Wenn Russland gewinnt geht inzwischen in die 5. Auflage und ist, als dieser Text entsteht, Platz 1 der Spiegel-Beststellerliste »Taschenbücher Sachbuch« und vom Verlag nicht lieferbar. Das liegt natürlich vor allem an der Prominenz seines Autors, Carlo Masala. Der Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr ist seit dem russischen Überfall auf die Ukraine in den Medien omnipräsent. Es ist unbestreitbar Masalas Verdienst, dass er die Notwendigkeit geopolitischen Denkens als existentiell wichtigen Teil einer Außenpolitik in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt hat. Sein 2022 überarbeitetes Buch Weltunordnung zeigte die Verwerfungen und Irrtümer des »Westens« der letzten dreißig Jahre auf. Deutschland wurde daran erinnert, sich seiner eigenen Interessen bewusst zu werden.
Masala befürwortete von Beginn an finanzielle Unterstützung, politische Westbindung und umfassende Waffenlieferungen für die Ukraine. Das Land sollte derart unterstützt werden, das für Russland die Kosten für eine Weiterführung des Krieges zu hoch und dadurch Verhandlungen auf Augenhöhe möglich wären. Den Einsatz von Atomwaffen durch Russland schätzte er eher gering ein. Im Gegensatz zu vielen Auguren und Experten sprach er allerdings meines Wissens nie von einem »Sieg« der Ukraine über Russland – wohl wissend, dass dies illusorisch wäre.
Parallel plädiert Masala für eine bessere Ausstattung der Bundeswehr und sah im »Zeitenwende«-Sondervermögen erst einen Anfang. Hier kam einem der Vergleich mit dem später recht kontrovers diskutierten Christian Drosten während der Corona-Pandemie in den Sinn (Masala lehnte den Vergleich ab). In den sozialen Netzwerken zeigte sich Masala bisweilen als Hitzkopf (was auch der Autor dieser Zeilen miterleben durfte).
Nach mehr als drei Jahren Zermürbungskrieg, der von Russland nicht nur auf dem Schlachtfeld sondern auch gegen die ukrainische Zivilbevölkerung geführt wurde und dem Präsidentenwechsel von Biden nach Trump scheint die Lage für die Ukraine schwieriger denn je zu sein. Die USA stellen nicht nur ihre militärische Unterstützung ein, sondern drohen auch mit dem Entzug der logistischen Hilfe (wie etwa Starlink oder Geheimdienstinformationen). Es fehlt an Nachschub von Munition. Bisweilen liest man, dass die bereits gelieferten Systeme wie Abwehrraketen von den USA »abgeschaltet« wurden und nur noch eingeschränkt nutzbar sind.
Die Unterstützung, die von den USA in der Vergangenheit geleistet wurde, ist durch Europa nicht adäquat zu kompensieren. Mittelfristig droht die Verteidigungsunfähigkeit der Ukraine. Die Folgen wären katastrophal. Russland könnte sich ermutigt fühlen, weitere Territorien des Landes anzugreifen. So droht seit geraumer Zeit durch eine Eroberung Odessas die Ukraine vom Seezugang abzuschneiden. Die Frage, die Masala aufwirft, was passieren sollte, wenn Russland gewönne, ist also durchaus realistisch.
Szenario März 2028
Masalas zur Zeit der Inauguration von Donald Trump fertiggestelltes Buch erhebt den Anspruch ein, wie er schreibt, realistisches Szenario zu entwerfen. Es spielt Ende März 2028. In einem kurzen Rückblick werden die Ereignisse ab 2025 rekapituliert: Die Ukraine hatte einen Diktatfrieden zu akzeptieren, verlor 20% ihres Gebietes an Russland und verpflichtete sich, nicht der NATO beizutreten. Die Sicherheit soll durch eine multinationale Friedenstruppe gewährleistet werden. Beschlossen wurde ein wirtschaftliches Aufbauprogramm für das Land, was jedoch teilweise auch den durch Russland okkupierten Gebieten zu Gute kommen soll. Immer wieder flammen Scharmützel auf und in den besetzten Gebieten hat sich eine Partisanen- und Guerillaarmee gebildet. Die Ukraine wurde innenpolitisch instabil, pro-russische Politiker gewinnen die Oberhand. Selenskyj rief Neuwahlen aus und verlor. Die USA richten ihren Fokus auf Asien.
In Masalas Szenario regiert 2028 in Frankreich ein Kandidat der Front Nationale. Die Wirtschaftslage ist in vielen Industrienationen prekär. Aber kurz scheint es so, als könne sich das Verhältnis zu Russland bessern. Putin war nach dem »Frieden von Genf«, den er in seiner Sichtweise als Sieg verbuchte, zurückgetreten. Neuer Präsident wurde der 47jährige Volkswirt Oleg Obmantschikow (natürlich ein fiktiver Name), der ein wenig in Gorbatschow-Manier auf den Westen zugeht und beispielsweise neue Rüstungskontrollverhandlungen anregt. Die kriegsmüden Europäer (darunter die deutsche SPD) nehmen dies gerne zum Anlass, um die Verteidigungsanstrengungen in Zeiten knapper Kassen zu überprüfen und teilweise zurückzunehmen.
Narwa und Hiiumaa
Und dann dringen im März 2028 zwei russische Brigaden in die 57.000 Einwohner-Grenzstadt Narwa in Estland ein und übernehmen dort nach wenigen Stunden das Kommando. Narwa wird mehrheitlich von einer russischsprachigen Bevölkerung bewohnt. Später wird die Eroberung damit begründet werden, dass Estland die dort lebende russische Bevölkerung diskriminiert hat und die Sprache unterdrückt. Gleichzeitig wird die strategisch wichtige Ostseeinsel Hiiumaa durch russische Truppen erobert. Damit kontrolliert man den Schiffsverkehr auf der Ostsee. »In nur einer Nacht bringt Russland zwei estnische Städte unter seine Kontrolle und überrumpelt die gesamte NATO«, so der Ausgangspunkt des Szenarios.
Bis auf einen Ausflug in Mali werden im weiteren Verlauf die politischen Aktivitäten und Beratungen der beteiligten Parteien aus Washington, Brüssel und Moskau geschildert. Während der US-Präsident (Trump wird nicht namentlich erwähnt) und etliche südeuropäische Länder zusammen mit Frankreich und Ungarn erst einmal die weitere Entwicklung abwarten wollen, verständigt man sich in Moskau auf »Kontrolle und Eskalation«. Eine Aktion über finnisches Gebiet wird verworfen. Stattdessen setzt Russland als weiteres Zeichen auf der unbewohnten und vegetationslosen Hans-Insel, die lange ein Streitobjekt zwischen Kanada und Dänemark/Grönland war und hisst dort eine russische Flagge unter Mithilfe eines atombetriebenen U‑Bootes, was natürlich für Aufsehen gesorgt hatte.
Das Kernstück der Buches ist die Begegnung eines russischen Spitzendiplomaten mit dem Nationalen Sicherheitsberater der USA in Washington, wenige Stunden nach den Besetzungen. Masala suggeriert hier, dass die reine Bekräftigung des russischen Emissärs, »um jeden Preis« ihre »im Ausland lebenden Landsleute vor Verfolgung und Unterdrückung« zu beschützen, genügt, dass in der später erfolgenden NATO-Versammlung Estland gezwungen wird, ihren Antrag auf Beistand zurückzuziehen. Die Schilderung dieser Zusammenkunft ist der zweite Höhepunkt des Szenarios. Mit den hier entwickelten militärisch möglichen Eskalationsszenarien, wenn etwa die in Estland stationierten US-Soldaten eingreifen würden, ist die Entscheidung eindeutig: Für Narwa und eine Insel begibt man sich nicht in das Risiko, einen Dritten Weltkrieg an.
Postkarte
Auch die hybriden Kriegsformen (darunter der Abschuss des Flugzeugs mit dem Chef des deutschen Rüstungskonzerns, der hier verballhornt »Ruhreisen« heißt) und den Ablenkungsmanövern der Chinesen vor den Philippinen würden, so die These, keine Intervention, nicht mal eine Verteidigung zur Folge haben. Die NATO würde die lokal begrenzte Verletzung des Territoriums eines ihrer Mitglieder hinnehmen. Es kommt einem das Bonmot des 2018 verstorbenen John McCain in den Sinn, der nach der Qualität der Beistandsverpflichtungen nach Artikel 5 gefragt, antwortete, es könne alles sein, von der Postkarte bis zum Atomschlag. Nach Masalas Planspiel ist es die Postkarte. Er liefert noch ein kleines Schmankerl am Ende und entlässt den Leser zum Nachwort.
Zweifel an der Bündnistreue der USA wurden immer wieder thematisiert. Ich erinnere mich an eine Episode aus Henry Kissingers Buch Staatskunst. Das passive Verhalten zu ihren Verbündeten während der Suez-Krise ließ die Skepsis von Konrad Adenauer in Bezug die Zuverlässigkeit der USA wachsen. Es war an Henry Kissinger, dem Alten unter vier Augen »die Zuverlässigkeit der amerikanischen Nukleargarantie« zu erläutern und seine Ängste zu zerstreuen. Ein paar Jahre blieb Adenauer überzeugt. Ob man wirklich mit letzter Kraft für West-Berlin eingetreten wäre, bleibt glücklicherweise eine offene Frage.
In Wenn Russland gewinnt gibt es eine Szene aus den Beratungen aus Moskau, in der das Risiko thematisiert wird, dass man, sollte die Strategie scheitern, wie »der Schwächling Chruschtschow damals 1962 in der Kuba-Krise« nachgeben müsse. Die Antwort gab man sich schon vorher, als der Westen als »schwach« bezeichnet wurde. Geht es nach Masala, bleibt die russische Drohung ein Bluff. Das kann man als die Botschaft dieses zuweilen im Brecht’schen Stil verfassten Szenarios ansehen.
Im Kalten Krieg galt es als ausgemacht, dass ein atomarer Erstschlag einen umgehenden, vermutlich stärkeren Zweitschlag zur Folge hätte. Von den Großmächten ausgehende aber regional begrenzte Konflikte wurden ohne direkte Konfrontation geführt; wenigstens eine Konfliktpartei war ein »Stellvertreter«. Nur einmal, 1951 im Korea-Krieg, erwog der amerikanische General MacArthur den Einsatz einer Nuklearwaffe. Er wurde nicht zuletzt deshalb von Präsident Truman abgesetzt.
Wenn inzwischen die reine Drohung, in einem regionalen Konflikt eine strategische Atomwaffe einzusetzen, verfangen sollte, dann werden Atommächte künftig ihre imperialen Interessen relativ einfach damit durchsetzen können. Wenn derart das Recht des Stärkeren gilt, dürften sich Regionalmächte verstärkt genötigt fühlen, in den Besitz von Atomwaffen zu kommen.
Symbolpolitik statt Strategie
Masala referiert im Nachwort über die fehlende Strategie des Westens im Krieg um die Ukraine. Man hat zwar Waffen geschickt, aber immer erst mit größerer Zeitverzögerung und dann teilweise mit Auflagen. Sich selber spart er dabei aus, obwohl die oben beschriebene Situation, dass die Ukraine Russland durch militärische Erfolge an den Konferenztisch zwingen kann, ähnlich unpräzise ist, wie die von ihm skizzierten Politikerphrasen. Russland spielte – und hierauf weist Masala hin – von Anfang an auf eine Ermattung des Westens. Dabei agierte er ohne Rücksicht auf die eigene Bevölkerung, was nur eine Diktatur kann. Zwar haben Russland und die Ukraine eine ähnliche, sehr niedrige Geburtenrate (1,42 : 1,27), mit der man eigentlich nach Gunnar Heinsohn keine Kriege führt, aber Russland hat mit 143 Millionen gegenüber 37 Millionen eine fast vier Mal größere Bevölkerung.
Viel zu wenig wird die mangelhafte Strategie der Regierung Biden untersucht, die womöglich nicht daran dachte, die Ukraine zu unterstützen. Als die Russen ihre Invasion begannen, bot Biden Selenskyj und seinem Kabinett die Möglichkeit eines gesicherten Abzugs an. Dieser lehnte mit dem ikonisch gewordenen Satz »I need ammunition, not a ride« ab. Später gab es die Versicherungen, die Ukraine zu unterstützen »as long as it takes«. Aber es blieben eingeschränkte Unterstützungen. Man vermied einen vollends auf Konfrontation gerichteten Kurs. Entgegen allem Maulheldentums kam dies den Europäern entgegen. Die verschanzten sich größtenteils hinter den USA und reagierten nur (die Ausnahme bildeten die Balten und Polen). Als kurz nach Kriegsbeginn Draghi, Scholz und Macron im Zug nach Kiew fuhren, hatten sie nicht Zusagen für dieses und jenes Waffensystem im Gepäck, sondern zeigten stolz einen Zettel, der (in einer unbestimmt gehaltenen Zukunft) der Ukraine eine EU-Mitgliedschaft in Aussicht stellte. Das war exemplarisch für eine Symbolpolitik, die auf einem Schlachtfeld keinen Nutzen hat. Unendliche Male klopfte man danach Selenskyjs Schultern, aber man behandelte ihn wie einen Patienten, dem man die lebensrettende Operation nicht zumuten wollte und stattdessen Globuli verschrieb.
Eine Einigkeit auf niedrigstem Niveau waren der NATO bzw. der EU im Zweifel wichtiger, als die Formulierung einer robusten Strategie, die dann konsequent hätte umgesetzt werden müssen. Länder wie Ungarn und die Türkei spielten Katz und Maus mit den europäischen Mittelmächten. Die NATO wollte aus verständlichen Gründen nicht als Kriegspartei erscheinen. Vielleicht hätte man eine informelle Gruppe außerhalb der bestehenden Strukturen schaffen müssen. Die Sanktionen gegen Russland hatten/haben gewollte Schlupflöcher. Wenn in Talkshows im russischen Fernsehen Atombomben auf Berlin, London oder Warschau fliegen ist der friedensbewegte Boomer schockiert und sucht in Wahlen bei Putin-Apologeten Schutz.
Bei öffentlichen Auftritten variiert Masala zuweilen sein Szenario. Es könnten auch, so seine Überlegung, wie bei der Besetzung der Krim 2014 »kleine grüne Männchen«, also keine regulären Soldaten, über die estnische Grenze ihre russischen »Landsleute« »beschützen« wollen. Möglich ist das. Hier wäre das Resultat vermutlich identisch. In einem anderen, von den beiden Generälen a. D. John R. Allen und F. Ben Hodges und dem Publizisten Julian Lindley-French 2021 publizierten Buch Future War wird von einem russischen, konventionellen Überraschungsangriff auf die baltischen Staaten, unter anderem mit Hyperschallraketen erzählt. Mit parallel stattfindenden Cyberattacken würden zeitnah Verteidigungssysteme der NATO-Staaten ausgeschaltet. Dieses Planspiel wird für 2030 entwickelt. In dreizehn Tagen hätte hiernach Russland das Baltikum erobert; eine Verteidigung der NATO bliebe fast vollständig aus und es gibt keine nukleare Entgegnung. Die drei Autoren erklären dezidiert, wie die NATO sich aufzustellen hat, um einer solche Entwicklung vorzubeugen. Die zentrale These des Buches lautet, »dass eine solide nationale Verteidigung angesichts der künftigen Kriegsführung ein neues, umfassendes Sicherheitskonzept erfordert, bei der individueller Sicherheit und nationale Verteidigung im Einklang stehen«.
Der deutsche Wohlstandspazifismus
Wenn Russland gewinnt soll vermutlich aufrütteln, aber in seiner nüchternen Extrapolation des Status quo in die Zukunft vermittelt sich ein eher deprimierendes Bild. Selbst wenn man nicht an einen Angriff Russlands auf ein NATO-Land glaubt, dürfte der russische Imperialismus ein dauerhafter Unruhefaktor insbesondere was die Ukraine angeht, bleiben. Hier sei noch einmal die Lektüre von Zbigniew Brzezinskis The Grand Chessboard empfohlen, der bereits 1997 auf die eminente, geopolitisch und mystisch aufgeladene Bedeutung der Ukraine für Russland hingewiesen hatte. Ähnlich dürfte es mit Georgien aussehen. Auch hier wird Russland mit allen Möglichkeiten auch der hybriden Kriegsführung versuchen, eine Annäherung des Landes an den Westen zu verhindern.
Bleibt die Frage, wenn, wie Masala mutmaßt, die Verteidigungsbereitschaft im Bündnis derart gering sein sollte: Warum gibt es dann überhaupt noch die NATO in dieser Konstellation? Und ist dann eine Verbesserung der konventionellen Aufrüstung in Europa und speziell in Deutschland überhaupt sinnvoll? Zumal, wenn ein großer Teil der deutschen Bevölkerung daran wenig oder gar kein Interesse hat? Während die Esten, Litauer oder Polen für ihr Land und ihre Freiheit kämpfen würden, erreichen in Deutschland Bücher, die sich explizit der Verteidigungsbereitschaft des Landes widersetzen, Bestsellerstatus. Zudem ist die Bundeswehr praktisch von Beginn ihrer Gründung 1955 an eine gesellschaftlich eher unbeliebte, bisweilen als überflüssig deklarierte Institution. Der Akt der Verweigerung des Grundwehrdienstes galt immer als besonders progressiv. Dass die Bundeswehr als Verteidigungsarmee konzipiert wurde, blendete man entweder aus, oder lehnte eine solche rundherum ab. Aus diesem Personenkreis formieren sich diejenigen, die der Ukraine die Kapitulation nahelegen. Der breit verankerte Wohlstandspazifismus Deutschlands ist ein über Jahrzehnte, absichtsvoll gezüchtetes Produkt eines Exorzismus des National- und vor allem des Freiheitsgefühls. Noch heute gelten vielerorts die deutsche Fahne und Hymne als Provokation. Als 2010 versuchsweise ein gewisser Robert Habeck für einen neuen, linken Patriotismus warb, wurde er aus den eigenen Reihen kritisiert und zum Teil rüde beschimpft.
Carlo Masalas Szenario zeigt, dass nicht nur das gesellschaftliche Klima sondern auch die Politik des Westens eskapistisch geworden ist. Die Friedensdividende hat müde gemacht. Das zeigt sich auch in den Verharmlosungen der islamistischen Bedrohungen. In Deutschland hat es eine gewisse Tradition, sich politischen Verhältnissen anzupassen: Kaiserreich, Nazi-Diktatur, SED-Einheitsstaat. 1989 war die Ausnahme, die viele bis heute glauben lässt, man brauche nur ein paar Versammlungen, um eine Diktatur zu stürzen.
Nur ein bisschen Kritik in der Sache: »Russland spielte – und hierauf weist Masala hin – von Anfang an auf eine Ermattung des Westens.«
Stimmt meines Wissens nicht. Es gab die Phase »Verhandlungen«, vor 2022, Ende 2021. Kontakte nach Brüssel. Briefe. Warnungen. Damals hat man die Europäer in Moskau noch ernst genommen. Dann gab es die Phase »Hauruck durchs Gebüsch«. Der Marsch auf Kiew, mit kleiner Truppe, und die Verhandlungen in Istanbul. Und dann kam das »Spiel«, ab Herbst 2022, sprich der Abnutzungskrieg, mit der Wette auf die Ermattung des Westens.
Aber das wäre nur ein Einwand im Detail. Dass sich Masala der Spekulation bedient, ist eine beträchtliche Zumutung. Geopolitik?!?! Wohl eher Geo-Polizei-Lage-Simulation. Sicherung von großen, liberal-bürokratisch verwalteten Flächen, grob angesprochen durch das Symbolwort »Europa«... Immerhin kann er damit den wesentlichen Punkt verdeutlichen, der uns wirklich alle aus den Socken gehauen hat: die Hypnose aus dem Kalten Krieg, wonach Atomwaffen den ewigen Frieden durch ihr Abschreckungspotenzial garantieren, endete mit einem Schwall Wasser ins Gesicht. Stimmt. Das haben wir alle übersehen. Eskalationsdynamiken können machtpolitisch bespielt werden, und die Europäer beherrschen davon nicht mal das kleine Einmal-Eins. Ein bisschen Krieg ist immer. Alles nur eine Frage der Nerven.
Die NATO (so müsste Masala schlussfolgern) ist untauglich für die europäischen Sicherheitsinteressen, zumal auf dem Kontinent nicht alle »Werkzeuge des Friedens« vorhanden sind... Wir bräuchten nämlich das ganze Sortiment. Aber das kann der Allianz-Mensch Masala natürlich nur ins Kopfkissen flüstern.
Ja, und Deutschland kann sich eigentlich nur noch in der »Mitte Europas« verstecken. Dabei kämen wir strategisch durchaus klar, wenn wir das Muster des »kleinen Krieges« unterhalb der atomaren Schwelle richtig analysieren, beispielsweise wie Oberst Reisner das sehr gut macht. Daran muss man die Rüstung ausrichten. Aber wir haben keine Politiker, die den Wohlstands-verwirrten Restdeutschen komplizierte Strategien verkaufen könnten. Masala versucht wohl die Abkürzung am Personal vorbei über das Buch. Aufrütteln der Generalstände. Keine Chance! Jetzt gibt es allenfalls eine strategisch schwammig begründete (aber hoffentlich militärisch einigermaßen effiziente) konventionelle Aufrüstung. Keiner weiß, wohin die Reise geht. Szenario statt Zukunft.
Naja, die »Verhandlungen« vor und nach 2021 waren ja angelehnt an die Minsker Abkommen, die für eine Befriedung sorgen sollten, die nie eintrat. Die Verhandlungen in Istanbul nach der Invasion wurden ja von der Ukraine nach Butscha gestoppt, was sich heute als Fehler herausstellt. Spätestens danach hätte »der Westen« eine Strategie formulieren müssen – aber das ist ausgeblieben, nicht zuletzt weil Biden bzw. dessen Regierung unbedingt eine direkte Konfrontation mit Russland vermeiden wollten. Die USA hatten aus verständlichen Gründen überhaupt kein Interesse daran. Die Europäer simulierten Stärke, feuerten ähnlich Fußball-Ultras in der Kurve die Amerikaner an. Aber sie waren und sind nur ein Hühnerhaufen.
Masala ist zu sehr in den bestehenden Strukturen verhaftet, um die wachsende Bedeutungslosigkeit der NATO klar benennen zu wollen. Als militärischer Erklärer taugt er nicht. Das ist auch nicht seine Intention, weil er weiß, dass das in Deutschland kein Publikum haben würde.
Eine konventionelle Aufrüstung in Europa wird sicherlich bestimmte Materialprobleme lösen. Aber einer Gesellschaft, die sich mehrheitlich weigern würde, ihr Land zu verteidigen, hilft dies halt nicht. Nationalbewußtsein war ja immer »böse«. Den Leuten jetzt das Gegenteil zu erklären, fällt schwer.
Der letzte Punkt ist mir natürlich aufgefallen. Aus ihrer Lektüre gewinne ich den Eindruck, dass Masala die Schwäche des Westens nur intuitiv erfasst, und keine soziologische Analyse daran knüpft. Kann gut sein, dass die »passiv-aggressive« Biden-Administration diesen Wirkungstreffer aus der Jetztzeit noch 3 Jahre lang verschleiern half, natürlich indirekt, weil die Scharfmacher-ohne-Land in dieser Konstellation leichtes Spiel hatten, in ihren jeweiligen Diskurshabitaten. Was haben wir nicht schon für Kriege gewonnen, auf dem Papier, in der Talkshow oder im Internet.
Sie haben diese Betrachtung des verunglückten Pazifismus doch dem Buch auferlegt, oder?! Masala atmet diese Mallaise »mittels Reflexion und Szenario« doch einfach weg, wenn ich das richtig errate. Er berührt nicht die thymotischen Fragen, die mit Krieg und Frieden verbunden sind.
Das ist auf jeden Fall das Thema der Stunde, das gerade gestern mein junger Schwiegersohn wieder auf den Tisch brachte: »Ich weiß nicht, wofür...!«. Ich muss gestehen, abseits von allem Dünkel und natürlich der gefühlten geopolitischen Expertise, bin ich ebenfalls völlig ratlos. Ich erachte das als Entzugsschock, verursacht durch einen trivialen europäisierenden Idealismus, der uns die letzten 30 Jahre narkotisiert hat. Was haben wir nicht für Rhetorik erlebt, wofür die Leute alles sterben würden, oder ihr letztes Hemd geben. Die Freiheit. Die Werte. Die Menschenrechte. Aber unter dem unvermeidlichen »hysterischen Werte-Lack« der westlichen Gesellschaft haust doch ein sehr zäher Opportunismus. Den kann man nicht eben mal auf Linie bringen.
Hier und heute kommt eine ideologisch oder (sollen wir es wagen) geo-geschichtlich bislang völlig unbekannte Herausforderung ans Licht... Der Amerikanische Interventionistische Liberalismus, ausgehend vom territorial gesicherten Kontinent hat uns wohl völlig in die Irre geführt bzw. blöd werden lassen. Dieser Liberalismus ist gar nicht unser Modell, weil er auf soziologisch völlig anderen Tatsachen beruht, und nicht vom Budget allein begrenzt wird. Die Armee ist in den U.S.A. ein wichtiger Arbeitgeber. Und Arbeit ist bei knapper Sozialfürsorge ein leitendes Kriterium bei den Entscheidungen junger Erwachsener, vorallem bei den einfachen Leuten. Nur damit kriegt man die individualistische Trajektorie des Liberalismus gebogen, zur Supermacht, mit dem Export-Schlager »Freiheit«. Aber das ist Amerika. Das sind wir nicht. Wir ziehen es vor, die Sozialhaushalte aufzustocken (Mann, ist das »rechts«. Entschuldigung!) und die Armee aufzulösen, weil wir nur noch von Freunden umgeben sind.
Deshalb der Reinfall ins Unmögliche, denn wie könnten wir diese unangenehme jähe Herausforderung auf die europäische Schiene bringen?! Kurz nachdenken... Gar nicht. Da ist die große Politik im Weg. Die große Politik von gestern. Die allzu leichte große Politik von gestern. Wer wird denn nur ein Land verteidigen, wenn sich so viel Größeres anbietet?! Es knackt im Gebälk, Herr Masala.
Der »verunglückte Pazifismus« der Deutschen schwingt natürlich mit, wenn von einem Szenario, wie es Masala entwirft, gesprochen wird. Er hält sich da bedeckt, weil er all die Friedensmenschen nicht brüskieren möchte; er glaubt, man könne sie überzeugen.
Der »Werte-Lack«, von dem Sie sprechen, ist eine Ausgeburt des Mauerfalls. Soviel Glück hatten wir uns gar nicht mehr zugetraut, daher die umfassende Skepsis, die nur langsam wich. Dann aber schwelgte man. Auch der 11.9.2001 konnte dem nichts anhaben; Afghanistan war weit weg, die Terroranschläge in Europa wurden zu Kollateralschäden des modernen Lebens abgetan. Bis heute. Inzwischen mehren sich die Verschwörungstheorien, Putin könnte auch hinter diesen bzw. ähnlichen Anschlägen stecken. Was diese ganzen James-Bond-Wiederholungen doch so anrichten können…
Dass ausgerechnet Trump den Linken den jahrzehntelangen Traum erfüllt, die NATO wirkungslos und die USA wieder isolationistisch zu machen, können die gar nicht begreifen. Gerade jetzt hätten sie es gerne anders, würden allzu gerne unter der kuscheligen Bettdecke der Amerikaner kriechen. Immer, wenn die Amerikaner isolationistisch agierten, brachen in Europa Kriege aus. Daher das Gebaren nach 1945 als Supermacht. Schlecht war das für uns, wie wir heute wissen, nicht. Vor allem bequem.
Inzwischen ist Europa weniger interessant geworden. Die Zukunft liegt in Ostasien. Hier hat die Saturiertheit der letzten 30 Jahre noch keine Spuren hinterlassen. Die Mär, dass der Kapitalismus Demokratie bringt, ist auch ausgeträumt. China kann nur implodieren; auch hierfür gibt es Vorbilder. Ich wünsche mir, das nicht mehr zu erleben.