Einige Gedanken zu Rainer Rabowskis brillant-komplexem Erzählband »Unsere Sache« Sie heißen Yvonne, Helga, Raphaela, auch Novikova und Angélique oder – geheimnisvoll – »H.N« und spielen in fünf von sechs Erzählungen des Bandes »Unsere Sache« eine entscheidende Rolle. Oberflächlich betrachtet mit soziologischem Blick daherkommend sind es Erinnerungen an vergangene Bekannt- und Freundschaften aus einer zurückgelassenen Zeit. ...
»Weltliteratur« prangt auf der Banderole auf dem Buch als Zitat von Peter Handke. In dessen Nachwort fehlt dieses Wort; es ist ein Interview-Zitat. Es handelt sich um Florjan Lipuš’ Roman »Boštjans Flug«. Und wie die Mechanismen im deutschsprachigen Literaturbetrieb funktionieren, kann man in diesen Zeiten wieder einmal genüsslich sehen. Da schreibt Matthias Weichelt eine hymnische Besprechung in der FAZ eben auf dieses Buch (da die FAZ gegen Zitate aus ihren Besprechungen klagt, gibt es hier keine Links zu FAZ-Artikeln). Weichelt klagt am Ende, dass das Buch trotz »namhafter Fürsprecher« unbekannt sei. Dies müsse sich, so das Urteil, ändern.
Dem ist natürlich zuzustimmen (und: Weichelts Besprechung ist sehr gut). Klar ist aber: Erst durch die Veröffentlichung des Buches im Suhrkamp-Verlag erreicht es die mediale Präsenz, die es literarisch längst verdient hätte. Das Buch existiert seit sechs Jahren im Klagenfurter Wieser Verlag. In der bräsigen Arroganz des deutschen Germanistenbeamten nannte Jürgen Brokoff Wieser einen »entlegenen« Verlag. Und das ist natürlich abschätzig gemeint.
Richard Ford: Kanada
Dell Parsons ist 1945 geboren. Er erzählt im Jahr 2011, als pensionierter Lehrer, über die Zeit zwischen August und Oktober 1960. Eine Zeit, die sein Leben radikal verändert und geprägt hat. Der durchaus furios daherkommende Anfang lässt hoffen: »Zuerst will ich von dem Raubüberfall erzählen, den meine Eltern begangen haben. Dann von den Morden, die sich später ereigneten.« Fast lakonisch wird ergänzt: »Der Raubüberfall ist wichtiger, denn er war eine entscheidende Weichenstellung in meinem Leben und in dem meiner Schwester«.
Aber nun beginnt ein unendlich in die Länge gezogenes, zähes Rekapitulieren über sich selber, seine Zwillingsschwester Berner und ihre Eltern, Vater Bev (geb. 1923), seine Frau Neeva (geb. 1926), über Great Falls, Montana (die Familie lebt seit einigen Jahren dort) und die prekäre finanzielle Situation. Der Vater, einst Flieger in der Armee (er warf Bomben auf Japan im Zweiten Weltkrieg), verlor seinen Captain-Rang und wurde entlassen (allerdings mit belobigender Urkunde).
»Das große Schweigen der Autoren« lautet die Überschrift eines Artikels von Daniel Lenz bei »Buchreport«. Er beklagt darin, dass die »Hochkaräter« der deutschen (!) Literatur nichts zur »digitalen Revolution« und dem Verlags- und Buchhandelssterben sagen.
Wer wären denn die »Hochkaräter«? Drei Beispiele nennt er da: Rainald Goetz, Thomas Hettche und Matthias Polyticki, die schnell als Pioniere (oder irgend etwas in dieser Richtung) apostrophiert werden. Elfriede Jelineks »Neid«-Roman, der ausschließlich und vollständig im Netz steht, nennt Lenz nicht. Vermutlich, weil es keine »deutsche« Schriftstellerin ist. (Zugegeben: Derzeit hat die HP Jelineks technische Probleme, aber über über diese Seite geht’s.)
Ralph Dohrmann: KronhardtObwohl mit Kronhardt in Ralph Dohrmanns Buch eigentlich immer nur leicht abfällig der Stiefvater von Willem Kronhardt bezeichnet wird, ist Willem die Hauptfigur dieses Romans. Er ist potentieller Erbe der (fiktiven) traditionsreichen Bremer Textilfabrikation gleichen Namens. Sein Vater verstarb als Willem Kind war unter mysteriösen Umständen fast vor seinen Augen während einer Bootsfahrt. Die resolute, herrschsüchtig auftretende Mutter heiratete den Bruder. Der Roman beginnt am Einschulungstag Willems, den er wegen eines Infekts »schwänzen« muss. Das ist um 1957 herum; die Hündin Laika erregte gerade Aufsehen. In Bremen sind immer noch die Trümmer sichtbar und »verkohlte Spuren eingefleischter Geschichte« steigen aus ihnen auf. Willem geht aufs Gymnasium und ist anders als die anderen Wirtschaftswunderkinder. Immer wieder trauert er um seinen verstorbenen Vater, einen Künstler, dessen Charakter im krassen Gegensatz zur drangsalierend-nervösen Mutter und des autoritären Stiefvaters steht. Immer wieder entflieht Willem der von den »Alten« vorgezeichneten Laufbahn, diesem Zwang zum Funktionieren. Er meidet die Klüngel der höhergestellten Buben und Töchter und freundet sich mit Schlosser an, der parallel zur Schule noch auf dem Schrottplatz für 7,50 Mark am Tag arbeitet. Schlossers Mutter ist gestorben und er versorgt nun seine Zwillingsgeschwister nebst trinkendem, zuweilen jähzornigen Vater.
Dass Guido Knopp beim ZDF in Rente geht, hält Fernsehverantwortliche nicht von der weiteren Nazi-Fiktionalisierung ab. Gestern also wieder einmal zur besten Sendezeit im Fernsehen ein Film über den Nationalsozialismus. Diesmal ging es um Erwin Rommel (ARD, 20:15 Uhr) (lächerlich, wie die ARD in der Mediathek den Film nur zwischen 20 und 6 Uhr zeigt und betont, er sei für »Jugendliche unter 12 Jahren« nicht geeignet; ein entsprechender Hinweis unterblieb gestern). Man fand eine leidlich illustre Besetzung vor; Ulrich Tukur gab Erwin Rommel und wenn Tukur zur Rede ansetzte, versuchte er den Duktus Rommels zu erreichen. Am Sonntag gibt es auf SWR2 im Rundfunk noch Hörspiel basierend auf Niki Steins Film. Warum eigentlich? Es gibt keinen Anlass. Da war wohl einfach ein Film fertig. Oder sollte man bis 2014 warten – zum 70. Todestag des »Wüstenfuchs«? Soviel Ehre dann doch nicht. Gut so.
Strategieänderung bei der NZZ: Seit einiger Zeit sind im Netz nur noch 20 Artikel pro Monat frei, wer darüber hinaus gehen will, muss ein kostenpflichtiges Abo beziehen. War diese Entscheidung, vor allem hinsichtlich der sich Gewohnheiten der Leser, richtig?
»Auf allen Kanälen volkspsychologisches Gefasel über die Gier« – so lautet ein Notat von Peter Sloterdijk am 18. Oktober 2008, veröffentlicht in »Zeilen und Tage«. Weiter heißt es: »Kein Mensch will begreifen, daß nicht die Gier an der Macht ist, sondern der Fehler…« Auch Rainald Goetz’ Erzähler in »Johann Holtrop« schreibt über die Gier, die die Welt steuere, eine Gier, sich dauernd irgendeinen Vorteil für sich zu verschaffen, am liebsten natürlich in Form von Geld, genau darin aber, in ihrem Kalkül auf Eigennutz, umgekehrt selber kalkulierbar, ausrechenbar und ausbeutbar zuletzt, das war die Basis der abstrakten Geldmaschine, die hier residierte. »Hier« ist der fiktive Ort Krölpa, Sitz der »Assperg AG«, eines weltweit agierenden Medienkonzernes deren Vorstandsvorsitzender Dr. Johann Holtrop ist. Welch ein Wortspiel zu Beginn (eines von vielen): »Assperg« erinnert an das Asperger-Syndrom, womit das Milieu wohl durchgängig charakterisiert werden soll (ich komme später noch hierauf zurück). Und dann zucken die Parallelen (auch dort, wo es sie absichtsvoll nicht gibt): »Assperg« hat einiges von Bertelsmann und einiges nicht; Holtrop erinnert an Middelhoff und auch wieder nicht, Kate Assperg und der »Alte« an Liz und Reinhard Mohn. Einiges stimmt, anderes nicht; irgendwann beginnt man die Parallelen nicht mehr zu suchen, weil es egal ist, ob Gabriele Heintzen nun Madeleine Schickedanz ist, Holtrops Vermögensberater Mack an Josef Esch erinnert, die Figur Binz an Leo Kirch und mit dem Gosch-Imperium der Springer Verlag gemeint ist. Die Figuren und Organisationen werden gekonnt bis zur Unkenntlichkeit stereotypisiert. Mit dem Spiel mit der Realität, dem Gewesenen, schafft man immerhin semi-ehrgeizigen Germanist(inn)en eine Spielwiese und da passt es ganz gut, dass es zwei Listen gibt, die hier behilflich sind: eine Figurenliste und eine Übersicht »Schauplatz und Geschehen»1 (»holtropplag« zur Begutachtung der Doktorarbeit Holtrops fehlt vielleicht noch.)
Die Geschichte der Nullerjahre will Rainald Goetz hier (fort)schreiben; das Überbuch heißt »Schlucht«; der Werkkontext ist ganz vorne im Buch abgedruckt. »Abriss einer Gesellschaft« lautet der mehrdeutige Untertitel zum Holtrop-Buch, ziemlich frei und doch auch erinnernd an »Verfall einer Familie«. Ambitioniert also.