Der Fall der Mauer 1989 hatte am Ende neben dem zupackenden Helmut Kohl auch noch einen anderen Sieger: Die Sozialdemokraten – damals arg gebeutelt – sahen sich mit der Entspannungspolitik der 1970er Jahre mit Willy Brandt und Egon Bahr (flankiert vom damaligen FDP-Außenminister Walter Scheel) als politischer Langzeitgewinner. Die Politik Brandt und Bahrs, die als »Wandel durch Annäherung« in die Geschichtsbücher einging und Brandt den Friedensnobelpreis einbrachte, schien mit verantwortlich zu sein für das Ende des Kalten Krieges. Schließlich hatte Helmut Kohl bei der Übernahme der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt die sozialliberale Ostpolitik weitergeführt. Und gleichzeitig den sogenannten NATO-Doppelbeschluss umgesetzt, der Schmidt in seiner SPD nicht umsetzen konnte. Bereits damals war der Widerstand der russophilen Genossen (bspw. Erhard Eppler) groß.
Der Kern der Ostpolitik bestand darin, die Sowjetunion ein Stück weit aus der Isolation herauszuholen und ökonomisch an den Westen anzuschließen. Im Gegensatz dazu sollte der »Eiserne Vorhang« gelockert werden. Man schloss Verträge und die Deutschen waren massgeblich am Bau der ersten Gaspipelines beteiligt. Neben dem ökonomischen kam der politische Prozess 1975 in der sogenannten »Schlussakte von Helsinki« zum Abschluss. Hierin verpflichteten sich auch die Länder des Warschauer Pakts auf die universellen Menschenrechte.
Nun ist Papier geduldig. Und in konservativen Kreisen in der DDR wurde über die Politik als »Wandel durch Anbiederung« gespöttelt. Tatsächlich gab es einen Haken: Die Systemfrage wurde nicht gestellt. Als sich in der Tschechoslowakei 1977 und, in den 1980er Jahren viel stärker in Polen Dissidentengruppen bildeten, die auf die Vereinbarungen pochten und in ihrem Land Reformen forderten, blieb insbesondere Deutschland sehr vorsichtig. Der Gesprächspartner sollte nicht verprellt werden, es ging um die »guten Beziehungen«. Über allem stand: der Einflussbereich der Sowjetunion durfte nicht infrage stellt werden. Also ließ man die Opposition mehr oder weniger alleine. Spätestens jetzt standen nicht nur Alt-Reaktionäre gegen diese Politik, sondern auch osteuropäische Reformer.
Als sich in der UdSSR durch Michael Gorbatschow ein anderer Ton abzuzeichnen schien, war es der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl, der warnte. Er verglich Gorbatschow anfangs sogar mit Goebbels; ein Affront, der rasch korrigiert wurde. Genscher wies Kohl auf das Potential hin. An eine Reformfähigkeit der alten Sowjetunion glaubte er – im Gegensatz zu Gorbatschow – nicht.
Der Rest ist bekannt. 1989 fiel die Mauer; die DDR hatte keine sowjetische Unterstützung mehr, der Warschauer Pakt implodierte. Die Verhandlungen Kohls mit einer maroden UdSSR über das Schicksal der DDR erreichten ihr Ziel. Maßgeblichen Anteil daran hatte Horst Teltschik, Leiter der Abteilung »Auswärtige und innerdeutsche Beziehungen, Entwicklungspolitik, Äußere Sicherheit« im Bundeskanzleramt. Nicht nur die Sozis konnten mit den Russen – auch jemand wie Teltschik.
Die UdSSR brach auseinander. Kurz nach der deutsch-deutschen Vereinigung drohte die fragile russische Demokratie in einem Putsch in alte Muster zurückzufallen. Boris Jelzin wendete die Machtübernahme durch Altkommunisten ab und übernahm das Ruder. Kohl und Jelzin verstanden sich prächtig. Spätestens jetzt galt Deutschland in Westeuropa und den USA als Dompteur des russischen Bären. Deutschland signalisierte der Welt: Wir machen das schon. Wir ändern »Wandel durch Annäherung« in »Wandel durch Handel« und binden den fragilen Riesen so stark in die Weltwirtschaft ein, dass revisionistische Gedanken keine Chancen wegen zu großer Nachteile haben. Deutschland war, so die gängige Meinung im politischen Diskurs, Russland nun zweifach zum Dank verpflichtet: Zum einen als Bezwinger Hitlers. Und zum anderen als Ermöglicher der »Einheit«.
Den ökonomischen, sozialen und auch politischen Verfall der Atommacht Russland beobachtete man aus dem Augenwinkel. Als der alkoholkranke Jelzin an den weitgehend unbekannten Wladimir Putin übergab, war man fast erleichtert. Er wird die Einheit Russlands, die durch sezessionistische Bestrebungen vor allem in Tschetschenien in Gefahr war, bewahren. Schon Jelzin hatte das Land bombardieren lassen. Und als der Bürgerkrieg wieder aufflammte und es diesmal gegen die wahhabitische Bedrohung in Tschetschenien ging, schickte Putin auch seine Bombergeschwader. Es ging ja gegen Terroristen.
Dann war da die Rede Putins 2001 im Bundestag, 14 Tage nach 9/11. In deutsch. Es liest sich heute noch wie ein Ausflug in das Paradies vom »Haus Europa«, wie es der inzwischen zur Lichtgestalt verklärte »Gorbi« genannt hatte. Der »Feind« war nun der radikale Islam. Russland war im Boot. Die Verträge bekräftigt.
Rasch sonnte sich der neue Kanzler Gerhard Schröder mit seinem Freund Wladimir Putin. Wie sich die Bilder glichen: Einst Breschnew/Brandt, dann Gorbatschow/Kohl, Jelzin/Kohl und jetzt Putin/Schröder.
Aber die Dompteure wurden nachlässig. Sie bemerkten zwar, dass der Bär sich änderte. Erst schleichend, dann immer deutlicher. Aber sie glaubten, dass der Bär nur zu bändigen sei, in dem man ihm einiges verzeiht. Sie erfanden eine lange Leine. Insbesondere die SPD-Außenminister Steinmeier, Gabriel (später als Wirtschaftsminister) und der unsägliche Kleiderständer Maas schlugen alle Einwände in den Wind. Sanft warnte Obama. Harsch Trump. Aber weil es Trump war, war es natürlich falsch. In Osteuropa war Deutschland längst nicht mehr der Dompteur. Man nahm dort wahr, dass sich die Rollen veränderten. Schließlich hatte man dort unter sowjetischer Herrschaft leben müssen. Wer dressiert jetzt wen? Maas lachte, Merkel wurde für ihre Politik von den deutschen Medien gefeiert, Osteuropa wurde besorgter, aber das wollte man nicht hören.
Die Völkerrechtsverletzungen von 2014 – Krim und Donbas – nahm man hin. Ein paar Sanktionen. Dann wieder zur Tagesordnung. NordStream 2 wurde gebaut. Die SPD verrannte und verstrickte sich in dieses Projekt – insbesondere in Mecklenburg-Vorpommern. Bis zum Schluss hantierte Ministerpräsidentin Schwesig mit halbseidenen Konstrukten, um ihr kaputtgewirtschaftetes Bundesland für ein paar Arbeitsplätze an Russland zu verkaufen. Es ist aber nicht nur die SPD. Ein anderer Dompteur, Horst Teltschik, schrieb 2015 über Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz acht Jahre zuvor fast verständnisvoll von einer »Spirale« aus Misstrauen und Missverstehen. Wenige Seiten zuvor sieht man ein Bild von Teltschik mit Putin und seinem Hund. Korrigiert wurden die verständnisvollen Passagen zu Putins Rede in der Paperback-Ausgabe von 2019 nicht. Es war tatsächlich ein Missverstehen. Aber anders als man dachte. Weil der Wunsch das Handeln bestimmte, nicht die Ratio.
Als der Bär dann zuschlug, erklärten die Dompteure, dass die Opfer des Bären mindestens mitschuldig seien. Und dann sei man getäuscht worden. Als hätte der Bär keine eindeutigen Zeichen gesendet. Einige machen sich jetzt die Mühe, all die Verharmlosungen – insbesondere aus dem SPD-Milieu – herauszusuchen. Die gescheiterten Dompteure kritisieren nun beleidigt diejenigen, die ihnen das Scheitern nachweisen können. Sie haben immer noch nicht aufgegeben. Sie wollen den Bären behalten; sie glauben, dass er sich durch sie einhegen lässt. Sie verhindern sogar, dass der Bär über Gebühr bestraft wird. All die Gabriels, Steinmeiers, Schwesigs, die Provinz-Trottel Stegner, Kretschmer und Mützenich, die Nichtskönner Klingbeil und Kühnert – sie zeigen nicht nur keine Einsicht, sie wollen die Geschichte nicht wahrhaben. Sie kennen keine Demut.
Die in Selbstgerechtigkeit schwelgenden Dompteure werden jetzt für alle sichtbar zu dem, was sie seit Jahrzehnten waren: Erbärmliche Pudel. In ihrer intellektuellen und geistigen Verblendung glauben sie immer noch an ihre Dompteur-Rolle. Wieviele Menschen wohl sterben müssen, dass sie einsichtig werden?