Boua­lem San­sal: 2084 – Das En­de der Welt

Boualem Sansal: 2084 - Das Ende der Welt

Boua­lem San­sal:
2084 – Das En­de der Welt

Wenn Ge­sell­schaf­ten – aus wel­chen Grün­den auch im­mer – trotz ei­nes ex­or­bi­tan­ten Wohl­stands mit ei­nem dif­fu­sen Un­be­ha­gen der Zu­kunft ent­ge­gen se­hen, weil sie vor Um­brü­chen mit un­si­che­rem Aus­gang ste­hen, dann ist Zeit für dys­to­pi­sche Ro­ma­ne, die dann die eher harm­los da­her­kom­men­de (lei­der zu oft ba­na­le) Fan­ta­sy oder be­wusst tech­nik­af­fi­ne Sci­ence-Fic­tion-Se­lig­keit über­wuchern. Nicht zu­letzt in der ak­tu­el­len deutsch­spra­chi­gen Li­te­ra­tur gibt es ei­nen Trend zur Dys­to­pie, viel­leicht auch ein­fach nur, weil es im All­tag so gar kei­ne Aben­teu­er mehr zu er­le­ben gibt.

Bei Boua­lem San­sal sieht dies an­ders aus. Der 1950 in Al­ge­ri­en ge­bo­re­ne Au­tor fand erst spät zum li­te­ra­ri­schen Schrei­ben, avan­cier­te aber schnell zum be­kann­te­sten zeit­ge­nös­si­schen Schrift­stel­ler sei­nes Lan­des und be­kam 2011 den Frie­dens­preis des Deut­schen Buch­han­dels. Jetzt hat er mit »2084 – Das En­de der Welt« ei­nen Weltunter­gangsroman ge­schrie­ben. Das Buch war zu­nächst in Al­ge­ri­en nicht zu er­hal­ten und sorg­te für Dis­kus­sio­nen in Frank­reich. Seit Mai liegt es auch in ei­ner deut­schen Über­set­zung von Vin­cent von Wro­blew­sky vor.

Das deut­sche Feuil­le­ton be­fragt San­sal aus­gie­big, aber noch mehr möch­te man über sei­ne Ein­schät­zun­gen zur ak­tu­el­len po­li­ti­sche La­ge wis­sen, den Be­dro­hun­gen durch das, was man ge­mein­hin »Is­la­mis­mus« nennt. San­sal hält mit sei­ner Mei­nung nicht hin­ter dem Berg. Er be­zich­tigt be­son­ders die west­li­che Lin­ke als na­iv im Um­gang mit dem po­li­ti­schen Is­lam, was die­se zum An­lass nimmt, ihn in ei­ne neu­rech­te Ecke zu stel­len; das in­zwi­schen be­kann­te Ge­sell­schafts­spiel. Die Er­fah­run­gen, die San­sal in Al­ge­ri­en macht und ge­macht hat, wer­den hier­bei ger­ne her­un­ter­ge­spielt. Die Po­li­ti­sie­rung ei­nes sol­chen Ro­mans hat al­ler­dings meist zur Fol­ge, dass die Dis­kus­si­on we­ni­ger um das Buch als um die po­li­ti­schen The­sen des Au­tors kreist. Dies er­zeugt Er­war­tungs­hal­tun­gen, die je nach Ori­en­tie­rung ent­täuscht oder be­stä­tigt wer­den. Da­bei tritt dann die li­te­ra­ri­sche Qua­li­tät ei­nes sol­chen Bu­ches all­zu oft in den Hin­ter­grund. Wei­ter­le­sen

Schmerz­haft gleich­gül­tig

Wenn man er­klärt, dass man sich die Le­sun­gen und Dis­kus­sio­nen zum Bach­mann­preis an­schaut, kommt im­mer mehr die mit­lei­di­ge Fra­ge: »War­um?« Sie im­pli­ziert zwei­er­lei: Zum ei­nen glaubt man nicht mehr an die Kraft der Li­te­ra­tur im Zei­chen des Fern­se­hens. Und zum an­de­ren wird da­mit auch gleich in ei­ner Mi­schung aus Mit­leid und Em­pö­rung die je­wei­li­ge Aus­wahl der Le­sen­den er­le­digt. Nein, die Le­sen­den im Bach­mann­preis re­prä­sen­tie­ren na­tür­lich nicht »die deutsch­spra­chi­ge Li­te­ra­tur« wie es dann mal apo­dik­tisch, mal vor­wurfs­voll heißt. Nach­träg­lich muss man die­ses De­men­ti ge­ra­de für den »Jahr­gang 2016« zur Hand ha­ben: Nein, das, was heu­er in Kla­gen­furt ge­le­sen wur­de ist kein re­prä­sen­ta­ti­ver Quer­schnitt der deutsch­spra­chi­gen Li­te­ra­tur. Da mag der Mo­de­ra­tor noch so Ani­ma­teurs­qua­li­tä­ten of­fen­bart ha­ben (was zu­wei­len pein­lich war). (Über das pein­li­che Sand­ka­sten­ar­ran­ge­ment »drau­ßen«, bei Zi­ta Be­reu­ter, schweigt man bes­ser.)

Aber es ist wo­mög­lich ein Quer­schnitt der in­zwi­schen in­fla­tio­nä­ren Stadt­schrei­ber- und Schreib­schul­pro­sa­isten, die sich von ih­ren Note­books er­he­ben und das re­pli­zie­ren, was sie ge­lernt ha­ben, wo­für sie aus­ge­zeich­net wur­den und was sie nun mit ei­nem selt­sam stoi­schen Selbst­be­wusst­sein als preis­wür­dig re­kla­mie­ren. Wei­ter­le­sen

Wolf­gang Welt

Wolfgang Welt - c Lothar Struck

Wolf­gang Welt – c Lo­thar Struck

Wolf­gang Welt schrei­be »Bruch­teil­se­kun­den­sät­ze«, so vor ei­ni­gen Jah­ren ein­mal Pe­ter Hand­ke über den Bo­chu­mer Au­tor. Li­te­ra­risch sind Hand­ke und Welt fast An­ti­po­den und doch schät­ze Hand­ke die­sen als »Pop-Li­te­ra­ten« nur un­zu­rei­chend cha­rak­te­ri­sier­ten Au­tor, mach­te sich stark für ihn, dass er im Suhr­­kamp-Ver­lag pu­bli­zie­ren konn­te. Die Pro­sa von Wolf­gang Welt war derb und grif­fig, aber in den schön­sten Mo­men­ten lö­sten sich Au­gen­blicke zeit­lu­pen­haft auf. Da spiel­te es kei­ne Rol­le, ob das Er­eig­nis zehn oder zwan­zig Jah­re ver­gan­gen war. Welt schien dies zu spei­chern und es kam ei­nem vor, als sei es nicht aus ei­ner (va­gen) Er­in­ne­rung her­aus ge­schrie­ben, son­dern aus dem was man Wie­der-Ho­lung nen­nen könn­te; ei­ne Wie­der-Her­vor­ho­len ei­nes ge­leb­ten Mo­ments.

Das ver­lieh sei­nen Bü­chern et­was wim­mel­bild­haf­tes, aber Welt ver­stand es, die un­ter­schied­li­chen Ebe­nen, die im­mer sei­ne wa­ren, si­mul­tan zu evo­zie­ren. Die fünf pral­len Jah­re zwi­schen 1979 und 1984 als Welt ei­ner der wil­de­sten und ge­fürch­tet­sten Mu­sik­kri­ti­ker Deutsch­lands war bil­den das Zen­trum der er­sten drei Ro­ma­ne (»Peg­gie Sue«, »Der Tick« und »Der Tun­nel am En­de des Lichts«). Es ist ein Le­ben auf der Über­hol­spur, denn Welt war ein Ber­ser­ker, ein Mu­sik­be­ses­se­ner aber vor al­lem ein Mu­sik­be­seel­ter. Bei al­ler In­ter­na­tio­na­li­tät der Mu­sik war Welt ver­wur­zelt mit sei­ner Hei­mat­stadt Bo­chum, was sei­nen Ro­ma­nen ein Span­nungs­feld zwi­schen Welt­läu­fig­keit und Ruhr­ge­biet ver­schaff­te. Un­trüg­lich sein Ge­spür für Heu­che­lei; man gibt nicht ein­fach sei­ne Idea­le für Geld auf. Wenn Grö­ne­mey­er von »Bo­chum« sang, kränk­te ihn die­se Bi­got­te­rie. Welt hielt auch mit Kri­tik am Be­trieb nicht hin­ter dem Berg; nur not­dürf­tig ver­schlei­er­ten die Pseud­ony­me in sei­nen Bü­chern die ech­ten Per­so­nen. Schließ­lich trat 1983 ein er­ster psy­cho­ti­scher Schub auf. Welt schon­te sich in sei­nen Bü­chern nicht, son­dern be­schrieb sei­ne von nun an im­mer wie­der in Schü­ben auf­tre­ten­den psy­chi­schen Pro­ble­me. Er zog sich aus der Sze­ne zu­rück, schrieb wei­ter an sei­ner Pro­sa und war Nacht­wäch­ter im Bo­chu­mer Schau­spiel­haus.

Vor fast ge­nau zwei Jah­ren traf ich Wolf­gang Welt im »Tu­chol­sky« in Bo­chum. Das Tref­fen soll­te ei­gent­lich schon frü­her statt­fin­den, aber er war krank ge­wor­den, Ver­dacht auf Schlag­an­fall. Ei­ni­ge Ta­ge spä­ter schrieb er dann per Mail, dass es doch kein Schlag­an­fall war. Er war sicht­lich ge­zeich­net von sei­ner Me­di­ka­men­tie­rung (was er so­fort pro-ak­tiv an­ging). Den­noch war er wach; kor­ri­gier­te und er­gänz­te wo es not­wen­dig war. Mein Text freu­te ihn und der Ver­gleich mit Pe­ter Kurz­eck führ­te da­zu, dass man ihn zu ei­ner Ge­denk­ver­an­stal­tung in Kurz­ecks Hei­mat­dorf ein­lud.

Wolf­gang Welt ist, wie ich ge­ra­de le­se, am Sonn­tag in Bo­chum ge­stor­ben.

Ir­gend­wann wer­det Ihr be­grei­fen, was für ein tol­ler Au­tor Wolf­gang Welt war.

Die Kla­gen­furt-For­mel oder Vi­deo Kil­led the Ra­dio Star

Im Wall­stein-Ver­lag ist vor kur­zem ein Buch mit dem in­ter­es­san­ten Ti­tel »Dichter­darsteller – Fall­stu­di­en zur bio­gra­phi­schen Le­gen­de des Au­tors im 20. und 21. Jahr­hundert« er­schie­nen. Die bei­den Her­aus­ge­ber Ro­bert Leucht und Ma­gnus Wie­land stel­len zu­nächst in ei­ner Ein­lei­tung die lan­ge ver­ges­se­ne The­se der »bio­gra­phi­schen Le­gen­de« des rus­si­schen Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­lers Bo­ris To­maševskij aus dem Jahr 1923 vor. Schließ­lich gibt es Fall­stu­di­en di­ver­ser Au­toren, die die bio­gra­phi­schen Le­gen­den von Hu­go von Hof­manns­thal, Tho­mas Mann, Franz Kaf­ka, B. Tra­ven und Tho­mas Bern­hard un­ter­su­chen. Zu Pe­ter Hand­ke re­fe­riert Karl Wag­ner den »Auf­tritt« Hand­kes bei der Grup­pe 47 in Prin­ce­ton 1966 und setzt ihn in Re­la­ti­on zu an­de­ren, da­mals durch­aus üb­li­chen, weit­aus opu­len­te­ren Auf­trit­ten von Schrift­stel­lern in Kon­zert­hal­len oder Sta­di­en. Auch über Rol­len­zu­wei­sun­gen bei Dich­te­rin­nen gibt es ei­nen (sehr in­ter­es­san­ten) Bei­trag (von Eve­lyn Polt-Heinzl). Schließ­lich be­schäf­tigt sich ein Text mit Me­di­um Twit­ter und den »Ge­brauch« die­ses Me­di­ums von ame­ri­ka­ni­schen Au­toren wie vor al­lem Bret Ea­ston El­lis aber auch von Mark Z. Da­nie­lew­ski, Chuck Pa­lah­ni­uk und Lind­say Lo­han.

Die bio­gra­phi­sche Le­gen­de wird da­bei als Kon­struk­ti­on hin zum Werk in­ter­pre­tiert und als Ab­gren­zung zum em­pi­ri­schen Au­tor aber auch zur Au­toren­fi­gur im li­te­ra­ri­schen Text be­trach­tet. Sie ist so­mit ei­ne drit­te aukt­oria­le In­stanz; so­zu­sa­gen »zwi­schen« der rea­len Vi­ta des Au­tors und des­sen Werk. Sie ist vom Au­tor nur be­grenzt zu be­ein­flus­sen. In ei­nem der Auf­sät­ze im Buch wird To­maševskij da­hin­ge­hend zi­tiert, dass es im Ein­zel­fall »schwie­rig zu ent­schei­den [sei], ob die Li­te­ra­tur die­se oder je­ne Le­bens­er­schei­nung re­pro­du­ziert oder ob um­ge­kehrt die­se Le­bens­er­schei­nun­gen das Re­sul­tat des Ein­drin­gens li­te­ra­ri­scher Scha­blo­nen in das Le­ben ist«. Da­her darf, wie die Her­aus­ge­ber im Ré­su­mé des Bu­ches klar­stel­len, die bio­gra­phi­sche Le­gen­de nicht re­du­ziert wer­den auf »Po­se, Mar­ke, Image, In­sze­nie­rung oder Ha­bi­tus«. Die­se Selbst­in­sze­nie­rungs­stra­te­gien wer­den vom Au­tor (bzw. dem Ver­lag oder an­de­ren Ver­mark­tern) be­wusst ge­wählt. Da­ge­gen ver­schmel­zen in der bio­gra­phi­schen Le­gen­de bio­gra­phi­sche Aspek­te im Werk und Werk­aspek­te im Le­ben zu ei­ner neu­en äs­the­ti­schen Fi­gu­ra­ti­on.

Die bio­gra­phi­sche Le­gen­de bö­te sich an, die je­wei­li­gen li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­li­chen La­ger zu ver­söh­nen: Zum ei­nen je­ne, die ei­ne strik­te Tren­nung von Werk und Le­ben for­dern. Und zum an­de­ren je­ne, die ei­nem Bio­gra­phis­mus frö­nen und je­de Text­stel­le mit dem rea­len Le­ben des Au­tors, der Au­torin in Be­zug brin­gen. Wei­ter­le­sen

Jan-Wer­ner Mül­ler: Was ist Po­pu­lis­mus?

An­mer­kung zur Le­se­run­de:

Die­se ein­lei­ten­den Aus­füh­run­gen sol­len die The­sen aus Jan-Wer­ner Mül­lers Buch »Was ist Po­pu­lis­mus?« vor­stel­len. Dies soll so neu­tral wie mög­lich ge­sche­hen; wo dies nicht der Fall sein soll­te und vor­ei­li­ges Ur­teil her­vor­schim­mert, bit­te ich um Nach­sicht.


Jan-Werner Müller: Was ist Populismus?

Jan-Wer­ner Mül­ler:
Was ist Po­pu­lis­mus?

In­zwi­schen gibt es kaum noch ei­ne Nach­rich­ten­sen­dung, die oh­ne den Be­griff des »Po­pu­lis­mus« auf­kommt; meist in der Form als »Rechts­po­pu­lis­mus«, et­wa wenn es um die öster­rei­chi­sche FPÖ, den fran­zö­si­schen Front Na­tio­nal, die un­ga­ri­sche oder die pol­ni­sche Re­gie­rung geht. Aber was ist ei­gent­lich Po­pu­lis­mus? Wel­che Fol­gen hat er, könn­te er ha­ben? Jan-Wer­ner Mül­ler, Leh­rer für po­li­ti­sche Theo­rie und Ideen­ge­schich­te in Prin­ce­ton, möch­te mit sei­nem Buch »Was ist Po­pu­lis­mus?« ab­seits ta­ges­po­li­ti­sche Auf­geregtheiten ei­ne »kri­ti­sche Theo­rie des Po­pu­lis­mus« for­mu­lie­ren.

Be­reits auf den er­sten Sei­ten bi­lan­ziert er sei­ne The­se: Po­pu­lis­mus sei »der Ten­denz nach zwei­fels­oh­ne an­ti­de­mo­kra­tisch«. Po­pu­li­sten ge­fähr­de­ten die Grund­prin­zi­pi­en der re­prä­sen­ta­ti­ven De­mo­kra­tie. Po­pu­lis­mus sei »ei­ne ganz be­stimm­te Po­li­tik­vor­stel­lung, laut der ei­nem mo­ra­lisch rei­nen, ho­mo­ge­nen Volk stets un­mo­ra­li­sche, kor­rup­te und pa­ra­si­tä­re Eli­ten ge­gen­über­ste­hen«. Da­her en­ga­gier­ten sich Po­pu­li­sten für ple­bis­zi­tä­re Ele­men­te, aber, so die The­se, »Po­pu­li­sten in­ter­es­sie­ren sich gar nicht für die Par­ti­zi­pa­ti­on der Bür­ger an sich; ih­re Kri­tik gilt nicht dem Prin­zip der po­li­ti­schen Re­prä­sen­ta­ti­on als sol­chem … son­dern den am­tie­ren­den Re­prä­sen­tan­ten, wel­che die In­ter­es­sen des Vol­kes an­geb­lich gar nicht ver­tre­ten.«

Es gibt laut Mül­ler zwei es­sen­ti­el­le Iden­ti­fi­ka­ti­ons­merk­ma­le für Po­pu­lis­mus, die in­ein­an­der grei­fen. Zum ei­nen ist er an­ti­plu­ra­li­stisch (nicht per se an­ti-in­sti­tu­tio­nell). Und zum an­de­ren nimmt er für sich und sei­ne po­li­ti­schen The­sen die al­lei­ni­ge mo­ra­li­sche Ver­tre­tung in An­spruch. Und so kommt es, dass, »wer sich ih­nen [den Po­pu­li­sten] ent­ge­gen­stellt und ih­ren mo­ra­li­schen Al­lein­ver­tre­tungs­an­spruch be­strei­tet«, »auto­matisch nicht zum wah­ren Volk« zu­ge­schla­gen und am En­de aus­ge­grenzt wer­de. Po­pu­li­sten sa­gen: »Wir – und nur wir – re­prä­sen­tie­ren das Volk«, und das nicht als em­pi­ri­sche, son­dern als mo­ra­li­sche Aus­sa­ge. Wei­ter­le­sen

An­drzej Sta­si­uk: Der Osten

Andrzej Stasiuk: Der Osten

An­drzej Sta­si­uk: Der Osten

»Der Osten«, das neue­ste Buch von An­drzej Sta­si­uk, be­ginnt da­mit, dass die Ein­rich­tung ei­nes al­ten »LPG«-La­dens Stück für Stück zum Ab­trans­port auf­ge­la­den wird. Da­bei ent­zün­den sich beim mit­hel­fen­den Ich-Er­zäh­ler Er­in­ne­run­gen aus den 1970er Jah­ren, als er als Kind vor ei­nem sol­chen La­den mit an­de­ren Men­schen auf Le­bens­mit­tel in ei­ner Schlan­ge war­te­te. Als das Fahr­zeug mit der Wa­re ein­traf, ver­nahm er den Ben­zin­ge­ruch, den er so­fort mit »Frei­heit, Ge­heim­nis und Ver­lan­gen«. Beim Weg­räu­men die­ser al­ten Mö­bel über­kommt ihm nun fast so et­was wie ei­ne Epi­pha­nie über die Din­ge, in de­nen Ge­schich­te und Ge­schich­ten ab­ge­spei­chert sind: »Das Le­ben war in sie [die Din­ge] ein­ge­drun­gen und er­starrt«. Im Ge­gen­stand be­fin­det sich so­zu­sa­gen Ge­schich­te aus mehr als hun­dert Jah­ren in­ku­biert: »Die Zeit der Lem­ken, der Kom­mu­nis­mus und jetzt wir, schwit­zend un­ter der Last«.

Man denkt an Hof­mannst­hals Ro­man »Brie­fe des Zu­rück­ge­kehr­ten«. Der Brief­ro­man spielt An­fang des 20. Jahr­hun­derts. Ein Kauf­mann kommt nach fast zwan­zig Jah­ren nach Deutsch­land zu­rück. Er er­kennt das in­zwi­schen mo­der­ni­sier­te und in­du­stria­li­sier­te Land nicht mehr wie­der. Ein mehr als nur dif­fu­ses Un­be­ha­gen er­greift ihn. Die Men­schen hat­ten sich ver­än­dert, sie wa­ren zu­se­hends ge­prägt »von dem Geld, das sie hat­ten, oder von dem Geld, das and­re hat­ten.« So­gar die Din­ge er­schie­nen ihm ver­wan­delt, durch in­du­stri­el­le Fer­ti­gung kon­tur­los und pro­fa­ni­siert (was man spä­ter »For­dis­mus« nen­nen wird). Be­vor mit Hus­s­erl und Heid­eg­ger die phi­lo­so­phi­sche Phä­no­me­no­lo­gie ent­stand und Ri­chard Sen­nett Be­trach­tun­gen zur fort­schrei­ten­den De­ge­ne­ra­ti­on des Hand­werks (oder, bes­ser, des Wer­kens mit der Hand) vor­nahm, deu­te­te Hof­manns­thal in die­sem Ro­man an, dass Ge­gen­stän­de ih­re Ent­ste­hung und da­mit auch ei­ne Epo­che spie­geln kön­nen. Und so er­geht es auch An­drzej Sta­si­uk, der von sol­chen Din­gen fas­zi­niert ist und sich auf die Rei­se macht und Men­schen trifft, die de­ren Ge­schich­ten er­zäh­len kön­nen. Wei­ter­le­sen

Der öster­rei­chi­sche Bun­des­prä­si­dent

Ver­such ei­ner Dis­kus­si­ons­grund­la­ge zur Neu­de­fi­ni­ti­on des Am­tes

Im Rah­men der Bun­des­prä­si­dent­schafts­wahl 2016 wur­de das Amts­ver­ständ­nis des Bun­des­prä­si­den­ten the­ma­ti­siert; es ging da­bei we­ni­ger um des­sen weit­rei­chen­de Kom­pe­ten­zen, die man­che Ju­ri­sten als au­to­ri­tär an­se­hen, son­dern um die tat­säch­lich prak­ti­zier­te Amts­füh­rung in Zu­sam­men­hang mit der Ver­än­de­rung der po­li­ti­schen Land­schaft der zwei­ten Re­pu­blik. In Öster­reich ent­stamm­te der Bun­des­prä­si­dent (bis­lang) fast im­mer ei­ner der bei­den Groß­par­tei­en (SPÖ, ÖVP) und führ­te sein Amt (meist) zu­rück­hal­tend »im Schat­ten« häu­fi­ger gro­ßer Ko­ali­tio­nen (Kirch­schlä­ger war der ein­zi­ge par­tei­lo­se Kan­di­dat der zwei­ten Re­pu­blik). Wer bös­ar­tig sein will, kann sa­gen: Das Land war oh­ne­hin auf­ge­teilt und der Bun­des­prä­si­dent woll­te da­bei nicht stö­ren. Dies führ­te zu der Fest­stel­lung vie­ler Bür­ger, dass man ein solch kon­se­quenz­lo­ses Amt nicht brau­che und man sich das Geld da­für spa­ren kön­ne; al­ler­dings: ei­ne sol­che Amts­füh­rung muss nicht schon per se falsch sein, sie soll­te al­ler­dings be­grün­det wer­den und in irgend­einer Be­zie­hung zu den weit­rei­chen­den Kom­pe­ten­zen des Am­tes ste­hen (braucht es die­se nun oder nicht und war­um wur­den sie – be­stehend seit 1929 – nicht längst ge­än­dert, wenn sie der po­li­ti­schen Rea­li­tät so gar nicht ent­spre­chen?). Hier­an schlos­sen die Diskus­sion nach der Wahl an: Wo­zu die­se weit­rei­chen­den Kom­pe­ten­zen, die letzt­lich vom per­sön­li­chen Wil­len (der Au­to­ri­tät) des je­wei­li­gen Bun­des­prä­si­den­ten ab­hän­gen und zu­dem kaum bis nie ge­nutzt wur­den, wie das Not­ver­ord­nungs­recht, das Recht die Re­gie­rung als Gan­ze zu ent­las­sen, das Recht ei­nen Land­tag oder den Na­tio­nal­rat aufzu­lösen (die er­sten drei wur­den nie an­ge­wen­det, das letz­te ein ein­zi­ges Mal von Mi­klas im Jahr 19301). Wei­ter­le­sen


  1. Eine Liste der Kompetenzen findet man dort

Ver­lo­ren im Pa­ra­dies

Filmplakat "Vor der Morgenröte - Stefan Zweig in Amerika" (X-Verleih)

Film­pla­kat »Vor der Mor­gen­rö­te – Ste­fan Zweig in Ame­ri­ka« (c X‑Verleih AG)

Ein üp­pi­ges Blu­men­bou­quet. Dann die To­ta­le auf ei­nen gro­ßen, fest­lich ge­deck­ten Tisch, in des­sen Mit­te die­se Blu­men lie­gen. Ser­vie­rin­nen le­gen letz­te Hand an. Die Kel­ler tre­ten ein. Die Mu­sik im Raum ne­ben­an en­det und die Tü­ren wer­den auf ein Si­gnal des Maitre hin ge­öff­net. Und es dau­ert nicht lan­ge, bis die er­sten Per­so­nen ein­tre­ten, den Tisch be­wun­dern. Man sucht ei­nen Tisch für Bü­cher. Ein Ge­wirr un­ter­schied­li­cher Spra­chen. Jockey-Club Rio de Ja­nei­ro, Au­gust 1936. Ein Fest­ban­kett. Der Eh­ren­gast ist Ste­fan Zweig, welt­be­kannt, ein Best­sel­ler­au­tor. Bra­si­li­ens Außen­minister Ma­ce­do So­arez (Vir­gi­lio Ca­ste­lo) stellt den be­rühm­ten Gast den Ho­no­ra­tio­ren des Lan­des vor. Acht Mi­nu­ten bleibt die­se Ein­stel­lung er­hal­ten. Kei­ne Schwenks, kei­ne Schnit­te. Es ist der Epi­log im Film »Vor der Mor­gen­rö­te«.

Nein, ei­ne Bio­gra­fie im klas­si­schen Sinn ist »Vor der Mor­gen­rö­te» nicht. Es sind sechs Epi­so­den (in­klu­si­ve Pro­log und Epi­log) zwi­schen 1936 und 1942. Sie zei­gen Ste­fan Zweig, wie es im Un­ter­ti­tel heißt, »in Ame­ri­ka«. 1936 war er 55 Jah­re alt. Zweig hat­te sei­ne im Au­stro­fa­schis­mus ver­sin­ken­de Hei­mat Öster­reich ver­las­sen und leb­te in Lon­don. In Deutsch­land wa­ren so­eben die Olym­pi­schen Spie­le zu En­de ge­gan­gen, die Hit­ler er­öff­net hat­te. Zweigs Bü­cher lan­de­ten 1933 auf dem Schei­ter­hau­fen. Er fühl­te sich hei­mat­los und er­nied­rigt.

Die Rei­se durch meh­re­re süd­ame­ri­ka­ni­sche Län­der 1936 hat­te ein fe­stes Ziel: Das PEN-Tref­fen in Bue­nos Ai­res vom 5. bis 15. Sep­tem­ber. Es ist die näch­ste Sze­ne im Film. 80 Schrift­stel­ler aus 50 Län­dern; nur zwei deutsch­spra­chi­ge Au­toren. Ne­ben Ste­fan Zweig ein ge­wis­ser Emil Lud­wig. Die Jour­na­li­sten drän­gen sich um Zweig. Die­ser wei­gert sich, die ver­ab­scheu­ten Na­zis öf­fent­lich an­zu­grei­fen. Ein In­tel­lek­tu­el­ler kön­ne nicht ra­di­kal sein, müs­se sich sei­nem Werk wid­men.

Zu Be­ginn der Sit­zung dann Emil Lud­wig (über­zeu­gend: Char­ly Hüb­ner) mit ei­ner Brand­re­de auf die Not­wen­dig­keit des po­li­ti­schen, klar Stel­lung be­zie­hen­den In­tel­lek­tu­el­len. Er trifft den Nerv der Teil­neh­mer. Da­nach wer­den die exi­lier­ten bzw. be­droh­ten deut­schen Au­toren auf­ge­zählt. Auch Zweigs Na­me fällt. Er ver­birgt sein Ge­sicht mit den Hän­den. Man glaubt, er weint. In ei­nem Brief an ei­ne Noch-Ehe­frau Fri­de­ri­ke be­schreibt er die Si­tua­ti­on an­ders. Er ha­be sich »wi­der­lich ge­fühlt« bei die­sem »Jahr­markt der Ei­tel­kei­ten«, der ihn an­ge­ekelt ha­be.

–> wei­ter­le­sen auf Glanz und Elend