»Der Frie­den nach dem Kal­ten Krieg ist vor­bei«

Allen/Hodges/Lindley-French: Future War

Al­len/Hod­ge­s/­Lind­ley-French: Fu­ture War

»Fu­ture War«, das Buch drei­er Mi­li­tär­stra­te­gen, erst­mals 2021 pu­bli­ziert und jetzt in deut­scher Über­set­zung vor­lie­gend, be­kommt durch die rus­si­sche In­va­si­on in die Ukrai­ne zu­sätz­li­che Re­le­vanz. Die Lek­tü­re ist be­un­ru­hi­gend, er­nüch­ternd und an­stren­gend, aber auch loh­nend.

Zwei Ta­ge vor der In­va­si­on rus­si­scher Trup­pen in die Ukrai­ne er­schien das Buch »Fu­ture War – Be­dro­hung und Ver­tei­di­gung Eu­ro­pas« in deut­scher Spra­che. Ge­schrie­ben wur­de es von den bei­den ehe­ma­li­gen US-Ge­ne­rä­len John R. Al­len und Fre­de­rick Ben Hod­ges so­wie dem bri­ti­schen Mi­li­tär­hi­sto­ri­ker Ju­li­an Lind­ley-French. Die deut­sche Über­set­zung stammt von Bet­ti­na Ve­string (der man aus vie­len Grün­den ein gro­ßes Lob zol­len muss). Der Ver­lag weist zu Recht auf die trau­ri­ge Ak­tua­li­tät des Bu­ches hin, wel­ches, so Klaus Nau­mann, ehe­ma­li­ger Ge­ne­ral und Ge­ne­ral­inspek­teur der Bun­des­wehr, in glück­li­che­ren Zei­ten ge­schrie­ben wor­den sei. Tat­säch­lich er­schien »Fu­ture War« 2021 in der »Ox­ford Uni­ver­si­ty Press«. Die Lek­tü­re zer­streut den Ein­druck rasch, da­mals sei­en we­sent­lich glück­li­che­re Zei­ten ge­we­sen.

Die Kern­the­sen des Bu­ches sind schnell um­ris­sen: Er­stens er­for­dert die Ver­tei­di­gung Eu­ro­pas im zu­künf­ti­gen Krieg ein neu­es, um­fas­sen­des Si­cher­heits­kon­zept, in dem in­di­vi­du­el­le Si­cher­heit und na­tio­na­le Ver­tei­di­gung mit­ein­an­der har­mo­nie­ren. Bei­de sind un­ver­zicht­bar für ei­ne neue Art von Ab­schreckung, die sich im kom­ple­xen Mo­sa­ik der Hybrid‑, Cy­ber- und Hy­per-Kriegs­füh­rung be­wäh­ren muss. Zwei­tens ha­ben die neu­en Tech­no­lo­gien zur Fol­ge, dass sich die Füh­rung mo­der­ner Krie­ge – und folg­lich auch die eu­ro­päi­sche Ver­tei­di­gung – von Grund auf ver­än­dert.

Lei­der sind, so die im­mer wie­der­hol­te Prä­mis­se, die­se Ent­wick­lun­gen durch die Co­vid-19-Pan­de­mie ins­be­son­de­re in Eu­ro­pa, aber auch in den USA, aus dem Fo­kus ge­ra­ten. Die Staa­ten hät­ten, wie es leicht vor­wurfs­voll – vor al­lem in Rich­tung Deutsch­land – heißt, in der Pan­de­mie lie­ber in in­di­vi­du­el­le mensch­li­che Si­cher­heit als in na­tio­na­le Ver­tei­di­gung in­ve­stiert. Da­bei ist die Pan­de­mie nur ein Be­schleu­ni­ger ei­ner eu­ro­päi­schen Brä­sig­keit hin­sicht­lich der Ver­tei­di­gungs­be­reit­schaft zu ver­ste­hen. Die Au­toren spre­chen von ei­nem schwin­del­erre­gen­den Nie­der­gang Eu­ro­pas seit 2010. Es wer­den vier glo­ba­le Me­ga­trends ge­nannt, die Eu­ro­pas Nie­der­gang noch be­schleu­ni­gen könn­ten: Der Kli­ma­wan­del (und die hier­aus ent­ste­hen­de Mas­sen-Mi­gra­ti­on), der de­mo­gra­fi­sche Wan­del (aus­ster­ben­de Ge­sell­schaf­ten), Was­ser- und Res­sour­cen­knapp­heit (bzw. stra­te­gi­sche Ab­hän­gig­kei­ten zu Staa­ten wie Russ­land und Chi­na) und die Ver­schie­bung wirt­schaft­li­cher und mi­li­tä­ri­scher Macht in Rich­tung Asi­en.

Über­be­an­spru­chung der USA

Wäh­rend die USA sich vor al­lem von Chi­nas zu­neh­men­den Ag­gres­sio­nen im süd­pa­zi­fi­schen Meer (ins­be­son­de­re um Tai­wan her­um) zu kon­zen­trie­ren hat und den Blick auf die Kri­sen­si­tua­tio­nen im Mitt­le­ren Osten legt, glau­ben die Eu­ro­pä­er im­mer noch, sich im Zwei­fel auf den, wie es bis­wei­len po­le­misch heißt, ame­ri­ka­ni­schen Steu­er­zah­ler ver­las­sen zu kön­nen. Da­bei dürf­te bei ei­ner Gleich­zei­tig­keit meh­re­rer Kon­flik­te den USA rasch die Res­sour­cen aus­ge­hen und ih­re Prio­ri­tä­ten nicht mehr in Eu­ro­pa zu fin­den sein.

Auch die NATO muss sich re­or­ga­ni­sie­ren. So ist zum Bei­spiel im Ar­ti­kel 5 der Char­ta – Bünd­nis­fall – nicht die Si­tua­ti­on ei­nes groß an­ge­leg­ten Cy­ber­kriegs ge­gen Tei­le der kri­ti­schen In­fra­struk­tur der Mit­glieds­län­der for­mu­liert. So ist sie auf die neu­en Her­aus­for­de­run­gen – hy­bri­de Kriegs­füh­rung, Cy­ber­an­grif­fe und Hy­per­krieg (ul­tra­schnel­le Kriegs­füh­rung, die ei­ne Viel­zahl von Sy­ste­men kom­bi­niert) – nur un­zu­rei­chend bis gar nicht vor­be­rei­tet. Ins­be­son­de­re Eu­ro­pa ver­traut hier zu sehr al­ten Waf­fen und Rü­stungs­gü­tern. Falls man nicht ge­ne­rell schon in den letz­ten Jah­ren den Ver­tei­di­gungs­haus­halt zu­rück­ge­fah­ren hat­te. Zwi­schen 2006 und 2015 sind die Ver­tei­di­gungs­aus­ga­ben im nicht­rus­si­schen Eu­ro­pa trotz Af­gha­ni­stan-Ein­satz um 8,5% ge­sun­ken (die Aus­ga­ben in den USA san­ken im glei­chen Zeit­raum um 3,9%). Erst da­nach fand zö­ger­lich ei­ne An­pas­sung statt, die nun in­fol­ge der Pan­de­mie wie­der ins Stocken kam. Die Au­toren nen­nen das so­ge­nann­te 2%-Ziel als ei­ne Art Min­dest­maß; et­li­che Län­der Eu­ro­pas sind da­von weit ent­fernt. Aber Geld ist, wie man auch hier ler­nen wird, nicht al­les. Auch die USA sind in den letz­ten Jah­ren aus­ge­brannt. Hin­zu kam die de­sa­strö­se Au­ßen­dar­stel­lung ame­ri­ka­ni­schen Ver­tei­di­gungs­wil­lens durch die Trump-Re­gie­rung. Im Buch wird zwar kein Trump-Bas­hing be­trie­ben, aber der Scha­den, der an­ge­rich­tet wur­de, wird nicht ver­schwie­gen. Über­ra­schend mil­de hin­ge­gen wird die Oba­ma-Zeit kom­men­tiert – näm­lich fast gar nicht. We­der das Zö­gern in Sy­ri­en noch die (prak­tisch nicht exi­stie­ren­de) Russ­land-Po­li­tik wer­den be­leuch­tet.

Ein Bün­del drän­gen­der Fra­gen bleibt: Was pas­siert, wenn die Ab­schreckung ver­sagt? Und: Was be­deu­tet Ab­schreckung heu­te, und was ist das Ver­hält­nis zwi­schen Ab­schreckung und Ver­tei­di­gung? Was be­deu­tet Ab­schreckung für un­ter­schied­li­che eu­ro­päi­sche Na­tio­nen, und wie blicken sie auf ih­re ei­ge­ne Ver­tei­di­gung? Wo be­ginnt und wo en­det die Ver­tei­di­gung Eu­ro­pas? Schlie­ßen die Eu­ro­pä­er die Au­gen vor zu­künf­ti­gen Krie­gen, und wenn das so ist, kann das trans­at­lan­ti­sche Ver­hält­nis in sei­ner jet­zi­gen oder über­haupt in ei­ner Form über­le­ben?

Aus­blick 2030 und Be­sin­nung auf das »Kern­ge­schäft«

Die Her­an­ge­hens­wei­se der Au­toren zur Be­ant­wor­tung der Fra­gen ist er­staun­lich. Denn nach ei­ner kur­zen Ein­lei­tung der Ver­fas­ser (in der deut­schen Aus­ga­be be­ginnt es mit Nau­manns Vor­wort) folgt nicht die sy­ste­ma­ti­sche Ana­ly­se, son­dern mit ei­nem er­zäh­le­ri­schen Aus­blick auf das 2030. Ei­ne von Russ­land und Chi­na ab­sicht­lich frei­ge­setz­te Bio­waf­fe, das »Covid-29«-Virus, hat die NA­TO-Staa­ten nach­hal­tig öko­no­misch und per­so­nell ge­schwächt. Not­wen­di­ge An­schaf­fun­gen, die der Ab­schreckung hät­ten die­nen kön­nen, wur­den nicht oder nur un­zu­rei­chend um­ge­setzt. Die USA wer­den nun bin­nen kur­zer Zeit an drei ver­schie­de­nen Or­ten mi­li­tä­risch ge­for­dert: im süd­chi­ne­si­schen Meer (durch Chi­na), in der Ark­tis (durch Russ­land) und, in­di­rekt, durch zer­fal­le­ne Staa­ten in Nord­afri­ka, die von EU-Ein­sät­zen nicht be­frie­det wer­den kön­nen. Es be­ginnt ein kon­zer­tier­ter An­griffs­krieg Russ­lands und Chi­nas; die ein­ge­setz­ten Waf­fen (die be­reits exi­stie­ren) wer­den ein­drucks­voll ge­schil­dert. In 20 Mi­nu­ten wird, so das Sze­na­rio, der Stolz der bri­ti­schen Roy­al Na­vy ver­senkt. Mit­tels Cy­ber­an­grif­fen setzt man die oh­ne­hin auf ver­al­te­tem tech­ni­schen Stand ver­haf­te­ten Ab­wehr­sy­ste­me der NATO und die kri­ti­sche In­fra­struk­tur in Eu­ro­pa punk­tu­ell au­ßer Kraft. Russ­land greift das Bal­ti­kum an; der Su­wal­ki-Kor­ri­dor gilt als Vor­wand. Die kon­ven­tio­nel­le Ver­tei­di­gung der NATO schei­tert. Die bal­ti­schen Staa­ten wer­den von Russ­land nach 13 Ta­gen er­folg­reich an­nek­tiert. Pu­tin teilt mit, dass Russ­land das neue stra­te­gi­sche »Gleich­ge­wicht« wie­der her­ge­stellt ha­be. Der Krieg ist vor­bei. Die NATO ver­mied ei­ne nu­klea­re Ver­tei­di­gung; die USA zie­hen sich von Eu­ro­pa zu­rück.

Die­ser Be­ginn ist das, was man beim Bo­xen ei­nen Le­ber­ha­ken nennt. Im Buch wer­den nun We­ge dar­ge­stellt, wie die­ses Sze­na­rio durch pro­ak­ti­ve Hand­lun­gen ab­ge­wen­det wer­den kann. Denn, so die The­se: Ab­schreckung ist – weit mehr als Ver­tei­di­gung – das Kern­ge­schäft der NATO. Man er­in­nert sich noch an das Pa­ra­do­xon des Kal­ten Krie­ges: In dem Au­gen­blick, wenn es zum »hei­ßen Krieg« kommt, hät­ten die Ab­schreckungs­me­cha­nis­men ver­sagt.

Das Ver­tei­di­gungs­bünd­nis muss sich zu­nächst in die La­ge ver­set­zen, kon­ven­tio­nel­le An­grif­fe an der Ost­flan­ke not­falls ro­bust (al­ler­dings aus­schließ­lich kon­ven­tio­nell) zu be­ant­wor­ten. Aber auch die mi­li­tä­ri­sche Lei­stungs­fä­hig­keit der USA wird von den Ver­fas­sern als be­un­ru­hi­gend be­schrie­ben. Dem ge­gen­über steht ein Wett­rü­sten in Süd­ost­asi­en (Chi­na, aber auch In­di­en) und Russ­land. Die zen­tra­le The­se des Bu­ches lau­tet, dass ei­ne so­li­de na­tio­na­le Ver­tei­di­gung an­ge­sichts der künf­ti­gen Kriegs­füh­rung ein neu­es, um­fas­sen­des Si­cher­heits­kon­zept er­for­dert, bei der in­di­vi­du­el­ler Si­cher­heit und na­tio­na­le Ver­tei­di­gung im Ein­klang ste­hen. Hier wird der Ball ein­deu­tig den Eu­ro­pä­ern zu­ge­spielt, die ins­be­son­de­re nach dem noch­ma­li­gen Ader­lass durch die Pan­de­mie die Mög­lich­keit zu ver­lie­ren dro­hen, das Welt­ge­sche­hen nach ih­ren In­ter­es­sen zu ge­stal­ten. Hier möch­te man ins­be­son­de­re im Hin­blick auf Deutsch­land er­gän­zen, dass man seit et­li­chen Jah­ren sei­ne ur­ei­ge­nen geo­po­li­ti­schen In­ter­es­sen aus den Au­gen ver­lo­ren hat und statt­des­sen ei­ne Po­li­tik »auf Sicht« be­trieb, und sich an­son­sten sa­tu­riert gab.

5D-Kriegs­füh­rung und Welt­un­ter­gangs­waf­fen

Das ei­gent­li­che Buch mit sei­nen neun Ab­schnit­ten be­ginnt erst auf Sei­te 76. Hier ist man ins­be­son­de­re auf die Ka­pi­tel über Russ­land, Chi­na und den so­ge­nann­ten Hy­per­krieg, der die kon­ven­tio­nel­le Kriegs­füh­rung um ein Mo­sa­ik in­ter­agie­ren­der Be­dro­hun­gen ver­än­dern dürf­te, ge­spannt.

Die Aus­füh­run­gen zu Russ­land las­sen den Le­ser il­lu­si­ons­los zu­rück. Et­wa wenn von der Welt­un­ter­gangs­waf­fe für den ato­ma­ren Dritt­schlag die Re­de ist (Stich­wort »Bel­go­rod« und »Poseidon«-Raketen), ge­gen die es ak­tu­ell von ame­ri­ka­ni­scher Sei­te kei­ner­lei Be­kämp­fungs­mög­lich­kei­ten gibt. Grund­sätz­lich ope­riert man in Russ­land ge­gen die NATO und EU seit Jah­ren mit ei­ner so­ge­nann­ten 5D-Kriegs­füh­rung: dis­in­for­ma­ti­on, de­cep­ti­on, dis­rup­ti­on, de­sta­bi­lizati­on, des­truc­tion. Dies be­deu­tet, dass der Geg­ner plan­voll, ab­ge­stimmt und zeit­gleich die Mit­tel der Des­in­for­ma­ti­on, Täu­schung, Stö­rung und De­sta­bi­li­sie­rung an­wen­det und de­ren Wir­kung durch die An­dro­hung oder An­wen­dung von zer­stö­re­ri­scher Ge­walt ver­stärkt. Als sech­stes D könn­te hier noch ‘di­se­a­se’, al­so Krank­heit, hin­zu­ge­fügt wer­den. Die­se spe­zi­fisch rus­si­sche Form der Kam­pa­gnen- bzw. Kriegs­füh­rung zieht sich wie ein ro­ter Fa­den durch die­ses Buch. Wer das liest, kann sich bei­spiels­wei­se kei­nen Il­lu­sio­nen mehr über Me­di­en wie »Rus­sia To­day« oder »Sput­nik« hin­ge­ben. Sie sind kei­ne Me­di­en mit »al­ter­na­ti­ven« Nach­rich­ten, son­dern Kriegs­in­stru­men­te, die mit Des­in­for­ma­tio­nen den so­zia­len Zu­sam­men­halt in den Ge­mein­we­sen ih­rer Ziel­län­der zu de­sta­bi­li­sie­ren trach­ten.

Ins­be­son­de­re in der nu­klea­ren Auf­rü­stung, die seit 2010 nicht nur for­ciert, son­dern auch mo­der­ni­siert wur­de, ist Russ­land in­zwi­schen in ei­nem ge­fähr­li­chen Vor­teil. Er­reicht wird dies mit ei­nem Bud­get, wel­ches weit über den 61,4 Mil­li­ar­den US-Dol­lar liegt, die in den gän­gi­gen Sta­ti­sti­ken von 2018 zu fin­den sind. Tat­säch­lich sei der rus­si­sche Ver­tei­di­gungs­haus­halt […] nach wie vor der dritt­größ­te der Welt […] In Wirk­lich­keit lie­gen die ef­fek­ti­ven Mi­li­tär­aus­ga­ben Russ­lands nach Kauf­kraft­pa­ri­tät (Mos­kau kauft von rus­si­schen Rü­stungs­her­stel­lern in Ru­bel) eher im Be­reich von 150 bis 180 Mil­li­ar­den Dol­lar pro Jahr, wo­bei ein viel hö­he­rer Pro­zent­satz für Be­schaf­fung, For­schung und Ent­wick­lung auf­ge­wen­det wird als in west­li­chen Ver­tei­di­gungs­bud­get. Die re­la­ti­ven Zah­len zu den Ver­tei­di­gungs­in­ve­sti­ti­ons­pro­gram­men zei­gen für die USA in den kom­men­den zehn Jah­ren 700 Mil­li­ar­den Dol­lar und Groß­bri­tan­ni­en 250 Mil­li­ar­den Dol­lar an In­ve­sti­tio­nen. Russ­land plant in neue Aus­rü­stung In­ve­sti­tio­nen in Hö­he von 300 Mil­li­ar­den Dol­lar. Das ent­spricht in et­wa dem, was der Rest Eu­ro­pas jähr­lich für die ge­sam­te Ver­tei­di­gung aus­gibt.

Russ­lands Fort­schrit­te in den Be­rei­chen künst­li­che In­tel­li­genz, Su­per­com­pu­ting und ma­schi­nel­les Ler­nen so­wie Na­no­tech­no­lo­gien, Droh­nen und an­de­re halb- oder voll­au­to­no­me Trä­ger­sy­ste­me dürf­ten enorm sein. Sie sind dar­auf aus­ge­rich­tet, die Eu­ro­pä­er ein­zu­schüch­tern, was, wie man ak­tu­ell se­hen kann, recht gut funk­tio­niert. Man glaub­te den­noch, dass die­se Fä­hig­kei­ten Russ­lands in ei­ner Grau­zo­ne un­ter­halb der Schwel­le ei­nes of­fe­nen Kriegs hal­ten und die Ent­wick­lung neu­er Waf­fen­sy­ste­me höchst wir­kungs­voll für po­li­ti­sche Zwecke ge­nutzt wer­den soll­te.

Seit dem 24.2.2022 wis­sen wir es bes­ser. In »Fu­ture War« wird al­ler­dings kein Ukrai­ne-Sze­na­rio durch­ge­spielt; man glaub­te eher auf ei­nen Schlag Russ­lands ge­gen das Bal­ti­kum, wo­bei die NA­TO-Mit­glied­schaft der bal­ti­schen Staa­ten Pu­tin kaum ab­schrecken wür­de, so die The­se. Dass die Ukrai­ne ge­fähr­det war, wur­de nicht aus­ge­schlos­sen, war aber streng ge­nom­men nicht Ge­gen­stand der Be­trach­tun­gen, weil das Land nicht Mit­glied der NATO ist. Ge­nau hier­in liegt die Ge­fahr (wie auch für Mol­da­wi­en oder Ge­or­gi­en). Den­noch war schon da­mals klar: Russ­lands Haupt­ziel ist es, die po­li­ti­sche Land­kar­te Ost- und Süd­ost­eu­ro­pas neu zu zeich­nen und dort ei­ne neue/alte Ein­fluss­sphä­re zu eta­blie­ren. Da ist von ei­ner vir­tu­el­len So­wjet­uni­on die Re­de. Aber selbst die drei Au­toren ha­ben nicht so schnell vor­her­ge­se­hen, dass dies in ei­nen rea­len Krieg mit der Ukrai­ne mün­den könn­te.

An­de­re Pro­blem­zo­nen

Gro­ßes Au­gen­merk wird der Süd­ost­flan­ke Eu­ro­pas ge­wid­met. Ru­mä­ni­en und Bul­ga­ri­en wer­den als un­zu­ver­läs­si­ge NA­TO-Mit­glie­der ein­ge­schätzt. Aber vor al­lem die Ent­frem­dung zwi­schen der EU und der Tür­kei be­rei­tet Kopf­zer­bre­chen. Jah­re­lang ha­be der We­sten die links­li­be­ra­le Bril­le im Ver­hält­nis zur Tür­kei auf­ge­setzt. Das Land ha­be 3,5 Mil­lio­nen sy­ri­sche Flücht­lin­ge auf­ge­nom­men (und lässt sich dies, so möch­te man ein­wen­den, recht gut be­zah­len). Der tür­ki­sche Waf­fen­kauf der S‑300 von Russ­land wird als Si­gnal ver­stan­den: Hier will je­mand be­ach­tet wer­den. Er­do­gan sei der klas­si­sche tür­ki­sche Händ­ler, der An­ge­bo­te ha­ben möch­te. Man soll­te dem Land, so die The­se, min­de­stens ei­ne en­ge­re po­li­ti­sche An­bin­dung an die EU zu­sa­gen. Hier er­kennt man, dass die Au­toren nicht im­mer po­li­tisch im The­ma sind: Die­se spe­zi­el­le An­bin­dung gab und gibt es längst; der Tür­kei ge­nüg­te sie nicht. Als sie merk­te, dass man sie be­züg­lich ei­ner EU-Mit­glied­schaft nur hin­hielt, gab sie die­sen Wunsch auf und prä­sen­tier­te sich als Re­gio­nal­macht. Im Buch wird das – freund­lich for­mu­liert – am­bi­va­len­te Ver­hält­nis der Tür­kei zu ei­nem au­to­no­men kur­di­schen Staat in Sy­ri­en und Nord­irak ge­streift. Hin­zu kom­men die Pro­ble­me, die das Land mit den Se­zes­si­ons­be­stre­bun­gen der ei­ge­nen Kur­den­re­gio­nen hat. Die Ver­fas­ser ge­hen non­cha­lant dar­über hin­weg. Aber wie soll man der Tür­kei und den Kur­den gleich­zei­tig bei­ste­hen? Auch die sich stän­dig ver­schlech­tern­den de­mo­kra­ti­schen Struk­tu­ren in der Tür­kei blei­ben aus­ge­blen­det.

Kurz wer­den auch die geo­stra­te­gi­schen Pro­ble­me der »MENA«-Region (»Midd­le East and North Af­ri­ca«) ge­streift. Die Ver­su­che des We­stens in Län­dern wie Af­gha­ni­stan, dem Irak oder Li­by­en ei­ne Art von »Na­ti­on buil­ding« zu ver­su­chen, sei­en auf­grund feh­len­der Ge­duld, man­gel­haf­tem stra­te­gi­schem Ehr­geiz und vor al­lem der Be­reit­schaft lang­fri­stig fi­nan­zi­el­le und mi­li­tä­ri­sche Res­sour­cen zur Ver­fü­gung zu stel­len, kra­chend ge­schei­tert. Auch in Sy­ri­en ha­be man sich nicht bes­ser ver­hal­ten und Russ­land als Ord­nungs­macht die Tü­ren ge­öff­net. Sau­di-Ara­bi­en sei for­mal ein Ver­bün­de­ter, ste­he aber in ei­nem pa­ra­do­xen Ver­hält­nis zwi­schen den Wer­ten und In­ter­es­sen der Eu­ro­pä­er. Das Land lie­fert sich mit dem Iran (und da­mit in­di­rekt auch Russ­land) im Je­men ei­nen furcht­ba­ren Stell­ver­tre­ter­krieg. Der Iran sel­ber ar­bei­te trotz des »Deals« (den die Au­toren nicht ernst neh­men) wei­ter­hin am Zu­gang zur Atom­bom­be; auch Sau­di-Ara­bi­en sei hier­zu dem­nächst fä­hig und be­reit. Den »Is­la­mi­schen Staat« sieht man bei wei­tem noch nicht be­siegt.

»Chi­na ist die kom­men­de Macht in Eu­ro­pa.«

Als Dreh- und An­gel­punkt des Bu­ches an­ge­kün­digt, er­weist sich das Ka­pi­tel über Chi­na als eher dünn. Da­bei be­ginnt es viel­ver­spre­chend: Chi­na ist […] die kom­men­de Macht in Eu­ro­pa. Dies stellt die Eu­ro­pä­er vor ein gro­ßes Di­lem­ma, da ih­re je­wei­li­gen Volks­wirt­schaf­ten zu­neh­mend von ei­nem Staat ab­hän­gig sind, der nur we­ni­ge der eu­ro­päi­schen Wer­te teilt und sie in vie­ler­lei Hin­sicht ver­ach­tet. Ins­be­son­de­re wird das Pro­jekt der so­ge­nann­ten »Neu­en Sei­den­stra­ße« be­leuch­tet (und auf all­zu de­vo­te Mit­ar­beit des NA­TO-Lan­des Ita­li­en hin­ge­wie­sen), aber auch das 5G-Mo­bil­funk­netz und die chi­ne­si­schen Lie­fer­ket­ten, die für ka­ta­stro­pha­le Aus­fäl­le und po­li­ti­sche Ma­ni­pu­la­ti­on an­fäl­lig sind. Die Au­toren fin­den hier­für den Be­griff der Chi­nai­sie­rung, der in ei­ne fa­ta­le Lie­fer­ket­ten­ab­hän­gig­keit ge­führt hat. Er dient als Ab­gren­zung zur Glo­ba­li­sie­rung, die nicht auf­ge­ge­ben wer­den [darf], denn dann wür­de ge­nau die Ver­flech­tung zer­stört wer­den, die den Na­tio­na­lis­mus und Mi­li­ta­ris­mus zü­gelt, die in Pe­king und Mos­kau do­mi­nie­ren wür­den, wenn den bei­den Staa­ten der Zu­gang zu den west­li­chen Märk­ten voll­stän­dig ver­wehrt wür­de. Ein Spa­gat, der recht schwam­mig mit dem Be­griff der »Staats­kunst« de­fi­niert wird. Hier­zu ge­hö­re ein Res­ho­ring, d. h. die ins Aus­land ver­la­ger­te Pro­duk­ti­on stra­te­gisch wich­ti­ger Er­zeug­nis­se zu­rück­zu­ho­len. Wei­ter­hin sei ei­ne Ent­kopp­lung der west­li­chen Staa­ten von den west­li­chen Un­ter­neh­men not­wen­dig.

Im Buch ist von ei­ner Art un­aus­ge­spro­che­nen Ge­sell­schafts­ver­trag Xi Jing­pings mit den Chi­ne­sen die Re­de, der zu fort­lau­fen­dem Wirt­schafts­wachs­tum ver­pflich­te, wäh­rend die Bür­ger im Ge­gen­zug das po­li­ti­sche Sy­stem Chi­nas nicht be­fra­gen. Ein­her ge­he dies mit ei­nem ag­gres­si­ven Na­tio­na­lis­mus. Das Buch cha­rak­te­ri­siert Chi­na als prag­ma­ti­sche Olig­ar­chie im Stil ei­ner Groß­macht des 19. Jahr­hun­derts. Dies ist al­ler­dings ab­we­gig, weil Chi­na im Ge­gen­satz zu den Groß­mäch­ten da­mals Mas­sen­ver­nich­tungs­waf­fen be­sitzt. Die Hoch­rü­stung der letz­ten Jah­re – der Ver­tei­di­gungs­haus­halt dürf­te sich ame­ri­ka­ni­schen Schät­zun­gen nach 2018 bei rd. 200 Mil­li­ar­den US-Dol­lar be­we­gen – wird ein­dring­lich be­schrie­ben. Ins­ge­samt ste­hen 2 Mil­lio­nen Sol­da­ten zur Ver­fü­gung. Chi­na soll be­reits 80% der mi­li­tä­ri­schen Fä­hig­kei­ten der USA er­reicht ha­ben. Die ag­gres­si­ven mi­li­tä­risch-stra­te­gi­schen Am­bi­tio­nen Pe­kings müs­sen, so heißt es im Buch, je­dem klar sein, der vor den Be­le­gen nicht die Au­gen ver­schließt. Chi­na rü­stet meh­re­re il­le­gal in Be­sitz ge­nom­me­ne Rif­fe und Atol­le auf und ver­wan­delt sie in­ner­halb kür­ze­ster Zeit in hoch­mo­der­ne Mi­li­tär­ba­sen.

Die An­nah­me der Ver­fas­ser, Chi­na den­ke nicht lang­fri­stig, ist un­zu­tref­fend. Ge­ra­de der Gleich­klang von ra­san­ter öko­no­mi­scher Ent­wick­lung, mi­li­tä­ri­scher Auf­rü­stung und welt­wei­tem geo­po­li­ti­schen En­ga­ge­ment (ins­be­son­de­re in roh­stoff­rei­chen afri­ka­ni­schen und stra­te­gisch wich­ti­gen asia­ti­schen Län­dern, aber auch in Eu­ro­pa) zeu­gen von ei­ner auf Lang­fri­stig­keit zie­len­den Stra­te­gie. Auch die rus­sisch-chi­ne­si­sche Ach­se wird kaum ge­streift; sie hat nicht erst seit der In­va­si­on Russ­lands in die Ukrai­ne ei­ne neue Be­deu­tung. Zwar wird »Wo­stok-2018«, ein groß an­ge­leg­tes rus­si­sches Mi­li­tär­ma­nö­ver mit chi­ne­si­scher Be­tei­li­gung, er­wähnt, aber die Fol­gen ei­ner mi­li­tär-stra­te­gi­schen Zu­sam­men­ar­beit der bei­den Län­der, die sich ge­gen geo­po­li­ti­sche In­ter­es­sen des We­stens rich­tet, ba­ga­tel­li­siert. Russ­lands Hin­wen­dung nach Chi­na könn­te lang­fri­stig Chi­nas En­er­gie­hun­ger stil­len. Russ­land könn­te zur »bil­li­gen klei­nen Tank­stel­le« Chi­nas wer­den. Im Ge­gen­zug wä­re Russ­land für Chi­na in Zen­tral­asi­en ei­ne Art Ord­nungs­macht.

Die USA müs­sen zu­künf­tig ein grö­ße­res Au­gen­merk auf die Si­che­rung Süd­ost­asi­ens (Ja­pan, Süd­ko­rea, Tai­wan) rich­ten. Den Eu­ro­pä­ern droht, dass sie als stra­te­gi­scher Ne­ben­schau­platz be­trach­tet wer­den. Eu­ro­pa muss Maß­nah­men er­grei­fen, um po­ten­ti­el­len Be­dro­hun­gen im Osten jen­seits der »Stolperdraht«-Doktrin ent­spre­chend be­geg­nen zu kön­nen. Die Dia­gno­se ist deut­lich: Das ame­ri­ka­ni­sche En­ga­ge­ment für Eu­ro­pa wird von zu vie­len Eu­ro­pä­ern als zu selbst­ver­ständ­lich an­ge­se­hen, auch wenn sie sich re­gel­mä­ßig über die Po­li­tik und Stra­te­gie der USA in Fra­gen be­schwe­ren, die sie auf­grund ih­rer ei­ge­nen Schwä­che nicht be­ein­flus­sen kön­nen. Für die Ame­ri­ka­ner dürf­te die­ser trans­at­lan­ti­sche Sta­tus quo nicht halt­bar sein. Doch wenn Wa­shing­ton ir­gend­wann zu dem Schluss kommt, dass es die Si­cher­heits- und Ver­tei­di­gungs­ga­ran­tie für Eu­ro­pa nicht mehr auf­recht­erhal­ten kann, hat dies enor­me stra­te­gi­sche Aus­wir­kun­gen auf die eu­ro­päi­sche Ver­tei­di­gung.

Stra­te­gi­sche Au­to­no­mie für Eu­ro­pa

Aus­führ­lich wird ana­ly­siert, wie sich Eu­ro­pa in Zu­kunft ver­tei­di­gen soll – und zwar nicht als An­häng­sel an die USA, son­dern in Kon­ver­genz mit der NATO, in ei­ner stra­te­gi­schen Au­to­no­mie. Die ent­schei­den­de An­for­de­rung an das Bünd­nis und die Ver­tei­di­gung Eu­ro­pas be­steht, so die The­se, ein der er­prob­ten und nach­weis­ba­ren Fä­hig­keit, Kampf­ver­bän­de schnell auf­stel­len und füh­ren, die rich­ti­gen Ein­hei­ten rasch an den rich­ti­gen Ort zu ver­le­gen und den Ein­satz für die ge­sam­te Dau­er des Ernst­falls durch­hal­ten zu kön­nen. Eu­ro­pa muss sei­ne kon­ven­tio­nel­le Ver­tei­di­gungs­kraft ver­bes­sern. Was muss da­für ge­tan wer­den?

Zu­nächst kom­men die Au­toren im­mer wie­der auf die fi­nan­zi­el­le Aus­stat­tung zu spre­chen. Aber es geht auch um die un­ter­schied­li­chen men­ta­len Be­find­lich­kei­ten der Eu­ro­pä­er. Frank­reich tritt zwar nach au­ßen forsch auf, ent­wickelt Ideen zu Ko­ope­ra­ti­ven, weiß aber, dass Deutsch­land im­mer auf der Brem­se steht, wenn es um die For­mie­rung ei­ner neu­en eu­ro­päi­schen Ver­tei­di­gungs­al­li­anz geht. Deutsch­land wird im Buch als das Haupt­pro­blem aus­ge­macht. Man sei zu sehr NA­TO-fi­xiert. Die Ent­na­zi­fi­zie­rung sei wohl, so heißt es ein­mal sa­lopp, et­was zu gründ­lich vor­ge­nom­men wor­den, so dass vie­le Deut­sche bis heu­te den Wert ei­ner von den USA un­ter­stütz­ten eu­ro­päi­schen Ver­tei­di­gung mit Skep­sis be­trach­ten. Die Vor­be­hal­te ge­gen­über ei­ner ei­ge­nen, ro­bu­sten Ver­tei­di­gung sei­en tief in der deut­schen Psy­che ver­an­kert. Auch die Bri­ten kom­men nicht im­mer gut weg. Der Brexit wird kri­ti­siert, aber nicht als Hin­der­nis für ein eu­ro­päi­sches Ver­tei­di­gungs­kon­zept be­trach­tet.

Die Her­aus­for­de­run­gen sind groß. So wird er­läu­tert, wie die NA­TO-Stra­te­gie der nu­klea­ren Ab­schreckung neu über­dacht wer­den muss: Der Schlüs­sel zur er­folg­rei­chen wech­sel­sei­ti­gen Ab­schreckung liegt dar­in, dass es ein Kräf­te­gleich­ge­wicht gibt, aber un­ter dem im­mensen Druck der Hy­per­kriegs­tech­no­lo­gie wird die­ses Gleich­ge­wicht schnell ins Wan­ken ge­ra­ten, weil die Ver­tei­di­gung nicht mit der Ge­schwin­dig­keit des An­griffs Schritt hal­ten kann. Die spe­zi­fi­sche Rol­le, die Atom­waf­fen bei der Ab­schreckung spie­len, be­steht in der An­dro­hung ei­nes ‘Ge­gen­schlags’ ge­gen mi­li­tä­ri­sche Zie­le […] oder ge­gen Städ­te und die Be­völ­ke­rung des Geg­ners […]. So bil­den Ab­schreckung, Ein­schüch­te­rung und Zer­stö­rung seit je­her ein Drei­eck wech­sel­sei­tig ge­si­cher­ter, aber im­pli­zier­ter Ver­nich­tungs­dro­hung. Da­bei wird in dem Ma­ße, wie die Tech­no­lo­gie sich wei­ter­ent­wickelt, die ‘Ab­schreckung’ die gan­ze Welt be­tref­fen und mul­ti­la­te­ral wer­den müs­sen. Zwei­tens muss auch die Ab­schreckung in­tel­li­gen­ter wer­den.

Tech­no­lo­gi­sche Aut­ar­kie

Im Buch wer­den Bei­spie­le skiz­ziert: KI-ge­stütz­te Sy­ste­me kön­nen in Ver­bin­dung mit of­fen­si­ven Cy­ber-Fä­hig­kei­ten so kon­zi­piert wer­den, dass sie ei­nen Geg­ner der­ar­tig schä­di­gen, dass für ihn ein nu­klea­rer Erst- oder Zweit­schlag, un­ab­hän­gig da­von, ob er ihn über­le­ben wür­de, in al­len denk­ba­ren Sze­na­ri­en po­li­tisch sinn­los wä­re. Selbst neu ent­ste­hen­de ‘kon­ven­tio­nel­le’ Sy­ste­me kön­nen so ver­hee­rend wir­ken, dass sie in Kom­bi­na­ti­on mit den neu­en Roboter‑, Cyber‑, Schwarm- und an­de­ren Tech­no­lo­gien die Prä­zi­si­on, die Reich­wei­te und die enor­me Zer­stö­rungs­kraft er­hal­ten, die es braucht, um zur Ab­schreckung bei­zu­tra­gen. Wich­tig ist zu be­grei­fen, dass je­des neue Kon­zept der eu­ro­päi­schen Ver­tei­di­gung in zu­künf­ti­gen Krie­gen auch ein Kon­zept der Ab­schreckung ent­hal­ten muss, das über die ge­gen­sei­tig ga­ran­tier­te nu­klea­re Ver­nich­tung hin­aus­geht und neu­es Den­ken mit neu­er Stra­te­gie und neu­er Tech­no­lo­gie ver­bin­det.

Ge­bets­müh­len­ar­tig wer­den die An­for­de­run­gen an glaub­wür­di­ge kon­ven­tio­nel­le Streit­kräf­te, wie­der­holt. Aus- bzw. auf­zu­rü­sten gilt es bei KI, ma­schi­nel­lem Ler­nen, Su­per- und Quan­ten­com­pu­ter, Big Da­ta, Na­no­tech­no­lo­gie, of­fen­si­ven Cy­ber­fä­hig­kei­ten und mi­li­ta­ri­sier­ten Bio­tech­no­lo­gien. Hier­zu ist ei­ne völ­li­ge Um­struk­tu­rie­rung der eu­ro­päi­schen Ver­tei­di­gungs­in­du­strie er­for­der­lich. Wenn Eu­ro­pa hier nicht nach­zieht, wer­den sei­ne ver­al­te­ten zi­vi­len und mi­li­tä­ri­schen Si­cher­heits- und Ver­tei­di­gungs­struk­tu­ren kaum noch in der La­ge sein, ef­fi­zi­ent und ef­fek­tiv mit den ame­ri­ka­ni­schen Ver­bün­de­ten zu­sam­men­zu­ar­bei­ten. Weil die Staa­ten die­sen Her­aus­for­de­run­gen nicht al­lei­ne be­geg­nen kön­nen, plä­die­ren sie für ei­ne ver­stärk­te Zu­sam­men­ar­beit zwi­schen Mi­li­tär und pri­va­ter In­du­strie. Ge­meint sind vor al­lem Big-Tec-Un­ter­neh­men. Wich­tig ist al­ler­dings, dass bei stra­te­gisch relevante[n] Tech­no­lo­gien ge­ne­rell die voll­stän­di­ge Kon­trol­le vom Kon­zept bis zur Fer­tig­stel­lung bei den Mit­glied­staa­ten der NATO lie­gen [soll­te]. Die tech­no­lo­gi­sche und in­du­stri­el­le Ba­sis Eu­ro­pas muss über das ge­sam­te zi­vi­le und mi­li­tä­ri­sche Spek­trum hin­weg ge­nutzt wer­den, um die NATO bes­ser auf die Ver­tei­di­gung der Zu­kunft vor­zu­be­rei­ten. Und zwar oh­ne Lie­fer­ket­ten, die in Chi­na lie­gen. Even­tu­el­le Vor­be­hal­te ei­ner sol­chen Ko­ope­ra­ti­on (bspw. Ab­hän­gig­kei­ten) wer­den nicht be­dacht. An der Dring­lich­keit wer­den kei­ne Zwei­fel ge­las­sen: Der Frie­den nach dem Kal­ten Krieg ist vor­bei, die ku­sche­li­gen Jah­re ge­hö­ren der Ver­gan­gen­heit an.

Das Buch en­det mit ei­nem zwei­ten Sze­na­rio, ei­ner ver­söhn­li­che­ren Ge­schich­te aus dem Jahr 2030, in der die NATO mit ih­ren eu­ro­päi­schen Ver­bün­de­ten wehr­haft Ag­gres­sio­nen be­geg­nen und ein­däm­men konn­ten. In An­be­tracht der un­frei­wil­li­gen Ak­tua­li­tät des Bu­ches ist die­ses En­de nicht ganz un­wich­tig, um nicht in all­zu tie­fe De­pres­si­on zu ver­fal­len.

»An­glo-ame­ri­ka­ni­sche Bril­le«?

Ob­wohl sich das Buch vor al­lem an die Eu­ro­pä­er rich­tet, wird all­zu häu­fig die an­glo-ame­ri­ka­ni­sche Bril­le auf­ge­setzt, wie Klaus Nau­mann im Vor­wort rich­tig an­merkt. Zwar wird das Schei­tern der EVG in den 1950er Jah­ren er­wähnt, aber wie man ei­ne Or­ga­ni­sa­ti­on wie die EU mit ih­ren 27 Mit­glie­dern und eben­so vie­len un­ter­schied­li­chen na­tio­na­len In­ter­es­sen zur ei­ner ge­mein­sa­men Ver­tei­di­gungs­al­li­anz über­re­den soll, bleibt un­klar. Zu­mal die Au­toren zwi­schen­zeit­lich sar­ka­stisch auf­mer­ken, dass in dem Mo­ment, in dem man ei­ne eu­ro­päi­sche Ver­tei­di­gungs­po­li­tik oder ‑in­itia­ti­ve ‘ver­eint’ nennt, sie mit gro­ßer Wahr­schein­lich­keit Heer­scha­ren von Ju­ri­sten statt Le­gio­nen von Krie­gern pro­du­zie­ren dürf­te. Dies er­in­nert im üb­ri­gen an ei­ne Be­mer­kung des Mi­li­tär­hi­sto­ri­kers Mar­tin van Cre­veld über die er­heb­li­chen lo­gi­sti­schen Pro­ble­me der Streit­kräf­te Öster­reich-Un­garns 1914–18. So muss­ten im Viel­völ­ker­staat bei­spiels­wei­se Marsch­be­feh­le in 15 Spra­chen ab­ge­fasst wer­den, da­mit al­le Sol­da­ten die An­wei­sun­gen ver­stan­den. Die EU hat der­zeit 24 Amts­spra­chen; die Chan­ce, sich auf ei­ne oder zwei zu ei­ni­gen dürf­te gen Null ten­die­ren. (Die Eu­ro­päi­sche Uni­on ist nicht ein­mal in der La­ge, den Sitz ih­res Par­la­ments an ei­ne Stadt zu bin­den. Man zieht meh­re­re Ma­le im Jahr zwi­schen Straß­burg und Brüs­sel hin und her.)

Um Be­mü­hun­gen auf­zu­zei­gen, wie neue Struk­tu­ren in­ner­halb der NATO und in Ver­bin­dung mit den Eu­ro­pä­ern zu ent­wickeln wä­ren, wird bis­wei­len an die be­reits be­stehen­den Pro­jek­te an­ge­knüpft, die sich hin­ter wuch­ti­gen Akro­ny­men ver­ber­gen. Die­se wer­den zwar skiz­ziert, las­sen aber den eher un­be­darf­ten Le­ser die um­fas­sen­den bü­ro­kra­ti­schen Ver­äste­lun­gen ah­nen, die in De­tails stecken dürf­ten.

Be­mer­kens­wert ei­ne bi­lan­zie­ren­de Aus­sa­ge ge­gen En­de, Russ­land sei ein Land zwi­schen Macht und Schwä­che, ei­ne gro­ße Na­ti­on, die drin­gend Re­for­men braucht, mit ei­ner Ge­sell­schaft und ei­ner Eli­te, die Angst vor Ver­än­de­run­gen ha­ben und nicht in der La­ge sind, sich den Her­aus­for­de­run­gen zu stel­len. Die­ser Be­fund er­in­nert ein we­nig an das Bon­mot aus dem Kal­ten Krieg, als west­li­che Stra­te­gen von der UdSSR als ei­nem »Ober­vol­ta mit Atom­waf­fen« spra­chen (das Land heißt in­zwi­schen Bur­ki­na Fa­so). Be­ru­hi­gend ist die­se Sicht in An­be­tracht der ge­schil­der­ten nu­klea­ren Auf­rü­stung we­ni­ger denn je. Der Rat, Russ­land mit ei­ner Mi­schung aus Stär­ke und Dia­log zu be­geg­nen, er­scheint in An­be­tracht des vor­her ent­wickel­ten Droh­po­ten­ti­als ein biss­chen haus­backen (zu­mal wenn man weiß, dass Fre­de­rick Hedges, ei­ner der Mit­au­toren, be­reits vor Jah­ren vor ei­nem rus­si­schen Kriegs­ein­satz ge­warnt hat­te). Zu­dem wird aus­gie­big dar­ge­legt, wie Russ­land aber auch Chi­na west­li­che In­sti­tu­tio­nen und Un­ter­neh­men bis hin zu Re­gie­run­gen suk­zes­si­ve un­ter­gra­ben.

Manch­mal schim­mern in­ter­es­sant-ver­stie­ge­ne, bei­na­he un­ter­halt­sa­me As­so­zia­tio­nen her­vor. Et­wa, wenn das Wa­shing­ton von heu­te mit dem Lon­don der 1890er-Jah­re ver­gli­chen wird, weil das äu­ße­re Er­schei­nungs­bild von Macht ei­ne viel schwä­che­re Wirk­lich­keit ver­deckt. Oder der D‑Day vom Ju­ni 1944 nach­träg­lich zu ei­nem vor­weg­ge­nom­me­nen NA­TO-Ein­satz er­klärt wird.

Die Lek­tü­re die­ses Bu­ches ist aus meh­re­ren Grün­den an­stren­gend. Zum ei­nen wer­den in ei­ner Art Dau­er­be­schuss die ewig glei­chen Hy­po­the­sen und Sze­na­ri­en zu schier end­lo­sen Red­un­dan­zen wie­der­holt. Das hemmt den Er­kennt­nis­wert und er­mü­det. Zwar wur­de der An­mer­kungs­ap­pa­rat über­sicht­lich ge­hal­ten, aber ei­ni­ge mi­li­tä­ri­sche Fach­ter­mi­ni hät­te man noch et­was ge­nau­er er­klä­ren kön­nen. Zu­dem ist deut­lich, dass Mi­li­tär­stra­te­gen die­ses Buch ver­fasst ha­ben. So ver­misst man die Ein­ar­bei­tung geo­po­li­ti­scher Aspek­te und Per­spek­ti­ven. Auch hät­te man ger­ne mehr er­fah­ren, wie die Qua­li­fi­ka­ti­on des mo­der­nen Sol­da­ten aus­se­hen soll und ge­währ­lei­stet wird. Denn die neu­en, hoch­kom­ple­xen Sy­ste­me ver­lan­gen be­son­de­re Fä­hig­kei­ten jen­seits des­sen, was bei­spiels­wei­se Wehr­pflich­ti­gen an­ge­lernt wird. Hier­zu muss der Sol­da­ten­be­ruf ins­be­son­de­re in den eu­ro­päi­schen Ge­sell­schaf­ten (und hier wie­der­um in Deutsch­land) ei­ne hö­he­re Ak­zep­tanz er­fah­ren.

Nach der rus­si­schen In­va­si­on in die Ukrai­ne wer­den jetzt in der Po­li­tik un­ter dem Be­griff »Zei­ten­wen­de« ei­ni­ge der an­ge­spro­che­nen Punk­te auf­ge­nom­men. Ei­ne ent­spre­chen­de Um­set­zung ist al­ler­dings schwie­ri­ger als ei­ne Sonn­tags­re­de. Dass das Buch im deutsch­spra­chi­gen Raum bis­her kaum Re­so­nanz er­fährt und statt­des­sen die alt-rus­so­phi­len und ur­alt-an­ti­ame­ri­ka­ni­schen Stüm­pe­rei­en ei­nes Klaus von Dohn­anyi best­sel­ler­taug­lich sind, scheint dem deut­schen We­sen eher zu ent­spre­chen als sich mit geo- und si­cher­heits­po­li­ti­schen Tat­sa­chen zu be­schäf­ti­gen. Dies zeigt sich auch am An­teil der deut­schen Re­fe­ren­zen in »Fu­ture War«. Hier fin­den sich ne­ben Joa­chim Krau­se und Se­ba­sti­an Bruns vom ISPK an­son­sten nur noch Hel­muth Graf von Molt­ke und na­tür­lich Carl von Clau­se­witz.

Hin­weis: Die kur­siv ge­setz­ten Pas­sa­gen sind Zi­ta­te aus der deut­schen Über­set­zung ei­nes mir vom Ver­lag zur Ver­fü­gung ge­stell­ten pdf-Do­ku­ments von »Fu­ture War – Be­dro­hung und Ver­tei­di­gung Eu­ro­pas«. Bis­wei­len wur­den von mir gram­ma­ti­ka­li­sche An­pas­sun­gen vor­ge­nom­men, die nicht im­mer ent­spre­chend ge­kenn­zeich­net wur­den.

4 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Nach nun fast 3 Mo­na­ten In­va­si­on der Ukrai­ne wirkt die Dar­stel­lung der rus­si­schen Streit­kräf­te als hoch­mo­der­ni­sier­te Su­per­ar­mee, die in zwei Wo­chen die bal­ti­schen Staa­ten un­ter­wirft, bei­na­he lä­cher­lich. In der Rea­li­tät do­mi­niert der Ein­druck ei­ner von Kor­rup­ti­on ge­plag­ten, schlecht ko­or­di­nier­ten und ma­ro­den In­sti­tu­ti­on, de­ren Stra­te­gie in der Ukrai­ne nun dar­in be­steht, sich im über­fal­le­nen Land ein­fach ir­gend­wie fest­zu­set­zen und das Op­fer durch Blocka­de und Bom­bar­de­ments lang­sam zu ver­schlei­ßen.

    Dies mag sich noch än­dern, wenn Russ­land ei­ner­seits aus bis­he­ri­gen Feh­lern lernt und an­de­rer­seits schlicht kampf­erprob­ter wird. Ver­trau­en in die Ein­schät­zung der Au­toren flößt es aber nicht ein.

  2. Fai­rer­wei­se muss man sa­gen, dass sich die Au­toren auf die mo­der­ne Kriegs­füh­rung mit bspw. Hy­per­schall­ta­ke­ten und der nu­klea­ren Auf­rü­stung Russ­lands kon­zen­triert ha­ben. Ei­ne ein­sei­ti­ge Fo­kus­sie­rung auf ei­nen kon­ven­tio­nel­len Pan­zer­krieg kam in den Über­le­gun­gen (im er­sten Sze­na­rio) kaum vor. An ei­ner Stel­le heißt es:

    »Russ­lands Ein­satz von kom­ple­xen Maß­nah­men zur stra­te­gi­schen Zwangs­aus­übung wird durch die Dro­hung mit über­wäl­ti­gend star­ken kon­ven­tio­nel­len mi­li­tä­ri­schen Kräf­ten ver­stärkt und un­ter­mau­ert. Dies gilt vor al­lem für Län­der an den Au­ßen­gren­zen von NATO und EU. Schwä­che­re Staa­ten in der Ost­see- und Schwarz­meer­re­gi­on so­wie Finn­land, Nor­we­gen und Schwe­den kön­nen zu ei­nem Zeit­punkt und an ei­nem Ort rus­si­scher Wahl be­droht wer­den. Die­se Nö­ti­gung wird durch die stän­di­ge und im­pli­zi­te Dro­hung mit nu­klea­ren und an­de­ren Mit­teln der Mas­sen­ver­nich­tung und mas­sen­haf­ter Dis­rup­ti­on [...] un­ter­stützt, um die eu­ro­päi­schen Re­gie­run­gen und Völ­ker ein­zu­schüch­tern. Im schlimm­sten Fall wird die Dro­hung mit Mas­sen­ver­nich­tungs­waf­fen ein­ge­setzt, um die USA und die NATO von je­dem Ver­such ab­zu­hal­ten, be­setz­te Ge­bie­te für ih­re recht­mä­ßi­gen Re­gie­run­gen zu­rück­zu­er­lan­gen. Pu­tin nennt dies ‘die Fak­ten vor Ort ver­än­dern’.«

    Da­mit ist ex­akt das Sze­na­rio be­schrie­ben, was sich der­zeit dar­stellt. Die »kom­ple­xen« Sy­ste­me setzt Russ­land – war­um auch im­mer – in der Ukrai­ne nicht ein. Und mit den zwei­fel­los no­mi­nell star­ken Nu­kle­ar­waf­fen wird ja fast täg­lich ge­droht (was na­tür­lich ir­gend­wann ab­stump­fend wirkt).

    Hin­zu dürf­te kom­men, dass man in Russ­land mit ei­ner der­ar­ti­gen ge­gen­wehr der Ukrai­ne nicht ge­rech­net ha­ben dürf­te. Ana­ly­sen zei­gen im üb­ri­gen, dass die rus­si­schen Sol­da­ten, die zum gro­ßen Teil aus ab­ge­le­ge­nen Pro­vin­zen der Rus­si­schen Fö­de­ra­ti­on kom­men (Si­bi­ri­en; Dag­he­stan) we­der be­son­ders mo­ti­viert noch gut aus­ge­bil­det sind.

    Geo­po­li­tisch dürf­te mit ei­ner NA­TO-Mit­glied­schaft Schwe­den und Finn­lands (so­fern die­se zu­stan­de kommt) die Si­che­rung der bal­ti­schen Staa­ten ge­stärkt wer­den. Der Sul­wa­ki-Kor­ri­dor bleibt al­ler­dings an­fäl­lig; er ist mit den Wei­ten der Ukrai­ne nicht ver­gleich­bar.

  3. Ih­re Über­le­gun­gen zu den Grün­den sind si­cher rich­tig. Die Er­eig­nis­se zei­gen je­den­falls (oder schei­nen das zu­min­dest im bis­he­ri­gen Ver­lauf zu zei­gen), dass die Au­toren ih­ren Pro­gno­sen wohl eher ein Pa­pier­po­ten­ti­al der rus­si­schen Ar­mee zu­grun­de ge­legt ha­ben, al­so Trup­pen­stär­ke, Waf­fen­gat­tun­gen und no­mi­nel­le tech­no­lo­gi­sche Fä­hig­kei­ten, dass sie da­bei aber ver­säumt ha­ben, die Ar­mee als ei­ne In­sti­tu­ti­on im rea­len Kon­text des rus­si­schen klep­to­kra­ti­schen Ma­fia­sy­stems zu se­hen. Wie wir jetzt wie­der be­ob­ach­ten, kön­nen In­sti­tu­tio­nen in so ei­nem Um­feld je­doch nur schwer ge­dei­hen. Aber klar ist auch, dass in die­sem Punkt die gan­ze Welt und of­fen­bar selbst der rus­si­sche Prä­si­dent bis zu ei­nem ge­wis­sen Grad auf rus­si­sche Staats­pro­pa­gan­da her­ein­ge­fal­len ist.

  4. Nun, die Au­toren des Bu­ches mach­ten das, was al­le Ana­ly­sten ma­chen: Sie ge­hen vom »worst-ca­se« (aus »west­li­cher« Sicht) aus. Ge­nau das ha­ben die Rus­sen bei ih­rem An­griff nicht ge­macht (oder woll­ten aus ideo­lo­gi­schen Grün­den nicht wahr­ha­ben, dass die Ukrai­ne sich wehrt).

    Es bleibt ab­zu­wer­ten, ob die Rus­si­sche Fö­de­ra­ti­on noch ag­gres­si­ver und mit mo­der­nen Waf­fen (die auch teu­er sind!) vor­ge­hen wer­den. Bis­her be­han­deln sie ih­re Sol­da­ten eher wie Ka­no­nen­fut­ter, wo­bei uns – hier­über soll­te man sich kei­nen Il­lu­sio­nen her­ge­ben – fast nur die In­for­ma­tio­nen der ukrai­ni­schen Sei­te er­rei­chen. Wie hoch dort die Ver­lu­ste sind, bleibt weit­ge­hend aus­ge­spart. Fest scheint zu ste­hen, dass der Auf­wand für Russ­land kaum im Ver­hält­nis zum Er­trag zu ste­hen scheint. Den­noch hat man bspw. Kher­son und brei­te Land­stri­che öst­lich da­von si­cher ein­ge­nom­men, wäh­rend man um Char­kiw her­um Pro­ble­me hat. Es bleibt ins­ge­samt frag­lich, ob die RF ein­fach zu­war­ten wird, bis die Ukrai­ne ei­ne Of­fen­si­ve star­tet.

    (Be­wusst ver­mei­det der Kreml seit Be­ginn die Be­nen­nung kon­kre­ter An­griffs- bzw. Kriegs­zie­le. Das Ge­re­de um »De­n­a­zi­fi­zie­rung« und »De­mi­li­ta­ri­sie­rung« ist ja lä­cher­lich und nicht em­prisch nach­weis­bar. Will Russ­land tat­säch­lich die Ukrai­ne voll­stän­dig vom Meer ab­schnei­den? Greift man noch Odes­sa an? Wann greift evtl. Be­la­rus ein?)