Marianne Birthler, die Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, hatte im ZDF am 22. Mai 2008 (laut Spiegel Online) in Bezug auf ein Treffen zwischen Gregor Gysi und seinem Mandanten Robert Havemann gesagt: In diesem Fall ist willentlich und wissentlich an die Stasi berichtet worden, und zwar von Gregor Gysi über Robert Havemann.
Gregor Gysi hatte gegen die Weiterverbreitung dieser Äußerung geklagt und vor dem LG Hamburg recht bekommen. Das ZDF ging in Berufung und unterlag jetzt erneut. Interessant ist die Begründung. Es geht scheinbar gar nicht darum, ob Birthlers Aussage richtig ist oder falsch. Laut OLG darf die Äußerung Birthlers nur nicht in der Art und Weise, wie dies erfolgte, wiedergegeben werden. Das ZDF schreibt zur Urteilsbegründung auf seiner Webseite: »Nach Auffassung des Gerichts hätte das ZDF jedoch Gysi konkreter zu den Äußerungen Birthlers befragen und Gysis Verteidigungsargumente ausführlicher darstellen müssen.«
Wenn diese Rechtssprechung Schule macht, muss wohl bei einem Interview zukünftig gleich auch immer ein sogenannter »Disclaimer« mit aufgesagt werden, der alle Aussagen des Interviewten sofort entweder dementiert oder mindestens relativiert. Dies – wie gesagt – nicht, weil die Aussagen vielleicht falsch sind, sondern weil sie nicht ausreichend konterkariert werden. In einer Art Automatismus ist dann am besten sofort das Gegenteil gleich mit aufzusagen.
Interessant, dass ein Sturm der Entrüstung hinsichtlich dieses Urteils geradezu vollständig ausblieb. Hatte doch ein in der ähnlich gelagerten Sache gesprochenes Urteil in Bezug auf den Publizisten Roger Willemsen, der in einem Interview eine vermeintlich wahrheitswidrige Meinungsäußerung tätigte (die sich dann als korrekt herausstellte), hohe Wellen geschlagen. Der »Focus«, der sich von Willemsen diffamiert sah, klagte auf Unterlassung und wollte sogar das veröffentlichende Medium in die Verantwortung nehmen. Auch hier entschieden zunächst beide Hamburger Kammern für den Kläger. Erst nach jahrelanger Auseinandersetzung wurde dann durch den BGH anders entschieden, was überall (berechtigterweise) als ein Sieg für die Meinungs- und Pressefreiheit gefeiert wurde.
Dass sich die Medien (inklusive die sonst so schnellen Blogs) der Sache Gysi vs. ZDF nicht annehmen könnte darin liegen, dass man im eher linksliberalen Spektrum einem tumben Markwort eher eine saftige Niederlage wünscht als dem alerten und eloquenten Gysi. Hieraus könnte – bei böswilliger Betrachtung – eine selektive Wahrnehmung abgeleitet werden. Hinzu kommt dann vielleicht noch, dass es nicht besonders aufregend ist, sich für die Meinungsfreiheit des ZDF einzusetzen, es sei denn, die politische Opportunität legt dies nahe (wie im »Fall« Brender, in dem ein eher mittelmäßiger Chefredakteur aufgrund eines ekelhaften Polit-Mobbings zum Helden der Meinungsfreiheit aufsteigen konnte).
Dabei gilt klarzustellen: Mich interessiert es höchstens am Rande, ob Gregor Gysi nun bei der Staatssicherheit war oder nicht. Wer Anwalt war und regimekritische Mandanten vertrat, konnte fast gar nicht anders, als mit dem MfS in Kontakt zu geraten. Ob er dabei seinen Mandaten Havemann, der ja selber der Mitarbeit bei der Staatssicherheit in den 1960er Jahren beschuldigt wird, verraten hat, wird nicht mehr zu klären sein. Insofern wird Frau Birthlers Äußerung nie ganz sicher verifizierbar sein; sie stützt sich auf Indizien.
Zudem hat Gregor Gysi in der Demokratisierung der Linken in Deutschland nach der Wende große Verdienste. Dass er den sturen Rechtsweg beschreitet, sobald jemand eine potentielle Stasi-Verstrickung andeutet, ist seine Sache. Viele Politiker haben dies in der Vergangenheit gemacht; übrigens überaus erfolgreich, wie bspw. Manfred Stolpe. Dass aber ausgerechnet jemand der bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Freiheitsrechte derart offensiv postuliert, dann jedoch über (naturgemäss zulässige) Rechtsmittel sein Bild in der Geschichte »sauber« halten will, befremdet doch sehr. Der einzige Unterschied zur ur-deutschen Traditionslinie, die etlichen Beamten und Politikern 1949 eine bruchlose Fortsetzung ihrer Karrieren ermöglichte, liegt darin, dass dies heute medial thematisiert wird, während seinerzeit bis auf wenige Ausnahmen Empörungen ausblieben. Im Fall Gysi bleibt ein bitterer Nachgeschmack über so wenig Souveränität mit den Verstrickungen seiner Vergangenheit.
Gysi war, ist und bleibt hier im Osten eine Lichtgestalt. Was ihn von vielen anderen für die (west)deutsche politische Klasse Missliebigen unterscheidet, die man letztlich über irgendwelche Stasisgeschichten mürbe bekommen hat, ist, dass er bis aufs letzte Komma kämpft. Man kriegt ihn nicht, weil er intelligenter als diejenigen ist, die ihn dingfest machen wollen. Das ärgert natürlich die Politiker und Journalisten, die an ihm dran bleiben.
In der Sache ist es sowieso absurd. Robert Havemann war SED-Mitglied, sogar Mitglied der Volkskammer, dem DDR-Pendant zum Bundestag, Gysi war ebenfalls SED-Mitglied, und sein Vater, Klaus Gysi, DDR-Minister für Kultur und Staatssekretär für Kirchenfragen. Alle Teile der Nomenklatura, die sich größtenteils seit langem persönlich kannten. Gysi hat es ja selbst einmal sinngemäß gesagt, dass eine Verpflichtungserklärung für das MfS für ihn vollkommen unnötig gewesen wäre, weil er wirklich wichtige Dinge den bei ihnen zu Hause ein und aus gehenden ZK- und Politbüromitgliedern hätte direkt erzählen können.
Was offenbar so schwer verständlich zu machen ist, ist, dass die Auseinandersetzungen zwischen Leuten wie Gysi und Havemann auf der einen und der stärker linientreuen Nomenklatura auf der anderen Seite nicht darum gingen, die DDR zu beseitigen oder zu erhalten, sondern sie lebensfähiger und liebenswürdiger zu machen. Aus heutiger Sicht kann man die Erfolgschancen getrost bezweifeln – wodurch sich der Starrsinn Honeckers und Mielkes aus deren Sicht nachträglich legitimiert – ohne ihn wäre die DDR noch schneller untergegangen oder die Russen hätten ein Blutbad in der DDR angerichtet.
Man sollte sich klar machen: Wenn heute über die Deutung der DDR-Vergangenheit gestritten wird, dann geht es nicht um die Vergangenheit, sondern es geht um die politische Macht in der Bundesrepublik. Das ist durchaus in Ordnung, aber dadurch verschwimmen auch ganz automatisch die Grenzen zwischen den Guten und den Bösen.
Mit Lichtgestalten habe ich immer Probleme gehabt, weil in ihnen implizit schon der lange Schatten angelegt ist. Im politischen Westen gab es auch so eine Lichtgestalt – genauer in Bayern: Franz-Josef Strauß. Als der starb, gab es nur noch Beckenbauer. Ich überlege heute noch, ob das ein Jammer oder ein Segen ist.
Deine Deutung hinsichtlich der DDR-Vergangenheits»bewältigung« teile ich nur zum Teil. Eine ähnliche Deutung in den 60er-80er Jahren in der BRD in Bezug auf die Nazi-Vergangenheit etlicher Politiker hätte man revanchistisch genannt. Sicherlich mit Recht.
Ich habe oft genug betont, dass ich es als Privileg betrachte in einem Staat geboren zu sein, in dem es keine Repression war. Ich weiss nämlich nicht, wie ich mich dann verhalten hätte. Aber man sollte irgendwann, insbesondere wenn man politische Ämter anstrebt, seine Vergangenheit nicht mit Gewalt unterdrücken wollen. Das empfand ich bei Stolpe genau so widerlich wie jetzt bei Gysi.
Konsens haben wir sicher in der Frage, dass es heute in Deutschland besser ist, als es in der DDR jemals war. Dem wird auch die Mehrheit der politischen Linken im Osten zustimmen, die Ostalgiker sind eher die unpolitischen Teile der Bevölkerung. Ich würde aber einen Eid darauf schwören, dass Gysi nicht die Berichte für das MfS geschrieben hat, die man ihm anzuhängen versucht. Und ich finde es auch gut, dass die führenden Linken inzwischen politisch genauso zäh sind wie die Kochs und Westerwelles. Wenn man etwas bewegen will, muss man enorm viel einstecken können.
Naja, zäh? Nach 7 Monaten Rücktritt als Wirtschaftssenator in Berlin? Allenfalls im oppositionellen »Gegen-Alles«. Aber intellektuell brillanter und durch die Unbelecktheit von Bundesämtern auch glaubwürdiger als viele Grüne, die so tun, als hätte es die Jahre zwischen 1998 und 2005 nie gegeben.
Ja, über das Thema haben wir ja auch schon mal diskutiert, seinen juristisch nicht notwendigen Rücktritt nach der Bonusmeilengeschichte. Ich bin da etwas wohlwollender. Frau Käßmann musste ja juristisch gesehen auch nicht zurücktreten und hat es trotzdem getan. Und dann vielleicht noch das: Im Juli 2002 ist er zurückgetreten, im Februar 2004 hatte er einen Herzinfarkt, dann eine Hirnoperation, im November desselben Jahres den nächsten Herzinfarkt. Der physische Zustand und das psychische Empfinden und die damit verbundene Widerstandskraft hängen eng zusammen, ich merke das an mir selbst.
Linksliberales Spektrummitglied gibt zu:
»...dass man im eher linksliberalen Spektrum einem tumben Markwort eher eine saftige Niederlage wünscht als dem alerten und eloquenten Gysi.«
Ja, ich gestehe: so ist es.
Ich versuche inzwischen, dagegen anzugehen. Markwort fand ich als »Gong«-Chefredakteur sympathisch, weil harmlos. Später ist er mir unerträglich geworden, insbesondere wenn er auf der Bayern-Tribüne vor Rummenigge und Hoeneß sitzt. Aber Gysi ist eben auch auf seine Weise nicht besser. Nur nicht so offensichtlich blöde. Aber dafür cleverer. Eher ein Demagoge als Markwort.