»Neh­men und Le­sen«

Ludwig Hohl: Die seltsame Wendung

Lud­wig Hohl: Die selt­sa­me Wen­dung

Aus An­lass des 120. Ge­burts­tags von Lud­wig Hohl im näch­sten Jahr ver­öf­fent­licht der Suhr­kamp-Ver­lag un­ter Ku­ra­tie­rung der Lud­wig-Hohl-Stif­tung im Rah­men der Bi­blio­thek Suhr­kamp-Rei­he gleich fünf Tex­te in vier Bü­chern des 1980 ver­stor­be­nen Schwei­zer So­li­tärs. Vier da­von sind bis­her un­ver­öf­fent­lich­te Wer­ke; ei­ner er­schien 1949 vom Dich­ter im Selbst­ver­lag. Wäh­rend Die selt­sa­me Wen­dung als No­vel­le be­zeich­net wur­de, nann­te Hohl die an­de­ren vier »Be­richt«. Die For­schung ru­bri­ziert die fünf Tex­te, ent­stan­den zwi­schen 1929 und 1949, als »ge­schlos­se­ne Grup­pe«.

Lud­wig Hohl, 1904 ge­bo­ren, war, wie Pe­ter Bich­sel ein­mal sag­te, ein Schrift­stel­ler, der das Pech hat­te, zeit sei­nes Le­bens »Ge­heim­tip« zu sein. Der Va­ter war Pfar­rer, die Mut­ter ei­ne Toch­ter ei­nes Pa­pier­fa­bri­kan­ten. Im Ok­to­ber 1924 ver­ließ Hohl mit sei­ner da­ma­li­gen Freun­din fast flucht­ar­tig die als eng emp­fun­de­ne Welt des groß­bür­ger­li­chen El­tern­hau­ses und zog nach Pa­ris. Er leg­te den Vor­na­men Ar­nold – es war der sei­nes Va­ters ab – und nann­te sich fort­an »Lud­wig«. Der jun­ge Hohl ver­stand sich als Künst­ler. Kurz zu­vor wa­ren ei­ni­ge Ge­dich­te von ihm pu­bli­ziert wor­den. Nun al­so in der Me­tro­po­le der Kunst, in Pa­ris, in der Nä­he des Mont­par­nas­se. Aber Hohl fass­te schwer Fuß. Von den El­tern gab es nur un­re­gel­mä­ßig Zu­wen­dun­gen; den Le­bens­un­ter­halt ver­dien­te an­fangs die Freun­din. Er streif­te mit sei­nem No­tiz­buch durch die Bars und Ca­fés und rasch krei­ste auch die Fla­sche.

Er­folg­lo­sig­keit, Al­ko­hol, die Tren­nung von der Freun­din – in die­sem Kli­ma ent­stand Die selt­sa­me Wen­dung im Jahr 1929. Der bio­gra­phi­sche Kon­text ist deut­lich, auch wenn hier, an­ders als in den Be­rich­ten nicht in der Ich-Form, son­dern per­so­nal er­zählt wird. Haupt­fi­gur ist ein na­men­los blei­ben­den Ma­ler, der sich »im Mont­par­nas­se« nie­der­lässt. Zu­nächst wohnt er in ei­nem Ho­tel, be­kommt von ei­nem Ver­wal­ter re­gel­mä­ßig Geld zu­ge­schickt, wel­ches für ei­ne be­stimm­te Zeit rei­chen soll. Spä­ter passt er den Geld­fluss sei­nen bis­wei­len ex­zes­siv aus­ge­leb­ten Be­dürf­nis­sen an, bis schließ­lich nichts mehr vor­han­den ist.

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Pe­ter Slo­ter­di­jk: Zei­len und Ta­ge III

Peter Sloterdijk: Zeilen und Tage III

Pe­ter Slo­ter­di­jk: Zei­len und Ta­ge III

Seit je­her haf­tet Ta­ge- bzw. No­tiz­buch­schrei­bern ein ge­wis­ser Stoi­zis­mus an: Un­ab­hän­gig von al­len Welt­läu­fen und pri­va­ten Um­ge­bungs­ge­räu­schen set­zen sie sich re­gel­mä­ßig an ei­nen Tisch, um zu schrei­ben, zu re­flek­tie­ren, zu kom­men­tie­ren. Frü­her wur­den Ta­ge- bzw. No­tiz­bü­cher pro­mi­nen­ter Au­toren zu­meist erst nach de­ren Ab­le­ben pu­bli­ziert. So ver­mied man vor al­lem un­an­ge­neh­me Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit Zeit­ge­nos­sen. Ein Man­ko war, dass Nach­lass­ver­wal­ter je nach Gu­sto Än­de­run­gen oder Aus­las­sun­gen vor­neh­men konn­ten, die nur sel­ten öf­fent­lich wur­den. In der letz­ten Zeit hat sich die­se Zu­rück­hal­tung er­freu­li­cher­wei­se ge­än­dert. Zum ei­nen, weil durch ei­ne Ver­öf­fent­li­chung zu Leb­zei­ten der Ver­fas­ser die Kon­trol­le über das Ver­öf­fent­lich­te (und da­mit auch das Ver­schwie­ge­ne) be­hält; in­ti­me oder pi­kan­te Stel­len kön­nen non­cha­lant aus­ge­blen­det wer­den. Dass ein For­scher spä­ter hier­nach sucht, kann für sehr lan­ge Zeit aus­ge­schlos­sen wer­den. Der an­de­re Grund liegt dar­in, dass man los­ge­löst von al­len (vor al­lem li­te­ra­ri­schen) Kon­ven­tio­nen schrei­ben kann. In­wie­fern dann spä­ter, vor ei­ner Ver­öf­fent­li­chung, wie­der ein Kor­sett aus Rück­sich­ten und stra­te­gi­schen Be­rech­nun­gen an­ge­legt wer­den muss, steht auf ei­nem an­de­ren Blatt.

»Pol­len­flug der The­men«

Viel­leicht be­ginnt Pe­ter Slo­ter­di­jk aus die­sem Grund Zei­len und Ta­ge III, sei­nen drit­ten Band mit No­tiz­buch­ein­tra­gun­gen von 2013 bis 2016, mit ei­nem klei­nen Vor­wort. Da­bei wischt er über­zeu­gend even­tu­ell im Vor­feld auf­kom­men­de Ein­wän­de weg. Man er­fährt von der »Tu­gend des Weg­las­sens« und das da­mit rund zwei Drit­tel des ver­füg­ba­ren Ma­te­ri­als ge­meint ist. Nach­träg­li­che Ein­fü­gun­gen sei­en »ge­le­gent­lich« er­folgt, aber nur »um dem da­mals knapp No­tier­ten durch zu­sätz­li­ches Vo­lu­men bes­ser ge­recht zu wer­den.« Auch die Ge­fahr des Po­sie­rens wird kurz ge­streift, um dann ab­schlä­gig be­schie­den zu wer­den. Per­sön­lich wird Slo­ter­di­jk, wenn er auf den Tod des gu­ten Freun­des Re­né Gu­de vom 13.3.2015 hin­weist. Man kann in den ent­spre­chen­den Stel­len die­ses Ban­des die be­son­de­re An­teil­nah­me und Be­wun­de­rung Slo­ter­di­jks für sei­nen Freund le­sen.

Nach Zei­len und Ta­ge (er­schie­nen 2012 mit No­ti­zen der Jah­re 2008 bis 2011) und Neue Zei­len und Ta­ge (2018; 2011 bis 2013) nun al­so die »Fort­set­zung«. Zu Be­ginn der Auf­zeich­nun­gen ist Slo­ter­di­jk 66 Jah­re alt. Es ist auch ei­ne Zeit des ab­seh­ba­ren be­ruf­li­chen Ab­schieds. Man be­merkt da­von zu­nächst re­la­tiv we­nig, denn das Vo­lu­men sei­ner (welt­weit nach­ge­frag­ten) Vor­trä­ge, Kon­fe­ren­zen, Sym­po­si­en und Gast­do­zen­tu­ren äh­nelt de­nen der bei­den vor­an­ge­gan­gen Bän­de. Erst im Lau­fe der Zeit wird der Ab­schied als Rek­tor der Hoch­schu­le für Ge­stal­tung greif­ba­rer.

Der drit­te Band bie­tet, so Slo­ter­di­jk, ein »Pol­len­flug der The­men«. Es gibt nicht nur Ein­blick in Slo­ter­di­jks Wir­ken, sei­ne mit­un­ter pri­va­ten, fast in­ti­men Ge­ständ­nis­se, son­dern ver­schafft lau­ter klei­ne Dé­jà-vus wie die der Staats­fi­nanz­kri­se von Grie­chen­land, der Be­set­zung der Krim nebst De­sta­bi­li­sie­rung der Ost­ukrai­ne durch Russ­land, der Flücht­lings­kri­se, dem Auf­kom­men des »Is­la­mi­schen Staa­tes«, Ter­ror­an­schlä­gen in Frank­reich, Brexit und Trump. Es be­ginnt wie der zwei­te en­de­te und man wird wie in ei­nem Ka­ta­pult in ei­ne ge­fühlt lan­ge ver­gan­ge­ne Zeit zu­rück­ge­schos­sen. So­eben hat­te Peer Stein­brück die Bun­des­tags­wahl 2013 ge­gen An­ge­la Mer­kel ver­lo­ren. Die »Le­thar­go­kra­tie« (P. S.) der Ära Mer­kel fin­det ih­re Fort­set­zung. Der Au­tor bleibt freund­lich re­ser­viert ob die­ser Kon­stel­la­ti­on.

Den voll­stän­di­gen Text »Ein ›Pol­len­flug der The­men‹« bei Glanz und Elend wei­ter­le­sen.

Lou­is-Fer­di­nand Cé­li­ne: Krieg

Louis-Ferdinand Céline: Krieg

Lou­is-Fer­di­nand Cé­li­ne: Krieg

Im Au­gust 2021 er­fuhr die Öf­fent­lich­keit von bis­her ver­bor­ge­nen, rund 6000 Ma­nu­skript­sei­ten des 1961 ver­stor­be­nen fran­zö­si­schen Schrift­stel­lers Lou­is-Fer­di­nand Cé­li­ne. Hat­te der Au­tor nicht im­mer be­haup­tet, die Ma­nu­skrip­te sei­en zer­stört oder ge­stoh­len wor­den? Nach Prü­fung auf Echt­heit steht nun fest, dass es sich streng ge­nom­men nicht um ei­ne Ent­deckung, son­dern ei­ne Ent­hül­lung han­del­te. Den Weg die­ses Kon­vo­luts zeich­net Ni­klas Ben­der in sei­nem in­struk­ti­ven Vor­wort zu Krieg nach, dem er­sten, ins Deut­sche über­setz­ten Text die­ses Ma­nu­skript­bün­dels.

Der Ro­man wird in ei­ner po­pu­lä­ren und da­mit les­ba­ren Ver­si­on prä­sen­tiert. Die zahl­rei­chen Kor­rek­tu­ren des Au­tors, von de­nen ei­ni­ge im Buch ab­ge­druck­ten fak­si­mi­lier­ten Sei­ten ei­nen Ein­druck ge­ben, sind nicht auf­ge­führt wor­den. Für das un­mit­tel­ba­re Ver­ständ­nis wich­ti­ge Er­gän­zun­gen (bei­spiels­wei­se Cé­li­nes Wort­spie­le bei Stadt- und Per­so­nen­na­men) fin­det man in prä­zi­se ge­setz­ten Fuß­no­ten. Die Über­set­zung ist glück­li­cher­wei­se von Hin­rich Schmidt-Hen­kel, der schon meh­re­re Bü­cher von Cé­li­ne, dar­un­ter auch die Rei­se ans der En­de der Nacht ins Deut­sche über­tra­gen hat­te (und, »ne­ben­bei«, auch der Über­set­zer des ak­tu­el­len No­bel­preis­trä­gers Jon Fos­se ist).

Wer ein biss­chen über Cé­li­ne weiß, soll­te mit dem ei­gent­li­chen Text be­gin­nen und das Vor­wort da­nach le­sen. Die er­sten zehn Sei­ten des Ma­nu­skripts schei­nen tat­säch­lich ver­lo­ren zu sein. Die Über­tra­gung be­ginnt mit Sei­te 10. Fer­di­nand, ein schwer ver­wun­de­ter, um­her­ir­ren­der Ich-Er­zäh­ler, ori­en­tiert sich im Ja­nu­ar 1915 von der Front zu­rück ins Hin­ter­land. Er sieht auf­ge­platz­te Men­schen und auf­ge­schlitz­te Pfer­de und hat »grau­en­haf­te Schmer­zen«. Zum ei­nen ist ein Arm schwer ver­letzt (er hängt, wie es ein­mal heißt, »in Fet­zen«). Und zum an­de­ren steckt ei­ne Ku­gel in sei­nem Kopf, in der Nä­he des Ohrs. »Der Krieg hat mich im Kopf er­wischt. Er ist in mei­nem Kopf ein­ge­sperrt.« Er hört per­ma­nent ei­ne »Ge­räusch­sup­pe«, »Ge­tö­se«, »Ohr­ge­don­ner«; dies wird ihn bis zum En­de nicht ver­las­sen. Nach vie­len Ir­run­gen lan­det er in ei­nem La­za­rett im fik­ti­ven Ort »Peur­du-sur-la-Lys« (Wort­spiel aus »peur« für Angst und »per­du« für ver­lo­ren). Hal­lu­zi­na­ti­on und Rea­li­tät sind nur schwer zu un­ter­schei­den; Fer­di­nand ver­mischt al­les. Der Text kon­zen­triert sich zu­nächst auf ei­ne Kran­ken­schwe­ster, die ihn mal ma­stur­biert, dann ka­the­te­ri­siert, dann bei­des. Sie wird, so die Er­zäh­lung, zu ei­ner Für­spre­che­rin, gar Ge­lieb­ten. Zwar wird der Arm ope­riert, aber das der schein­bar we­nig rou­ti­nier­te Arzt die Ku­gel aus dem Kopf ent­fernt, ver­hin­dert sie. Die Be­kannt­schaf­ten un­ter den ein­ge­lie­fer­ten Pa­ti­en­ten wech­seln – die mei­sten ster­ben weg. Län­ger hält ei­ne Art Freund­schaft zu ei­nem ge­wis­sen Bé­bert, der mit ei­ner Schuß­wun­de im Fuß ein­ge­lie­fert wur­de und merk­wür­di­ger­wei­se auf ei­ne Am­pu­ta­ti­on drängt. (Die Vor­läu­fig­keit des Ma­nu­skripts be­dingt, dass Bé­bert im Lau­fe des Ro­mans Cas­ca­de heißt und auch sonst die Fi­gu­ren manch­mal un­ter­schied­li­che Na­men tra­gen; es stört we­nig.)

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»Schreckens Män­ner« – Re­vi­si­on ei­ner Lek­tü­re

Hans Magnus Enzensberger: Schreckens Männer - Versuch über den radikalen Verlierer

Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger: Schreckens Män­ner – Ver­such über den ra­di­ka­len Ver­lie­rer

2006 er­schien in ei­nem »Son­der­druck« der edi­ti­on suhr­kamp Hans Ma­gnus En­zens­ber­gers kur­zer Es­say Schreckens Män­ner – Ver­such über den ra­di­ka­len Ver­lie­rer. Mei­ne Be­spre­chung da­mals war eher ab­leh­nend. Zu holz­schnitt­ar­tig schien HME zu ar­gu­men­tie­ren, zu kon­stru­iert die Par­al­lel­füh­rung zwi­schen den »Ver­lie­rern« der ara­bi­schen Welt mit der Macht­über­nah­me durch Hit­ler. Die is­la­mi­sche Welt und das Phä­no­men des Is­la­mis­mus wur­de et­was sim­pel auf »Ara­ber« re­du­ziert, so als ha­be es die »Is­la­mi­sche Re­vo­lu­ti­on« im Iran mit all ih­ren Schreckens­aus­wüch­sen nicht ge­ge­ben.

Die­se Kri­tik­punk­te blei­ben. Aber den­noch muss ich heu­te Ab­bit­te lei­sten. Liest man das Buch noch ein­mal – mit dem Wis­sen um all die aus­ge­las­se­nen Chan­cen, den geo­po­li­ti­schen Kon­flikt um Pa­lä­sti­na im Na­hen Osten zu lö­sen und un­ter der Be­rück­sich­ti­gung der ul­ti­ma­ti­ven »Schreckens Män­ner« des so­ge­nann­ten »Is­la­mi­schen Staats« – so er­kennt man, dass En­zens­ber­ger ei­ne Ent­wick­lung vor­weg nahm. (Her­vor­he­bun­gen in den fol­gen­den Zi­ta­ten sind von mir.)

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Flor­jan Li­puš: Die Ver­wei­ge­rung der Weh­mut

Florjan Lipuš: Die Verweigerung der Wehmut

Flor­jan Li­puš: Die
Ver­wei­ge­rung der Weh­mut

Das Gast­land der Frank­fur­ter Buch­mes­se 2023 ist Slo­we­ni­en. Mit Blick dar­auf, so lässt es der Ver­lag wis­sen, hat man in der Bi­blio­thek Suhr­kamp den Ro­man Die Ver­wei­ge­rung der Weh­mut von Flor­jan Li­puš neu auf­ge­nom­men. Der Au­tor schreibt auf slo­we­nisch, in­so­fern scheint der An­lass stim­mig. Aber der 1937 ge­bo­re­ne Flor­jan Li­puš ist Öster­rei­cher, ei­ner der pro­fi­lier­te­sten Schrift­stel­ler der Min­der­heit der Kärnt­ner Slo­we­nen.

Egal. Man dankt dem Suhr­kamp-Ver­lag für die­se Neu­auf­la­ge des 1985 erst­mals pu­bli­zier­ten Ro­mans, weil ein mar­kan­ter und wich­ti­ger Ti­tel ei­nem lang­sa­men Ver­ges­sen in An­ti­qua­ria­ten ent­ris­sen und nach vie­len Jah­ren wie­der bi­blio­phil prä­sen­ta­bel wur­de. Dass die deut­sche Über­set­zung von Fab­jan Haf­ner aus dem Jahr 1989 da­bei un­an­ge­ta­stet ge­blie­ben ist, muss zu­sätz­lich ge­rühmt wer­den. (Wenn, dann ein klei­ner Ein­wand: ob man je­ne vier oder fünf ei­gen­tüm­li­che Be­griff­lich­kei­ten nicht in ei­nem klei­nen Glos­sar hät­te er­klä­ren kön­nen.)

Die Hand­lung ist rasch er­zählt: Ein Er­zäh­ler, der von sich als »der Rei­sen­de« er­zählt, kommt zur Be­er­di­gung sei­nes Va­ters in sein Hei­mat­dorf zu­rück. Schon die Fahrt mit dem Zug führt zu Dé­jà-vus aus der Kind­heit, die im­mer wie­der auf­blit­zen. Er sieht die Ar­bei­ten auf dem Feld, Deng­ler und Mä­her mit ih­rer Ern­te­last und ima­gi­niert die Wald­ar­bei­ter mit ih­ren Pfer­de­fuhr­wer­ken, die die ge­schla­ge­nen Stäm­me trans­por­tie­ren und auf­pas­sen müs­sen, wenn es berg­ab geht.

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Tho­mas von Stei­n­aecker: Die Pri­vi­le­gier­ten

Thomas von Steinaecker: Die Privilegierten

Tho­mas von Stei­n­aecker:
Die Pri­vi­le­gier­ten

Es be­ginnt wie ei­ne Do­ku über ei­nen Lu­xus-Sur­vi­val-Auf­ent­halt: Bind­al, Mit­tel­nor­we­gen, auf­kom­men­de Schnee­stür­me, ein un­er­war­tet kal­ter Win­ter. Mit­ten dar­in ein Mann in ei­ner Hüt­te, ein Strom-Trans­for­ma­tor, der läuft, mehr als 30 Hüh­ner in ei­nem Stall, ei­ne klei­ne Rü­ben-An­pflan­zung. Er hat Ge­lenk­schmer­zen, ra­tio­niert sei­ne Ibu­profen und ver­sucht, Pflan­zen der Um­ge­bung zu ka­ta­lo­gi­sie­ren. Aus­flü­ge gibt es nur noch sel­ten; min­de­stens ein Wolf ist hör­bar und abends kom­men Flug­hun­de. Als er ei­ne Kat­ze ent­deckt, die we­nig spä­ter von ei­nem Greif­vo­gel ge­schla­gen wur­de, kom­men Er­in­ne­run­gen hoch. Schließ­lich hal­lu­zi­niert er noch ei­ne »Mon­ster­zecke« da­zu – ein Ge­bil­de, dass ihm in der Kind­heit lan­ge Zeit zu schaf­fen mach­te. Er be­ginnt, sei­ne Le­bens­ge­schich­te auf­zu­schrei­ben.

Der Mann ist Ba­sti­an Klecka, 1982 ge­bo­ren und zum Zeit­punkt des Ver­fas­sens sei­ner Bio­gra­phie schreibt man un­ge­fähr das Jahr 2040. Mit sechs Jah­ren ver­liert er sei­ne El­tern bei ei­nem Ver­kehrs­un­fall. Er kommt zu den Groß­el­tern, aber ein Jahr spä­ter stirbt die Groß­mutter. Der Groß­va­ter, 57 Jah­re alt, Ger­ma­ni­stik­pro­fes­sor und Tho­mas-Mann-Ko­ry­phäe, zieht in das Haus, dass Ba­sti­ans Va­ter ge­baut hat­te (er war Ar­chi­tekt), in ei­ne Neu­bau­sied­lung in Ober­viech­tal, ei­nem Ort von 5000 Ein­woh­nern und ver­mit­telt dem Jun­gen früh die Wer­te klas­si­scher Mu­sik und Kul­tur. Es ist das, was er sel­ber spä­ter als »Hö­hen­kamm­kul­tur­an­spruch« be­zeich­nen wird. Statt Fern­se­hen gibt es Couch-Ses­si­ons, in de­nen Mu­sik­stücke ge­hört und zu­ge­ord­net wer­den. So ver­mag er früh schon nach den er­sten Tak­ten den je­wei­li­gen Kom­po­ni­sten und Di­ri­gen­ten zu­zu­ord­nen. Der Fa­vo­rit ist Car­los Klei­ber.

Erst als der Groß­va­ter in den Som­mer­fe­ri­en durch die Mit­her­aus­ge­ber­schaft an ei­ner Tho­mas-Mann-Ta­ge­buch­aus­ga­be zeit­lich ge­bun­den ist und es kei­nen Ur­laub gibt, kann der Jun­ge sich end­lich dem Fern­se­hen und all den Se­ri­en der 1990er Jah­re hin­ge­ben; ins­be­son­de­re Star Trek. Es fällt ihm da­nach schwer, wie­der in den Hoch­kul­tur­mo­dus zu schal­ten.

Im Gym­na­si­um ist er mit dem ru­mä­ni­schen Ilie und der aus Han­no­ver zu­ge­rei­sten Ma­di­ta Au­ßen­sei­ter, weil sie die ein­zi­gen sind, die dia­lekt­frei­es Deutsch spre­chen. Als die drei zu­sam­men ei­nen Deutsch­auf­satz schrei­ben und sich un­ge­recht be­no­tet füh­len, schweißt sie dies zu­sam­men. Ma­di­ta hat ei­ne Kat­ze, die »häss­lich­ste Kat­ze, die ich je­mals ge­se­hen hat­te.« Ir­gend­wie pass­te sie zur »Öko« Ma­di­ta, die schon früh bei Drit­te-Welt-Pro­jek­ten mit­mach­te. Ih­re Mut­ter war Künst­le­rin; der Va­ter war zu ei­ner an­de­ren Frau ge­zo­gen, was Ma­di­ta zu der Aus­sa­ge ver­an­lass­te, dass sie den Va­ter hass­te. Ilies Va­ter ar­bei­te­te in ei­ner Tier­kör­per­be­sei­ti­gungs­an­stalt, die Mut­ter, in Ru­mä­ni­en An­wäl­tin, war Se­kre­tä­rin. Die drei schlie­ßen sich zum Klub der Kat­ze zu­sam­men.

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Ju­dith Schal­an­sky: Ta­schen­at­las der ab­ge­le­ge­nen In­seln

Judith Schalansky: Taschenatlas der abgelegenen Inseln

Ju­dith Schal­an­sky:
Ta­schen­at­las der ab­ge­le­ge­nen
In­seln

Der At­las der ab­ge­le­ge­nen In­seln von Ju­dith Schal­an­sky er­schien erst­mals 2009 und war nicht zu­letzt auf­grund sei­ner schö­nen Aus­stat­tung ein gro­ßer Er­folg. Er be­stand, so der Un­ter­ti­tel, aus Kar­ten und Tex­ten zu »Fünf­zig In­seln, auf de­nen ich nie war und nie­mals sein wer­de«. Zwei Jah­re spä­ter er­schien ei­ne Ta­schen­buch­aus­ga­be. Und nun, in der neu­en Ta­schen­at­las­aus­ga­be von Suhr­kamp, wur­den noch fünf neue In­seln zu­sam­men mit ei­nem neu­en, ak­tua­li­sier­ten Vor­wort der Au­torin auf­ge­nom­men.

Die In­seln sind geo­gra­phisch er­fasst mit Ko­or­di­na­ten, Grö­ßen­an­ga­be und Zahl der Be- bzw. Ein­woh­ner (et­li­che sind al­ler­dings un­be­wohnt). Je­de hat ih­re ei­ge­ne Kar­te im Maß­stab 1:200000. Zur bes­se­ren Ori­en­tie­rung fin­det man die Ent­fer­nun­gen zu den nächst er­reich­ba­ren Or­ten. Das kön­nen auch schon mal mehr als ein­tau­send Ki­lo­me­ter sein. In ei­ner Zeit­lei­ste wer­den, falls vor­han­den, nach­weis­ba­re hi­sto­ri­sche Er­eig­nis­se der In­sel an­ge­ge­ben. Die Kar­ten sind dann der Hin­gucker. Das Ei­land mag noch so klein und un­be­wohnt sein – die Ber­ge, Buch­ten und An­le­ge­stel­len ha­ben trotz­dem ih­re Na­men, wie et­wa das Kapp In­grid auf der un­be­wohn­ten Pe­ter- I.-Insel, Kapp Ruth auf der Bä­ren­in­sel, den Tol­stoi-Point bei St. Ge­org, rund 1600 km von der Kamt­schat­ka ent­fernt oder An­cho­ra­ge Bay auf den An­ti­po­den-In­seln – im Pa­zi­fi­schen Oze­an. Über die Ber­ge er­fährt man zu­ver­läs­sig die Hö­he. Und sei­en es auch nur 3 Me­ter.

Auf den nach­fol­gen­den bei­den Sei­ten gibt es dann ei­ne Art Vi­si­ten­kar­te. We­gen des knap­pen Plat­zes gibt es kei­ne Ab­sät­ze son­dern oran­ge­ne Schräg­stri­che. Die Tex­te sind häu­fig hi­sto­ri­sche Re­mi­nis­zen­zen über prä­gen­de Er­eig­nis­se des je­wei­li­gen Or­tes. Das ge­nügt fast im­mer, le­dig­lich bei der Oster­in­sel, die längst zu ei­nem um­fas­sen­den For­schungs­ob­jekt ge­wor­den ist, hat man ein we­nig das Ge­fühl der Un­voll­stän­dig­keit.

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Xa­ver Bay­er: Poe­sie

Xaver Bayer: Poesie

Xa­ver Bay­er: Poe­sie

Das neue­ste Buch des öster­rei­chi­schen Schrift­stel­lers Xa­ver Bay­er trägt den simp­len Ti­tel Poe­sie. Auf noch nicht ein­mal 100 Sei­ten wer­den in Form ei­nes Lang­ge­dichts schier zahl­lo­se Sin­nes­ein­drücke auf­ge­fä­chert. Da­bei ist die Er­zähl­per­spek­ti­ve ist für die­se Form eher un­ge­wöhn­lich: Es gibt kei­nen di­rek­ten Ich‑, son­dern ei­nen »Man«-Erzähler, so als er­klä­re hier je­mand die Wahr­neh­mun­gen, Bil­der und Emp­fin­dun­gen ei­ner Fi­gur für die je­wei­li­gen Le­ser.

Al­les ist va­ge, nichts kon­kret. Der Ort ist ei­ne Stadt »de­ren Häu­ser­fas­sa­den tä­to­wiert sind«. Der Wind »streift« »ma­ro­die­rend durch den ver­las­se­nen Ba­sar«. Man sieht Ge­bäu­de, de­ren Bal­ko­ne »wie her­aus­ge­zo­ge­ne Schub­la­den« aus­schau­en. Men­schen sind ver­ein­zelt. Die Zeit könn­te in ei­ner na­hen Zu­kunft lie­gen. Die Na­tur steckt vol­ler Wild­wuchs. »Die Ufer­bö­schun­gen über­wu­chert von Am­bro­sia, Gold­ru­te und Spring­kraut. Der Wald zu­ge­wach­sen mit Knö­te­rich.«

Die In­ten­ti­on des Schau­en­den ist un­klar. Ne­ben den ein­pras­seln­den Ein­drücken stellt er sich bis­wei­len exi­sten­ti­el­le Fra­gen: »War das der Gip­fel des Le­bens, und läuft von nun an al­les wie­der zu­rück?« Sze­nen des Fla­nie­rens wech­seln mit Epi­so­den lan­ger, apa­thi­scher Auf­ent­hal­te in der Woh­nung ab, in de­nen »man« zu­neh­mend tag­träu­men­de, be­äng­sti­gen­de Bil­der ent­wickelt. »Auf der Flucht vor den Wör­tern eilt man durch die Woh­nung.« Ver­mut­lich han­delt es sich um ei­nen Be­woh­ner ei­nes Hau­ses, wel­ches ab­ge­ris­sen wer­den soll. Hier­für spre­chen die Bau­ar­bei­ten um ihn her­um. »Vie­ler­orts ist der Stuck an den Fas­sa­den auf­ge­bis­sen und of­fen­bart sein In­ne­res: Sty­ro­por.«

So man­cher Blick könn­te aus dem No­tiz­buch Pe­ter Hand­kes stam­men. »Die Schat­ten zwei­er ein­an­der um­krei­sen­der Flie­gen auf der ver­wit­ter­ten Scheu­nen­wand: die fäl­schungs­si­che­re Un­ter­schrift des Seins« et­wa. Ein an­der­mal ent­deckt er ei­ne »Flie­ge, die über den Tisch irrt, als such­te sie ver­zwei­felt et­was Ver­lo­ren­ge­gan­ge­nes« oder auch »Spin­nen, in ih­ren Net­zen zwi­schen den Zwei­gen«, die »in der Mor­gen­son­ne« leuch­ten. Bei ei­nem sei­ner Gän­ge ent­deckt er am »Wald­bo­den ei­ne ver­trock­ne­te Schlan­gen­haut, ein röt­li­cher Pilz, ei­ne Ton­scher­be«. (Er­in­ne­rung an Gre­gor Keu­sch­nigs An­sicht der drei Din­ge im Sand aus der Stun­de der wah­ren Emp­fin­dung).

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