Hen­rik Pon­top­pi­dan: Kaum ein Tag oh­ne Spek­ta­kel

Henrik Pontoppidan: Kaum ein Tag ohne Spektakel

Hen­rik Pon­top­pi­dan: Kaum ein Tag oh­ne Spek­ta­kel

Im letz­ten Jahr be­en­de­te Ul­rich Son­nen­berg sei­ne Ar­beit an der Neu­über­set­zung der va­ri­an­ten­rei­chen Him­mer­land­ge­schich­ten des dä­ni­schen No­bel­preis­trä­gers Jo­han­nes V. Jen­sen. Und nun liegt im Wall­stein-Ver­lag mit Kaum ein Tag oh­ne Spek­ta­kel ei­ne An­tho­lo­gie ei­nes an­de­ren dä­ni­schen Au­tors vor: Hen­rik Pon­top­pi­dan (1857–1943), Sohn ei­nes Pfar­rers und 1917 mit dem Li­te­ra­tur­no­bel­preis aus­ge­zeich­net. Zu­sam­men mit Mar­le­ne Ha­sten­plug fun­giert Son­nen­berg hier als Her­aus­ge­ber. Die Über­set­zungs­ar­beit der zwi­schen 1881 und 1918 in di­ver­sen Pu­bli­ka­tio­nen er­schie­nen Tex­te wur­de von ins­ge­samt zwölf Stu­den­tin­nen und Stu­den­ten des In­sti­tuts für Skan­di­na­vi­stik in Frank­furt vor­ge­nom­men1. Ne­ben zwölf Er­zäh­lun­gen wur­den acht Feuil­le­tons auf­ge­nom­men. Das Nach­wort ist von Nils Gun­der Han­sen, Lei­ter des Pon­top­pi­dan Cen­ters der Süd­dä­ni­schen Uni­ver­si­tät in Oden­se. Hier wird ein sehr in­struk­ti­ves Web­por­tal zu Hen­rik Pon­top­pi­dan be­trie­ben, auf dem sich Tex­te des Dich­ters im Ori­gi­nal, aber auch auf Deutsch zu fin­den sind.

Han­sen weist in sei­nem Nach­wort kurz auf die epi­schen Ro­ma­ne Pon­top­pidans hin (die im üb­ri­gen in deut­scher Über­set­zung nur un­ge­nü­gend lie­fer­bar sind) und den auch in Dä­ne­mark vi­ru­len­ten Wunsch nach dem um­fas­sen­den Ge­sell­schafts­ro­man (das scheint über­all und zu al­len Zei­ten ein Ver­lan­gen zu sein), um dann den Fo­kus auf die aus­ge­wähl­ten Tex­te zu rich­ten. Man lernt, dass der Erst­kon­takt mit Pon­top­pi­dan im Schul­un­ter­richt in Dä­ne­mark durch die Er­zäh­lun­gen Ane-Met­te und Gna­den­brot her­ge­stellt wird. Ane-Met­te spielt auf ei­nem dörf­li­chen Fried­hof, ei­ne Vier­tel­mei­le ent­fernt vom (fik­ti­ven) Ort Lil­le­lun­de (den Pon­top­pi­dan in meh­re­ren Er­zäh­lun­gen ver­wen­det). Der Kirch­hof ist »nackt und un­heim­lich«, die Vo­gel­stim­men bil­den ge­gen Abend ein »Höl­len­kon­zert«, was im Kon­trast zu den bun­ten Tö­nen der Bäu­me im Herbst steht. Aber es ist Som­mer und warm und es geht um ei­ne Per­son, ei­ne Frau, die in Trau­er­hau­be auf ei­ner Bank sitzt. Spä­ter er­fährt man, dass sie noch in Be­glei­tung ei­nes zwölf­jäh­ri­gen Mäd­chens ist. Die Trau­er­hau­be trägt die Frau nicht we­gen ih­res vor vier Jah­ren an ei­nem »glück­li­chen Win­ter­mor­gen« da­hin­ge­schie­de­nen Man­nes (ei­nem Trun­ken­bold). Sie ist dort, weil ih­re vor zwan­zig Jah­ren ver­stor­be­ne, da­mals drei­jäh­ri­ge Toch­ter, von zwei Män­nern ex­hu­miert wird, weil ge­nau an die­ser Stel­le ein Kind ei­ner rei­chen Fa­mi­lie be­gra­ben wer­den soll. Die bei­den Män­ner be­ei­len sich, aber die Ak­ti­on wird er­schwert, weil man noch un­ver­hofft die Ge­bei­ne ei­nes Man­nes fin­det, der auf dem Kind be­stat­tet wor­den ist. Erst dann sam­melt man die Kin­der­kno­chen auf und es gibt so­gar noch ei­ne Haar­locke von je­ner Ane-Met­te. Die prunk­vol­le und ge­sang­rei­che Be­er­di­gung der Rei­chen nutzt die Frau als Hin­ter­grund, um die Über­re­ste ih­res Kin­des in ei­nem Ra­sen­stück mit der Wür­de zu be­er­di­gen, die ihr da­mals nicht mög­lich war. »Sie fühl­te sich so leicht ums Herz…so wie je­mand, der ei­ne al­te Schuld be­gli­chen hat…«

Gna­den­brot er­zählt von ei­nem neu ge­bau­ten »Ar­men- und Ar­beits­haus«, in dem sich die »ver­brauch­ten Kräf­te« ver­sam­meln, »wenn die Hand zu schwach und der Rücken zu krumm wird, um die Last des Le­bens noch lan­ge zu tra­gen.« Die Schil­de­rung der Opu­lenz des neu­en Bau­werks kon­tra­stiert mit der sar­ka­sti­schen Schil­de­rung der Ver­brin­gung je­der »er­schöpf­ten Exi­sten­zen« und ih­rer Ver­pfle­gung, bei­spiels­wei­se mor­gens mit ei­nem »hal­ben Li­ter ab­ge­koch­tem, ver­dünn­ten Was­ser«, wel­ches Bier ge­nannt wür­de. Mit­tags »gibt es Grün­kohl mit Rü­ben und Kar­tof­feln – und den Ge­ruch des Rind­fleischs des In­spek­teurs…« Ei­gent­lich sind al­le ganz zu­frie­den mit die­sem neu­en Heim, nur ei­ne nicht und das ist Tri­ne Bød­kers. Und wie die sich wehrt und wie die an­de­ren sich dar­auf weh­ren – das er­zählt die­se Ge­schich­te mit ei­ner sar­ka­sti­schen Un­er­bitt­lich­keit.

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  1. In alphabetischer Reihenfolge: Philipp Botte, Randi Drümmer, Sarah Fengler, Jona Gola, Rebecca Jacobi, Mona Langhorst, Lara Ringel Fraile, Natalie Scheib, Julia Schmidt, André Wilkening, Alexander Witzko, Anastassis Zaltsberg. 

Ge­or­ges Si­me­non: Die grü­nen Fen­ster­lä­den

Georges Simenon: Die grünen Fensterläden

Ge­or­ges Si­me­non: Die grü­nen Fen­ster­lä­den
(Ü: Wolf­gang Matz)

Die grü­nen Fen­ster­lä­den be­ginnt – und das ist un­ge­wöhn­lich – mit ei­nem Vor­wort des Au­tors: Die Haupt­fi­gur des Ro­mans, der Schau­spie­ler Mau­gin, sei »we­der die­ser noch je­ner. Er ist Mau­gin, ganz ein­fach, mit den gu­ten wie schlech­ten Ei­gen­schaf­ten, die nur ihm ge­hö­ren und für die ein­zig und al­lein ich ver­ant­wort­lich bin.« Man sol­le, so Ge­or­ges Si­me­non, ihn nicht mit le­ben­den oder to­ten Schau­spie­lern ver­glei­chen oder gleich­set­zen.

In der Tat lädt die Fi­gur des »gro­ßen Mau­gin« da­zu ein, Par­al­le­len zu su­chen. Wie­viel da­von ist von Char­lie Chap­lin? Oder gibt es doch mehr Par­al­le­len zu Jean Ga­bin? Die Al­lü­ren des her­ri­schen, al­ko­hol- wie ar­beits­süch­ti­gen Schau­spie­lers könn­ten auch die ei­nes Schrift­stel­lers oder bil­den­den Künst­lers sein. Vom Pu­bli­kum ver­ehrt – als Pri­vat­mensch ge­fürch­tet, ja: ge­hasst.

Im Rah­men sei­ner Si­me­non-Neu­edi­tio­nen pu­bli­ziert der Kam­pa-Ver­lag Die grü­nen Fen­ster­lä­den, 1950 erst­mals er­schie­nen, in ei­ner neu­en Über­set­zung von Eli­sa­beth Edl und Wolf­gang Matz. Letz­te­rer steu­ert ein sehr in­for­ma­ti­ves Nach­wort bei. Er ver­tritt die The­se, dass Si­me­nons Di­stan­zie­rung nicht nur ju­sti­zia­ble Grün­de hat­te. Doch da­zu spä­ter.

Es be­ginnt mit Maug­ins abend­li­cher Pri­vat­au­di­enz bei ei­nem Pro­mi­nen­ten­arzt. Er ist 59 ha­be aber das Herz ei­nes 75jährigen, so lau­tet die Dia­gno­se. Er be­kommt ein paar Pil­len und den Rat­schlag, kür­zer zu tre­ten. Das ist schwie­rig, weil er sich in den näch­sten zwölf Mo­na­ten ver­pflich­tet hat, fünf Fil­me ab­zu­dre­hen und an­son­sten abends täg­lich Thea­ter zu spie­len (zu­züg­lich noch zwei Nach­mit­tags­vor­stel­lun­gen). Das Geld braucht er für sei­nen auf­wen­di­gen Le­bens­stil mit gro­ßem Per­so­nal: Ma­na­ger, Fak­to­tum, Haus­mäd­chen, Fah­rer, Nan­ny, Kö­chin. Und er ist ver­hei­ra­tet mit ei­ner drei­ßig Jah­re jün­ge­ren Frau; Baba, das Kind, ist mitt­ler­wei­le zwei Jah­re alt. Mau­gin ist al­ler­dings froh, dass der Arzt sein Al­ko­hol­pro­blem nicht an­ge­spro­chen hat­te und trinkt sich dar­auf erst ein­mal ein paar Glä­ser.

Aber der Be­such hat et­was in ihm be­wegt. Er re­ka­pi­tu­liert sein Le­ben. Aus ar­men Ver­hält­nis­sen kom­mend und sich mit klei­nen Jobs nach oben ar­bei­tend, be­gann er spät mit der Schau­spie­le­rei und zu­nächst auch nur mit mä­ßi­gem Er­folg. »Bis fünf­zig leb­te er nur vom Thea­ter. Bis vier­zig wur­de es am Mo­nats­en­de eng. Bis drei­ßig war er ein Hun­ger­lei­der.«

Da­bei nut­ze ihm sei­ne er­ste Ehe mit der Di­va Yvonne Del­o­bel, be­kannt als »die un­ver­gess­li­che Künst­le­rin«, die ihn für ei­nen Gro­bi­an hielt und, wie er fest­stell­te, noch mehr trank als er. Ei­nes Ta­ges führ­te sie ihn et­was au­ßer­halb von Pa­ris zu ei­nem wei­ßen Haus, »ge­räu­mig, ma­kel­los, mit grü­nen Fen­ster­lä­den und Schie­fer­dach, in ei­nem Gar­ten, samt ge­pfleg­tem Ra­sen, sorg­fäl­tig ge­hark­ten We­gen.« Be­vor sie Mau­gin ken­nen­lern­te, hat­te sie sich die­ses Haus als Re­fu­gi­um ge­kauft. Aber es ging nicht: »In der er­sten Wo­che ha­be ich ge­brüllt vor Ver­zweif­lung. In der zwei­ten bin ich weg­ge­rannt und hab nie wie­der ei­nen Fuß zwi­schen die­se Mau­ern ge­setzt.« Das er­dach­te Ide­al ei­nes ein­fa­chen (an­de­re wür­de sa­gen: spie­ßi­gen) Le­bens schei­tert. Erst jetzt wird Mau­gin klar, was da­mals ge­meint war.

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»Über­aus war­me Wor­te«

Ich le­se ge­ra­de das wun­der­ba­re, im Wall­stein-Ver­lag kürz­lich er­schie­ne­ne Buch Kaum ein Tag oh­ne Spek­ta­kel mit Er­zäh­lun­gen und Feuil­le­tons des dä­ni­schen Schrift­stel­lers Hen­rik Pon­top­pi­dan (1857–1943). Her­aus­ge­ge­ben ist es von Mar­le­ne Ha­sten­plug und dem re­nom­mier­ten Ul­rich Son­nen­berg, der u. a. mit der Neu­über­set­zung der Him­mer­lands­ge­schich­ten des dä­ni­schen No­bel­preis­trä­gers Jo­han­nes V. Jen­sen für Fu­ro­re ge­sorgt hat­te.

Nun al­so Hen­rik Pon­top­pi­dan, der eben­falls mit dem Li­te­ra­tur­no­bel­preis aus­ge­zeich­net wur­de (1917 zu­sam­men mit Karl Gjel­ler­up, ei­nem Lands­mann). Pon­top­pi­dan ist, wie man im Nach­wort des Bu­ches er­fährt, in Dä­ne­mark im­mer noch Schul­lek­tü­re. Und – das ist wirk­lich ei­ne Be­son­der­heit: Es gibt ei­ne Pon­top­pi­dan-Ge­sell­schaft, die aus­ge­wähl­te Kurz­pro­sa und jour­na­li­sti­sche Tex­te des vor acht­zig Jah­ren ver­stor­be­nen Au­tors auf ei­ner Web­sei­te zur Ver­fü­gung stellt. Ne­ben Eng­lisch und Fran­zö­sisch fin­den sich auch deut­sche Über­set­zun­gen. Letz­te­re durch ei­ne Ko­ope­ra­ti­on des In­sti­tuts für Skan­dia­vi­stik der Goe­the-Uni­ver­si­tät Frank­furt mit der Pon­top­pi­dan-Ge­sell­schaft.

ARNO HOLZ –
Von Erich Bütt­ner – Quel­le / Ge­mein­frei

Dort fin­den sich auch Brie­fe an und von Hen­rik Pon­top­pi­dan in deut­scher Spra­che. Ei­ner der Brief­schrei­ber war der leid­lich be­kann­te na­tu­ra­li­stisch-im­pres­sio­ni­sti­sche Schrift­stel­ler Ar­no Holz. Ins­ge­samt sind vier Brie­fe von Holz an Pon­top­pi­dan hin­ter­legt – ge­schrie­ben zwi­schen No­vem­ber 1921 und Ju­li 1922. Holz kennt im er­sten Brief kei­ne Hem­mun­gen und bit­tet den dä­ni­schen Dich­ter »gü­tigst als Kan­di­da­ten für den li­te­ra­ri­schen No­bel­preiss in Vor­schlag zu brin­gen.« Ei­ne Ant­wort ist nicht über­lie­fert, aber Holz scheint Hoff­nung ge­schöpft zu ha­ben, bringt sich ei­ni­ge Mo­na­te spä­ter er­neut in Er­in­ne­rung – mit prä­zi­sen In­struk­tio­nen, wie ei­ne Emp­feh­lung vor­zu­neh­men ist.

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Jens Bal­zer: No Li­mit

Jens Balzer: No Limit

Jens Bal­zer: No Li­mit

Jah­res- und De­ka­den­bü­cher bil­den seit ei­ni­ger Zeit fast schon ein ei­ge­nes Gen­re. Um ih­re Exi­stenz zu recht­fer­ti­gen, müs­sen die be­han­del­ten Zeit­ab­schnit­te nicht nur nach be­stimm­ten Kri­te­ri­en zu­sam­men­ge­fasst, son­dern auch über­höht wer­den. Ir­gend­et­was muss ge­sche­hen sein, um das Jahr oder die Epo­che ein­zig­ar­tig dar­zu­stel­len. Das ist rück­wir­kend be­trach­tend um­so ein­fa­cher, je wei­ter die ent­spre­chen­de De­ka­de ent­fernt ist. Auch die Fest­stel­lung, dass da­mals et­was für ak­tu­el­le Ge­gen­wart ty­pi­sches ih­ren An­fang ge­nom­men ha­be, ist dann si­che­rer zu tref­fen.

2019 ver­öf­fent­lich­te Jens Bal­zer ein Buch über die 1970er Jah­re. Zwei Jah­re spä­ter nahm er sich die Acht­zi­ger vor. Und jetzt, 2023, mit No Li­mit die Neun­zi­ger. Die Sieb­zi­ger nennt er das ent­fes­sel­te, die Acht­zi­ger das pul­sie­ren­de Jahr­zehnt. Die Neun­zi­ger wer­den zum »Jahr­zehnt der Frei­heit«, oder, wie es spä­ter et­was ge­nau­er heißt, das »Zeit­al­ter ei­ner glo­ba­len Frie­dens­ord­nung«. Pas­sen­der­wei­se be­ginnt das Buch über die Neun­zi­ger mit dem Mau­er­fall und lässt sie mit dem 11. Sep­tem­ber 2001 aus­klin­gen (wo­bei kein Er­eig­nis zwi­schen 2000 und 9/11 ei­ne Rol­le spielt). Das »Jahr­zehnt des Auf­bruchs« en­det schließ­lich als Zeit, in der »al­te Iden­ti­tä­ten wie­der­keh­ren und neue Iden­ti­tä­ten ent­ste­hen.« Mit dem Ein­sturz der Zwil­lings­tür­me »en­den die Neun­zi­ger­jah­re. Es en­det das En­de der Ge­schich­te. Und es en­det die Post­mo­der­ne, in der man glaub­te, dass sich al­le über­kom­me­nen Tra­di­tio­nen und Iden­ti­tä­ten auf­lö­sen wür­den in ei­ner Glo­ba­li­sie­rung, in der die ge­sam­te Mensch­heit sich ver­eint und ver­söhnt – im frei­en Han­del, im frei­en Aus­tausch von Gü­tern, Kul­tu­ren, Ideen.«

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Ko­re­as sanf­te Ra­che (2/2)

← 1. Teil

In den Gas­sen von Mye­ong­dong er­ken­ne ich die Songs wie­der, die ge­ra­de in Mo­de sind, auch Kitsch wird schon ge­spielt, al­so Nineteen’s Kitsch, um ge­nau zu sein. Sie drin­gen durch die Ein­gän­ge der klei­ne­ren Kos­me­tik­ge­schäf­te, die ei­ni­ge Pro­duk­te bil­li­ger ver­kau­fen als die gro­ße Kos­me­tik­ket­te Oli­ve Young mit ih­ren all­ge­gen­wär­ti­gen, über die Stadt ver­streu­ten Fi­lia­len. Man­che Leu­te tun so viel von dem Zeug in den Ein­kaufs­korb, daß ich mich fra­ge, was sie denn noch al­les aus sich ma­chen wol­len – oder ob sie die Wa­re viel­leicht schmug­geln. Ge­färb­te Kon­takt­lin­sen oder sol­che, die die Pu­pil­le grö­ßer er­schei­nen las­sen, künst­li­che Haa­re, das gu­te al­te Prin­zip der Pe­rücke. Oder gleich ein chir­ur­gi­scher Ein­griff, der die Na­se, das Kinn, die Wan­gen ver­än­dert. Ist das dann noch Spiel, Cos­play? Oder wird es ernst? Im­mer noch Spiel, man kann sich ja mehr­mals um­mo­deln las­sen. Ein Stra­ßen­ver­käu­fer ge­gen­über vom Aus­gang un­se­res Ho­tels, der die Wa­re in ei­nem Wohn­wa­gen bringt und drau­ßen aus­stellt, stemmt sich der vor­herr­schen­den Kul­tur ent­ge­gen. Ein ha­ge­res Männ­chen mit zer­furch­tem Ge­sicht, die Base­ball­müt­ze ver­kehrt­her­um, un­auf­fäl­lig dun­kel­blau ge­klei­det, sitzt auf dem Tritt­brett, läßt die Bei­ne her­aus­hän­gen, ei­ne elek­tri­sche Baß­gi­tar­re im Schoß, auf der er in jahr­zehn­te­lan­ger Treue Ji­mi Hen­drix be­glei­tet, der aus den Laut­spre­chern spukt, um­ge­ben von Nip­pes, Stoff­tie­ren, Kunst­le­der­ta­schen mit Me­tall­be­schlag, bun­ten Socken. Der Sound des Al­ten, der nichts dar­stellt, wi­der­steht dau­er­haft den Mo­den des Out­fits und der Songs von Grup­pen, de­ren Le­bens­dau­er zwei Jah­re sel­ten über­steigt, weil ih­re Mit­glie­der, die Vor­zei­ge­girls und ‑boys, von der Un­ter­hal­tungs­fir­ma re­gel­mä­ßig ver­heizt wer­den.

Geht man von der Hon­gik-Uni­ver­si­tät die Hong­dae-Stra­ße hin­auf, wird es, so­fern die Son­ne un­ter­ge­gan­gen ist, noch ein­mal bun­ter. Die Leucht­zei­chen le­gen sich ins Zeug, die Men­schen­men­ge wird dich­ter, Knei­pen und Clubs ver­drän­gen die Klei­der­bou­ti­quen, und dann, ehe der Weg rich­tig steil wird, stößt man auf ei­nen Platz, des­sen Mit­te ein klei­nes Am­phi­thea­ter bil­det. Dort hat­te sich, als wir uns nä­her­ten, ein Pu­bli­kum an­ge­sam­melt, vor dem ei­ne Grup­pe jun­ger Leu­te ko­rea­ni­sche Pop­mu­sik vor­führ­te. Eher vor­führ­te als spiel­te, denn zwei der Jun­gen, dann wie­der drei oder vier Mäd­chen, ta­ten nicht mehr als mit ih­ren Stim­men hin und wie­der den Chor oder den Beat der Play­back-Mu­sik von BTS oder sonst ei­ner Band zu ver­stär­ken, wäh­rend ein Mäd­chen auf dem frei­en Platz vor ih­nen da­zu tanz­te. Die Mit­glie­der der Grup­pe ta­ten sich we­ni­ger durch ih­re Fä­hig­kei­ten als durch rot-schwarz glän­zen­de Uni­for­miert­heit her­vor und durch grell ge­färb­tes Haar, pink die Jun­gen, hell­blond die Mäd­chen. Der Ge­rech­tig­keit hal­ber soll­te ich sa­gen, daß sie sich bei den Tän­zen red­lich Mü­he ga­ben und die Vor­bil­der si­cher gut ko­pier­ten, aber sin­gen konn­ten sie nicht (in ab­ge­schwäch­ter Form gilt das ge­ne­rell für die K‑­Pop-Grup­pen, nur daß die aus­er­wähl­ten Pro­fis eben die gan­ze Di­gi­tal­tech­nik der Stu­di­os zur Ver­fü­gung ha­ben). Als wir nach ei­ner Wei­le den Steil­hang hin­auf­gin­gen, streif­te mich der Ge­dan­ke an die fa­ta­le Hal­lo­ween-Nacht und dann das Er­in­ne­rungs­bild an ei­ne Pro­vinz­sän­ge­rin in Frank­reich, die bei ei­nem Ball im Frei­en ir­gend­wo in Süd­frank­reich am Abend ei­nes 14. Ju­li mit dem Ein­satz von Leib und See­le Rouge et noir von Jean­ne Mas singt, wo­bei ich zum er­sten Mal emp­fand – was sich leicht sagt –, daß näm­lich die Ko­pie das Ori­gi­nal über­tref­fen kann.

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Neu­es aus Bal­zers

Jens Dittmar: Falknis

Jens Ditt­mar: Falk­nis

Vor neun Jah­ren muss­te ich vor der Lek­tü­re von So kalt, so schön des Tho­mas-Bern­hard-Mo­no­gra­phi­sten, Schrift­stel­lers, Her­aus­ge­bers und Künst­lers Jens Ditt­mar ka­pi­tu­lie­ren. Der »Schel­men­ro­man« (Ver­lags­wer­bung) über die Fi­gur Aleph Kraus-Gón­go­ra, die­ses opu­lent-über­bor­den­de Ge­misch aus Rät­sel­spie­len, Scha­ra­den und Mocku­men­ta­ry mit vie­len deut­li­chen und ver­mut­lich noch mehr ver­steck­ten li­te­ra­ri­schen Re­fe­ren­zen und An­spie­lun­gen hat­te mich über­for­dert. Da­her hat­te ich auch lan­ge Zeit die drei Jah­re spä­ter er­schie­ne­ne »Mord­ge­schich­te« Falk­nis ins Re­gal der un­ge­le­se­nen Bü­cher ge­stellt, frei­lich mit der Am­bi­ti­on, dies ir­gend­wann zu än­dern. Der im letz­ten Jahr er­schie­ne­ne Ro­man Neu­lich in Bär­wal­de war jetzt der An­lass, sich Jens Ditt­mar er­neut an­zu­neh­men.

Falk­nis ist ei­ne Art Ta­ge­buch­ro­man. Dr. Li­nus Frick, sei­nes Zei­chens ar­beits­lo­ser (und sich un­ver­stan­den füh­len­der) Künst­ler, bi­lan­ziert zwi­schen De­zem­ber 2014 und Ok­to­ber 2015 vor al­lem die Er­eig­nis­se um sei­nen Halb­bru­der Hau­ke, der ur­plötz­lich ver­schwun­den ist. Hau­ke war ein Ge­nie auf dem Ge­biet des Kunst­stoff- und Pla­stik-Re­cy­cling, hat­te meh­re­re Pa­ten­te zur Wie­der­ge­win­nung von Pla­stik­ab­fäl­len und er­öff­ne­te ei­ne Fa­brik für Flü­ster­asphalther­stel­lung in Kroa­ti­en. In sei­nem Fir­men­kon­strukt ar­bei­te­ten ir­gend­wann 800 Men­schen; es lief sehr gut, aber er woll­te auch aus sei­nem Hei­mat­ort Bal­zers in Liech­ten­stein, ge­nau­er: dem Ge­biet um das Drei­län­der­eck Liech­ten­stein, Schweiz und Öster­reich um den Berg Falk­nis, ei­ne Art Al­pen-Dis­ney­land mit sau­di-ara­bi­schem In­vest­ment er­rich­ten. Schnell ge­wann er die lo­ka­le Po­li­tik, denn es ging na­tür­lich auch um Ar­beits­plät­ze. Aber plötz­lich war Hau­ke ver­schwun­den. Man er­mit­tel­te we­gen Steu­er­hin­ter­zie­hung und Ver­un­treu­ung, aber ein viel­sa­gen­der Ab­schieds­brief lässt die Po­li­zei an Selbst­mord glau­ben. Die Rest­zwei­fel (es gab kei­ne Lei­che) ge­nüg­ten, um bis­wei­len Li­nus auf den Zahn zu füh­len. Der weiß na­tür­lich nichts, weil er – wie fast im­mer – nie in Hau­kes Ge­schäf­te ein­ge­weiht war.

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Ko­re­as sanf­te Ra­che (1/2)

Star­bucks ist kein Ca­fé, es ist ei­ne Mar­ke, man er­kennt sie leicht wie­der und je­der kennt sie. Star­bucks gibt es über­all auf der Welt und in je­dem Stadt­teil von Seo­ul, ist da­her als Treff­punkt bes­ser ge­eig­net als ir­gend­ein hüb­sches ein­hei­mi­sches Ca­fé, auch wenn der Kaf­fee dort bes­ser schmeckt, nicht so ein Gesch­la­der wie im Mar­ken­ca­fé. Al­so tref­fen wir uns in drei Stun­den im Star­bucks bei der U‑Bahnstation Mye­ong­dong. Das war die Ab­ma­chung. Ich weiß, mei­ne Toch­ter kommt im­mer zu spät, wäh­rend ich selbst gern et­was frü­her kom­me, um das zu tun, was ich jetzt tue: die Ge­gend mit Blicken son­die­ren, mich auf De­tails kon­zen­trie­ren, nach­den­ken, No­ti­zen ma­chen.

Es ist das er­ste Mal in ih­rem Le­ben, daß Yo­ko in ei­ner frem­den Stadt, wo sie die Lan­des­spra­che nicht ver­steht, al­lein un­ter­wegs ist. Sie freu­te sich dar­auf, hat­te wohl auch ein klein­we­nig Angst, ih­re Er­re­gung kann ich gut nach­voll­zie­hen, sie er­in­nert mich an mei­ne ei­ge­ne, als ich so alt war wie sie. Auch daß sie Sehn­sucht hat nach ei­nem an­de­ren Land, kann ich ver­ste­hen, und ih­re Lust, sich in frem­de Um­ge­bun­gen zu be­ge­ben. Als ich sech­zehn war, trug ich Ita­li­en im Kopf her­um, ge­nau­er: ei­ne Vor­stel­lung von Ita­li­en, da woll­te ich un­be­dingt hin, und zwar al­lein, je­den­falls oh­ne Fa­mi­lie (was dann erst mit acht­zehn mög­lich war). Mei­ne Vor­stel­lung war ei­ne kul­tu­rell ge­präg­te, Ita­li­en noch ein Sehn­suchts­land wie sei­ner­zeit für Goe­the, aber das Land lag auch na­he, man konn­te es per An­hal­ter leicht er­rei­chen, oder mit dem Zug, was ich als Stu­dent öf­ters tat, ei­ne un­be­que­me Nacht­rei­se im Lie­ge­wa­gen der Ei­sen­bahn nach Ve­ne­dig, um sie­ben Uhr früh stehst du auf dem Bahn­hofs­vor­platz, das Meer­was­ser plät­schert ge­gen die stei­ner­nen Fun­da­men­te.

Land der Zi­tro­nen (die erst viel wei­ter im Sü­den blü­hen), aber bald auch der ita­lie­ni­schen Pop­mu­sik, Lu­cio Dal­la, Fran­ces­co de Gre­go­ri, Fa­bri­zio de An­drè… Bes­ser als der heu­ti­ge K‑Pop? Kei­ne Ur­tei­le, jetzt nicht! So­gar die viel fei­ne­re ita­lie­ni­sche Mo­de konn­te mich in­ter­es­sie­ren, ob­wohl ich lang­haa­rig in aus­ge­wa­sche­nen Jeans her­um­lief. Nicht in der­sel­ben Wei­se, wie Yo­ko sich für Mo­de in­ter­es­siert. Ohr­rin­ge, Schmin­ke im Jun­gen­ge­sicht, aber nicht als Pro­test­zei­chen, son­dern ein­fach, weil es schick ist. Und die viel flot­ter ge­styl­ten Mu­sik­vi­de­os der K‑­Pop-Bands, die selbst­be­wuß­ten oder selbst­be­wußt wir­ken­den Girls der Girl-Bands, die an­spruchs­vol­len Cho­reo­gra­phien der Tän­ze, das har­te Trai­ning, das da­hin­ter­steckt. Stadt­vier­tel wie Mye­ong­dong oder Hong­dae oder Itae­won sind ei­ne ein­zi­ge mo­di­sche Kom­merz­zo­ne, der al­les ein­ver­leibt wird, die Ca­fés und Re­stau­rants, die kauf­wil­li­gen Fla­neu­re, die blü­hen­den Ma­gno­li­en, die aus dem 19. Jahr­hun­dert stam­men­den Kir­chen, die Re­si­den­zen – in Itae­won – von Bot­schafts­an­ge­hö­ri­gen und ein­hei­mi­schen Rei­chen. Ein Pa­ra­dies für Yo­ko... Wie ein Fisch im fun­keln­den Was­ser be­wegt man sich durch die Men­ge, die ein­mal zu dicht ge­wor­den ist, beim letz­ten Hal­lo­ween, aber dar­an denkt hier nie­mand mehr. Ein Pa­ra­dies auch für mich, wenn­gleich ein an­stren­gen­des. Al­so fol­ge ich, wenn sie nicht ge­ra­de al­lein un­ter­wegs ist, mei­ner Toch­ter und ge­he ihr so­gar vor­aus, denn ge­le­gent­lich ent­deckt man auch im Shop­ping-Be­reich mehr, in­dem man sich um­schaut und mit Leu­ten re­det als in­dem man aufs Smart­phone starrt und sich dem GPS-Füh­rer über­läßt. Klei­der­ge­schäf­te und hüb­sche Ca­fés mit hüb­schen Ku­chen, Stra­ßen­tän­zer, die al­ler­letz­te Eta­ge in ei­nem Kauf­hoch­haus, wo die Gä­ste – jun­ge Lie­bes­paa­re – statt im Ca­fé zu sit­zen sich bei schumm­ri­gem Licht auf Tu­chenten oder auf Schlaf­säcken in Zel­ten la­gern und Ge­trän­ke am Stroh­halm aus gro­ßen Pla­stik­be­chern schlür­fen, oder das ganz in Ba­by-Far­ben ge­hal­te­ne Sweet-Ca­fé, Sym­bol der In­fan­ti­li­sie­rung, die die Welt­ge­sell­schaft er­faßt hat (ein Kom­men­tar, den ich Yo­ko er­spa­re).

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Al­bert Ca­mus: Der Fall

Albert Camus: Der Fall

Al­bert Ca­mus: Der Fall

Er nennt sich Jean-Bap­ti­ste Cla­mence, lebt in Am­ster­dam und hat sich in der Ma­tro­sen­knei­pe Me­xi­co-Ci­ty im Am­ster­da­mer Stadt­teil Ze­edi­jk, na­he zum Rot­licht­vier­tel, ein­ge­rich­tet. Hier spricht er Tou­ri­sten an, ver­wickelt sie in sei­ne Le­bens­ge­schich­te, er­zeugt Neu­gier. Auf die­se Wei­se trifft sich fünf Ta­ge lang ein Rechts­an­walt aus Pa­ris mit Cla­mance; bei­de, wie es ein­mal heißt, »Kin­der des Jahr­hun­derts«. Die Treff­punk­te va­ri­ie­ren: das Me­xi­co-Ci­ty, beim Spa­zie­ren­ge­hen, auf ei­nem Schiff, ei­ner In­sel und schließ­lich bei sich zu Hau­se. Das ist das Set­ting für Der Fall, Al­bert Ca­mus’ 1956 erst­mals er­schie­ne­ner Ro­man, der nun in ei­ner neu­en Über­set­zung von Gre­te Oster­wald vor­liegt.

Da­bei ist schon die Gen­re­bezeich­nung schwie­rig, denn die knapp ein­hun­dert Sei­ten stel­len eher ei­ne Er­zäh­lung dar. Aber auch stimmt nur teil­wei­se, denn man liest nur den Mo­no­log von Cla­mence, der dem An­walt sei­ne Le­bens- und Mo­ral­ge­schich­te vor­trägt. Ge­le­gent­li­che Ein­wür­fe des Ge­gen­über er­fährt man nur da­durch, dass Cla­mence sie wie­der­holt und dann dar­auf ein­geht. Im Nach­wort ver­weist Iris Ra­disch auf ei­ne Ta­ge­buch­stel­le von Ca­mus, der die­ses li­te­ra­ri­sche Ver­fah­ren als »ei­ne Tech­nik des Thea­ters (den dra­ma­ti­schen Mo­no­log und den im­pli­zi­ten Dia­log), um ei­nen tra­gi­schen Ko­mö­di­an­ten zu be­schrei­ben« spe­zi­fi­ziert. Aber wor­in be­steht die­se Tra­gik?

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