, die, glau­be ich, in den drei­ßi­ger Jah­ren an­ge­fer­tigt wor­den war. Spä­ter ist mir der Ein­fluß Faul­k­ners auf den ganz frü­hen Hand­ke auf­ge­fal­len, und wie­der spä­ter ha­be ich ge­merkt, wie stark der nord­ame­ri­ka­ni­sche Süd­staa­ten­au­tor auf die Ro­man­li­te­ra­tur La­tein­ame­ri­kas wirk­te, von Ju­an Car­los Onet­ti über Gar­cía Már­quez und Var­gas Llosa bis hin zu Ri­car­do Pi­glia. Es gibt tat­säch­lich so et­was wie ei­ne ame­ri­ka­ni­sche Li­te­ra­tur, Nor­den und Sü­den um­fas­send, und zwar jen­seits ideo­lo­gi­scher Kon­zep­tio­nen, wie sie Pa­blo Ne­ru­da ver­trat, zu er­schlie­ßen al­lein aus der Li­te­ra­tur selbst, aus den Tex­ten, Per­spek­tiv­set­zun­gen, Wahr­neh­mungs­wei­sen, Er­zähl­for­men. Ei­nen der­art ein­fluß­rei­chen Au­tor woll­te ich nun doch ein­mal in al­ler Frei­heit, oh­ne kon­tex­tu­el­le Zwän­ge, ken­nen­ler­nen. Die Qua­li­tät li­te­ra­ri­scher Wer­ke läßt sich nicht aus ih­rem Pu­bli­kums­er­folg mut­ma­ßen, eher schon aus der In­ten­si­tät und – even­tu­ell – Ex­ten­si­tät, mit der sie von nach­fol­gen­den Au­toren auf­ge­nom­men wur­den. »Ecri­vain pour ecri­vains«, für mich be­deu­tet die­se un­ter­schied­lich ge­brauch­te, oft pe­jo­ra­ti­ve Cha­rak­te­ri­sie­rung kei­ne Ab­wer­tung, im Ge­gen­teil. Ich ha­be so­gar, der Na­me des Ver­fas­sers ist mir ent­fal­len, ei­ne Bio­gra­phie über Faul­k­ner ge­le­sen1; »so­gar« ist viel­leicht das fal­sche Wort, weil ich Schrift­stel­ler­bio­gra­phien mit größ­ter Neu­gier zu le­sen pfle­ge; ja, ich muß so­gar ge­ste­hen – »so­gar« ist hier am Platz –, daß mir die Bio­gra­phie fast mehr ge­sagt hat, mich mehr ein­ge­nom­men hat für die­sen Ro­man­cier, der lan­ge sei­nen Weg nicht und noch län­ger kei­nen Er­folg fand, als die ein­zel­nen Ro­ma­ne und Er­zäh­lun­gen (aus­ge­nom­men viel­leicht Als ich im Ster­ben lag).

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  1. Stephen B. Oates, inzwischen habe ich nachgesehen. 

Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑2/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

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Ich könn­te die »Neu­erschei­nun­gen« und die Na­men ih­rer Ver­fas­ser er­wäh­nen, die ich in den letz­ten Jah­ren ge­le­sen ha­be, weil sie mir mehr oder min­der zu­fäl­lig zwi­schen die Hän­de ge­kom­men sind, und die ich wi­der­wil­lig zu En­de ge­le­sen oder vor­zei­tig weg­ge­legt ha­be, aber ich wer­de es nicht tun. Vie­len die­ser Au­toren kann man die Ver­öf­fent­li­chung nach­se­hen, viel­leicht al­len, auch mir selbst. So ein­ge­spannt in den Be­trieb und/oder in das ei­ge­ne Werk (wenn man sich ein­span­nen läßt), pro­du­ziert man zu viel. Oder aus an­de­ren Grün­den, so­gar aus in­ne­rer Not­wen­dig­keit, den­noch zu viel. Ich wer­de kei­nen die­ser Na­men nen­nen, au­ßer viel­leicht den ei­ner Au­torin, de­ren Bü­cher ich schät­ze und die fern von wo lebt, von Deutsch­land Bay­ern Öster­reich (wo ich nicht le­be) und die­se No­ti­zen nicht le­sen wird (aber ihr Lek­tor, ihr Ver­le­ger?), Hi­ro­mi Ka­wa­ka­mi, ihr letz­tes Buch in der Über­set­zung der von mir eben­falls sehr ge­schätz­ten Ur­su­la Grä­fe hat­te ich nach mei­nem neu­en Frei­heits­prin­zip in ei­ner klei­nen Buch­hand­lung in Frank­furt am Main ge­kauft und noch vor der Hälf­te des Gan­zen weg­ge­legt, ir­gend­wo im öf­fent­li­chen Raum zu­rück­ge­las­sen, viel­leicht kann wer an­de­rer was da­mit an­fan­gen, ich nicht; viel­mehr war ich ge­nervt von die­ser Art von Leich­tig­keit, Li­te­ra­tur light, Ge­heim­nis­tue­rei, Be­lang­lo­sig­keit, aber egal, ich darf mir das jetzt er­lau­ben, mei­ne Ge­nervt­heit und sie aus­zu­drücken, ich un­ter­lie­ge kei­nen Zwän­gen (mehr), auch Fehl­käu­fe darf ich mir er­lau­ben, die ge­sche­hen bei je­der Art von Pro­duk­ten; al­so kei­ne Na­men, sag­te ich, denn ich will und muß kei­ne Feind­schaf­ten auf mich zie­hen, je­den­falls nicht mut­wil­lig, nicht oh­ne Not­wen­dig­keit. Es gibt Au­toren, die ich als – sei es pri­va­te, sei es öf­fent­li­che – Per­so­nen schät­ze oder schlicht und ein­fach mag, oder die ich re­spek­tie­re, mit de­ren künst­le­ri­schen Er­zeug­nis­sen ich aber nichts an­fan­gen kann. Wie da­mit um­ge­hen? Ei­ne schwie­ri­ge und in­ter­es­san­te Fra­ge, die man, wenn über­haupt, nur von Fall zu Fall wird be­ant­wor­ten kön­nen, und die ei­nen un­wei­ger­lich in Wi­der­sprüch­lich­kei­ten ver­strickt. Auch das Um­ge­kehr­te kommt üb­ri­gens vor, un­an­ge­neh­mer Au­tor, un­gu­te Per­son, groß­ar­ti­ges Werk.

Ich le­se über Do­ra – von Do­ra, möch­te ich sa­gen, wie man von je­man­dem hört und nicht über ihn (»hast du et­was von ihm/ihr ge­hört?«) – in ei­nem Ca­fé na­mens Cas­ca­de (Kas­ka­de, Was­ser­fall), das ich vor fünf­zehn Jah­ren oft be­such­te, als ich hier im Han­kyu-Bahn­hof von Um­eda bald aus‑, bald um­stieg. Ich weiß jetzt, nach all den Jah­ren, viel­leicht bes­ser als da­mals, was mich an dem Ort an­zog, ab­ge­se­hen da­von, daß die Mehl­spei­sen viel­fäl­tig und schmack­haft, nicht zu süß und nicht zu teu­er wa­ren (ei­ne so­ge­nann­te Bak­ery, das Ca­fé ge­hört zu ei­ner Bäcke­rei): die zwei gro­ßen, da­bei de­zen­ten, im­mer sau­be­ren Groß­spie­gel an der ei­nen Wand, wo die Gä­ste ne­ben­ein­an­der an ei­nem lan­gen und ziem­lich brei­ten Tisch sa­ßen, ei­nem Wand­tisch aus mas­si­vem hel­lem Holz, wo ich gut le­sen und schrei­ben konn­te und kann, und zwi­schen­durch, wenn ich den Blick vom Buch oder Heft he­be, das Kom­men und Ge­hen be­trach­ten, das Sit­zen und Sin­nie­ren und Plau­dern, das Aus­wäh­len von Mehl­spei­sen im Hin­ter­grund, Frau­en mit silb­ri­gen Zan­gen und wei­ßen waag­rech­ten Ta­bletts, das Sit­zen und Plau­dern und War­ten und Su­chen von Men­schen, über­wie­gend Frau­en, die mei­sten wohl Haus­frau­en in Shop­ping­pau­se, aber auch von Män­nern, die die Män­ner­welt der Bü­ros satt­hat­ten, Su­chen im Spie­gel, manch­mal nach mir, nach mei­nem Blick, den bei­de dann ab­wen­den, so­bald er ge­fun­den ist, und das Spiel geht wei­ter, die Su­che geht wei­ter. Ich le­se von Do­ra, die auf ei­nem Fo­to, wo sie neun oder zehn Jah­re alt ist, vor ei­nem Vo­gel­kä­fig steht, ei­ner Vo­lie­re ver­mut­lich, de­ren In­halt oder In­sas­sen man nicht aus­ma­chen kann, Vo­gel oder Vö­gel, viel­leicht zwei, man weiß es nicht, weil die Um­ge­bung des Mäd­chens in tie­fem Schat­ten liegt und man Um­ris­se kaum ah­nen kann. Ich he­be die Au­gen vom Buch und be­mer­ke rechts un­ten auf der Spie­gel­flä­che den Kä­fig, die Vo­lie­re, säu­ber­lich auf­ge­klebt, wie schwar­zes Schmie­de­ei­sen, oben kup­pel­för­mig ge­run­det, dar­in ein klei­ner Vo­gel, viel­leicht nur ein Sper­ling, im Schat­ten­riß, si­cher kein Pa­pa­gei, und ei­ne Blu­me, die sich zwi­schen den Stä­ben hin­ein­rankt, um sich mit dem Vo­gel zu ver­ei­nen oder gar – ihn zu be­frei­en. Die­ses Bild hat­te ich auch vor fünf­zehn Jah­ren be­merkt, aber nicht mit der ge­büh­ren­den Auf­merk­sam­keit; jetzt ist es dank mei­ner Lek­tü­re kräf­ti­ger, prä­sen­ter. Und die Lek­tü­re, der Wahr­neh­mungs­mo­ment im Buch, ist durch mei­nen Auf­blick ge­stärkt, weil mir das Ste­hen Do­ras am Rand des Schat­tens und die Ah­nung des­sen, was im Dun­kel liegt, als Me­ta­pher da­für er­schei­nen kann, was ein Buch, ei­ne Er­zäh­lung wie die­se tun kann: für uns, mit uns, für die Ab­we­sen­den, die Be­schwo­re­nen, für sich selbst.

Sky-Building, welches das beste Kino von Osaka beherbergt © Leopold Federmair
Sky-Buil­ding, wel­ches das be­ste Ki­no von Osa­ka be­her­bergt © Leo­pold Fe­der­mair

Ro­ma­ne ent­hal­ten künst­li­che Wel­ten, Fik­ti­on ist Vir­tua­li­tät, nicht an­ders als die Bil­der­flut im In­ter­net oder die Vor­stel­lungs­bil­der im Kopf. Die­se Welt und mei­nen Text, von dem ich nicht weiß, auf wel­cher der bei­den Sei­ten sein Ort ist, ver­las­send ha­be ich mich auf den si­cher­lich rea­len Weg zu ei­nem et­wa fünf­zig Stock­wer­ke auf­ra­gen­den Hoch­haus ge­macht, um dort, nur im drit­ten Stock, ei­nen Film zu se­hen, der wie ei­ne Do­ku­men­ta­ti­on an­ge­legt, aber zwei­fel­los ein so­ge­nann­ter Spiel­film ist, Sor­ry We Missed You von Ken Loach (wo­bei sich gleich die Fra­ge stel­len lie­ße, in­wie­weit Do­ku­men­ta­ti­on mit fil­mi­schen Mit­teln nicht eben­falls Fik­ti­on ist; am En­de ent­hält je­de mensch­li­che Le­bens­äu­ße­rung jen­seits des At­mens und der blo­ßen Be­dürf­nis­be­frie­di­gung we­nig­stens ein Gran Er­fin­dung, Ver­dich­tung, Aus­las­sung, Ne­ga­ti­on, und die Schrift­stel­ler, die Dich­ter sind nichts an­de­res als be­son­ders ge­schul­te oder ta­len­tier­te oder er­fah­re­ne Spe­zia­li­sten der Er­fin­dung). Und als ich das Ki­no ver­ließ, hat­te ich vor, in mei­ne Text­land­schaft zu­rück­zu­keh­ren und dies in ei­nem an­de­ren Ca­fé zu tun, am be­sten oben im drei­ßig­sten Stock des Gran Han­kyu Buil­ding, in luf­ti­ger Hö­he, da kann man, wie schon Nietz­sche mein­te, wirk­lich gut den­ken und schrei­ben, in der Hö­hen­luft. Oben an­ge­kom­men, ist mir die War­te­schlan­ge zu lang, Um­eda und sei­ne Ca­fés quel­len an die­sem letz­ten Sonn­tag des Jah­res über von Shop­pern und Win­dow-Shop­pern, die frü­her oder spä­ter er­mü­den, auch Män­ner­run­den dar­un­ter, die vor dem Jah­res­wech­sel noch ein­mal mit­ein­an­der plau­dern oder eher, ha­be ich den Ein­druck, schrei­en wol­len (of­fen­bar wirkt Kaf­fee auf sie wie Al­ko­hol). Ich kann im Lärm und ge­gen den Lärm recht gut schrei­ben, doch der Kon­sum­tau­mel, die­ser kul­tur­ka­pi­ta­li­sti­sche Nor­mal­zu­stand der Wo­chen­en­den, ist mir dann doch zu­viel.

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Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑1/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

Vor bald vier Jah­ren ha­be ich in die­sem Blog mei­ne Er­klä­run­gen dar­über ver­öf­fent­licht, war­um ich kei­ne Li­te­ra­tur­kri­tik mehr schrei­be. Da­mals be­kam ich un­er­war­tet vie­le Re­ak­tio­nen, von Au­toren, Kri­ti­kern, Le­sern, al­le stimm­ten dem von mir ge­trof­fe­nen Be­fund zu, die mei­sten zeig­ten am En­de ein Schul­ter­zucken: Was soll man denn ma­chen?

Auf die­se Fra­ge weiß ich na­tür­lich auch kei­ne Ant­wort. Viel­leicht kann man wirk­lich nichts tun ge­gen die all­ge­mei­ne Kom­mer­zia­li­sie­rung, Hy­ste­ri­sie­rung, Me­dia­ti­sie­rung, und mög­li­cher­wei­se ist es ge­schei­ter, Un­mög­li­ches erst gar nicht zu ver­su­chen, son­dern an­de­re We­ge – Schleich­we­ge – zu su­chen, um sei­ne Schäf­lein – oder wa­ren es Scherf­lein? – ins Trocke­ne zu brin­gen.

Ein Kol­le­ge, ich ken­ne ihn seit un­se­ren Stu­den­ten­ta­gen und schät­ze ihn als ge­wis­sen­haf­ten Le­ser, der seit Jahr­zehn­ten die Ge­gen­warts­li­te­ra­tur mit sei­nen Ana­ly­sen und Kom­men­ta­ren be­glei­tet, be­stand ein we­nig zer­knirscht und zu­gleich trot­zig dar­auf, wei­ter­zu­ma­chen: Er für sei­nen Teil wer­de nicht auf­hö­ren, Li­te­ra­tur­kri­tik zu schrei­ben. Zum Glück für uns, Au­toren wie Le­ser, fü­ge ich hin­zu. Ich woll­te mit mei­nem Text nicht sa­gen, es sei ge­ne­rell sinn­los ge­wor­den, das zu tun, und fin­de es eh­ren­wert, ge­gen Wind­müh­len zu kämp­fen und Stei­ne den Berg hin­auf­zu­rol­len. Ich tue es selbst, Stei­ne berg­auf, al­ler­dings seit vier Jah­ren nicht mehr auf die­sem Ge­biet, dem li­te­ra­tur­kri­ti­schen, des­sen Her­vor­brin­gun­gen ih­rer­seits li­te­ra­ri­sche Qua­li­tät ha­ben kön­nen. Für mei­nen Rück­zug ha­be ich auch per­sön­li­che Grün­de (die ich da­mals hint­an­hielt); nicht zu­letzt den, daß mir spät, aber doch, auf­ge­gan­gen ist, daß all­zu­viel kri­ti­sches Schrei­ben die ei­ge­ne Au­tor­schaft be­hin­dern kann. Ri­car­do Pi­glia, den ich in den ver­gan­ge­nen Jah­ren viel ge­le­sen ha­be, be­son­ders die Ta­ge­bü­cher des Emi­lio Ren­zi, die kurz vor und nach sei­nem Tod in Spa­ni­en er­schie­nen sind, aber auch die Ro­ma­ne, von de­nen ich die mei­sten schon kann­te – in die­sem Be­richt hier möch­te ich u. a. mit­tei­len, was, war­um und wie ich in die­ser »neu­en Zeit« ge­le­sen ha­be –, Ri­car­do Pi­glia al­so äu­ßer­te vor lan­ger Zeit, tief im 20. Jahr­hun­dert, Au­toren wür­den und soll­ten nicht sy­ste­ma­tisch, plan­mä­ßig, wie Aka­de­mi­ker le­sen, son­dern vom Zu­fall ge­lei­tet, ih­rer spon­ta­nen, wech­seln­den Ein­ge­bung und Neu­gier fol­gend.

Wie al­le Men­schen, die sich die Li­te­ra­tur zur Ach­se ih­res Le­bens er­wählt ha­ben, le­se ich mei­stens meh­re­re Bü­cher gleich­zei­tig, in un­ter­schied­li­chem Tem­po und Rhyth­mus und mit un­ter­schied­li­chem En­ga­ge­ment, man­che nicht bis zum En­de – auch ei­ne Än­de­rung, seit ich kei­ne Li­te­ra­tur­kri­tik mehr schrei­be: Ich füh­le mich nicht mehr, ei­ner ne­bu­lo­sen Ge­rech­tig­keit hal­ber, ver­pflich­tet, le­send ab­zu­war­ten, ob ich dem Buch nicht doch noch et­was ab­ge­win­nen kann. Der­zeit al­so Pa­ve­se, Mo­dia­no und viel­leicht, falls ich zu ihm zu­rück­fin­de, Faul­k­ner. Mo­dia­no ha­be ich heu­te wie­der auf­ge­nom­men, ich ha­be ei­nes sei­ner eher schma­len Bü­cher ins eher leich­te Ge­päck für die Rei­se nach Osa­ka und den Auf­ent­halt dort ge­steckt, weil ich et­was Ver­gnüg­li­ches da­bei­ha­ben woll­te; et­was, das mein Herz er­freut. Mag selt­sam klin­gen bei ei­nem Ro­man, der mit ei­ner Ver­miß­ten­an­zei­ge in Pa­ris En­de 1941 be­ginnt, und der Na­me der Per­son lau­tet noch da­zu Do­ra Bru­der. Ich le­se die­ses Buch im Ori­gi­nal, auch dies für mich ein Ver­gnü­gen, nicht bei al­len fran­zö­si­schen Bü­chern, doch im­mer bei Mo­dia­no. Ei­ne mir be­freun­de­te spa­ni­sche Über­set­ze­rin schreibt mir, sie kön­ne kei­ne li­te­ra­ri­schen Über­set­zun­gen mehr le­sen (kei­ne aus dem Deut­schen oder Eng­li­schen, die­se Ein­schrän­kung un­ter­schlägt sie), sie sei miß­trau­isch ge­gen­über dem Wort­laut, hin­ter­fra­ge ihn, kon­trol­lie­re und kri­ti­sie­re die Über­set­zung. Da wä­re es wohl bes­ser, gleich die Ori­gi­na­le zu le­sen; wo­ge­gen na­tür­lich nichts spricht. Ab und zu hö­re ich ir­gend­ei­nen Snob be­haup­ten, er le­se oh­ne­hin nur in der Ori­gi­nal­spra­che; auf mein Nach­fra­gen stellt sich dann im­mer her­aus, daß die­ser ori­gi­nel­le Le­ser nur in ei­ner, höch­stens zwei Fremd­spra­chen zu le­sen im­stan­de ist (nur bei zwei­spra­chi­gen Ly­rik­aus­ga­ben tut er so, als kön­ne er im­mer al­les »sa­vou­rie­ren«), mei­stens in der eng­li­schen. Der Rest der Welt­li­te­ra­tur soll ihm ver­schlos­sen blei­ben? Das will der ori­gi­nel­le Le­ser dann auch wie­der nicht zu­ge­ben.

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Pe­ter Hand­kes An­ti­fa­schis­mus

Im Ju­li 1989 schrieb Pe­ter Hand­ke ei­ne »Epo­pöe«, ei­ne ganz kur­ze Er­zäh­lung, die am Bahn­hof Per­rache in Ly­on spielt. So wie Hand­ke es ge­braucht, be­deu­tet das ur­sprüng­lich grie­chi­sche Wort »klei­nes Epos« (ob­wohl dies nicht den Aus­künf­ten der Wör­ter­bü­cher ent­spricht). Wir be­geg­nen hier dem Er­zäh­ler in ei­nem Ho­tel­zim­mer und er­fah­ren, was er beim Blick aus dem Fen­ster sieht: ein gro­ßes Gleis­feld, die blas­se Mond­schei­be, Schwal­ben, ei­nen Wohn­block, zu­letzt ei­nen blau­en Fal­ter. We­ni­ge Men­schen, al­le­samt Ei­sen­bah­ner mit Ak­ten­ta­sche auf dem Heim­weg. Nach ei­ner Wei­le fällt dem Er­zäh­ler ein, daß es das Ho­tel Ter­mi­nus ist, in dem er sich ein­ge­mie­tet hat, und er er­in­nert sich, daß Klaus Bar­bie sei­ner­zeit hier sein Un­we­sen ge­trie­ben hat­te. Es war noch nicht so lan­ge her, daß in Ly­on ein Pro­zeß ge­gen den deut­schen Fol­ter­herrn statt­ge­fun­den hat­te, bei dem er we­gen Ver­bre­chen ge­gen die Mensch­lich­keit an­ge­klagt war. Hand­ke hat­te die Un­ta­ten, über die 1987 viel be­rich­tet wor­den war, zwei­fel­los noch frisch im Sinn.

Pe­ter Hand­ke, in Grif­fen ge­bo­ren, Sohn ei­nes deut­schen Wehr­machts­sol­da­ten, ver­brach­te als Klein­kind ei­ni­ge Zeit in Ber­lin und er­leb­te Bom­ben­an­grif­fe auf die Stadt so­wie die Trüm­mer­land­schaft nach dem Krieg. Ei­gent­lich hat­te er so­gar zwei deut­sche Vä­ter; über den Zieh­va­ter, mit dem er in Kärn­ten auf­wuchs, kann man in Wunsch­lo­ses Un­glück ei­ni­ges nach­le­sen (das nicht voll­stän­dig der bio­gra­phi­schen Wirk­lich­keit ent­spricht, wie Mal­te Her­wig in sei­ner Hand­ke-Bio­gra­phie zei­gen konn­te). In sei­ner Ju­gend stell­te sich Hand­ke ge­gen die­sen Va­ter, er war ihm schon früh gei­stig über­le­gen und ver­ach­te­te ihn. Die spä­te­re Be­geg­nung mit dem er­sten, dem leib­li­chen Va­ter, im Ver­such über die Juke­box ge­schil­dert, ver­lief an­ge­spannt, die bei­den konn­ten nichts mit­ein­an­der an­fan­gen. Als Pe­ter dann be­rühmt wur­de – »weltbe­rühmt«, wie er es vor­hat­te, wur­de er et­was spä­ter –, ging er aus Öster­reich nach Deutsch­land, doch schon da­mals lieb­äu­gel­te er mit Pa­ris als Wohn­ort. Erst nach sei­ner sprach­ex­pe­ri­men­tel­len und pop­li­te­ra­ri­schen Pha­se be­gann Hand­ke, sich mit sei­ner slo­we­ni­schen Fa­mi­li­en­ge­schich­te aus­ein­an­der­set­zen. Die­se Wen­dung oder Rück­wen­dung zum Slo­we­ni­schen ist nicht zu­letzt be­dingt durch sein schwie­ri­ges und küh­les Ver­hält­nis, das er zu Deutsch­land hat­te, auch und be­son­ders zur na­hen deut­schen Ver­gan­gen­heit, zum so­ge­nann­ten Drit­ten Reich. Die pro­non­cier­te Ab­leh­nung des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus und die ih­rer­seits iden­ti­täts­bil­den­de Fra­ge nach der Ver­ant­wor­tung der Vä­ter für die Ver­bre­chen teil­te Hand­ke frei­lich mit den mei­sten jun­gen Leu­ten sei­ner Ge­ne­ra­ti­on, sie spielt bei vie­len deut­schen und öster­rei­chi­schen Schrift­stel­lern ei­ne wich­ti­ge Rol­le; bei Hand­ke je­doch auf ei­ne ei­gen­tüm­li­che Wei­se, we­ni­ger in po­li­ti­schen State­ments als in ei­ner tief­grei­fen­den li­te­ra­ri­schen Re­ak­ti­on auf die krie­ge­ri­sche Ge­schich­te des 20. Jahr­hun­derts.

Als Hand­ke im Zug sei­ner Wen­de zum Klas­si­schen, zu Goe­the, Cé­zan­ne und Stif­ter, zur ge­las­se­nen Er­for­schung der For­men und schließ­lich zu dem fand, was Scho­pen­hau­er als »rei­ne An­schau­ung« be­zeich­ne­te, stell­te das »Neun­te Land« aus dem slo­we­ni­schen Mär­chen für ihn ei­ne kon­kre­te Uto­pie dar, und es zog ihn wie selbst­ver­ständ­lich nach Sü­den, über die Gren­ze, nach Slo­we­ni­en, das zu Ju­go­sla­wi­en ge­hör­te, ein po­li­ti­sches Ge­bil­de, für das Hand­kes Groß­va­ter bei der Kärnt­ner Ab­stim­mung 1920 op­tiert hat­te. Noch in dem In­ter­view, das Ul­rich Grei­ner un­längst für die ZEIT ge­führt hat, be­tont Hand­ke die­se slo­we­ni­sche Her­kunft: »Ich bin Ju­go­sla­we von mei­ner Mut­ter her und vom Bru­der mei­ner Mut­ter, der in Ma­ri­bor stu­diert hat­te«, und er er­in­nert an die Hal­tung des Groß­va­ters nach dem er­sten Welt­krieg, als das Kö­nig­reich Ju­go­sla­wi­en ge­grün­det wor­den war. Der Weg des jun­gen Filip Ko­bal im Ro­man Die Wie­der­ho­lung (1986), der ihn auf den Spu­ren sei­nes äl­te­ren Bru­ders (der On­kel in Hand­kes Bio­gra­phie) in den slo­we­ni­schen Karst und nach Ma­ri­bor führt, hat in­so­fern sinn­bild­li­che, sinn­stif­ten­de Be­deu­tung. Die ju­go­sla­wi­sche Tra­di­ti­on in der Fa­mi­lie Hand­ke bzw. Si­utz bzw. Sivec reicht al­so weit zu­rück, bis zu den An­fän­gen des in­zwi­schen ver­flos­se­nen Staa­ten­bun­des. Beim jun­gen Schrift­stel­ler Hand­ke ver­bin­det sie sich dann mit ei­ner en­er­gi­schen Kri­tik am Deutsch­tum der er­sten Jahr­hun­dert­hälf­te. Die Deut­schen hat­ten Ju­go­sla­wi­en er­obert, aus Sa­lo­ni­ki hat­ten sie quer durch den Bal­kan Ju­den nach Ausch­witz trans­por­tiert; Hand­kes Be­kennt­nis zu Ju­go­sla­wi­en, das in spä­te­ren Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit Tei­len des deut­schen und fran­zö­si­schen Jour­na­lis­mus in ei­nem Kampf wie von Da­vid ge­gen Go­li­ath auf ei­ne kaum zu mei­stern­de Pro­be ge­stellt wur­de, die­ses Be­kennt­nis ist zu­gleich Aus­druck sei­nes An­ti­fa­schis­mus. Als er 2006 zum Be­gräb­nis von Slo­bo­dan Mi­lo­se­vic ging und dort ei­ne kur­ze, zu­rück­hal­ten­de, de­zi­diert »schwa­che« Re­de hielt, war das für ihn we­ni­ger das Be­gräb­nis ei­ner Per­son als das ei­ner Ära, ei­ner Idee, ei­nes nun­mehr ver­flos­se­nen Ide­als. Aus­ge­hend von der Kriegs­er­fah­rung, die die Ab­leh­nung je­des Mi­li­ta­ris­mus und be­son­ders der Deut­schen Wehr­macht be­wirkt hat­te, die sei­nen idea­li­sier­ten, im Feld ge­fal­le­nen On­kel Gre­gor in den Krieg gewun­gen hat­te, ent­wickel­te er im Zug sei­ner klas­si­schen Wen­de das Kon­zept ei­ner Frie­dens­epik, die, auch wenn sich die Fi­gu­ren, oft­mals Rei­sen­de, weit von der deut­schen Ge­schich­te ent­fer­nen, an­ti­fa­schi­stisch grun­diert bleibt und so et­was wie ei­nen äs­the­ti­schen »Bal­kan« – mit al­len Am­bi­va­len­zen, die die­sem Wort durch die Ge­schich­te sei­nes Ge­brauchs an­haf­ten – zu er­rich­ten trach­te­te.

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