Schluß. Meine abgebrochenen Lektüren wollte ich doch unter den Teppich kehren. Besser, du machst mal halt und blickst zurück (auf diesen Rückblick hier). Die Rede ist da nur von Erzählliteratur, fast alles Romane. Dabei habe ich doch auch Essays gelesen, nicht nur von Foster Wallace, auch von Olga Martynova und Thomas Stangl. Montaigne, den lese ich sowieso immer, meine Bibel, die essais. Auch sogenannte Sachliteratur, Grundfragen der Maschinenethik zum Beispiel, die Namen von Sachbuchautoren vergesse ich mittlerweile fast ausnahmslos. Und Gedichte? Ich gehöre zu denen, die die Lyrik für den Kern des Planeten Literatur halten: ein heißer, glühender Kern, der in der Epik manchmal Eruptionen zeitigt; emblematisch in Bolaños Wilden Detektiven. Ricardo Piglia hat so gut wie gar keine Gedichte geschrieben – nur eines, im Traum:
Soy
el equilibrista que
en el aire camina
descalzo
sobre un alambre
de púas
Ich bin
der Seiltänzer der
in der Luft geht
ohne Schuhe
auf dem
Stacheldraht
– aber 2008 zur Eröffnung der Buchmesse in Buenos Aires sagte er in seiner (wie üblich improvisierten) Rede, in den eiligen Zeiten, in denen wir heute lebten, sei die Dichtung einer der wenigen Räume, in denen man eine eigene Zeitlichkeit entfalten könne. Und er widersprach Adornos Verdikt, nach Auschwitz sei das Schreiben von Gedichten barbarisch (die Überlieferung transportiert das Adverb »unmöglich«, doch Adorno hatte »barbarisch« geschrieben, fast so, als machte sich ein Dichter allein durch sein Dasein mit der Nazi-Barbarei gemein): Die argentinische Erfahrung nach »unserem kleinen Auschwitz« zeige, daß dies sehr wohl möglich sei, sagte Piglia und verwies auf Juan Gelman1 und Leónidas Lamborghini. »Wir, die Erzähler«, fuhr Piglia fort, »bringen den Dichtern Hochachtung entgegen, weil sie mit Sprache in Reinkultur arbeiten.«
Diese Mitteilung verbanne ich in die Fußnote, weil die Fülle des Getanen, Gelesenen, Geschriebenen langsam ein bißchen angeberisch wirkt; andererseits gehört das halt alles zum Bericht, dessen Teile sich wechselseitig erhellen sollen: Kürzlich habe ich zwei Gedichte von Gelman für eine zweisprachige Anthologie spanischer und lateinamerikanischer Dichtung übersetzt, und vor einigen Jahren auch einen ganzen Gedichtband, der bisher – auf deutsch – nicht veröffentlicht ist. Von Gedichten bin ich umgeben, mehr als von Romanen, Erzählungen oder Essays. Mit den Gedichten lebe ich. Freilich, sie lassen mir auch keine Ruhe, treten nicht so zurück in ihre Schlafkammer wie, zum Beispiel, die ersten beiden Bände der Suche nach der verlorenen Zeit. Man liest öfter und genauer, es kommt zu Verschiebungen und Überlagerungen des Sinns. So daß wir beim Übersetzen manchmal zu zweifeln beginnen: Was steht hier: amo oder amor, zwei grundverschiedene Wörter, grundverschiedene Bedeutungen. Herr oder Liebe? Mit Susanne Lange, einer großartigen Übersetzerin, der wir u. a. den neuen deutschen Don Quijote verdanken, tausche ich mich jetzt gerade darüber aus. Übersetzen ist ein genaueres, eindringliches, schöpferisches Lesen. ↩
Peter Handke gehört zu den Autoren, von denen ich jede Neuerscheinung früher oder später lese; manchmal später, wenn die Erscheinung nicht mehr ganz neu ist, als Nicht-Kritiker kann ich mir das erlauben. Den Aktualitätsstreß, die Hysterie des Publizierens, den martialischen Konkurrenzkampf um Aufmerksamkeit, all das habe ich in meinem Sayonara-Essay beschrieben. Ich lese immer wieder mal die »Userkommentare« in den Foren von Tageszeitungen und stelle dann fest, wie sehr ein Teil des Publikums diese Hysterie verinnerlicht hat: Journalisten sind beim kleinen Mann unten durch, wenn sie ein, zwei Stunden später als andere Journalisten in anderen Medien an einem »Ereignis« dran sind. Als ginge es ihnen nicht um den Inhalt einer Nachricht, sondern darum, erster zu sein, der das Ding – meist fehlerhaft in der Online-Ausgabe – in die Tastatur klappert. Und darum geht es dem User auch, die Nachricht selbst er kaum, nur den Reiz der Großbuchstaben nimmt er auf. Das Internet, die digitale Verfügbarkeit, potenziert solches Verhalten, da jeder jederzeit ALLES »vergleichen« kann.
Genau das sind die neuralgischen Punkte, an denen unsereins Abstand und Langsamkeit einfordern müßte (Stifter- oder Handke-Lektüre kann Bereitwillige ein wenig dafür schulen). Ich konnte mich nach der spät gewordenen Lektüre der Obstdiebin nicht daran hindern, doch wieder mal eine Art Kritik zu schreiben, als Nichtkritiker sozusagen. Genau genommen ist es jedoch ein ironisch-dialektischer Essay geworden, den man in der Literaturzeitschrift manuskripte (Heft 224) nachlesen kann – eine Inhaltsangabe will ich hier nicht liefern. Als Titel hatte ich mir »Im Wechselbad der Gefühle« einfallen lassen, und habe damit zwei Bedeutungsebenen eingezogen: die erste betrifft den Text und seine Machart, die zweite meine Gefühle bei der Lektüre. Zwei Fliegen auf einen Schlag sozusagen.
Es kommt beim Lesen nicht selten vor, daß die Gefühle unsicher und wechselhaft sind; gute, riskante, herausfordernde oder neuartige Literatur ruft sie eher hervor als gefällige, die bestrebt ist, den Leser zu »packen«. Das Buch, das ich jetzt, während ich diesen Text abschreibe, lese, Der Riß der Zeit geht durch mein Herz von Hertha Pauli, ein Erinnerungsbuch an den Anschluß Österreichs an Deutschland, an Ödön von Horvath und Joseph Roth, an Flucht und Exil in Paris, ist gefällig, spannend, jungmädchenhaft, gutgelaunt trotz aller Schicksalsschläge. Ich lese es gern, wißbegierig, mit Zuneigung zu den meisten Figuren, aber ins Schwanken bringt es meine Gefühle und Urteile nicht.1) Literaturkritiker verschweigen solche Gefühle in der Regel, sie müssen zu einer Bewertung kommen, drei Sterne von fünf, oder doch dreieinhalb… Bei anderen Autoren ist der Wechsel der Lesegefühle über die lange Reihe ihrer Bücher verteilt, einige davon gefallen mir, andere nicht. Bei Haruki Murakami ist diese Unsicherheit selbst ein Grund, immer wieder etwas von ihm zu lesen. Kafka am Strand fand ich sehr gut, ein postmoderner, vielschichtiger und trotzdem leichtlebiger Mix, pubertäre Literatur à la Hermann Hesse, mag sein (Murakamis Held ist der Pubertät gerade eben entwachsen); Karl-Markus Gauß, einer der tapfersten und ausdauerndsten Literaturkritiker, hat sich in diesem Sinn geäußert, aber ich habe mich bei der Lektüre gut unterhalten und Zuneigung zu einzelnen Figuren gefaßt.2 Gut möglich, daß Murakami seine Figuren, auch die Bösewichte, zu sehr liebt, daß er sie verhätschelt und manchmal verdirbt: typischer Fall von amayakasu, von kawaigaru – beide Wörter verweisen auf japanische Stärken, die sich unmerklich in Übel verwandelt haben: kawaii und amae, die kleinen hübschen Dinge und das Lieb-und-angepaßt-Sein. Die Lektüre von Kafka am Strand hat mir durchaus Momente der Erkenntnis gewährt, in denen Zusammenhänge aufgegangen sind, ja, sogar etwas wie Erleuchtung ahnbar geworden ist.
Von Anfang an hörte ich aus diesem Buch einen bestimmten Ton, der sich bis zum Ende durchzieht: den fast mädchenhaften Ton der guten Laune, der selbstständigen, lebensfrohen jungen. Hertha Pauli hat das Buch im Alter von sechzig Jahren geschrieben, die "Erlebnisse" – sie nennt es tatsächlich "Erlebnisbuch" –, von denen die Rede ist, zeigen sie um 1938/39 im Alter von 31, 33 Jahren, da ist sie wirklich frei und ungebunden, doch als Halbjüdin und österreichische Patriotin auch bedroht, ohne Zukunftsaussichten. Der Widerspruch – Elend und Gefälligkeit – ist in diesem Fall nicht wirklich produktiv, die Erzählung zu linear und einsinnig, um mehr entstehen zu lassen als einen Bericht, den man gern verschlingt, weil man natürlich wissen will, wie die Geschichte einer Flucht ausgeht, und zweitens, weil die Frau so viele interessante Bekannte hatte, die meisten von ihnen Schriftsteller. Hier ein Beispiel für den unbekümmerten Ton. Pauli beschreibt eine Kellnerin in einem Dorf in Südwestfrankreich: "Da ihre Oberlippe zu kurz war, um über die vorstehenden Zähne zu reichen, blieb ihr Mund stets wie fragend offen. Auch Sanftmut und Wehrlosigkeit hatte sie mit einem Kaninchen gemein. So war Paulette die allgemeine Jagdbeute des Ortes, und als sie schließlich ein Kind gebar, war wohl der ganze Burschenstammtisch der Papa." In Zeiten von Me too kaum vorstellbar, daß eine emanzipierte Frau und Anftifaschistin so naiv und spaßhaft über die sexuellen Umtriebe einer Dorfjugend und so "lookistisch" über eine hart arbeitende junge Kellnerin schreibt. Da könnten glatt Rufe nach Zensur und Ächtung laut werden… Lest dieses Buch, das in der Reihe "Die Frau in der Literatur" – 1990, lang ist's her – neu aufgelegt wurde, bloß nicht! Aber nein, Frauensolidarität geht vor, lest es oder kauft es zumindest. Dank Google – danke! – erfahre ich, daß erst vor kurzem ein Roman von Hertha Pauli über ein Mädchen, welches das KZ überlebt hat, erschienen ist, und zwar in einem sogenannten Frauenverlag. Die Geschichte erinnert ein wenig an die von Ariel Magnus' Großmutter. (Inzwischen habe ich sie zu lesen begonnen. Der Riß der Zeit lohnt die Lektüre unbedingt; Jugend nachher, Paulis Nachkriegsroman über die Schicksale eines Mädchens, das das KZ überlebt hat, eher nicht. Der Titel verweist ungeschickt auf Jugend ohne Gott von Ödön von Horvath, den die Autorin in jungen Jahren heiß geliebt hatte. Einiges über diese alles in allem unglückliche Liebe kann man in Der Riß der Zeit erfahren. ↩
Daß Hesse von den Snobs mit größter Hartnäckigkeit niedergemacht wird, ist eine andere Geschichte. Meine Tochter liest gerade Unterm Rad, das allein ist für mich ein Grund, meinen sicherlich verschmutzten Wertungsfilter wieder einmal zu reinigen. Ich erinnere mich an eine sehr ferne Lektüre von Narziß und Goldmund. Auch dieses Buch hat in meinem Tiefengedächtnis Spuren hinterlassen und erinnert mich immer – besser: für immer – an den unauflösbaren Konflikt mit meinem Bruder. "Erinnert mich", heißt in diesem Fall: beeinflußt meine Art, mit diesem Konflikt umzugehen. Überhaupt kriege ich Lust, das Pubertäre, Unreife in Schutz zu nehmen – und denke auch gleich an einen Vorläufer, Witold Gombrowicz, den Verfechter der Unreife. ↩
Der Vater Dora Bruders, auch er in Auschwitz ermordet, ist 1899 in Wien geboren. Modiano sichert auch seine Spuren, wenige, viel war nicht herauszubringen. Wahrscheinlich hatte er in der Leopoldstadt gelebt, dem Judenviertel von Wien. So etwa, durchaus wirklichkeitsgerecht, skizziert Modiano den von der Donau, den Praterauen und den Geleisen der Nordbahn umgrenzten Bezirk. Bei einem Seminar mit dem Wiener Schriftsteller Thomas Stangl habe ich dessen Bücher, oder einige davon, als »Donauromane« bezeichnet, der Ausdruck war mir beim Reden eingefallen. In Ihre Musik und in Was kommt ist eine Wohnung am Karmelitermarkt, der auch bei Modiano erwähnt wird, der – ziemlich stille – Mittelpunkt, das Kraft- und auch Schwächezentrum der Erzählungen. Eine Ebene der Handlung von Was kommt ist zeitlich-historisch genau bestimmt, 1937, die Protagonisten sind junge Leute im Alter Dora Bruders, als sie im Winter 41/42 vom Internat oder von Zuhause ausreißt; ein junges Liebespaar bei Stangl, er Jude, sie nicht – ein Unterschied, der anfangs für sie gar keine Rolle spielt. Auch Stangls Erzählungen entfalten eine Aura des Ungesagten, doch ihre Poetik ist der von Modiano fast transversal entgegengesetzt. Während Modiano Raum läßt, die Szenen und Bilder locker nebeneinandersetzt (wie Frido Lampe, der 1945 in Berlin erschossene deutsche Autor, den Modiano als »Freund, den ich nicht kennenlernen durfte«, in sein Buch aufnimmt), schafft Stangl durch immer weiter gehende Differenzierung der Aspekte, Perspektiven, Vorstellungen und Vermutungen Erzählgewebe oder –mosaike (oder beides: stoffliche Mineralstrukturen, mineralische Stoffmuster) von äußerster, schwer zu durchdringender Dichte, in welchen der Sinn, die Beziehungen, die Identitäten unsicher sind oder werden. Ein französischer Autor, der eine ähnliche Poetik entwickelt hat, ist Pierre Michon: Gespenster, ungreifbare Identitäten, bevölkern seine Bücher. Modiano steht, wenn man sich eine wackelige Hängebrücke vorstellen mag, am anderen Ende, auf der anderen Seite. In der Mitte, über dem reißenden Fluß, das Gespenst. Die Autoren nähern sich von verschiedenen Seiten, aber da ist eine Gemeinsamkeit im Schöpferischen, das Nachzeichnen oder Erzeugen, das nachzeichnende Erzeugen und erzeugende Nachzeichnen von unsicheren Identitäten. Sichern oder verunsichern? Oder beides? Den Absturz riskieren; vermeiden.
Brücke: als Metapher abgegriffen, und doch. Das Gemeinsame, die Mitte zwischen den Enden: Neugier für Menschen, Sorge um sie; Einfühlung und Zurückhaltung; Nähe und Distanz. Die Brücken spannen sich in uns selbst (im Autor, im Leser). Vor einigen Jahren ist mir ein Begriff zugeflogen, Transversalität, ich habe daraus den Rohbau einer transversalen Ästhetik geschaffen und hatte dabei das Aufeinander-Beziehen von unterschiedlichen kulturellen Elementen im Auge, das sprachliche Hin und Her, auch Übersetzen genannt, zwischen Ufer und Ufer (eigentlich ein Brückenschlagen und Herüberholen, oder im Kahn transportieren), ein Kreuzen von Sprachen, überraschende Begegnung, vielleicht nur ein Anstreifen, flüchtiges Berühren von Werken, Autoren, von Orten auf dem Globus, von Erfahrungen und auch: von Zeiten. Für diese Haltung, diesen Knäuel von Ansätzen und Aussichten habe ich den Begriff usurpiert, ein unvollendbares Bauwerk, wie gesagt, work in progress: transversale Ästhetik, im weiteren Sinn, schräge Wahrnehmungskunde1. Dabei hatte ich zunächst Leute im Auge, Autoren und Künstler, Flaneure, Betrachter, aktiv Wahrnehmende, ob sie nun ein Werk schaffen oder nicht; Leute, die die Kulturkreise wechseln, verbinden, schneiden, »hybridisieren«, um ein Modewort zu gebrauchen, das langsam aus der Mode zu kommen scheint. Die meisten Menschen machen heute solche Erfahrungen, oft unbewußt oder passiv, jeder ist ständig Einflüssen, Reizen, Daten aus allen Richtungen ausgesetzt und muß auswählen kreuzen hybridisieren, sofern er die Auswahl, das Arrangement etc. nicht einer Maschine (einem »Algorithmus«) überläßt, und das tun leider die meisten.
Es würde mir gefallen, hier eine Parallele – oder Transversale – zum englischen Wort und der entsprechenden Vorstellung von queer zu sehen, aber das ideologische Fundament, die akademische Strenge und die Kanalisierung des Blicks auf "Gender" sowie auf Homo-, Bi- und Transsexualität der sogenannten Queer Studies nimmt mir jede Lust auf diesen Vergleich. Das Wort scheint sich übrigens aus dem Deutschen (von "quer") in den englischen Sprachschatz geschwindelt zu haben: quer, abweichend, seltsam, ungewöhnlich ↩
Ich weiß nicht, ob ich mich freuen soll über die neue Langsamkeit, zu der ich im wirklichen Leben seit einigen Monaten gezwungen bin, oder ob ich wütend sein soll über meinen Körper, der bei dem manchmal doch gewünschten Tempo nicht mitmacht. Besonders bei Steigungen, und noch mehr, wenn Treppen zu überwinden sind. Immerhin, ich habe es bis hierher geschafft, ein kleiner Aufstieg zu den Anhöhen über dem Tal von Arashiyama, wo tief unten der grüne Fluß fließt und sich selten ein Tourist blicken läßt. Den berühmten Bambushain auf der anderen Seite habe ich gemieden – sollen sie sich dort drängen. Dieser Hain mit seinen hohen und schlanken, zum Spitzbogen zusammenlaufenden Bäumen ist schön, aber viel zu klein für solche Menschenmassen: die millionenfach verbreiteten Fotos verraten das Mißverhältnis nicht. Hier oben bin ich vor einem Jahr gewesen, am 2. Jänner, es war genauso warm wie heute, gutes Schreibwetter, und habe Faulkner gelesen, ich sagte es schon. Damals bin ich noch ein gutes Stück weiter bergaufwärts gelaufen, aber nachdem ich mehrmals Wildschweine in meiner Nähe grunzen hörte, machte ich kehrt. Die Gegend hier spielt in Junichiro Tanizakis Roman Sasameyuki eine Rolle, Die Schwestern Makioka (die deutsche Übersetzung ist nicht gut und schon lange vergriffen); der schön klingende japanische Titel bedeutet »leichter Schneefall« (den es im Winter in Kyoto manchmal gibt). Die Familie Makioka, vier Schwestern, glaube ich mich zu erinnern, verbringt einen Sonntag bei der Kirschblütenschau, mit Flanieren und Speisen und Trinken und Sich-der-Welt-und-des-Lebens-Erfreuen. Unten bei der langen Brücke, wo der Fluß ziemlich in die Breite geht und viel weißes Geröll in seinem Bett zu sehen ist. Tanizaki habe ich – neben Mishima – bei meiner Aufzählung der Autoren, die den Wunsch in mir weckten, alles von ihnen zu lesen, vergessen. Unerfüllbarer Wunsch; zwar habe ich die zweibändige französische Ausgabe seiner Werke in meinem Regal stehen, die viel mehr enthält als das, was auf deutsch von Tanizaki vorliegt, aber immer noch viel weniger als das, was er in einem langen Schreiberleben geschaffen hat. Um die Wahrheit zu sagen, ich habe nicht einmal die Pléiade-Ausgabe zur Gänze geschafft; man kann nicht alles bewältigen, ist mehr und mehr zum Auswählen gezwungen. Der Blick auf Tanizakis Werk ist im deutschen Sprachraum durch den Erfolg seines schmalen Essays Lob des Schattens verstellt, der immer wieder zitiert wird von Leuten, die zeigen wollen, daß sie die »Essenz der typisch japanischen Ästhetik« (oder so) verstanden haben.
Warum eigentlich habe ich in meiner neuen, freieren Epoche als Leser begonnen, mich Faulkner anzunähern? Ich kann kaum sagen, daß ich ihn »wiederlese«, weil ich ihn zwar seit meinen zwanziger Jahren hochhalte, d. h. seit den Jahren um 1980, als er einigermaßen aus der Mode gekommen war, er mir aber von Gerd-Peter Eigner ans Herz gelegt wurde, der sich zwanzig Jahre früher literarisch gebildet (»formiert«) hatte, als Faulkner, der Nobelpreis lag ein knappes Jahrzehnt zurück, noch in Mode war. So geht der Stafettenstab über die Generationen. Wirklich gelesen habe ich Faulkner damals aber nicht, nur eine alte, außen hellblaue Taschenbuchausgabe von Absalom! Absalom! gekauft und oft einmal aufgeblättert, die erste Übersetzung ins Deutsche, die, glaube ich, in den dreißiger Jahren angefertigt worden war. Später ist mir der Einfluß Faulkners auf den ganz frühen Handke aufgefallen, und wieder später habe ich gemerkt, wie stark der nordamerikanische Südstaatenautor auf die Romanliteratur Lateinamerikas wirkte, von Juan Carlos Onetti über García Márquez und Vargas Llosa bis hin zu Ricardo Piglia. Es gibt tatsächlich so etwas wie eine amerikanische Literatur, Norden und Süden umfassend, und zwar jenseits ideologischer Konzeptionen, wie sie Pablo Neruda vertrat, zu erschließen allein aus der Literatur selbst, aus den Texten, Perspektivsetzungen, Wahrnehmungsweisen, Erzählformen. Einen derart einflußreichen Autor wollte ich nun doch einmal in aller Freiheit, ohne kontextuelle Zwänge, kennenlernen. Die Qualität literarischer Werke läßt sich nicht aus ihrem Publikumserfolg mutmaßen, eher schon aus der Intensität und – eventuell – Extensität, mit der sie von nachfolgenden Autoren aufgenommen wurden. »Ecrivain pour ecrivains«, für mich bedeutet diese unterschiedlich gebrauchte, oft pejorative Charakterisierung keine Abwertung, im Gegenteil. Ich habe sogar, der Name des Verfassers ist mir entfallen, eine Biographie über Faulkner gelesen1; »sogar« ist vielleicht das falsche Wort, weil ich Schriftstellerbiographien mit größter Neugier zu lesen pflege; ja, ich muß sogar gestehen – »sogar« ist hier am Platz –, daß mir die Biographie fast mehr gesagt hat, mich mehr eingenommen hat für diesen Romancier, der lange seinen Weg nicht und noch länger keinen Erfolg fand, als die einzelnen Romane und Erzählungen (ausgenommen vielleicht Als ich im Sterben lag).
Ich könnte die »Neuerscheinungen« und die Namen ihrer Verfasser erwähnen, die ich in den letzten Jahren gelesen habe, weil sie mir mehr oder minder zufällig zwischen die Hände gekommen sind, und die ich widerwillig zu Ende gelesen oder vorzeitig weggelegt habe, aber ich werde es nicht tun. Vielen dieser Autoren kann man die Veröffentlichung nachsehen, vielleicht allen, auch mir selbst. So eingespannt in den Betrieb und/oder in das eigene Werk (wenn man sich einspannen läßt), produziert man zu viel. Oder aus anderen Gründen, sogar aus innerer Notwendigkeit, dennoch zu viel. Ich werde keinen dieser Namen nennen, außer vielleicht den einer Autorin, deren Bücher ich schätze und die fern von wo lebt, von Deutschland Bayern Österreich (wo ich nicht lebe) und diese Notizen nicht lesen wird (aber ihr Lektor, ihr Verleger?), Hiromi Kawakami, ihr letztes Buch in der Übersetzung der von mir ebenfalls sehr geschätzten Ursula Gräfe hatte ich nach meinem neuen Freiheitsprinzip in einer kleinen Buchhandlung in Frankfurt am Main gekauft und noch vor der Hälfte des Ganzen weggelegt, irgendwo im öffentlichen Raum zurückgelassen, vielleicht kann wer anderer was damit anfangen, ich nicht; vielmehr war ich genervt von dieser Art von Leichtigkeit, Literatur light, Geheimnistuerei, Belanglosigkeit, aber egal, ich darf mir das jetzt erlauben, meine Genervtheit und sie auszudrücken, ich unterliege keinen Zwängen (mehr), auch Fehlkäufe darf ich mir erlauben, die geschehen bei jeder Art von Produkten; also keine Namen, sagte ich, denn ich will und muß keine Feindschaften auf mich ziehen, jedenfalls nicht mutwillig, nicht ohne Notwendigkeit. Es gibt Autoren, die ich als – sei es private, sei es öffentliche – Personen schätze oder schlicht und einfach mag, oder die ich respektiere, mit deren künstlerischen Erzeugnissen ich aber nichts anfangen kann. Wie damit umgehen? Eine schwierige und interessante Frage, die man, wenn überhaupt, nur von Fall zu Fall wird beantworten können, und die einen unweigerlich in Widersprüchlichkeiten verstrickt. Auch das Umgekehrte kommt übrigens vor, unangenehmer Autor, ungute Person, großartiges Werk.
Ich lese über Dora – von Dora, möchte ich sagen, wie man von jemandem hört und nicht über ihn (»hast du etwas von ihm/ihr gehört?«) – in einem Café namens Cascade (Kaskade, Wasserfall), das ich vor fünfzehn Jahren oft besuchte, als ich hier im Hankyu-Bahnhof von Umeda bald aus‑, bald umstieg. Ich weiß jetzt, nach all den Jahren, vielleicht besser als damals, was mich an dem Ort anzog, abgesehen davon, daß die Mehlspeisen vielfältig und schmackhaft, nicht zu süß und nicht zu teuer waren (eine sogenannte Bakery, das Café gehört zu einer Bäckerei): die zwei großen, dabei dezenten, immer sauberen Großspiegel an der einen Wand, wo die Gäste nebeneinander an einem langen und ziemlich breiten Tisch saßen, einem Wandtisch aus massivem hellem Holz, wo ich gut lesen und schreiben konnte und kann, und zwischendurch, wenn ich den Blick vom Buch oder Heft hebe, das Kommen und Gehen betrachten, das Sitzen und Sinnieren und Plaudern, das Auswählen von Mehlspeisen im Hintergrund, Frauen mit silbrigen Zangen und weißen waagrechten Tabletts, das Sitzen und Plaudern und Warten und Suchen von Menschen, überwiegend Frauen, die meisten wohl Hausfrauen in Shoppingpause, aber auch von Männern, die die Männerwelt der Büros satthatten, Suchen im Spiegel, manchmal nach mir, nach meinem Blick, den beide dann abwenden, sobald er gefunden ist, und das Spiel geht weiter, die Suche geht weiter. Ich lese von Dora, die auf einem Foto, wo sie neun oder zehn Jahre alt ist, vor einem Vogelkäfig steht, einer Voliere vermutlich, deren Inhalt oder Insassen man nicht ausmachen kann, Vogel oder Vögel, vielleicht zwei, man weiß es nicht, weil die Umgebung des Mädchens in tiefem Schatten liegt und man Umrisse kaum ahnen kann. Ich hebe die Augen vom Buch und bemerke rechts unten auf der Spiegelfläche den Käfig, die Voliere, säuberlich aufgeklebt, wie schwarzes Schmiedeeisen, oben kuppelförmig gerundet, darin ein kleiner Vogel, vielleicht nur ein Sperling, im Schattenriß, sicher kein Papagei, und eine Blume, die sich zwischen den Stäben hineinrankt, um sich mit dem Vogel zu vereinen oder gar – ihn zu befreien. Dieses Bild hatte ich auch vor fünfzehn Jahren bemerkt, aber nicht mit der gebührenden Aufmerksamkeit; jetzt ist es dank meiner Lektüre kräftiger, präsenter. Und die Lektüre, der Wahrnehmungsmoment im Buch, ist durch meinen Aufblick gestärkt, weil mir das Stehen Doras am Rand des Schattens und die Ahnung dessen, was im Dunkel liegt, als Metapher dafür erscheinen kann, was ein Buch, eine Erzählung wie diese tun kann: für uns, mit uns, für die Abwesenden, die Beschworenen, für sich selbst.
Romane enthalten künstliche Welten, Fiktion ist Virtualität, nicht anders als die Bilderflut im Internet oder die Vorstellungsbilder im Kopf. Diese Welt und meinen Text, von dem ich nicht weiß, auf welcher der beiden Seiten sein Ort ist, verlassend habe ich mich auf den sicherlich realen Weg zu einem etwa fünfzig Stockwerke aufragenden Hochhaus gemacht, um dort, nur im dritten Stock, einen Film zu sehen, der wie eine Dokumentation angelegt, aber zweifellos ein sogenannter Spielfilm ist, Sorry We Missed You von Ken Loach (wobei sich gleich die Frage stellen ließe, inwieweit Dokumentation mit filmischen Mitteln nicht ebenfalls Fiktion ist; am Ende enthält jede menschliche Lebensäußerung jenseits des Atmens und der bloßen Bedürfnisbefriedigung wenigstens ein Gran Erfindung, Verdichtung, Auslassung, Negation, und die Schriftsteller, die Dichter sind nichts anderes als besonders geschulte oder talentierte oder erfahrene Spezialisten der Erfindung). Und als ich das Kino verließ, hatte ich vor, in meine Textlandschaft zurückzukehren und dies in einem anderen Café zu tun, am besten oben im dreißigsten Stock des Gran Hankyu Building, in luftiger Höhe, da kann man, wie schon Nietzsche meinte, wirklich gut denken und schreiben, in der Höhenluft. Oben angekommen, ist mir die Warteschlange zu lang, Umeda und seine Cafés quellen an diesem letzten Sonntag des Jahres über von Shoppern und Window-Shoppern, die früher oder später ermüden, auch Männerrunden darunter, die vor dem Jahreswechsel noch einmal miteinander plaudern oder eher, habe ich den Eindruck, schreien wollen (offenbar wirkt Kaffee auf sie wie Alkohol). Ich kann im Lärm und gegen den Lärm recht gut schreiben, doch der Konsumtaumel, dieser kulturkapitalistische Normalzustand der Wochenenden, ist mir dann doch zuviel.
Auf diese Frage weiß ich natürlich auch keine Antwort. Vielleicht kann man wirklich nichts tun gegen die allgemeine Kommerzialisierung, Hysterisierung, Mediatisierung, und möglicherweise ist es gescheiter, Unmögliches erst gar nicht zu versuchen, sondern andere Wege – Schleichwege – zu suchen, um seine Schäflein – oder waren es Scherflein? – ins Trockene zu bringen.
Ein Kollege, ich kenne ihn seit unseren Studententagen und schätze ihn als gewissenhaften Leser, der seit Jahrzehnten die Gegenwartsliteratur mit seinen Analysen und Kommentaren begleitet, bestand ein wenig zerknirscht und zugleich trotzig darauf, weiterzumachen: Er für seinen Teil werde nicht aufhören, Literaturkritik zu schreiben. Zum Glück für uns, Autoren wie Leser, füge ich hinzu. Ich wollte mit meinem Text nicht sagen, es sei generell sinnlos geworden, das zu tun, und finde es ehrenwert, gegen Windmühlen zu kämpfen und Steine den Berg hinaufzurollen. Ich tue es selbst, Steine bergauf, allerdings seit vier Jahren nicht mehr auf diesem Gebiet, dem literaturkritischen, dessen Hervorbringungen ihrerseits literarische Qualität haben können. Für meinen Rückzug habe ich auch persönliche Gründe (die ich damals hintanhielt); nicht zuletzt den, daß mir spät, aber doch, aufgegangen ist, daß allzuviel kritisches Schreiben die eigene Autorschaft behindern kann. Ricardo Piglia, den ich in den vergangenen Jahren viel gelesen habe, besonders die Tagebücher des Emilio Renzi, die kurz vor und nach seinem Tod in Spanien erschienen sind, aber auch die Romane, von denen ich die meisten schon kannte – in diesem Bericht hier möchte ich u. a. mitteilen, was, warum und wie ich in dieser »neuen Zeit« gelesen habe –, Ricardo Piglia also äußerte vor langer Zeit, tief im 20. Jahrhundert, Autoren würden und sollten nicht systematisch, planmäßig, wie Akademiker lesen, sondern vom Zufall geleitet, ihrer spontanen, wechselnden Eingebung und Neugier folgend.
Wie alle Menschen, die sich die Literatur zur Achse ihres Lebens erwählt haben, lese ich meistens mehrere Bücher gleichzeitig, in unterschiedlichem Tempo und Rhythmus und mit unterschiedlichem Engagement, manche nicht bis zum Ende – auch eine Änderung, seit ich keine Literaturkritik mehr schreibe: Ich fühle mich nicht mehr, einer nebulosen Gerechtigkeit halber, verpflichtet, lesend abzuwarten, ob ich dem Buch nicht doch noch etwas abgewinnen kann. Derzeit also Pavese, Modiano und vielleicht, falls ich zu ihm zurückfinde, Faulkner. Modiano habe ich heute wieder aufgenommen, ich habe eines seiner eher schmalen Bücher ins eher leichte Gepäck für die Reise nach Osaka und den Aufenthalt dort gesteckt, weil ich etwas Vergnügliches dabeihaben wollte; etwas, das mein Herz erfreut. Mag seltsam klingen bei einem Roman, der mit einer Vermißtenanzeige in Paris Ende 1941 beginnt, und der Name der Person lautet noch dazu Dora Bruder. Ich lese dieses Buch im Original, auch dies für mich ein Vergnügen, nicht bei allen französischen Büchern, doch immer bei Modiano. Eine mir befreundete spanische Übersetzerin schreibt mir, sie könne keine literarischen Übersetzungen mehr lesen (keine aus dem Deutschen oder Englischen, diese Einschränkung unterschlägt sie), sie sei mißtrauisch gegenüber dem Wortlaut, hinterfrage ihn, kontrolliere und kritisiere die Übersetzung. Da wäre es wohl besser, gleich die Originale zu lesen; wogegen natürlich nichts spricht. Ab und zu höre ich irgendeinen Snob behaupten, er lese ohnehin nur in der Originalsprache; auf mein Nachfragen stellt sich dann immer heraus, daß dieser originelle Leser nur in einer, höchstens zwei Fremdsprachen zu lesen imstande ist (nur bei zweisprachigen Lyrikausgaben tut er so, als könne er immer alles »savourieren«), meistens in der englischen. Der Rest der Weltliteratur soll ihm verschlossen bleiben? Das will der originelle Leser dann auch wieder nicht zugeben.
Im Juli 1989 schrieb Peter Handke eine »Epopöe«, eine ganz kurze Erzählung, die am Bahnhof Perrache in Lyon spielt. So wie Handke es gebraucht, bedeutet das ursprünglich griechische Wort »kleines Epos« (obwohl dies nicht den Auskünften der Wörterbücher entspricht). Wir begegnen hier dem Erzähler in einem Hotelzimmer und erfahren, was er beim Blick aus dem Fenster sieht: ein großes Gleisfeld, die blasse Mondscheibe, Schwalben, einen Wohnblock, zuletzt einen blauen Falter. Wenige Menschen, allesamt Eisenbahner mit Aktentasche auf dem Heimweg. Nach einer Weile fällt dem Erzähler ein, daß es das Hotel Terminus ist, in dem er sich eingemietet hat, und er erinnert sich, daß Klaus Barbie seinerzeit hier sein Unwesen getrieben hatte. Es war noch nicht so lange her, daß in Lyon ein Prozeß gegen den deutschen Folterherrn stattgefunden hatte, bei dem er wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt war. Handke hatte die Untaten, über die 1987 viel berichtet worden war, zweifellos noch frisch im Sinn.
Peter Handke, in Griffen geboren, Sohn eines deutschen Wehrmachtssoldaten, verbrachte als Kleinkind einige Zeit in Berlin und erlebte Bombenangriffe auf die Stadt sowie die Trümmerlandschaft nach dem Krieg. Eigentlich hatte er sogar zwei deutsche Väter; über den Ziehvater, mit dem er in Kärnten aufwuchs, kann man in Wunschloses Unglück einiges nachlesen (das nicht vollständig der biographischen Wirklichkeit entspricht, wie Malte Herwig in seiner Handke-Biographie zeigen konnte). In seiner Jugend stellte sich Handke gegen diesen Vater, er war ihm schon früh geistig überlegen und verachtete ihn. Die spätere Begegnung mit dem ersten, dem leiblichen Vater, im Versuch über die Jukebox geschildert, verlief angespannt, die beiden konnten nichts miteinander anfangen. Als Peter dann berühmt wurde – »weltberühmt«, wie er es vorhatte, wurde er etwas später –, ging er aus Österreich nach Deutschland, doch schon damals liebäugelte er mit Paris als Wohnort. Erst nach seiner sprachexperimentellen und popliterarischen Phase begann Handke, sich mit seiner slowenischen Familiengeschichte auseinandersetzen. Diese Wendung oder Rückwendung zum Slowenischen ist nicht zuletzt bedingt durch sein schwieriges und kühles Verhältnis, das er zu Deutschland hatte, auch und besonders zur nahen deutschen Vergangenheit, zum sogenannten Dritten Reich. Die prononcierte Ablehnung des Nationalsozialismus und die ihrerseits identitätsbildende Frage nach der Verantwortung der Väter für die Verbrechen teilte Handke freilich mit den meisten jungen Leuten seiner Generation, sie spielt bei vielen deutschen und österreichischen Schriftstellern eine wichtige Rolle; bei Handke jedoch auf eine eigentümliche Weise, weniger in politischen Statements als in einer tiefgreifenden literarischen Reaktion auf die kriegerische Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Als Handke im Zug seiner Wende zum Klassischen, zu Goethe, Cézanne und Stifter, zur gelassenen Erforschung der Formen und schließlich zu dem fand, was Schopenhauer als »reine Anschauung« bezeichnete, stellte das »Neunte Land« aus dem slowenischen Märchen für ihn eine konkrete Utopie dar, und es zog ihn wie selbstverständlich nach Süden, über die Grenze, nach Slowenien, das zu Jugoslawien gehörte, ein politisches Gebilde, für das Handkes Großvater bei der Kärntner Abstimmung 1920 optiert hatte. Noch in dem Interview, das Ulrich Greiner unlängst für die ZEIT geführt hat, betont Handke diese slowenische Herkunft: »Ich bin Jugoslawe von meiner Mutter her und vom Bruder meiner Mutter, der in Maribor studiert hatte«, und er erinnert an die Haltung des Großvaters nach dem ersten Weltkrieg, als das Königreich Jugoslawien gegründet worden war. Der Weg des jungen Filip Kobal im Roman Die Wiederholung (1986), der ihn auf den Spuren seines älteren Bruders (der Onkel in Handkes Biographie) in den slowenischen Karst und nach Maribor führt, hat insofern sinnbildliche, sinnstiftende Bedeutung. Die jugoslawische Tradition in der Familie Handke bzw. Siutz bzw. Sivec reicht also weit zurück, bis zu den Anfängen des inzwischen verflossenen Staatenbundes. Beim jungen Schriftsteller Handke verbindet sie sich dann mit einer energischen Kritik am Deutschtum der ersten Jahrhunderthälfte. Die Deutschen hatten Jugoslawien erobert, aus Saloniki hatten sie quer durch den Balkan Juden nach Auschwitz transportiert; Handkes Bekenntnis zu Jugoslawien, das in späteren Auseinandersetzungen mit Teilen des deutschen und französischen Journalismus in einem Kampf wie von David gegen Goliath auf eine kaum zu meisternde Probe gestellt wurde, dieses Bekenntnis ist zugleich Ausdruck seines Antifaschismus. Als er 2006 zum Begräbnis von Slobodan Milosevic ging und dort eine kurze, zurückhaltende, dezidiert »schwache« Rede hielt, war das für ihn weniger das Begräbnis einer Person als das einer Ära, einer Idee, eines nunmehr verflossenen Ideals. Ausgehend von der Kriegserfahrung, die die Ablehnung jedes Militarismus und besonders der Deutschen Wehrmacht bewirkt hatte, die seinen idealisierten, im Feld gefallenen Onkel Gregor in den Krieg gewungen hatte, entwickelte er im Zug seiner klassischen Wende das Konzept einer Friedensepik, die, auch wenn sich die Figuren, oftmals Reisende, weit von der deutschen Geschichte entfernen, antifaschistisch grundiert bleibt und so etwas wie einen ästhetischen »Balkan« – mit allen Ambivalenzen, die diesem Wort durch die Geschichte seines Gebrauchs anhaften – zu errichten trachtete.