Die Publikationsgeschichte des Buchs »Weltunordnung« von Carlo Masala bestätigt indirekt die sich im Titel ausdrückende Feststellung. Die erste Auflage erschien 2016. Zwei Jahre danach eine aktualisierte Version. Und jetzt, 2022, nach der Invasion der Ukraine durch Russland, erscheint eine dritte, abermals aktualisierte und um ein Kapitel ergänzte Auflage. So werden Befunde des Autors belegt und noch vor kurzer Zeit für unmöglich gehaltene Entwicklungen werden plötzlich Realität.
Carlo Masala, 1968 geboren, ist Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde er durch die militärische und geopolitische Kommentierung des Kriegs Russlands gegen die Ukraine seit Februar 2022 bekannt. Sein Idealismus dem argumentativen Austausch gegenüber ist so groß, dass er sich bisweilen sogar ins Dilettantengetümmel der Polittalkshows stürzt. Wer sich dies ersparen möchte, kann immerhin noch dieses Buch lesen. Und es lohnt sich.
Die Arbeitshypothese ist schnell formuliert: Die Zeitenwende 1989/90 mit dem Zusammenbruch des bipolaren Systems (USA vs UdSSR bzw. NATO vs Warschauer Pakt) hat nach einem kurzzeitigen Honeymoon (»Ende der Geschichte«) zu einer veritablen weltpolitischen Unordnung geführt. Aber, so stellt Masala kühl fest: »Die Versuche der ‘westlichen’ Welt […] eine neue globale Ordnung zu schaffen, haben in einem nicht unerheblichen Maße dazu beigetragen, dass wir heute in einer Welt der Unordnung leben.« (»Westlich« wird hier natürlich nicht als geografische sondern als gesellschaftlich-kulturelle Zuordnung verstanden.) Daneben gibt es mit dem internationalen Terrorismus, Migrationsströmen, Cyberangriffen und Pandemien weitere Herausforderungen, die zur Destabilisierung führen.
In den 2000er Jahren wurde die »unilaterale Wende« der amerikanischen Sicherheits- und Außenpolitik durch eine seltsame Allianz aus Neokonservativen und liberalen Demokraten noch verstärkt. Die USA sahen »den Einsatz militärischer Machtmittel als legitimes Instrument […] um ihre globalen Phantasien zu realisieren«. Dabei sind alle Missionierungsversuche, die bisweilen unter dem Euphemismus der »humanitären Intervention« geframt wurden und Demokratie und freie Marktwirtschaft universalisieren sowie die » ‘westliche’ Vorherrschaft über den Rest der Welt« festschreiben sollten, gescheitert. Die Liste ist lang, reicht »von Bosnien-Herzegowina über Afghanistan und den Irak bis hin zu Libyen« (und ist damit noch nicht einmal vollständig). Resultat: Zerfallende Staaten oder bestenfalls eingefrorene Konflikte. Auch die gewaltsame Bekämpfung des islamischen Terrorismus ist nur teilweise gelungen.
Masala belegt dies an zahlreichen Beispielen, analysiert die Doppelmoral des Westens, der Demokratie predigt, aber beispielsweise »falsche« Wahlausgänge (wie in Algerien 1991/92 oder der Türkei 1996) sabotiert oder korrupte, aber ihm gewogene Präsidenten an die Macht hievt (wie in der Vergangenheit in Afghanistan). Schließlich verwirft Masala mit dem »Liberalismus« und der Verrechtlichung der Außen- bzw. Weltpolitik zwei Säulen des aktuellen politischen Denkens.
Letzteres wird kritisch befragt, denn wenn sich »internationale Strafgerichtshöfe mit machtpolitisch peripheren Ereignissen« beschäftigen, »die es sicherlich verdienten, aufgeklärt zu werden« entsteht rasch der Eindruck, »es handele sich bei ihnen um Siegerjustiz und zugleich um Instrumente, die ‘kleineren’ Staaten aufgezwungen werden.« Hier wird abermals die Doppelzüngigkeit deutlich, denn eine völkerrechtliche Aufarbeitung des Angriffskriegs der USA gegen den Irak 2003 wird es nicht geben.
Hart geht Masala vor allem mit den Vereinigten Staaten ins Gericht. Sie, die 1945 die internationalen Institutionen mit aufgebaut hatten, begannen die neue Weltlage für Alleingänge auszunutzen. Dabei fing es zunächst ganz gut an. Die Kuwait-Invasion des Irak wurde vom amerikanischen Präsidenten George Bush in einer breiten Koalition innerhalb der Vereinten Nationen völkerrechtlich abgesichert. Danach bröckelte jedoch sukzessive die Bereitschaft der Vereinigten Staaten, sich internationalen Regeln einzufügen. Dabei geht es nicht nur um Interventionismus, sondern auch um das Gegenteil. Als Folge des Somalia-Debakels 1993 verfügte Bill Clinton, dass man sich an UN-geführten Peacekeeping-Operationen nicht mehr beteiligen werden, wenn nicht vitale nationale Interessen der USA berührt sind. Daher, so Masala, habe man nicht an einer robusten UN-Mission in Ruanda teilgenommen – mit den Folgen eines Genozids an 800.000 Menschen. Endgültig verabschiedet habe man sich von der UN 1999, als die NATO im Kosovo ohne Mandat eingriff. Vielen anderen Institutionen blieben die USA entweder fern oder setzten ihre Mitarbeit aus.
Sind Großmächte immer noch »die eigentlichen und zentralen Antriebskräfte der internationalen Politik«? Und wie wird »Großmacht« definiert? Militärisch ist die Vorrangstellung der USA zwar immer noch unangefochten, aber der »Besitz militärischer Macht ist […] nicht mehr mit der Fähigkeit gleichzusetzen«, »eigene Interessen global durchzusetzen.« Diese Erfahrung haben die USA in Vietnam und vor allem zuletzt in Afghanistan und dem Irak gemacht, »als deutlich wurde, dass es nach der erfolgreichen Beendigung der militärischen Handlungen in beiden Ländern kein Konzept für die Zeit danach gab.« Das »amerikanische Narrativ der Demokratisierung« verlor an Glaubwürdigkeit. Man hatte sich schlichtweg zu sehr auf die reine Eroberung konzentriert und die kulturellen Eigenheiten nicht ausreichend berücksichtigt.
Demnach zählt nicht mehr die militärische Ausstattung alleine, um Macht auszuüben. Vor allem die ökonomische Potenz eines Staates oder, im Falle der Europäischen Union, eines multinational agierenden Akteurs, ist von Wichtigkeit. Hier ist die Welt längst multipolar. Die EU ist militärisch schwach, ökonomisch aber stark. Eine Sonderrolle innerhalb der EU nimmt hier Deutschland mit seiner veritablen Exportabhängigkeit ein. Zudem ist man abhängig von russischer Energie und chinesischen Zulieferungen. China ist seit vielen Jahren eine ökonomische Supermacht, rüstet aber auch militärisch auf und erhebt aggressiv Machtansprüche im südchinesischen Meer bis hin zur Drohung der »Wiedervereinigung« mit Taiwan. Russland rüstet seine Nuklearwaffenpotentiale auf und ist hier mindestens auf Augenhöhe mit den USA. Ökonomisch und vor allem demographisch ist das Land allerdings eher schwach. Auch Indien drängt auf die internationale Bühne. Zusätzlich gibt es noch »das Phänomen ökonomisch potenter Zwergstaaten«, wie zum Beispiel die Golfstaaten mit ihren Öl- und Gasvorkommen, die inzwischen aktiv und robust regionalpolitische Ambitionen pflegen. Die unipolare Ordnung seit 1990 mit der Dominanz der USA beginnt sich zu Gunsten einer Multipolarität aufzulösen. Das erinnert zuweilen an die Weltordnung Ende des 19. Jahrhunderts mit mindestens fünf (europäischen) Großmächten, von denen zwei (Deutschland und Frankreich) verfeindet waren.
Zur neuen Unordnung gehören auch »Ad-hoc-Kooperationen«. Damit sind Bündnisse »zwischen den gegenwärtigen und den aufstrebenden Großmächten gemeint«, die nur partiell und zur Erreichung eines gemeinsam formulierten Ziels geschlossen wurden. Beispiele wären die Verhandlungen um das Atomabkommen mit dem Iran, die (am Ende gescheiterten) sogenannten »Minsk«-Abkommen für die Lösung des von Russland initiierten Ukrainekonflikts 2014 oder auch eine multilaterale Impfallianz als Konkurrenz zur WHO. Gemein ist diesen Kooperationen die tiefsitzende Skepsis gegenüber etablierten multilateralen Institutionen, die, je größer sie (UNO, EU, NATO) sind, desto schwieriger ist es, einen tragfähigen Lösungsansatz zu finden, zumal, wenn das Einstimmigkeitsprinzip festgeschrieben ist.
Ad-hoc-Kooperation wären flexibler und lösungsorientierter. Schwierig könnte es werden, die Vereinbarungen rechtsverbindlich dauerhaft zu legitimieren. Sowohl die USA wie auch Russland haben in der jüngeren Vergangenheit aus fadenscheinigen Gründen bi- oder multilaterale Verträge gebrochen bzw. sind ausgetreten.
Zu Beginn stellt Carlo Masala fest, dass viele Politikerklärer und ‑berater entweder zu historischen Beispielen greifen oder schlichtweg »wünschbare Ordnungen« formulieren. Dies ist eine dezente Anspielung auf Henry Kissingers 2014 erschienenes Buch »Weltordnung«. Masala will darüber hinaus gehen, ein »Plädoyer für eine kluge, realistische Politik für das 21. Jahrhundert« entwickeln. Ausgehend von der Hypothese, dass »strategische Überraschungen und Unvorhersagbarkeit von Entwicklungen […] in Zukunft die Rahmenbedingungen für außen- und sicherheitspolitisches Handeln« weiterhin darstellen werden, plädiert er für eine »realistische Außen- und Sicherheitspolitik«, die »selektiv und in Koalitionen der Willigen erfolgen« soll.
»Selektiv bedeutet in diesem Fall für einen Staat wie die Bundesrepublik Deutschland, dass er sein Handeln strikt an seinen eigenen Interessen ausrichten muss. Weder Bündnissolidarität noch eine wie auch immer empfundene Verantwortung für die Aufrechterhaltung globaler Stabilität sind unter den hier skizzierten Bedingungen geeignet, primäre Ziele deutscher Außenpolitik zu sein.« Wie das nationale Interesse definiert wird, obliegt einerseits der »geopolitischen Lage der Bundesrepublik als Zentralmacht Europas« und andererseits der jeweiligen Situation. Nicht jeder Konflikt auf der Welt tangiert deutsche Interessen und muss mit oder gar von Deutschland gelöst werden.
Weiterhin sollte sich eine neue, realistische Außenpolitik »von der Fessel des selbstverordneten völkerrechtlichen Dogmas lösen«. Dieser Punkt dürfte einigen Akteuren zunächst aufstoßen, aber Masala illustriert, wie völkerrechtlich »korrektes« Handeln beispielsweise die Souveränität Deutschlands einschränken könnte: »Außer im Falle eines direkten Angriffes auf das Territorium der Bundesrepublik Deutschland, der mit Blick auf das Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung jeden Staat dazu ermächtigt, ohne vorhergehende Anrufung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen Gegenmaßnahmen zu ergreifen, unterwirft die Bundesrepublik Deutschland ihre Entscheidungen zum militärischen Eingreifen dem möglichen Veto (oder positiv ausgedrückt der möglichen Zustimmung) jedes der fünf ständigen Mitgliedsstaaten des UN-Sicherheitsrates.« Solange die Vereinten Nationen keine Reformen einleiten, bestimmen unter Umständen Länder wie Russland oder China im Weltsicherheitsrat in ihrem Sinn deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Die Folgen der Lähmung dieser Institution sind aktuell seit dem 24.2.2022 zu erkennen – das Veto der Invasionsmacht Russland verhindert entschlossenes, konzertiertes Handeln. Stattdessen übernehmen EU und NATO in einer »Koalition der Willigen« den Schutz der Souveränität der Ukraine.
Völkerrechtliche Argumentationen bei politischen Entscheidungen sind und bleiben wichtig, dürfen aber nicht alleine politische oder auch ökonomische Entscheidungen bestimmen. Ansonsten dürfte man konsequenterweise keine Rohstoffe aus den arabischen Golfregionen, Saudi Arabien oder auch China einkaufen. Wer Entwicklungshilfe an die Implementierung unserer demokratischen Verfassung koppelt und diese Länder missionieren möchte, wird scheitern. Das Ergebnis dieser »Entweder-Oder«-Politik des Westens ist die Präsenz Russlands und vor allem Chinas in den rohstoffreichen Ländern Afrikas. Was ökonomisch unbedingt vermieden werden muss, sind monopolitische Strukturen zu Anbietern wie dies am Beispiel Russland deutlich wird. Lieferkettenabhängigkeiten mit chinesischen Unternehmen sind ebenfalls bedenklich gewachsen. Dabei war es bis vor wenigen Jahren gängige Politik, mit Russland und auch China Technologietransfer zu betreiben. Hier wurde eine Grenze überschritten, die deutschen Interessen entgegen steht.
Koalitionen der »Willigen« – das sind keine Liebesheiraten, sondern lose Zweckbündnisse, in der souveräne Staaten unterhalb der Großmacht-Ebene, die nicht in allen politischen Positionen deckungsgleiche Ansichten vertreten, Interessen in einem konkreten Fall bündeln. Dieser Entwurf einer neuen Außen- und Sicherheitspolitik ist alles andere als bequem. Deutschland als bloßer »Zahlmeister«, der sich ansonsten rhetorisch den USA anschließt, hat ausgedient. Dabei plädiert Masala nicht für deutsche Sonderwege oder eine neue Bismarck-ähnliche Bündnispolitik. Aber dass ein Land wie die Bundesrepublik sicherheitspolitisch »Interessen« hat, wurde bisher eher als Machtgehabe interpretiert und höchstens auf ökonomischer Ebene durchgesetzt (hier wäre die Austeritätspolitik Merkels in der sogenannten »Griechenland-Krise« zu nennen). In diesem Zusammenhang mag man an die am Anfang von den Vereinigten Staaten skeptisch beäugte Entspannungspolitik der sozial-liberalen Regierung ab 1969 denken. Egon Bahr, der Architekt dieser Politik, schrieb in seinem Memoiren, man habe damals die USA über die Politik und deren Absichten »informiert« – und nicht um Zustimmung gebeten. Es war im Interesse der Bundesrepublik, Erleichterungen für die Deutschen in der DDR zu erreichen.
Die Notwendigkeiten liegen klar auf dem Tisch, zumal Masala die USA in der Zukunft als unzuverlässigen Verbündeten sieht. Das ist nicht neu, bekommt jedoch in Anbetracht der Radikalisierung der US-amerikanischen Innenpolitik und der neuen »Unordnung« der Welt neue Brisanz. Wie so häufig droht für die Zeit nach Joe Biden nicht nur eine Phase des amerikanischen Isolationismus, sondern eventuell sogar die Abkehr der USA als Sicherheitsgarant für Europa.
Masala nimmt mit seinem Modell Anleihen bei dem amerikanischen Politikwissenschaftler Stephen M. Walt und seiner »Balance-of-threat«-Theorie (»Gleichgewicht der Bedrohung«; die häufig gelesene Übersetzung »Gleichgewicht des Schreckens« ist verwirrend, da sie mit der Situation während des Kalten Kriegs verwechselt werden kann). Dessen Kernthese geht dahin, dass Staaten Bündnisse bilden (bzw. bilden sollten) um Bedrohungen auszugleichen (die Abgrenzung von »Bedrohung« und »Risiko« wird in Masalas Buch erläutert). Das »alte« Narrativ des Machtausgleichs wird zwar nicht vollständig verworfen, scheint allerdings in einer Welt, in der Großmächte zusehends an Einfluss verlieren, mindestens ergänzungsbedürftig. Zumal wenn, wie es einmal heißt, »die Großmächte keine gemeinsame Idee« mehr von einer Weltordnung haben.
Das neu eingebrachte Kapitel über den Russland/Ukraine-Krieg bündelt die aktuellen Dilemmata. Masala positioniert sich hier eindeutig. Die Ukraine muss in ihren Verteidigungsbemühungen unterstützt werden. Verhandlungen, in denen sie für einen Waffenstillstand territoriale Zugeständnisse an Russland machen müsste, wären das falsche Signal: »Die Gefahr, die mit solchen territorialen Konzessionen an Russland verbunden ist, ist die Tatsache, dass sich Russland als revisionistische Macht in seiner Wahrnehmung bestärkt sieht, durch den Einsatz militärischer Mittel politische Ziele erreichen zu können«. Der Autor ist allerdings Realist genug, um in der Zukunft Risse in der EU- und NATO-Einigkeit zu sehen, je länger der Krieg dauern und die wirtschaftlichen Folgen spürbarer werden sollten.
Bisweilen sind einige Kapitel des Buches den Entwicklungen von 2022 nicht immer angepasst worden, etwa wenn von den russischen Aktivitäten in der »Ostukraine« die Rede ist – gemeint dürfte damit wohl der Stand von 2018 mit den beiden sogenannten »Volksrepubliken« auf ukrainischem Gebiet gemeint sein. Zudem hätte man gerne mehr Erläuterungen von ihm zur »Balance-of-threat«-Idee gelesen. Auch wäre es interessant gewesen, wie sich Masala die womöglich notwendigen Korrekturen der postkolonialen Willkürgrenzen in Afrika und dem Nahen Osten vorstellt.
Aber das sind Petitessen. »Weltunordnung« ist mit seiner klaren Analytik, die in einem populärwissenschaftlichen Duktus verfasst wurde, ein grandioser Wurf, zumal auch einige politischen Dogmen angesprochen und sanft, aber bestimmt, entzaubert werden. Der Leser wird konsistent und schlüssig mit den aktuellen geopolitischen Herausforderungen vertraut gemacht. Das Buch ist ein idealer Ausgangspunkt für weitere Beschäftigung mit der Materie. Lektürevorschläge am Ende gibt es genug (viele davon leider nur in englischer Sprache).
Also, die Idee, dass ein »Staat wie die Bundesrepublik Deutschland [...] sein Handeln strikt an seinen eigenen Interessen ausrichten muss«, lässt mich vermuten, dass Masala entweder ein Ausländer oder ein mutiger Ignorant deutscher Politikgewohnheiten ist. Mir sind keine »eigenen Interessen« bekannt, jedenfalls nicht vom Hören-Sagen; ich kenne in der deutschen Außenpolitik nur prinzipielle Überlegungen, zum Beispiel Frauenrechte. Das ist unser Ding! Fasse ein allgemeingültiges Ziel, überhöhe seine Bedeutung, erfreue Dich an der eigenen Legitimität, vergegenwärtige Dein Scheitern, und beklage Dich bei allen. Dann fasse ein neues Ziel. – Ich sympathisiere dennoch mit der Abschaffung der Klischees bei Masala: die völkerrechtliche Ordnung ist als Garant der Stabilität überschätzt. Und der Liberalismus ist als Exportschlager nicht zu gebrauchen. Die Auffassung, die »Großmächte« wären die Gestalter einer Weltordnung liegt seit 10 Jahren auch nicht mehr besonders nahe. Ebenso gut könnte man sie für das Gegenteil verantwortlich machen. Es ist zum Mäusemelken: einesteils brauchen wir »Weltordnung« in einem mehrdeutigen und sogar metaphysischen Sinn, und andererseits sind wir nicht in der Lage, internationale Institutionen zu schaffen, die dieses Bedürfnis zuverlässig verwalten könnten. Hat der Teufel seine Hand im Spiel?!
Ich kann Sie beruhigen: Masala ist Deutscher und hat durchaus Kenntnisse über die prinzipientreue Außenpolitik (die er im übrigen nicht direkt attackiert, aber sehr wohl kritisch sieht). Deutsche Interessen sind stark an ökonomischem »Flow« gekoppelt: freie Handelswege (weltweit), möglichst wenig Handelshindernisse in Form von Zöllen (bis dann deutsche Unternehmen betroffen sind – dann tritt man natürlich dafür ein), sichere Grenzen. Ein fundamentales Interesse ist die politische Stabilität in Europa, die ja durch Russlands Invasion ins Wanken gekommen ist.
Das Problem liegt allerdings auf der Hand: Mit »deutschen Interessen« kann man die Merkel-Politik des »Technologietransfers« mit Russland und China und dem Ausbau der Handelsverbindungen bis hin zur Abhängigkeit nachträglich auch rechtfertigen. Volkswirtschaftlich ist eine Energieabhängigkeit von > 50% natürlich eine Katastrophe, aber das wollte man nicht sehen. Wenn man – wie Linke, AfD und viele SPD-Leute – die Ukraine als Regionalstaat in der Nachbarschaft Russlands sieht, gibt es mit dieser Sicht nach wie vor keine Probleme. Das ist aber das Großmachtdenken des 19. Jahrhunderts.
Eine pragmatische Außenpolitik ist nun das, was in punkto Erdgas und Erdöl angedacht ist: Wenn wir unsere Energieabhängigkeit von einem Anbieter reduzieren wollen (bzw. müssen), bleiben nur andere Lieferanten. Die sind bis auf einige wenige Ausnahmen (Norwegen, USA), was Menschenrechte et. al. angeht, natürlich auch keine Musterbeispiele (Katar, Saudi-Arabien, usw.). Es dient aber den deutschen Interessen, hier trotzdem tätig zu werden – ohne dass man diese Länder sofort als »Freunde« einstuft.
Dass man »deutsche Interessen« so schwer ausmacht, liegt ja auch daran, dass sie bislang nur mit Scheckbüchern ausgestattet waren. Das gehört der Vergangenheit an, weil die Globalisierung gerade ihre Kinder auf dem Grill hat.
Ich finde das Buch »Weltunordnung« außerordentlich Interessant.
Grundsätzlich teile ich viele Feststellungen von Prof. Masala. Leider setzt das Buch aber voraus, dass der Leser sich in der weltweiten politischen Thematik auskennt. Auszüge aus Gesetzesvorlagen, unendlich lange Sätze und unverständliche Fremdwörter bereiten dem Leser ohne Hochschulabschluss aber Probleme mit dem Verstehen vieler Passagen. Ich wünsche mir, dass dieses Buch mit gleichem Thema in einer verständlichen Sprache auch für politikinteressierte Bürger verfasst wird. Nicht umsonst kommt die breite Bevölkerungsschicht nicht mehr mit, wenn es um Gesetze, politische Themen und andere bürokratische Unternehmungen geht.
Tja, so unterschiedlich kann die Wahrnehmung sein. Für mein Empfinden gab es wenig Fremdwörter und die Erläuterungen schienen mir sehr gut auch für nicht im Detail bewanderte Leser zusammengefasst. Und ein bisschen Engagement bei der Lektüre kann man doch auch beim interessierten Leser verlangen, oder?