Die Feindschaft zum Staat als Repressionsinstanz, »Atomstaat«, »Bullenstaat«, als paternalistischer Akteur, Hüter fauler Kompromisse, verstellte den grünen Blick darauf, was (mit einem) geschehen würde, wenn man selbst zu dem gehörte. Der zivile Mut wollte immer über den Staat hinaus, zielte auf die Idee eines Gemeinwesens ohne Staat. Als dann rot-grün 1998 an die Regierung kam, waren die liberalen Vorstellungen von Gemeinwohl nicht mehr gegen, sondern mit dem Staat durchzusetzen. Auf diesen Schritt waren die progressiven Kräfte schlecht vorbereitet und sind es bis heute.
Hart geht Robert Habeck, 41, Fraktionsvorsitzender der Grünen im schleswig-holsteinischen Landtag, mit der Linken im Allgemeinen und seiner Partei im Besonderen ins Gericht (womit die politische Richtung und nicht dezidiert die Partei »Die Linke« gemeint ist). Nach rot-grün, so Habecks These, habe das Land in einer Großen Koalition, die ihre Chancen leider (!) sträflich verpasst habe, vier Jahre verloren. Schwarz-gelb ist keinen Deut besser; die Lethargie spürbar, wobei er wohl richtig liegt, dass es diese Koalition für längere Zeit zum letzten Mal gegeben haben dürfte. Aber der dichotomische Lagerwahlkampf »rechts« gegen »links« bringt uns nicht mehr weiter. Die Welt ist komplexer geworden; Mechanismen, die in der Vergangenheit ihre Berechtigung hatten, greifen nicht mehr.
Habeck begnügt sich nicht mit der Aufzählung der Fehler der anderen. Er wendet den Blick auf die rot-grünen Regierungsjahre, um aus diesen Fehlern zu lernen. Er war jemand, der sich einen gesellschaftlichen Aufbruch versprochen hatte; ein »Projekt«. Elan und Enthusiasmus waren groß. Und verpufften so schnell. Früh stellte sich der Blues ein. Es gibt Gründe, die zu dieser Dialektik aus Versprechen und Enttäuschung geführt haben. Aber letztlich geht es um Aufbruch und nicht Rückblick. Dieser Aufbruch soll keine Fortführung einer Politik des kleineren Übel[s] werden. Ernüchternd aber korrekt die Feststellung, dass es keinen Fall in der jüngeren Geschichte gegeben hat, aus der die Linke als Siegerin hervorging. Robert Habeck propagiert nicht mehr und nicht weniger als eine Neuorientierung der politischen Linken, zu der er wie selbstverständlich die Grünen zählt.
Der »Geschmack des Abgestandenen«
Einige Diagnosen und Thesen sind aus der Feder eines Politikers durchaus verblüffend und werden naturgemäss in bestimmten Kreisen für die (ritualisierte) Empörung sorgen. Etwa wenn er schreibt, dass es der aufgeklärten Linken bisher nicht gelungen sei, den Erzählungen über den Werteverfall einen neuen, starken, aufregenden, die gesellschaftliche Debatte fokussierenden und herausfordernden programmatischen Entwurf entgegenzusetzen. Ja, es ist ihnen noch nicht einmal gelungen, herauszuarbeiten, um was für eine Debatte es eigentlich geht. Wo linke Ideen geäußert werden, umgeben sie ein Gewand des vergangenen und ein Geschmack des Abgestandenen. Marx hält er für regressiv, sein Denken sei allzu stark auf die Ökonomie ausgerichtet. Vehement seine Kritik an der Partei »Die Linke« und auch an die Jusos der SPD. In den programmatischen, antikapitalistischen Politik- und Gesellschaftsentwürfen der aktuellen Juso-Vorsitzenden Franziska Drohsel sieht er nur eine latente Hilflosigkeit, mit altbackener Sozialismusromantik aktuelle Probleme der Zeit lösen zu wollen.
Das Fundament für die neue Politik wird in der Überwindung der linksliberalen Gleichgültigkeit gegenüber dem Staat gelegt. Jahrzehntelang waren Begriffe wie »Patriotismus« oder »Gemeinwohl« zu Unwörtern geworden – natürlich durchaus berechtigt aufgrund des hohen Missbrauchspotentials und in Anbetracht der historischen Katastrophen zweier Weltkriege. Habeck sieht es nun an der Zeit, der politischen Rechten diese Begriffe durch eine offensive Neudefinition zu entreißen und selber produktiv zu machen. Im ersten Dritten und letzten Fünftel seines Buches plädiert er eindringlich und durchaus gefällig für einen neuen, linken Patriotismus, zu einem positive[n] Bekenntnis zu der Gesellschaft, in der man agiert. (Dabei wirft Habeck auch seine persönliche Lebenssituation in die Waagschale: er ist Vater von vier Kindern, Freiberufler und lebt mit der Schriftstellerin Andrea Paluch zusammen.)
Gemeinwohl und Fan
Als Adressat und Verbindung zwischen den Gegensätzen zwischen »Liberalität« und »Paternalismus«, zwischen »verantwortungsvoll« und »kreativ«, zwischen »Bürger« und »Konsument« braucht man ein positives Gesellschaftsverständnis. Man braucht es, um eine sinnstiftende, politische Erzählung zu schaffen, die Zutrauen und Zuversicht gibt, dass Veränderungen gut sind und es sich lohnt, für sie zu streiten. Man braucht eine Erzählung, die auf Veränderung setzt, auf Gerechtigkeit und Internationalität. Dieses Engagement nenne ich einen »linken Patriotismus«.
Selbstredend, dass es nicht um eine Wiederbelebung nationalistischer Umtriebe geht. Patriotismus als Vaterlandsliebe lehnt Habeck ab. Ich wusste mit Deutschland nichts anzufangen und weiß es bis heute nicht heißt es arg nassforsch. Den Nationalstaat hält er für überholt. Auch einen Regionalpatriotismus (und sei es als eine Art »Überbrückung« zum Nationalstaat und sozusagen vorgeschaltet zu supranationalen EU) lehnt er als politisch rückständig schroff ab; allerdings nicht ohne zu gestehen, im Alltag gelegentlich selbst in diese Kategorie zu verfallen. Dennoch sieht er nicht mit linker Verachtung auf die patriotischen Wellen 1989/90 und anlässlich der Fußball-WM 2006 herab. Aus den Erfahrungen mit den beiden so unterschiedlichen Ereignissen versucht er, den Begriff des Patriotismus vom nationalstaatlichen Mief zu entkoppeln. Statt als Angehöriger eines Volkes solle man sich als Fan fühlen; ein nettes Gedankenspiel. Freimütig bekennt er:
War es noch in den rot-grünen Jahren schick, sich in die patriotische Gleichgültigkeit zurückzuziehen, ziehe ich jetzt einen anderen Schluss. Ja, ich bin der Meinung, dass es genau jenes unaufgeklärte Verhältnis zum Gemeinwohl war, das das rot-grüne Projekt so schnell müde und nach Verrat hat aussehen lassen. […] Wenn wir nicht auch das nächste Jahrzehnt zu Nulljahren machen wollen, dann muss die gesellschaftliche Debatte nun raus aus ihren Löchern. Dass Deutschlands Geschichte über weite Strecken eine der Barbarei war, heißt nicht, dass man sich darum nicht zu scheren braucht, dass Zivilcourage und Einsatz nichts nützen. Erstens würde man damit das Land nur erneut den Barbaren ausliefern, zweitens würde man eine völkische Denkweise übernehmen, nämlich dass es so etwas wie den Geist einer Nation gibt. Intellektuelle Redlichkeit zwingt zum Bemühen um einen linken Patriotismus. Die ganze trotzige Haltung des Protests und der Konfrontation ist heute eher ein Hindernis zu echtem Engagement.
Aus einer bloßen Romantik des Aufbegehrens führt, so die einleuchtende und kluge These, der Weg durch die Institutionen schnell in eine Assimilation mit dem bourgeoisen Bürgertum. Das wird am Beispiel von Gerhard Schröder personalisiert, darf aber auch als Seitenhieb auf einige grüne Anzugträger verstanden werden. Habeck will weg von der griesgrämigen Linken, die sich in der Macht zu schnell zurechtfindet und ihre Ideale allzu eilig einem falschen Pragmatismus opfert. Der Marsch durch die Institutionen soll in kritischer Sympathie erfolgen, nicht in vorauseilender Abwehr.
Institutionspatriotismus
Habeck zitiert Rorty und Habermas und plädiert in punkto Einwanderung für Integration statt Exklusion. »Landsleute« sind für ihn nicht völkisch oder nach Abstammung definiert, sondern alle im Land lebenden Menschen (was dann das eigentlich abgelehnte Prinzip der Territorialität über die Hintertür wieder einführt). Einen Fragekatalog zur Einbürgerung lehnt er ab. Am Horizont leuchtet bisweilen Ulrich Becks kosmopolitischer Internationalismus auf, ohne direkt erwähnt zu werden. Linker Patriotismus ist für ihn ein rationaler Gesellschaftsvertrag mit einer emotionalen Ansprache, eine[r] gemeinsamen Idee, damit ein Pathos der Zusammengehörigkeit entstehen kann, in dem das Gemeinwohl wieder neu entdeckt wird.
Hehre und längst überfällige Worte – insbesondere auch, was die Selbstreflexion angeht. Da der Name Habermas früh fällt und auf Seite 35 einem Verfassungspatriotismus das Wort geredet wird, ist man überrascht, wenn als Kronzeuge hierfür Richard von Weizsäcker genannt wird. Mit dem Verfassungspatriotismus wird eine Gesellschaft von Bürgern angestrebt, die sich ihrer Rechte, aber auch ihrer Pflichten bewusst sind. Habeck füllt diesen Begriff allerdings kaum weiter aus. Er belässt es bei Umkreisungen und beschwört Solidarität und Identifikation über Institutionen respektive das Grundgesetz auszurichten. Ob man hiermit Fans gewinnt, bleibt fraglich.
Wenn dieser Institutionspatriotismus am Ende über die EU hergestellt werden soll (wie Habermas präferiert er die EU als Bundesstaat), obwohl Habeck durchaus kritisch konstatiert, dass die emotionale Zuspitzung zur Europäischen Union fehlen, zeigen sich die Vorschläge dazu als ein bisschen dürftig: Steigerung der Lebenszufriedenheit als Indikator statt ein ökonomisch überaus zweifelhaftes »BIP«-Denken; Änderung des Wahlrechts (zu Gunsten aller in Deutschland lebenden), um auch Migranten mehr in die Gemeinschaft einzubinden; ein Zivildienst, der abgekoppelt vom Wehrdienst ist, aber freiwillig sein soll (und vielleicht nur bei der Studienplatz- oder Ausbildungsplatzvergabe gewisse Nominierungsvorteile bringen soll); Politiker, die auch in ihren Amtszeiten Bürger bleiben und nicht »abheben«.
Ausdrücklich bekennt sich Habeck zum Kapitalismus und für das Ziel einer neuen, moralische[n] Art des Wachstums. Beides sei politisch und ökologisch auszugestalten. So wird von einem lokalpolitischen Projekt mit dem CDU-Ministerpräsidenten berichtet, in dem er mit diesem und im Konsens mit Bürgerinitiativen und Investoren ökologische Standards und ökonomischen Nutzen zusammengeführt habe, ohne »faule Kompromisse« eingegangen zu sein. Antikapitalismus sei dumm. Demokratie funktioniere ohne Markt nicht (umgekehrt – siehe China – übrigens durchaus). Die Wirtschaft brauche Effizienz und Wettbewerb. Für Herstellung von Solidarität sei allerdings die Politik verantwortlich, nicht die Wirtschaft, die originär andere Ziele verfolge. Habeck zeigt anschaulich, wie die ideologische Pervertierung des Begriffs der »Freiheit« durch marktliberale Kräfte seit Anfang der Achtziger Jahre (für ihn ist das sogenannte »Lambsdorff-Papier« der Auslöser gewesen) voranschritt (leider verwendet er den inkorrekten Begriff »neoliberal« hierfür mehrfach).
Die Alternative schlanker vs. schwacher Staat hält er für falsch und führt dies beispielhaft für eine reduktionistische, auf Slogans fixierte, affektgesteuerte Politik auf (wobei er abermals die eigene Partei nicht schont). Sein Unwort des Jahrzehnts lautet alternativlos. Ausdrücklich muss immer jede Entscheidung für sich gesehen werden. Mal kann es sinnvoll sein, dass sich der Staat zurückzieht, mal ist es unumgänglich, dass er strenge Vorgaben macht oder gar das Ruder übernimmt. Sehr interessant, wie er die falsche, linke Industriepolitik der letzten Jahrzehnte kritisiert, die mit ihren Hilfen für Kohletagebau [und] Autoindustrie entgegen aller Beteuerungen letztlich Konzernpolitik war. Dazu hätte man gerne mehr gelesen, zumal Habeck ausdrücklich für einen sanften Paternalismus eintritt, der zwar die Erziehung des Menschen zum »richtigen« Verhalten ablehnt, aber sehr gezielt in entscheidenden Situationen Anreize setzen möchte.
Ungenauigkeiten im Mittelteil
So heißt denn das zweite Kapitel, welches mit rund einhundert Seiten fast die Hälfte des Umfangs des Buches ausmacht, »Sanfter Zwang zur Freiheit«. Eine Überschrift, die ja durchaus dem Charakter grüner Politik entspricht. Der linke Patriotismus dient hier als Fundament für einige gesellschafts- und sozialpolitische Veränderungen, die durchaus interessant sind. Aber statt an zwei, drei Punkten konkreter zu werden, widmet sich Habeck vielen unterschiedlichen Baustellen, und dies durchaus nicht immer auf sicherem Terrain.
So kann man natürlich Ackermanns Ziel von 25% Eigenkapitalrendite für sein Unternehmen kritisieren. Dies jedoch in Korrelation zum prognostizierten Wirtschaftswachstum von 1% zu setzen und naiv zu fragen, woher denn die anderen 24% kommen sollen, ist nur polemisch. Und auch die These, Deutschland habe eine der niedrigsten Abgabenquoten in der EU wird nicht dadurch besser, dass man sie ständig wiederholt (hier wird Abgabenquote mit Steuerquote verwechselt).
Und wenn Habeck für ein gerechteres Steuersystem mit verlangsamter Progression eintritt, welches den »Mittelstandsbauch« beseitigen soll, kommt vollends Konfusion auf. Wenn er einerseits moniert, dass man (ohne Kinder) bereits mit einem Jahreseinkommen von 50.000 Euro den Spitzensteuersatz bezahlt, dann bedarf es der Erläuterung, warum eine Seite später ein neues Steuersystem skizziert wird, welches etwa bei einem Einkommen von 3500 (sic!) die Grenze für einen besser/schlechter Schnitt sieht. Vermutlich ist in einem Fall das Bruttojahreseinkommen, im anderen Fall das Nettomonatseinkommen gemeint – aber das hätte man durchaus präziser erläutern müssen (eine der Situationen, die nach einem Lektor rufen lässt [eine andere ist, wenn DBI steht und BDI gemeint ist]).
Allerlei weitere kleine Ungereimtheiten entdeckt der aufmerksame Leser. Das steigende Lohnniveau in Großbritannien zu preisen ist eine Sache – zu ergründen, woher dies kommt und welche sozialstaatliche Absicherung damit eigenfinanziert werden muss, eine andere. Die Ökonomisierung bzw. Monetarisierung der Gesellschaft wird durchaus beklagt, aber andererseits als »Kosten« für Kindererziehung das pauschale von-der-Leyen-Diktum zitiert (wie ein Einfamilienhaus – welche Lage darf denn das Haus haben).
Emphatisch tritt Habeck für eine Gleichsetzung der Sozialsätze von Erwachsenen und Kindern ein (eigentlich möchte er sogar mehr für Kinder). Hierfür nennt er sehr gute Gründe, allerdings auch den, dass man den stärkeren modischen Interessen von Kindern nach Markenprodukten Rechnung zu tragen habe. Damit ist er dann plötzlich vom an anderer Stelle so heftig kritisierten Sozialromantizismus nicht weit entfernt. Und wie seltsam von ihm plötzlich zu hören, der Staat sollte sich gesellschaftspolitisch zur Idee von Individualität bekennen und beispielsweise das Ehegattensplitting, die kostenlose Krankenmitversicherung oder eben auch die Bedarfsgemeinschaften im Hartz IV-Bezug, abschaffen. Jeder dieser Punkte kann zwar für sich durchaus gut begründet werden, aber ein wenig konterkariert Habeck hier seinen Gemeinwohlappell, in dem er sowohl die pekuniären wie die gesellschaftlichen Folgen von überindividualisierten Entitäten gänzlich ausblendet.
Gänzlich überhastet wird der Vorstoß der Besteuerung der Arbeitszeit in den Unternehmen vorgebracht. Staatlicherseits soll ein Arbeitszeitdurchschnitt festgesetzt werden, entlang dem sich eine Besteuerung vollzieht, beispielsweise eine Arbeitszeit von 30 bis 36 Stunden. Bei Überschreitung der Arbeitszeit beginnt die Besteuerung des Betriebsgewinns, progressiv ansteigend. Weil Habeck kurz vorher die starren Tarifarbeitszeitmodelle für nicht besonders betriebsgerecht empfunden hatte, überrascht diese Festlegung schon. Leider erwähnt er weder, wie diese Durchschnittsarbeitszeit ermittelt wird noch wer dies kontrollieren soll.
Bildungsgeld als »bedingungsarmes Grundeinkommen«
Der Idee des sogenannten Bildungsgeldes widmet Habeck mehr Raum. Interessant dabei ist, dass er sich damit von programmatischen Entwürfen einiger grüner Landesverbände, die zum sogenannten bedingungslosen Grundeinkommen tendieren, entfernt. Nicht, dass er glaubt, die Menschen würden alle zu Faulenzern, aber er führt Untersuchungen aus den USA an, die in Experimenten eine Unzufriedenheit bei Empfängern von bedingungslosem Grundeinkommen festgestellt haben; die Scheidungsraten seien höher und der durch den beruflichen Trott strukturierte Tagesablauf fehle (das Fehlen eines Quellenverzeichnis ist besonders jetzt ärgerlich). Stattdessen schlägt er ein bedingungsarmes Grundeinkommen vor, und zwar für alle, die bereit sind, sich fort‑, aus‑, neuzubilden. Gezahlt wird dies auf maximal fünf Jahre; als Betrag rechnet Habeck 800 Euro pro Monat aus. Der Satz liegt damit gewollt leicht über dem BAföG-Höchstsatz und auch über dem ALG-II-Regelsatz. Er ist nicht vom Einkommen der Eltern abhängig und vor allen Dingen nicht aufs Studium beschränkt. Obwohl ein Gegner von Studiengebühren, sind diese mit 500 Euro pro Semester berücksichtigt.
Unter Berücksichtigung bisher bereits gezahlter Zuschüsse kostet das Bildungsgeld im vorgeschlagenen Rahmen rund 20 Milliarden Euro zusätzlich. Habeck schlägt als Finanzierung eine wiederzubelebende Vermögenssteuer von ca. 1% vor, die jedoch mit großzügigen mittelstandsfreundlichen Freibeträgen ausgestattet werden sollte, um nur die wirklich Vermögenden zu »treffen«. Als Alternative wird noch die sogenannte Sozialerbschaft aufgeführt, in der ein fester Betrag in Höhe von 60.000 Euro auf Wunsch jedem Bürger einmalig und voraussetzungslos zur freien Verfügung bereitgestellt werden soll.
Da das Bildungsgeld an einen wie auch immer vorhandenen Schulabschluss andockt (und die Zuwendungen unter Umständen an bestimmte Grundvoraussetzungen gekoppelt sein sollen), rechnet Habeck neben einer Neujustierung der gesellschaftlichen Mechanismen, welche einen neuen gesellschaftlichen Aufbruch organisieren könnten, auch mit dem willkommenen Nebeneffekt einer bürgergetriebenen Reform unseres Bildungs- bzw. Schulsystems, welches als Grundvoraussetzung plötzlich andere Priorität bekäme. Auch in punkto Generationengerechtigkeit wäre man einen Schritt weiter, da man davon ausgehen kann, dass insbesondere jüngere Menschen dieses Angebot annehmen werden.
Auch wenn Details noch nicht bis ins Letzte ausformuliert sind, lässt sich der Leser hier gerne vom Enthusiasmus des Autors anstecken. Leider bleiben jedoch seine Ausführungen hinsichtlich der Reorganisation des Bildungswesens ein bisschen eindimensional: Abschaffung des Bundesbildungsministeriums und der Kultusministerkonferenz unter gleichzeitiger Stärkung der Autonomie der jeweiligen Bildungseinrichtung (Schule, Universität), der Wunsch einer Reform der Oberstufe und das Plädoyer für weniger Frontal- und mehr Teamunterricht (der Lehrer als Helfer) – das ist alles nicht mehr ganz neu und bedürfte detaillierterer Ausschmückung. Weiterhin wird die Möglichkeit skizziert, dass Schüler ihre Zensuren selber verwalten könnten. Wo Habeck in Anbetracht der vorliegenden Studien »Streber«-Schulen ausmacht (anhand des sogenannten Turboabiturs soll dies abgeleitet werden), bleibt diffus. Desweiteren werden die Ursachen für die Gleichgültigkeit gegenüber Bildung in breiten Bevölkerungsschichten ignoriert. Hier wäre man sehr interessiert, mehr über seine Anreize zu erfahren.
Solide und anregende Diskussionsgrundlage
Trotz aller Vorbehalte ist das Buch mehr, als man von so manchem Sonntagsredner in unzähligen Talkshows gehört hat. Zwei Kardinalfehler macht Habeck bei der Politik von heute aus: An die wirklich großen Veränderungen traue man sich nicht heran und strukturell hinke die Politik der gesellschaftlichen Entwicklung immer hinterher. Der letzte Einwand ist ein wenig arg pauschal; der erste völlig richtig. Strukturelle Vorschläge zu einer Umorganisation politischer Institutionen macht er allerdings nicht (nur einmal deutet er an, dass er das Mehrheitswahlrecht fürchtet). Lösungen, die aus selbstbezüglichen Strukturen des Politikersystems kommen verabscheut er und sieht sie als Ursache für den Rückzug ins Private vieler Bürger. Habeck ist überzeugt von einem relevanten Interesse an Politik, welches mit zurückgehendem Engagement in Parteien und Verbänden nicht verwechselt werden dürfe. Unengagiert ja, unpolitisch nein. Die These, die produktive Unruhe werde bewusst kaltgestellt ist kühn, aber nicht gänzlich von der Hand zu weisen, wenngleich man Ursache und Wirkung untersuchen müsste.
Habeck bekennt sich zu Visionen, die Antwort[en] auf die Sinnsuche zu geben haben (und nicht mit Utopien verwechselt werden dürfen). Er sagt Ja zur Kraft der Idee und hat keine Probleme damit, als Idealist bezeichnet zu werden. Wechselnde Mehrheiten sieht er nicht per se als Katastrophe an und wähnt sich dabei – vermutlich richtigerweise – auf der Seite der Mehrheit der Bevölkerung, die sachbezogene Entscheidungen wünscht und nicht aufgrund parteipolitischer Taktiken. Seine Thesen zu einem Aufbruch…jenseits der alten Schubladen und Schablonen sind für den Leser politisch-theoretischer Schriften beileibe nicht unbekannt. Dass ein linker Politiker diese Überzeugungen aufnimmt und fruchtbar machen will, ist dagegen neu und erfreulich. Robert Habeck würde der Satz, dass sich ein Land glücklich schätzen darf, solche Politiker (noch) zu haben, nicht gefallen. Aber so was muss auch einmal gesagt werden.
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
Ein bisschen widersprüchlich ist seine Haltung schon, wie du ja auch angedeutet hast. National- und Lokalpatriotismus ablehnen und dann über die Hintertür wieder einführen – »Land»sleute, als die im Land Lebenden. Dass das linke Lager keine längerfristigen Erfolge aufweisen kann, scheint unter diesem Blickwinkel dann auch verständlich. Der Konservatismus hat es viel einfacher, weil er davon ausgeht, dass dem Großteil sein Leben gefällt und man Änderungen gegenüber misstrauisch ist, es könnt ja auch schlechter werden.
Interessante Ideen, von denen einige nicht recht zusammenzupassen scheinen oder unausgegoren wirken. Aber das muss auch nicht so gravierend sein, wenn einem nicht der große Entwurf eines Plans präsentiert werden soll, der alle Probleme lösen kann. _Das_ scheint mir nämlich der Hauptfehler vieler linker Pläne zu sein – nicht vom aktuellen Zustand auszugehen, sich dann das Wünschenswerte zu träumen und dann über das Machbare nachzudenken, also positiver Pragmatismus.
Pragmatisch ist Habeck sicher, obwohl ihm diese Formulierung bestimmt nicht gefallen würde. Sein Institutionenpatriotismus ist in dem Sinne ja nicht neu (Habermas). Ich zweifle stark daran, dass eine Identifikation über die EU möglich ist; er nennt im Buch selber Beispiele dafür, wie dies konterkariert wird und hältr Lissabon für nicht weitgehend genug. Aber selbst wenn es einen europäischen Bundesstaat geben würde, wäre dieser mindestens durch die Sprachbarrieren immer noch kulturell abgegrenzt. EIn wie auch immer geartetes Solidarisierungsgefühl als »Europäer« würde mindestens drei, vier Generationen brauchen, um nur halbwegs zu entstehen. Ich sehe darin auch die Gefahr der Nivellierung von Unterschieden (damit meine ich: ich halte es für einen Gewinn, dass es unterschiedliche Mentalitäten gibt und hielte jede Einebnung für fatal).
Ich halte den »Regionalpatriotismus«, wie er immer mehr um sich greift, für eine Folge fehlgesteuerter Entwicklungen durch die EU. Dies würde sich bei einem Bundesstaat Europa mit ungewissem Ausgang verstärken.
Im Buch schwingt mit, dass die »grossen Pläne«, von denen Du schreibst, tatsächlich nicht funktionieren. Daher sieht er sich auch genötigt, Essentials anzuerkennen und dann fallweise zu entscheiden.
Danke für den Kommentar. Dachte schon, das interessiert alles niemanden mehr.
Nicht ungeduldig werden, es gibt schon noch andere die das interessiert – wie stark »deutschlandfixiert« ist denn das Buch? Oder anders: Lohnt sich die Lektüre auch für Alpenländler?
Robert Habeck propagiert nicht mehr und nicht weniger als eine Neuorientierung der politischen Linken, zu der er wie selbstverständlich die Grünen zählt.
Wir haben das bei Köppnick schon einmal diskutiert: Ich wüsste nach wie vor nicht wohin ich sie sonst zählen sollte.
Eine Bürger/Bürgerlichkeitsdiskussion fände ich gewinnbringend, schon alleine deshalb, weil – wie mir scheint -, die Begriffe nicht klar verwendet werden (siehe auch hier).
Die vorgebrachte Antistaatlichkeit der Linken (scheint mit) nicht recht schlüssig: Gefühlt gibt es die natürlich, aber war die jemals so groß, dass sie tatsächlich anarchische Züge trug?
Noch etwas zum Layout: Irgendetwas zwischen der aktuellen und der alten Seitenbreite wäre (für mich) ideal.
Das Buch ist natürlich sehr »deutschlandfixiert«, aber die grundsätzliche Diskussion um Gemeinwohl, Verfassungs- bzw. Institutionspatriotismus und Kapitalismus dürfte schon generell interessant sein.
Dass die Grünen sehr schnell zum linken Milieu zugeschlagen werden, ist vermutlich in der Findung der Partei Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre (insbesondere in Deutschland) begründet. Nicht wenige sehen sie als Nachklapp zur 68er Bewegung, was m. E. ein bisschen voreilig sein könnte. Dennoch muss man auch sehen, dass viele der Werte, die von den Grünen vertreten wurden und werden (Anti-AKW; Technologievorsicht um es freundlich auszudrücken; Abrüstung bzw. Angst vor Hochrüstung; Menschenrechte) auch sogenannte konservative Werte sind. Es ist mehr als ein geflügeltes Wort, dass sich die Bürgersöhne und ‑töchter in den 80er/90er Jahren der institutionalisierten Grünen annahmen. Auch unter den sogenannten »Fundis« fanden sich meist Kinder hochgebildeter Bürgerfamilien (bspw. Frau Ditfurth fällt mir da sofort ein).
Einzig in der sehr progressiven Gesellschaftspolitik unterschieden sich Grüne und Konservative deutlich. Dieser Graben ist inzwischen wenn nicht überwunden, so doch kleiner geworden. Ich bin mir manchmal nicht mehr so ganz sicher, ob die Grünen heute noch zu Recht als primär linke Partei gesehen werden bzw. was von dem Etikett »links« nur noch Pose ist. So ganz verstehe ich daher den aktuellen Kommentar von Habeck in der »Welt« nicht (hier).
Spaltenbreite: Ich werde mich hüten, die vorgegebenen Layouts von twoday versuchen, selber zu verändern und es erst einmal so lassen. Wenn ich noch andere Möglichkeiten finden sollte, die mich nicht überfordern, werde ich mich noch einmal dransetzen.
Ja, manche grüne Werte sind konservativ. Aber dann auch wieder nicht, denn Umweltschutz war, bevor die grüne Bewegung entstand, sicher kein Markenzeichen konservativer Parteien. Und was die Technologieskepsis betrifft (die dann auf konservativer Seite fast entgegengesetzt daher kommt oder kam, z.B. Atomkraft) hat sich das doch geändert, was regenerative Energiequellen u.ä. betrifft. Und das die Grünen sich (in Teilen) aus Bürgerfamilien rekrutiert haben, sagt doch nur bedingt etwas über die weiter politische Entwicklung aus.
Gesellschaftspolitisch hat sich die konservative sicher der progressiven angenähert.
Ich habe das nicht genau recherchiert, aber Technikskepsis findet und fand sich in vielen bürgerlichen Kreisen sehr wohl. Natürlich gab es auch technikaffine Kräfte, die nachher so etwas wie Atomkraft oder Industrialisierung forciert haben. Die italienischen Futuristen waren Technikbefürworter, in ihren politischen Ansichten jedoch fast faschistoid. In Deutschland wurden die Bedenken hinsichtlich weiterer Technologisierungen einfach dem Fortschritts- und Wohlstandsgedanken lange Zeit untergeordnet. Das war aber keine Domäne von CDU/CSU, sondern auch in weiten Teilen von SPD (und FDP) gängiges Dogma. Schmidt hielt Anfang der 80er Jahre die Grünen für ein kurzfristiges Phänomen.
Ich frage mich gerade, was man mit dem Einordnen eigentlich gewinnt. Natürlich ist es sinnvoll politische Charakteristika herauszuarbeiten, aber ob eine Partei nun dreiviertel links ist, oder doch nur halb, ist letztlich bedeutungslos, oder?
Jein. Einerseits ist diese Form der politischen Gesäßgeografie sicherlich ein bisschen altbacken. Andererseits gibt es natürlich grundlegende Unterschiede zwischen »links« und »rechts« (die sich an den Extremen komischerweise wieder berühren). Vor alle dienen sie der eigenen Lagerabsicherung. Indem Habeck die Grünen als »Linke« verortet, versucht er jeden Schwenk hin zum Restaurativen (»Patriotismus«) im Keim zu ersticken.
Die Unmöglichkeit in den 80er Jahren mit CDU/CSU zu koalieren lag in fundamental andren politischen Überzeugungen. Diese Differenzen existieren nicht mehr oder könn(t)en für eine gewisse Zeit neutralisiert werden. Das macht die Grünen mindestens theoretisch für die CDU koalitionsfähig; vor allem in den Ländern (siehe Hamburg und Saarland). Das verschafft übrigens den Grünen mehr Optionen als der FDP, die sich unter Westerwelle festgelegt hat.