Mi­cha­el Klee­berg: Däm­me­rung

Michael Kleeberg: Dämmerung

Mi­cha­el Klee­berg:
Däm­me­rung

Nach Karl­mann (2007) und Va­ter­jah­re (2014) legt Mi­cha­el Klee­berg nun mit Däm­me­rung den drit­ten (und letz­ten) Band der fik­ti­ven Bio­gra­phie von Karl­mann Renn, ge­nannt Char­ly, vor. Char­ly, Jahr­gang 1959, er­leb­te in Karl­mann die Zeit zwi­schen 1985 (es be­ginnt mit Bo­ris Beckers er­stem Wim­ble­don-Sieg) und Sep­tem­ber 1989. Va­ter­jah­re spielt zwar nur an zwei Ta­gen (10.9.–11.9.2001), fasst aber in Rück­blen­den die Er­eig­nis­se der lan­gen Neun­zi­ger Jah­re zu­sam­men. Char­ly hat­te sich von sei­ner er­sten Frau schei­den las­sen, blieb je­doch nicht lan­ge al­lei­ne. Mit der aus Ost­deutsch­land kom­men­den Ärz­tin Hei­ke hat er zwei Kin­der, Lui­sa (1995) und Max (1998). Das Buch en­det mit zwei Ka­ta­stro­phen: Zum ei­nen für die Welt (die ter­ro­ri­sti­schen An­grif­fe auf die USA) und zum an­de­ren für die klei­ne Lui­sa (der un­aus­weich­li­che Krebs­tod der ge­lieb­ten Hün­din).

Und nun, in Däm­me­rung, fei­ert Char­ly 2019 sei­nen 60. Ge­burts­tag in sei­nem Golf­club in Ham­burg, mit 80 Gä­sten. Zu­nächst stellt er ein­mal fest, wer ab­we­send ist: sei­ne er­ste Frau Chri­sti­ne et­wa, aber auch Hei­ke, von der er seit ei­ni­gen Jah­ren ge­trennt in gu­tem Ein­ver­neh­men lebt (ge­schie­den sind sie nicht). Die bei­den Kin­der feh­len eben­falls. Mit Lui­sa ist er seit vie­len Jah­ren ver­kracht; sie, bes­ser: ih­re pu­ber­tä­ren Al­lü­ren und die Un­be­herrscht­hei­ten Char­lys dar­auf, wa­ren, wie sich spä­ter her­aus­stellt, die ent­schei­den­den Grün­de für die Tren­nung. Und Max, der Sohn, ist ge­ra­de be­ruf­lich un­ab­kömm­lich in Van­cou­ver.

[…]

Char­ly Renn ist zwar we­der Psy­cho- noch So­zio­path, aber ei­ne sym­pa­thi­sche Fi­gur, wie sie dem Le­ser zeit­ge­nös­si­scher Ro­ma­nen all­zu ger­ne prä­sen­tiert wird, weil sie so leicht Iden­ti­fi­ka­ti­ons­po­ten­zi­al bie­ten, ist die­ser Mann nicht. Er ist auch kein In­tel­lek­tu­el­ler und hat da­zu sei­ne gut ge­hü­te­ten Vor­ur­tei­le (im­mer­hin passt er sich für kur­ze Zeit ei­ner Ge­lieb­ten dies­be­züg­lich an, geht mit ihr ins Thea­ter und in Mu­se­en – so häu­fig wie nie zu­vor in sei­nem Le­ben). Sei­ne er­ste Ehe nennt er wahl­wei­se »un­ern­ste Kin­de­rei« oder ver­gleicht sie mit ei­ner über­stan­de­nen Krank­heit. Für die Ver­gan­gen­heit hat er ei­ne »see­li­sche Bad-Bank« er­fun­den und »Tech­ni­ken zur Re­gu­lie­rung des Her­zens« ent­wickelt, die ihm hel­fen, das »ent­gei­ster­te Nach­sin­nen über die Wucht der ein­sti­gen Emo­tio­nen« nicht nur zu re­gu­lie­ren, son­dern bei Be­darf aus­zu­blen­den, vor al­lem, wenn es schmerz­haft zu wer­den droht. Rück­schau­en sind für ihn wie »ab­ge­leg­te Schlangenhaut…am Weg­rand der Ver­gan­gen­heit«, be­sten­falls Ba­sis da­für, nicht mehr un­be­darft in all­zu ho­he »Ge­fühls­in­ve­sti­tio­nen« zu ver­fal­len.

Den voll­stän­di­gen Text »Ab­ge­sang auf ei­ne Epo­che« bei Glanz und Elend wei­ter­le­sen.

Ri­chard Ford: Va­len­tins­tag

Richard Ford: Valentinstag

Ri­chard Ford: Va­len­tins­tag

Da ist er al­so wie­der: Frank Bas­com­be. In­zwi­schen 74 Jah­re, sechs Jah­re äl­ter als bei den Er­zäh­lun­gen von Frank, die al­ler­dings 2012 spiel­ten, wäh­rend der Haupt­teil des neu­en Ro­mans Va­len­tins­tag 2019/2020 spielt. So ganz stimmt da was nicht (oder ich ha­be falsch ge­rech­net).

Sei­ne er­ste Frau Ann, Mut­ter sei­ner Kin­der Paul (47) und Cla­ris­sa (45), ist ver­stor­ben (sie litt an Par­kin­son). Frank sel­ber er­eil­te in der Zwi­schen­zeit ein »Mi­ni-Schlag­an­fall« so­wie »ei­ne Epi­so­de glo­ba­ler Amne­sie und ein klei­nes, frisch ent­deck­tes Loch« im Herz. Zu­wei­len tritt noch der (be­kann­te) Schwin­del auf, aber an­son­sten geht es ihm gut. Er hat in Had­dam ei­nen Teil­zeit­job als »Haus­flü­ste­rer« bei sei­nem frü­he­ren An­ge­stell­ten Mi­ke Ma­ho­ney an­ge­nom­men. Frank sitzt al­lei­ne in ei­nem Bü­ro, be­wun­dert, was aus Mi­ke, dem Ti­be­ter, ge­wor­den ist und küm­mert sich um Im­mo­bi­li­en­be­schaf­fung für Leu­te, die nicht in Er­schei­nung tre­ten wol­len. Po­ten­ti­el­le Kun­den lei­tet er dann an sei­nen Boss wei­ter, der sie wie­der­um in sei­nem klei­nen Fir­men­im­pe­ri­um wei­ter­be­ar­bei­tet.

Die Ta­ge sind lang und so kommt Frank ans Rä­so­nie­ren und Bi­lan­zie­ren über Viet­nam, sei­ne Mut­ter, sei­ne zwei­te Frau Sal­ly, die als welt­wei­te Trau­er­be­glei­te­rin der­zeit in Tsche­tsche­ni­en wei­len soll oder ei­nen ge­wis­sen Pug Mi­no­kur, der sich ir­gend­wann ein­mal wäh­rend sei­nes kur­zen Auf­ent­halts auf der Mi­li­tär­aka­de­mie für ihn beim Bas­ket­ball­trai­ner ein­ge­setzt hat­te. Als sei es ei­ne Ver­pflich­tung, er­zählt er ihm Jahr­zehn­te spä­ter auf ei­nem Ve­te­ra­nen­tref­fen da­von. »Ich dank­te ihm – für le­bens­lan­ge Er­in­ne­run­gen. Ich er­griff sei­ne er­staun­lich wei­che, er­staun­lich klei­ne und einst ge­schick­te Hand – sei­ne Wer­fer­hand – und schüt­tel­te sie be­hut­sam, um der gu­ten al­ten Zei­ten wil­len.« Teil ei­nes Pro­gramms, »be­vor der graue Vor­gang fällt«. Ob Pug sich dar­an er­in­nert – egal.

Schließ­lich nimmt er sich frei, um den letz­ten Wunsch von Ann zu er­fül­len, dass »die Hälf­te ih­rer kre­mier­ten Über­re­ste auf dem Fried­hof von Had­dam ne­ben un­se­rem Sohn Ralph Bas­com­be be­gra­ben wer­den soll­te, der jetzt ein­und­fünf­zig wä­re und ein be­rühm­ter Phy­si­ker an der Cal Tech oder ein Ly­ri­ker oder ein viel be­wun­der­ter So­lo-Obo­ist.« Und so reist er mit ei­nem Zip­per-Beu­tel im Flug­zeug zu ei­nem ein­sti­gen Fa­mi­li­en­idyl­len­ort mit »Ur­kie­fern und ‑tan­nen«, »dreh­te den Beu­tel um und ließ den kör­ni­gen In­halt hin­aus­rie­seln.«

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Ein­blicke in in­ne­re Kyff­häu­ser

Do­mi­nik Graf und Ana­tol Regnier un­ter­su­chen Mo­ti­ve und Be­find­lich­kei­ten von Schrift­stel­lern, die wäh­rend der Zeit des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus in Deutsch­land ge­blie­ben wa­ren.

Dominik Graf: Jeder schreibt für sich allein

Do­mi­nik Graf:
Je­der schreibt für sich al­lein

Seit fast 50 Jah­ren macht Do­mi­nik Graf Fil­me. Vie­le Fern­seh­spie­le sind dar­un­ter, Kri­mis, Tat­or­te und Po­li­zei­ru­fe aber auch Do­ku­men­tar- und Li­te­ra­tur­ver­fil­mun­gen. Er ist ei­ner der letz­ten Re­gis­seu­re, die Fern­seh­pro­duk­tio­nen noch mit ei­nem ge­wis­sen An­spruch aus­stat­ten. Sein neu­er Do­ku­men­tar­film sprengt nicht nur hin­sicht­lich The­ma­tik son­dern vor al­lem we­gen sei­ner Län­ge die »nor­ma­len«, schein­bar un­hin­ter­frag­ba­ren Fun­da­men­te zeit­ge­nös­si­schen Fern­seh­schaf­fens. Ein­hun­dert­sie­ben­und­sech­zig Mi­nu­ten, al­so fast drei Stun­den, dau­ert Je­der schreibt für sich al­lein und er zeigt Le­ben und Aus­kom­men deut­scher Schrift­stel­ler, die wäh­rend der NS-Zeit im Land ver­blie­ben wa­ren.

Das Ge­rüst lie­fert das 2020 von Ana­tol Regnier pu­bli­zier­te Buch glei­chen Ti­tels. Regnier, 1945 ge­bo­ren, ist der Sohn des Schau­spie­lers Charles Regnier (be­kannt aus zahl­rei­chen Se­ri­en und Fern­seh­fil­men, aber auch als Ko­mö­di­ant) und Pa­me­la We­de­kind, der Toch­ter des Dra­ma­ti­kers Frank We­de­kind und der Schau­spie­le­rin Til­ly Ne­wes. Ana­tol Regnier ver­fass­te ne­ben an­de­ren Bü­chern 2008 ei­ne viel­be­ach­te­te Bio­gra­phie über Frank We­de­kind.

In un­ter­schied­li­cher In­ten­si­tät krei­sen Buch und Film um das Ver­hal­ten von Gott­fried Benn, Erich Käst­ner, Hans Fal­la­da, Jo­chen Klep­per, Hanns Johst, Ina Sei­del und Will Ves­per wäh­rend der Zeit des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus. Auf Bör­ries von Münch­hau­sen, Hans Grimm oder Agnes Mie­gel, auf die Regnier in sei­nem Buch nä­her ein­geht, wird im Film ver­zich­tet.

Im Film kom­men­tie­ren die Ein­drücke und The­sen un­ter an­de­rem Flo­ri­an Il­lies, Al­bert von Schirn­ding, Chri­stoph Stölzl, Ga­brie­le von Ar­nim, Ju­lia Voss und Gün­ter Rohr­bach, der ei­ne Son­der­stel­lung ein­nimmt. Der in­zwi­schen 94jährige Ne­stor des deut­schen Qua­li­täts­fern­se­hens er­zählt im letz­ten Drit­tel in zwei Ex­kur­sen von sei­ner Kind­heit und Ju­gend im saar­län­di­schen Neun­kir­chen. An­son­sten »mo­de­riert« Ana­tol Regnier den Film als ei­ne Art Er­zäh­ler; häu­fig im Ge­spräch mit Do­mi­nik Graf. Die ru­hi­ge, bis­wei­len an­ek­do­ti­sche, aber nie­mals tri­via­le Er­zähl­wei­se des Bu­ches wird be­hut­sam auf den Film trans­fe­riert. Häu­fig wird ein Split-Screen ein­ge­setzt, der das Ge­sag­te mit Ori­gi­nal-Bil­dern oder Film­se­quen­zen er­gänzt und ver­dich­tet. An­son­sten bleibt die Kon­zen­tra­ti­on auf das Wort.

Anatol Regnier und Dominik Graf - © Piffl Medien GmbH

Ana­tol Regnier und Do­mi­nik Graf – © Piffl Me­di­en GmbH

Der An­fang weicht vom Buch ab. 1945 ver­such­te der ame­ri­ka­ni­sche Psy­cho­lo­ge Dou­glas Mc­Glas­han Kel­ley mit Ge­sprä­chen und, das war neu, Ror­schach-Tests den See­len­zu­stand der in Nürn­berg an­ge­klag­ten Na­zi-Grö­ßen zu ana­ly­sie­ren. Kel­ley such­te, wie es ein biss­chen pa­the­tisch heißt, »das Bö­se im Men­schen«. In 22 cells in Nurem­berg prä­sen­tier­te er 1947 die Er­geb­nis­se sei­ner Ge­sprä­che. Für die Ana­ly­sen der Ror­schach-Tests kon­sul­tier­te er Fach­leu­te und Ex­per­ten. Aber de­ren Aus­wer­tun­gen wur­den ent­ge­gen der Ab­sich­ten nie ver­öf­fent­licht. Spä­ter hat es ge­hei­ßen, man ha­be nicht das ge­fun­den, was man er­war­te­te. Die­se Män­ner – ge­meint sind die Kriegs­ver­bre­cher – wä­ren kei­ne »wahn­sin­ni­gen Krea­tu­ren« ge­we­sen; Neu­ro­ti­ker hät­ten sich dar­un­ter be­fun­den aber auch ein­fach nur Op­por­tu­ni­sten; ei­gent­lich, und das ist das er­schrecken­de, han­del­te es sich um »nor­ma­le« Men­schen.

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An­drea Gio­ve­ne: Frem­de Mäch­te

Andrea Giovene: Fremde Mächte

An­drea Gio­ve­ne: Frem­de Mäch­te

An­drea Gio­ve­nes Haus der Häu­ser, Band drei der Au­to­bio­gra­phie des fik­ti­ven Giu­lia­no di San­se­vero, en­det im Ju­ni 1940 mit dem Ein­tritt Ita­li­ens in den Zwei­ten Welt­krieg, von dem die Haupt­fi­gur wäh­rend ei­ner Zug­fahrt über­rascht wur­de. Li­cu­di, der Zau­ber­ort am Meer, in dem die Welt still­stand, war von Tou­ri­sten, Im­mo­bi­li­en­spe­ku­lan­ten und Ar­chäo­lo­gen ein­ge­nom­men, die Be­schau­lich­keit zer­stört wor­den. Knapp fünf Mo­na­te spä­ter be­fin­det sich Giu­lia­no als Be­sat­zungs­of­fi­zier (er steht an der Schwel­le zum Haupt­mann) in ei­nem zum Quar­tier um­funk­tio­nier­ten Ho­tel im fran­zö­si­schen Bay. Die Wir­tin De­ni­se Di­gne ist die per­so­ni­fi­zier­te Feind­se­lig­keit, der »Schmerz ver­schließt ihr Herz wie die Käl­te die Po­ren«, so steht es in sei­nem (im Frag­men­ten er­hal­te­nen) Ta­ge­buch, wel­ches im Lau­fe des Ro­mans häu­fig her­bei­zi­tiert wird, wenn es gilt, den Denk­kos­mos Giu­lia­nos um mit­un­ter skur­ri­le Epi­so­den oder Ein­drücke zu er­gän­zen.

Frem­de Mäch­te heißt der Fort­set­zungs­band, der den Zeit­raum von No­vem­ber 1940 bis Herbst 1945 um­fasst. Un­ver­än­dert ist die Po­si­ti­on des weit­ge­hend chro­no­lo­gisch agie­ren­den Ich-Er­zäh­lers Giu­lia­no di San­se­vero, der nur manch­mal aus dem Wis­sen des Ge­sche­he­nen her­aus vor­greift. In den fast fünf Jah­ren wird er ei­ne wah­re Odys­see durch den eu­ro­päi­schen Kon­ti­nent un­ter­neh­men. Von Bay geht es nach Reg­gio Emi­lia, kurz dar­auf Grie­chen­land, zu­nächst ei­ne klei­ne Stadt in Ar­ka­di­en, dann Athen. Hier er­fährt er vom po­li­ti­schen Zu­sam­men­bruch Ita­li­ens, was sich un­mit­tel­bar auf die ita­lie­ni­sche Be­sat­zung aus­wirkt. An de­ren Stel­le tre­ten nun die Deut­schen. Die ita­lie­ni­schen Sol­da­ten stellt man vor die Wahl: Ein­tritt in die deut­sche Wehr­macht, al­ter­na­tiv Sol­dat in Mus­so­li­nis Re­pu­blik Salò, was un­ter Um­stän­den Bür­ger­krieg mit Süd­ita­lie­nern be­deu­tet hät­te, denn die­se kämpf­ten in­zwi­schen mit den Al­li­ier­ten. Wer bei­des ab­lehnt, wird in zum Teil ta­ge­lan­gen Zug­fahr­ten mit 50 Per­so­nen pro Wag­gon in di­ver­se La­ger ver­frach­tet. So soll es ins­ge­samt 300.000 Sol­da­ten er­gan­gen sein.

Giu­lia­no ent­schei­det sich ge­gen den Kampf und lan­det nach elf Ta­gen in Lem­berg (dem heu­ti­gen Lviv). Er schmie­det, so weit es geht, Al­li­an­zen, fin­det drei Per­so­nen, die, je­der für sich, durch ihr Ver­hal­ten au­ßer­halb der nor­ma­len Ge­fan­ge­nen ste­hen. So be­wun­dert er die Fröm­mig­keit von Téo­lo, der ta­ge­lan­ge Zug­fahr­ten in Wag­gons mit Be­ten ver­bringt, wäh­rend Pan­nuz­zo si­sy­phos­ar­tig ver­sucht, je­den Mor­gen ei­nen Fleck auf sei­ner Jacke zu ent­fer­nen, was na­tür­lich nie ge­lingt. Ge­ra­de hier, in Ge­sell­schaft die­ser ihn be­ru­hi­gen­den, weil nicht for­dern­den Men­schen, be­ginnt er mit Auf­zeich­nun­gen über die bi­bli­sche Esther, ent­wirft so­gar ein Dra­ma mit Je­sus als Dich­ter und phi­lo­so­phiert über den Wahr­heits­wert der Auf­er­ste­hungs­ge­schich­te (er fin­det für das lee­re Grab­mal ei­ne prag­ma­ti­sche Er­klä­rung). Zur Ver­blüf­fung des Le­sers emp­fin­det er trotz der wid­ri­gen, vor Schmutz star­ren­den Um­ge­bung und Mas­sen von kra­kee­len­den Mit­ge­fan­ge­nen, »in­ne­re Ru­he und Frei­heit« und die »Rein­heit der Ge­dan­ken«.

Als die Ro­te Ar­mee nä­her rückt, ste­hen wie­der Ent­schei­dun­gen an. Ein An­schluss an ei­ne Ar­mee kommt für ihn wei­ter­hin nicht in­fra­ge, lie­ber nach Deutsch­land, als Zwangs­ar­bei­ter, wo­bei er dar­auf po­chen wird, als Of­fi­zier ei­ner frem­den Na­ti­on nicht zu Ar­bei­ten ge­zwun­gen wer­den zu kön­nen (was man auch zu ak­zep­tie­ren scheint). Er kommt nach Berg, ei­nem Ort, eher ein Dorf, in der Nä­he der El­be; ne­ben Land­wirt­schaft gibt es vor al­lem ein Sä­ge­werk. Hier gibt es zahl­rei­che Zwangs­ar­bei­ter und Giu­lia­no pocht nicht auf sei­nen Of­fi­ziers­sta­tus, schippt Koh­len und hilft im Sä­ge­werk. Ein be­son­de­res Au­ge auf ihn scheint Lo­re ge­wor­fen zu ha­ben, die Frau des Be­sit­zers, mit er sich auf fran­zö­sisch ver­stän­di­gen kann. Er ver­sucht die ver­steck­ten An­näh­run­gen ins Lee­re lau­fen zu las­sen, oh­ne die Frau zu be­lei­di­gen, die ihn im­mer­hin mit dem ver­göt­ter­ten fünf­jäh­ri­gen Sohn spie­len lässt.

Die Er­obe­rung durch die Ame­ri­ka­ner bringt nicht die er­hoff­te Ru­he für den Ort. War­um auch im­mer zie­hen die­se sich un­ver­mit­telt wie­der zu­rück. Ma­ro­die­ren­de Ban­den und Plün­de­rer über­neh­men kurz­zei­tig; man holt ehe­ma­li­gen Wehr­machts­sol­da­ten, die ei­ni­ge Plün­de­rer er­schie­ßen. Giu­lia­no er­lebt sinn­lo­se Flie­ger­an­grif­fe der Al­li­ier­ten, zum Teil wer­den Men­schen di­rekt aus der Luft be­schos­sen. Plötz­lich greift ihn ein deut­scher LKW-Trupp auf und er wird er­neut Ge­fan­ge­ner. Man hat Be­fehl zum Kampf um Ber­lin. Der Trupp löst sich schon wäh­rend der Fahrt zum Teil auf; die Re­ste wer­den bom­bar­diert und Giu­lia­no schwer ver­wun­det. Nach meh­re­ren Irr­fahr­ten – der Krieg ist of­fi­zi­ell längst zu En­de – kommt er schließ­lich in ein Auf­nah­me­la­ger nach Gar­misch. Dort en­det der Ro­man. Er ist 43 Jah­re alt.

Den voll­stän­di­gen Text »Giu­lia­nos Odys­see« bei Glanz und Elend wei­ter­le­sen.

Hen­rik Pon­top­pi­dan: Kaum ein Tag oh­ne Spek­ta­kel

Henrik Pontoppidan: Kaum ein Tag ohne Spektakel

Hen­rik Pon­top­pi­dan: Kaum ein Tag oh­ne Spek­ta­kel

Im letz­ten Jahr be­en­de­te Ul­rich Son­nen­berg sei­ne Ar­beit an der Neu­über­set­zung der va­ri­an­ten­rei­chen Him­mer­land­ge­schich­ten des dä­ni­schen No­bel­preis­trä­gers Jo­han­nes V. Jen­sen. Und nun liegt im Wall­stein-Ver­lag mit Kaum ein Tag oh­ne Spek­ta­kel ei­ne An­tho­lo­gie ei­nes an­de­ren dä­ni­schen Au­tors vor: Hen­rik Pon­top­pi­dan (1857–1943), Sohn ei­nes Pfar­rers und 1917 mit dem Li­te­ra­tur­no­bel­preis aus­ge­zeich­net. Zu­sam­men mit Mar­le­ne Ha­sten­plug fun­giert Son­nen­berg hier als Her­aus­ge­ber. Die Über­set­zungs­ar­beit der zwi­schen 1881 und 1918 in di­ver­sen Pu­bli­ka­tio­nen er­schie­nen Tex­te wur­de von ins­ge­samt zwölf Stu­den­tin­nen und Stu­den­ten des In­sti­tuts für Skan­di­na­vi­stik in Frank­furt vor­ge­nom­men1. Ne­ben zwölf Er­zäh­lun­gen wur­den acht Feuil­le­tons auf­ge­nom­men. Das Nach­wort ist von Nils Gun­der Han­sen, Lei­ter des Pon­top­pi­dan Cen­ters der Süd­dä­ni­schen Uni­ver­si­tät in Oden­se. Hier wird ein sehr in­struk­ti­ves Web­por­tal zu Hen­rik Pon­top­pi­dan be­trie­ben, auf dem sich Tex­te des Dich­ters im Ori­gi­nal, aber auch auf Deutsch zu fin­den sind.

Han­sen weist in sei­nem Nach­wort kurz auf die epi­schen Ro­ma­ne Pon­top­pidans hin (die im üb­ri­gen in deut­scher Über­set­zung nur un­ge­nü­gend lie­fer­bar sind) und den auch in Dä­ne­mark vi­ru­len­ten Wunsch nach dem um­fas­sen­den Ge­sell­schafts­ro­man (das scheint über­all und zu al­len Zei­ten ein Ver­lan­gen zu sein), um dann den Fo­kus auf die aus­ge­wähl­ten Tex­te zu rich­ten. Man lernt, dass der Erst­kon­takt mit Pon­top­pi­dan im Schul­un­ter­richt in Dä­ne­mark durch die Er­zäh­lun­gen Ane-Met­te und Gna­den­brot her­ge­stellt wird. Ane-Met­te spielt auf ei­nem dörf­li­chen Fried­hof, ei­ne Vier­tel­mei­le ent­fernt vom (fik­ti­ven) Ort Lil­le­lun­de (den Pon­top­pi­dan in meh­re­ren Er­zäh­lun­gen ver­wen­det). Der Kirch­hof ist »nackt und un­heim­lich«, die Vo­gel­stim­men bil­den ge­gen Abend ein »Höl­len­kon­zert«, was im Kon­trast zu den bun­ten Tö­nen der Bäu­me im Herbst steht. Aber es ist Som­mer und warm und es geht um ei­ne Per­son, ei­ne Frau, die in Trau­er­hau­be auf ei­ner Bank sitzt. Spä­ter er­fährt man, dass sie noch in Be­glei­tung ei­nes zwölf­jäh­ri­gen Mäd­chens ist. Die Trau­er­hau­be trägt die Frau nicht we­gen ih­res vor vier Jah­ren an ei­nem »glück­li­chen Win­ter­mor­gen« da­hin­ge­schie­de­nen Man­nes (ei­nem Trun­ken­bold). Sie ist dort, weil ih­re vor zwan­zig Jah­ren ver­stor­be­ne, da­mals drei­jäh­ri­ge Toch­ter, von zwei Män­nern ex­hu­miert wird, weil ge­nau an die­ser Stel­le ein Kind ei­ner rei­chen Fa­mi­lie be­gra­ben wer­den soll. Die bei­den Män­ner be­ei­len sich, aber die Ak­ti­on wird er­schwert, weil man noch un­ver­hofft die Ge­bei­ne ei­nes Man­nes fin­det, der auf dem Kind be­stat­tet wor­den ist. Erst dann sam­melt man die Kin­der­kno­chen auf und es gibt so­gar noch ei­ne Haar­locke von je­ner Ane-Met­te. Die prunk­vol­le und ge­sang­rei­che Be­er­di­gung der Rei­chen nutzt die Frau als Hin­ter­grund, um die Über­re­ste ih­res Kin­des in ei­nem Ra­sen­stück mit der Wür­de zu be­er­di­gen, die ihr da­mals nicht mög­lich war. »Sie fühl­te sich so leicht ums Herz…so wie je­mand, der ei­ne al­te Schuld be­gli­chen hat…«

Gna­den­brot er­zählt von ei­nem neu ge­bau­ten »Ar­men- und Ar­beits­haus«, in dem sich die »ver­brauch­ten Kräf­te« ver­sam­meln, »wenn die Hand zu schwach und der Rücken zu krumm wird, um die Last des Le­bens noch lan­ge zu tra­gen.« Die Schil­de­rung der Opu­lenz des neu­en Bau­werks kon­tra­stiert mit der sar­ka­sti­schen Schil­de­rung der Ver­brin­gung je­der »er­schöpf­ten Exi­sten­zen« und ih­rer Ver­pfle­gung, bei­spiels­wei­se mor­gens mit ei­nem »hal­ben Li­ter ab­ge­koch­tem, ver­dünn­ten Was­ser«, wel­ches Bier ge­nannt wür­de. Mit­tags »gibt es Grün­kohl mit Rü­ben und Kar­tof­feln – und den Ge­ruch des Rind­fleischs des In­spek­teurs…« Ei­gent­lich sind al­le ganz zu­frie­den mit die­sem neu­en Heim, nur ei­ne nicht und das ist Tri­ne Bød­kers. Und wie die sich wehrt und wie die an­de­ren sich dar­auf weh­ren – das er­zählt die­se Ge­schich­te mit ei­ner sar­ka­sti­schen Un­er­bitt­lich­keit.

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  1. In alphabetischer Reihenfolge: Philipp Botte, Randi Drümmer, Sarah Fengler, Jona Gola, Rebecca Jacobi, Mona Langhorst, Lara Ringel Fraile, Natalie Scheib, Julia Schmidt, André Wilkening, Alexander Witzko, Anastassis Zaltsberg. 

Ge­or­ges Si­me­non: Die grü­nen Fen­ster­lä­den

Georges Simenon: Die grünen Fensterläden

Ge­or­ges Si­me­non: Die grü­nen Fen­ster­lä­den
(Ü: Wolf­gang Matz)

Die grü­nen Fen­ster­lä­den be­ginnt – und das ist un­ge­wöhn­lich – mit ei­nem Vor­wort des Au­tors: Die Haupt­fi­gur des Ro­mans, der Schau­spie­ler Mau­gin, sei »we­der die­ser noch je­ner. Er ist Mau­gin, ganz ein­fach, mit den gu­ten wie schlech­ten Ei­gen­schaf­ten, die nur ihm ge­hö­ren und für die ein­zig und al­lein ich ver­ant­wort­lich bin.« Man sol­le, so Ge­or­ges Si­me­non, ihn nicht mit le­ben­den oder to­ten Schau­spie­lern ver­glei­chen oder gleich­set­zen.

In der Tat lädt die Fi­gur des »gro­ßen Mau­gin« da­zu ein, Par­al­le­len zu su­chen. Wie­viel da­von ist von Char­lie Chap­lin? Oder gibt es doch mehr Par­al­le­len zu Jean Ga­bin? Die Al­lü­ren des her­ri­schen, al­ko­hol- wie ar­beits­süch­ti­gen Schau­spie­lers könn­ten auch die ei­nes Schrift­stel­lers oder bil­den­den Künst­lers sein. Vom Pu­bli­kum ver­ehrt – als Pri­vat­mensch ge­fürch­tet, ja: ge­hasst.

Im Rah­men sei­ner Si­me­non-Neu­edi­tio­nen pu­bli­ziert der Kam­pa-Ver­lag Die grü­nen Fen­ster­lä­den, 1950 erst­mals er­schie­nen, in ei­ner neu­en Über­set­zung von Eli­sa­beth Edl und Wolf­gang Matz. Letz­te­rer steu­ert ein sehr in­for­ma­ti­ves Nach­wort bei. Er ver­tritt die The­se, dass Si­me­nons Di­stan­zie­rung nicht nur ju­sti­zia­ble Grün­de hat­te. Doch da­zu spä­ter.

Es be­ginnt mit Maug­ins abend­li­cher Pri­vat­au­di­enz bei ei­nem Pro­mi­nen­ten­arzt. Er ist 59 ha­be aber das Herz ei­nes 75jährigen, so lau­tet die Dia­gno­se. Er be­kommt ein paar Pil­len und den Rat­schlag, kür­zer zu tre­ten. Das ist schwie­rig, weil er sich in den näch­sten zwölf Mo­na­ten ver­pflich­tet hat, fünf Fil­me ab­zu­dre­hen und an­son­sten abends täg­lich Thea­ter zu spie­len (zu­züg­lich noch zwei Nach­mit­tags­vor­stel­lun­gen). Das Geld braucht er für sei­nen auf­wen­di­gen Le­bens­stil mit gro­ßem Per­so­nal: Ma­na­ger, Fak­to­tum, Haus­mäd­chen, Fah­rer, Nan­ny, Kö­chin. Und er ist ver­hei­ra­tet mit ei­ner drei­ßig Jah­re jün­ge­ren Frau; Baba, das Kind, ist mitt­ler­wei­le zwei Jah­re alt. Mau­gin ist al­ler­dings froh, dass der Arzt sein Al­ko­hol­pro­blem nicht an­ge­spro­chen hat­te und trinkt sich dar­auf erst ein­mal ein paar Glä­ser.

Aber der Be­such hat et­was in ihm be­wegt. Er re­ka­pi­tu­liert sein Le­ben. Aus ar­men Ver­hält­nis­sen kom­mend und sich mit klei­nen Jobs nach oben ar­bei­tend, be­gann er spät mit der Schau­spie­le­rei und zu­nächst auch nur mit mä­ßi­gem Er­folg. »Bis fünf­zig leb­te er nur vom Thea­ter. Bis vier­zig wur­de es am Mo­nats­en­de eng. Bis drei­ßig war er ein Hun­ger­lei­der.«

Da­bei nut­ze ihm sei­ne er­ste Ehe mit der Di­va Yvonne Del­o­bel, be­kannt als »die un­ver­gess­li­che Künst­le­rin«, die ihn für ei­nen Gro­bi­an hielt und, wie er fest­stell­te, noch mehr trank als er. Ei­nes Ta­ges führ­te sie ihn et­was au­ßer­halb von Pa­ris zu ei­nem wei­ßen Haus, »ge­räu­mig, ma­kel­los, mit grü­nen Fen­ster­lä­den und Schie­fer­dach, in ei­nem Gar­ten, samt ge­pfleg­tem Ra­sen, sorg­fäl­tig ge­hark­ten We­gen.« Be­vor sie Mau­gin ken­nen­lern­te, hat­te sie sich die­ses Haus als Re­fu­gi­um ge­kauft. Aber es ging nicht: »In der er­sten Wo­che ha­be ich ge­brüllt vor Ver­zweif­lung. In der zwei­ten bin ich weg­ge­rannt und hab nie wie­der ei­nen Fuß zwi­schen die­se Mau­ern ge­setzt.« Das er­dach­te Ide­al ei­nes ein­fa­chen (an­de­re wür­de sa­gen: spie­ßi­gen) Le­bens schei­tert. Erst jetzt wird Mau­gin klar, was da­mals ge­meint war.

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»Über­aus war­me Wor­te«

Ich le­se ge­ra­de das wun­der­ba­re, im Wall­stein-Ver­lag kürz­lich er­schie­ne­ne Buch Kaum ein Tag oh­ne Spek­ta­kel mit Er­zäh­lun­gen und Feuil­le­tons des dä­ni­schen Schrift­stel­lers Hen­rik Pon­top­pi­dan (1857–1943). Her­aus­ge­ge­ben ist es von Mar­le­ne Ha­sten­plug und dem re­nom­mier­ten Ul­rich Son­nen­berg, der u. a. mit der Neu­über­set­zung der Him­mer­lands­ge­schich­ten des dä­ni­schen No­bel­preis­trä­gers Jo­han­nes V. Jen­sen für Fu­ro­re ge­sorgt hat­te.

Nun al­so Hen­rik Pon­top­pi­dan, der eben­falls mit dem Li­te­ra­tur­no­bel­preis aus­ge­zeich­net wur­de (1917 zu­sam­men mit Karl Gjel­ler­up, ei­nem Lands­mann). Pon­top­pi­dan ist, wie man im Nach­wort des Bu­ches er­fährt, in Dä­ne­mark im­mer noch Schul­lek­tü­re. Und – das ist wirk­lich ei­ne Be­son­der­heit: Es gibt ei­ne Pon­top­pi­dan-Ge­sell­schaft, die aus­ge­wähl­te Kurz­pro­sa und jour­na­li­sti­sche Tex­te des vor acht­zig Jah­ren ver­stor­be­nen Au­tors auf ei­ner Web­sei­te zur Ver­fü­gung stellt. Ne­ben Eng­lisch und Fran­zö­sisch fin­den sich auch deut­sche Über­set­zun­gen. Letz­te­re durch ei­ne Ko­ope­ra­ti­on des In­sti­tuts für Skan­dia­vi­stik der Goe­the-Uni­ver­si­tät Frank­furt mit der Pon­top­pi­dan-Ge­sell­schaft.

ARNO HOLZ –
Von Erich Bütt­ner – Quel­le / Ge­mein­frei

Dort fin­den sich auch Brie­fe an und von Hen­rik Pon­top­pi­dan in deut­scher Spra­che. Ei­ner der Brief­schrei­ber war der leid­lich be­kann­te na­tu­ra­li­stisch-im­pres­sio­ni­sti­sche Schrift­stel­ler Ar­no Holz. Ins­ge­samt sind vier Brie­fe von Holz an Pon­top­pi­dan hin­ter­legt – ge­schrie­ben zwi­schen No­vem­ber 1921 und Ju­li 1922. Holz kennt im er­sten Brief kei­ne Hem­mun­gen und bit­tet den dä­ni­schen Dich­ter »gü­tigst als Kan­di­da­ten für den li­te­ra­ri­schen No­bel­preiss in Vor­schlag zu brin­gen.« Ei­ne Ant­wort ist nicht über­lie­fert, aber Holz scheint Hoff­nung ge­schöpft zu ha­ben, bringt sich ei­ni­ge Mo­na­te spä­ter er­neut in Er­in­ne­rung – mit prä­zi­sen In­struk­tio­nen, wie ei­ne Emp­feh­lung vor­zu­neh­men ist.

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Jens Bal­zer: No Li­mit

Jens Balzer: No Limit

Jens Bal­zer: No Li­mit

Jah­res- und De­ka­den­bü­cher bil­den seit ei­ni­ger Zeit fast schon ein ei­ge­nes Gen­re. Um ih­re Exi­stenz zu recht­fer­ti­gen, müs­sen die be­han­del­ten Zeit­ab­schnit­te nicht nur nach be­stimm­ten Kri­te­ri­en zu­sam­men­ge­fasst, son­dern auch über­höht wer­den. Ir­gend­et­was muss ge­sche­hen sein, um das Jahr oder die Epo­che ein­zig­ar­tig dar­zu­stel­len. Das ist rück­wir­kend be­trach­tend um­so ein­fa­cher, je wei­ter die ent­spre­chen­de De­ka­de ent­fernt ist. Auch die Fest­stel­lung, dass da­mals et­was für ak­tu­el­le Ge­gen­wart ty­pi­sches ih­ren An­fang ge­nom­men ha­be, ist dann si­che­rer zu tref­fen.

2019 ver­öf­fent­lich­te Jens Bal­zer ein Buch über die 1970er Jah­re. Zwei Jah­re spä­ter nahm er sich die Acht­zi­ger vor. Und jetzt, 2023, mit No Li­mit die Neun­zi­ger. Die Sieb­zi­ger nennt er das ent­fes­sel­te, die Acht­zi­ger das pul­sie­ren­de Jahr­zehnt. Die Neun­zi­ger wer­den zum »Jahr­zehnt der Frei­heit«, oder, wie es spä­ter et­was ge­nau­er heißt, das »Zeit­al­ter ei­ner glo­ba­len Frie­dens­ord­nung«. Pas­sen­der­wei­se be­ginnt das Buch über die Neun­zi­ger mit dem Mau­er­fall und lässt sie mit dem 11. Sep­tem­ber 2001 aus­klin­gen (wo­bei kein Er­eig­nis zwi­schen 2000 und 9/11 ei­ne Rol­le spielt). Das »Jahr­zehnt des Auf­bruchs« en­det schließ­lich als Zeit, in der »al­te Iden­ti­tä­ten wie­der­keh­ren und neue Iden­ti­tä­ten ent­ste­hen.« Mit dem Ein­sturz der Zwil­lings­tür­me »en­den die Neun­zi­ger­jah­re. Es en­det das En­de der Ge­schich­te. Und es en­det die Post­mo­der­ne, in der man glaub­te, dass sich al­le über­kom­me­nen Tra­di­tio­nen und Iden­ti­tä­ten auf­lö­sen wür­den in ei­ner Glo­ba­li­sie­rung, in der die ge­sam­te Mensch­heit sich ver­eint und ver­söhnt – im frei­en Han­del, im frei­en Aus­tausch von Gü­tern, Kul­tu­ren, Ideen.«

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